Endspiel - Michail Sygar - E-Book
SONDERANGEBOT

Endspiel E-Book

Michail Sygar

0,0
14,99 €
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Russland vor dem Bürgerkrieg? Europa vor dem Krieg? »Die erste überzeugende Beschreibung dessen, was in den letzten 20 Jahren in Russland geschehen ist. Ein wichtiges Buch und eine Gelegenheit, Informationen aus erster Hand zu bekommen.« Swetlana Alexijewitsch (Literaturnobelpreis 2015) Wie konnte Wladimir Putin zum Paria der Weltgemeinschaft werden? Warum destabilisiert der russische Präsident die Ukraine, Europa und sein eigenes Land? Michail Sygar, intimer Kenner des Kremls und der Machteliten, erklärt in seinem glänzend geschriebenen Buch die Wandlung Putins vom Reformer zu dem Mann, den die Welt fürchtet. Der im Jahr 2000 überraschend zum Präsidenten gewählte Wladimir Putin orientiert sich zunächst nach Westen, will in den Club der Staatenlenker wie Tony Blair, George W. Bush und Gerhard Schröder aufgenommen werden. Doch bald fühlt er sich betrogen, von der Nato-Osterweiterung, den angeblich vom Westen unterstützten »orangen« Revolutionen in Georgien und der Ukraine. Er räumt potenzielle Rivalen wie Michail Chodorkowski aus dem Weg und zieht innenpolitisch die Zügel an. Es folgt eine Phase, in der Putin sich eher wie ein mächtiger Oligarch gibt, in der er das »gute Leben« der Superreichen schätzen lernt. Während der Präsidentschaft Medwedews bleibt er mit seinen PR-Stunts – halbnackt auf dem Pferd, mit Weißkranichen fliegend – omnipräsent. Als sich zu Beginn seiner dritten Amtszeit das Großstadtpublikum von ihm abwendet, besinnt Putin sich auf das einfache Volk, mit dem er sich im Hass auf Amerika einig weiß. Die Maidan-Revolution in Kiew füttert seine Paranoia: Die USA haben es in Wirklichkeit auf ihn abgesehen. Die Folgen sind bekannt – aber unabsehbar auch für sein eigenes (politisches) Überleben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 534

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Michail Sygar

Endspiel

Die Metamorphosen des Wladimir Putin

Aus dem Russischen von Frank Wolf

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Michail Sygar

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Putin Löwenherz

Kapitel 1 Alexander Woloschin, die graue Eminenz

Kapitel 2 Boris Beresowski, der aufdringliche Pate

Kapitel 3 Michail Chodorkowski, der Sündenbock

2 Putin der Herrliche

Kapitel 4 Dmitri Medwedew, die rechte Hand

Kapitel 5 Viktor Medwedtschuk, der Freund von der Krim

Kapitel 6 Wladislaw Surkow, der Ideologe der »souveränen Demokratie«

Kapitel 7 Igor Schuwalow, der Marschall des Energieimperiums

Kapitel 8 Sergej Iwanow, der verhinderte Nachfolger

3 Pseudoputin

Kapitel 9 Michail Saakaschwili, der Lieblingsfeind

Kapitel 10 Igor Setschin, der Schatten

Kapitel 11 Tanja und Walja, Gespenster aus der Vergangenheit

Kapitel 12 Alexej Nawalny, der unterschätzte Rivale

4 Putin der Schreckliche

Kapitel 13 Patriarch Kyrill, der Einflussagent

Kapitel 14 Wjatscheslaw Wolodin, der Ideologe der »geistigen Klammern«

Kapitel 15 Dmitri Peskow, die Stimme

Kapitel 16 Sergej Schoigu, der Jagdgefährte

Kapitel 17 Alexej Kudrin, der letzte Liberale bei Hofe

Kapitel 18 Ramsan Kadyrow, das Wolfjunge

Nachwort Putin Ohneland

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Als ich dieses Buch zu schreiben begann, hatte ich vor, davon zu berichten, was in den vergangenen 15 Jahren in Russland geschehen ist. Wie sich Weltbild und Weltanschauung Wladimir Putins und dessen engster Umgebung verändert haben, wie alles begann und wohin es uns geführt hat.

Im Verlaufe mehrerer Jahre habe ich Dutzende Personen aus Wladimir Putins engstem Kreis interviewt – Mitarbeiter der Präsidialadministration, Regierungsmitglieder, Abgeordnete der Staatsduma, Unternehmer, die bei Forbes aufgelistet sind, oder ausländische Politiker. Fast jeder hat seine Geschichte erzählt, die mit denen der anderen handelnden Personen zuweilen nicht übereinstimmte. Meine Helden ließen viele Tatsachen unter den Tisch fallen, vertauschten Daten, konnten sich nicht einmal an Dinge erinnern, die sie selbst gesagt oder getan hatten. Doch ich habe so viele Beteiligte befragen können, dass ein recht klares Bild entstanden ist.

Kurz gesagt, ich berichte davon, wie ein Mann durch puren Zufall König wurde. Anfangs wollte er sich einfach heraushalten. Aber er hatte eine Glückssträhne, und so kam er zu der Auffassung, dass er ein erfolgreicher Kämpfer und Reformer werden könnte – ein König Löwenherz. Nun wollte er in die Geschichte eingehen. Dann wünschte er sich ein gutes Leben. Und wurde zu einem König in Glanz und Herrlichkeit. Das ermüdete ihn, und er wollte nur noch ausruhen. Aber er musste erkennen, dass er sich das nicht erlauben durfte, denn er war bereits eine Persönlichkeit der Geschichte. Ein schrecklicher Zar.

Wie ist es zu diesen Wandlungen gekommen? Das ist vor allem dank seiner Umgebung geschehen, des schillernden Gefolges, das in diesen Jahren alles daransetzte, selbst König zu spielen. Sein engster Kreis hat ihn mitgerissen, seine Ängste und Wünsche manipuliert und ihn so vorwärts getrieben. Zu Dingen, die er von sich nie erwartet hätte.

Wenn man die Geschehnisse im Nachhinein rekapituliert, erscheint die Geschichte als eine überaus logische Entwicklung. Es kann sogar der Eindruck entstehen, dass sie von Anfang an dem heutigen Ergebnis zustrebte, gleichsam nach einem vorgefassten Plan ablief. Ihre Helden denken sich im Nachhinein Erklärungen für ihr Handeln aus. Sie erfinden Gründe, die in der Realität nicht existierten, eine Logik, von der sie damals noch gar nichts ahnten.

Jedoch ist die Geschichte Russlands der letzten gut 15 Jahre nicht nach einer solchen Logik verlaufen. Die Kette der Ereignisse, die ich rekonstruiert habe, lässt keinen Plan, keine klare Strategie erkennen. Es sind durchweg taktische Schritte, hektische Reaktionen auf äußere Reize ohne eindeutiges Endziel.

Eine genaue Betrachtung des Handelns der russischen Politiker und ihrer Motive in den vergangenen 15 Jahren beweist, dass all die Verschwörungstheorien nicht zutreffen. Wenn auch nur der geringste Zweifel aufkommt, was der Grund für dieses oder jenes Ereignis gewesen sein könnte, böse Absicht oder ein Fehler, dann sollte man stets Letzterem den Vorzug geben.

Wussten die Spitzenpolitiker Russlands des Jahres 2000, wo sie nach 15 Jahren Herrschaft stehen? Nein. Wussten sie 2014, wie sie das Jahr 2015 beginnen werden? Nein.

Wenn ich sie in der Mehrzahl nenne, dann nicht aus Versehen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass in Russland nur ein Mann entscheidet – Wladimir Putin. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Die Entschlüsse fasst in der Tat Wladimir Putin, aber Putin ist keine Einzelperson. Es ist ein kollektiver Verstand von enormen Ausmaßen. Dutzende, ja Hunderte Menschen zerbrechen sich tagaus, tagein die Köpfe darüber, welche Entscheidungen Wladimir Putin fällen soll. Putin selbst zerbricht sich permanent den Kopf darüber, wie er entscheiden soll, damit er populär bleibt als der gewaltige kollektive Wladimir Putin, dessen Handeln verstanden und gebilligt wird.

Dieser kollektive Putin hat sich seine Erinnerungen in all den Jahren so zurechtgelegt, dass er sich selbst beweisen kann, stets im Recht gewesen zu sein. Dass er sich davon überzeugen kann, logisch gehandelt, einen Plan und eine Strategie gehabt zu haben. Dass er keine Fehler beging, sondern zu diesem Vorgehen gezwungen war, weil er gegen Feinde kämpfte, weil er einen harten, nicht enden wollenden Krieg führte.

Dies ist die Geschichte eines erdachten Krieges. Eines Krieges, der nicht aufhören kann, weil man sonst einräumen müsste, dass es ihn nie gegeben hat.

Inhaltsverzeichnis

1Putin Löwenherz

Kapitel 1Alexander Woloschin, die graue Eminenz

Alexander Staljewitsch Woloschin ist das, was man sich unter einem Kapitalisten vorstellt. Äußerlich hat er etwas von Uncle Sam, wie er in sowjetischen Karikaturen erscheint. Dort hatte er immer ein graues Bärtchen und einen harten, kalten Blick; er saß auf einem Sack voll Dollars und versteckte hinter dem Rücken eine Bombe.

Woloschins Büro an der Poljanka im Zentrum von Moskau, zehn Minuten zu Fuß vom Kreml entfernt, ist sehr asketisch eingerichtet: Was gebraucht wird, ist vorhanden, alles Überflüssige weggelassen. Keinerlei Luxus. Den hat der heimliche Weltenlenker nicht nötig.

Zum Redner taugt er nicht – er spricht leise, und wenn er erregt ist, stottert er gar ein wenig. Außerdem wirft er zu viel mit englischen Wörtern um sich. Nicht mit Anglizismen, sondern mit original englischen Ausdrücken, die er offenbar bei seiner Geschäftstätigkeit benutzt. »Die Lage in der Ukraine ist kaum noch managable.« – »Man ist besser hart und zeigt keinen good will, sonst ist ein bloodshed nicht zu vermeiden.« – »Der Westen verhält sich äußerst misleading.« – »In Russland steht Gerechtigkeit über dem Recht. Eine Ungerechtigkeit genügt als excuse, um das Recht zu verletzen.«

Er sagt, dass er seine wichtigste Aufgabe als erfüllt ansieht – »Russland aus dem Stadium der permanenten Revolution in das Stadium der Evolution zu überführen«. Mit anderen Worten, er hat politische Stabilität und den Kapitalismus erreicht und sich dann zur Ruhe gesetzt.

»Die Neunzigerjahre waren eine Zeit der Chancen für die Intelligenz, die kreative Klasse, aber für alle anderen Menschen waren sie sehr schwierig«, sagt Woloschin. »Die Spielregeln änderten sich ständig. Es ging vor allem ums Überleben. Die Menschen wuchsen nicht in das neue Leben hinein, sondern wurden von Krämpfen heimgesucht. Der Übergang zum Stadium der Evolution stellte alles auf den Kopf: Aus Weiß wurde Schwarz, aus Schwarz Weiß. Freiheit und Marktwirtschaft sind in Russland bei Weitem nicht vollkommen, aber sie existieren, die kritische Masse ist erreicht, und das genügt. Dafür müssen die Intelligenz und die kreative Klasse mit einem weniger komfortablen Leben bezahlen. Aber allen anderen geht es gut. Die politische und wirtschaftliche Lage ist stabiler geworden.«

Dass er heute die Politik nicht mehr beeinflussen kann, bedauert er angeblich nicht.

Über Politik spricht er gern in rein geschäftlichen Begriffen: »Die USAhaben dank der Konkurrenz die beste Wirtschaft der Welt aufgebaut. Aber in der Weltpolitik haben sie irgendwie vergessen, dass Konkurrenz notwendig ist. Deshalb ist ihre Außenpolitik ein solches Fiasko.« Ansonsten äußert er sich über Amerika durchaus kritisch, aber auch wieder liebevoll und überraschend detailliert: Zufällig hat er Jeb Bush kennengelernt, dann wieder ist er seiner alten Bekannten Condoleezza Rice begegnet, hat aber entschieden, sie nicht zu grüßen.

Lenin begraben

Im Jahre 1999 wurde im Kreml ein genauer Plan für die Beerdigung Lenins ausgearbeitet. Unter strengster Geheimhaltung sollte sein Leichnam bei Nacht und Nebel aus dem Mausoleum am Roten Platz geholt und nach St. Petersburg geschafft werden. »Ich habe mir das so vorgestellt: Wenn die Leute am Morgen erwachen, dann liegt er schon auf dem Friedhof Wolkowo«, erinnert sich Alexander Woloschin, der damalige Chef der Präsidialadministration.

Genau so hat man vor 36 Jahren im Schutze der Nacht Stalins Leichnam aus dem Mausoleum entfernt. Er wurde allerdings nicht weit fortgebracht, sondern ganz in der Nähe an der Kremlmauer beerdigt. Für Nikita Chruschtschow, den damaligen ersten Mann der Sowjetunion, war das ein Symbol der Entstalinisierung und der Überwindung des Personenkults.

Lenins Umbettung sollte »würdig und ohne Häme« erfolgen, sagt Woloschin. Zu diesem Zweck wäre es nur notwendig gewesen, den Friedhof Wolkowskoje in St. Petersburg (wo Lenins Mutter und Schwestern begraben sind und nach der Legende auch der Begründer des Sowjetstaates beigesetzt werden wollte) ein paar Monate zu sperren. Und ebenso lange die Proteste der Kommunistischen Partei auszuhalten. Dann hätte die Aufregung sich gelegt. »Man hätte das Mausoleum abgerissen«, erinnert sich Woloschin an seinen Plan, »und an dieser Stelle ein Denkmal für die Opfer des Totalitarismus errichtet, das niemand jemals wieder zu stürzen wagt.« Dies sollte der entscheidende Schlag gegen die kommunistische Ideologie sein. Zu jener Zeit sah man das im Kreml als die wichtigste Aufgabe an: keine Sowjetrevanche zuzulassen und die Kommunisten zu besiegen.

Das Büro des Chefs der Kremladministration, erinnert sich Woloschin, lag nur ein paar Meter von Lenins Sarkophag im Mausoleum entfernt. »Mein Schreibtisch stand am Fenster. Die Entfernung zu dem Leichnam betrug nicht mehr als 15 Meter Luftlinie. Dort liegt er, und hier arbeite ich. Wir stören einander nicht«, erinnert sich Woloschin ironisch.

In Wirklichkeit störte Lenin natürlich sehr. Präsident Boris Jelzin hinderte er daran, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Für ihn wäre die Beerdigung des Führers – wie die Beerdigung Stalins für Chruschtschow vor 36 Jahren – das Symbol dafür gewesen, dass neue Zeiten angebrochen und die Veränderungen unumkehrbar waren. Lenin zu begraben, hatte 1991 schon der erste Bürgermeister von Petersburg, Anatoli Sobtschak, vorgeschlagen. Aber Jelzin konnte damals wie auch später seine Bitte nicht erfüllen: Er wollte keinen unnötigen Konflikt mit den Kommunisten riskieren.

Für Woloschin hingegen war Lenin weniger ein Symbol als vielmehr ein konkreter, quicklebendiger Spieler in der aktuellen Politik. Der Chefstratege des Kreml sah im Kampf gegen die Kommunistische Partei die wichtigste Frage seiner täglichen Arbeit. Lenin war ein Trumpf, den er im Ärmel hatte, die Möglichkeit, dem Gegner einen Tiefschlag zu versetzen. Die Kommunisten kontrollierten das Parlament und hatten daher die Möglichkeit, jede Reform von entscheidender Bedeutung zu torpedieren. Nach der Krise von 1998 kontrollierten sie faktisch auch die Regierung, die der 70-jährige Jewgeni Primakow leitete, ein ehemaliger Kandidat des Politbüros des ZK der KPdSU und Außenminister Russlands.

Bis zum Ende der Amtszeit von Präsident Jelzin blieben, wie in der Verfassung festgelegt, noch gute eineinhalb Jahre, und wie es schien, waren die Kommunisten noch nie so stark gewesen. Die Kommunistische Partei setzte die Aufnahme eines Amtsenthebungsverfahrens für Präsident Jelzin durch. Die Anklage gegen ihn bestand aus fünf Punkten: Zerschlagung der UdSSR, Auflösung des Parlaments im Jahre 1993, Krieg in Tschetschenien, Zerrüttung der Armee und Genozid am russischen Volk. Ministerpräsident Primakow, für den die Kommunisten einstimmig votierten, ging aus allen Umfragen als beliebtester Politiker des Landes hervor und war damit der aussichtsreichste Kandidat für das Präsidentenamt.

Besonderes Ansehen hatte ihm eine dezidiert antiamerikanische Geste verschafft – die Umkehr seines Flugzeuges über dem Atlantik. Am 24. März 1999 befand sich Primakow auf einem Flug nach Washington, als ihn US-Vizepräsident Al Gore anrief und ihm mitteilte, dass die USA mit der Bombardierung Serbiens begännen, um den Konflikt im Kosovo zu beenden. Der empörte Primakow ließ sein Flugzeug wenden und kehrte nach Moskau zurück. Die russische Presse – sowohl die kremlnahe als auch die liberale – kritisierte Primakow scharf wegen Populismus und Hofieren der kommunistischen Wähler. Die Wirtschaftszeitung Kommersant, die erste ihrer Art in der UdSSR und damals die wichtigste in Russland, behauptete, wegen Primakows Aktion habe Russland 15 Milliarden Dollar eingebüßt, die es mit der Unterzeichnung der in Washington vorbereiteten Abkommen hätte verdienen können. »Damit hat der Ministerpräsident Russlands seine Wahl getroffen – die Wahl eines echten Kommunisten. Eines Bolschewiken, der bereit ist, die Interessen seiner Heimat und seines Volkes zu missachten, und das für einen Internationalismus, den nur er und ehemalige Mitglieder der KPdSU verstehen«, entrüstete sich der Kommersant.

Die Umkehr über dem Atlantik war die erste Geste eines staatlichen Antiamerikanismus in den Neunzigerjahren. Sie zeigte, wie populär dieser in einem Volk sein kann, das sich seines Nationalstolzes beraubt fühlt. Damit begann der Entscheidungskampf um die Macht zwischen den antiwestlich eingestellten Konservativen, zu deren Bannerträger Primakow wurde, und den liberalen, prowestlichen Kräften, die keine Sowjetrevanche zulassen wollten. Letztere hatten zwar keine Führungsfigur, aber einen heimlichen Koordinator, den Chef der Kremladministration Alexander Woloschin.

In dieser Situation mussten die Kommunisten aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Mit der Umbettung Lenins sollte ihnen der rituelle Vernichtungsschlag versetzt werden. Doch das Recht stand der Sache im Wege. Nach dem Bestattungsgesetz war eine Umbettung Lenins nur aus einem von drei Gründen möglich: Entweder weil seine Nachkommen es so wollten – aber Lenins Verwandte waren kategorisch dagegen. Oder wenn die zuständigen Lokalbehörden das entschieden – in diesem Falle Juri Luschkow. Doch der stand im anlaufenden Machtkampf eindeutig nicht auf der Seite des Kremls und der Liberalen. Drittens, wenn ein Grab den öffentlichen Verkehr behindern sollte. Auf keinen Fall war eine Umbettung durch einen Erlass des Präsidenten möglich. Jede Verletzung dieses Gesetzes galt als Straftat. Damit wäre zu den Vorwürfen der Kommunisten gegen den Präsidenten möglicherwiese als sechster noch Vandalismus hinzugekommen. Das galt als zu riskant. Daher entschied man sich im Kreml zu einem anderen kühnen Schachzug – diesmal nicht gegen Lenin, sondern gegen Primakow.

Am 12. Mai 1999, drei Tage vor der Abstimmung über den Amtsenthebungsantrag gegen Präsident Jelzin in der Staatsduma, wurde Primakow in den Ruhestand versetzt. Die offizielle Begründung lautete: »wegen mangelnder Dynamik bei den Reformen«. Am nächsten Tag erreichten die Kommunisten nicht die notwendigen 300 Stimmen für die Einleitung des Amtsenthebungsverfahrens. Die Administration des Präsidenten hatte intensiv mit den Parlamentariern gearbeitet: Alle unabhängigen Abgeordneten stimmten gegen den Antrag. Das war ein taktischer Sieg Woloschins. Das Hauptproblem blieb jedoch: Wie konnte man einen Sieg des Bündnisses der Kommunisten mit Primakow in einem Jahr verhindern, wenn die zweite Amtszeit Präsident Jelzins zu Ende ging?

Die größte Schwierigkeit bestand darin, dass es in Jelzins Umkreis faktisch keinen Politiker von einer gewissen Beliebtheit gab. Die Umfragewerte des alt gewordenen Präsidenten tendierten gegen null – vor allem wegen der Vorwürfe, die Presse und Opposition (vor allem die Kommunisten) gegen seine Familie richteten. Der Präsidentenclan wurde beschuldigt, ein besonderes, zuweilen unverhältnismäßig hohes Gewicht im Staate und möglicherweise auch in der Wirtschaft zu haben. Die »Familie« – das waren vor allem Tanja und Walja, das heißt, Tatjana Djatschenko (die Tochter des Präsidenten) und Walentin Jumaschew (der ehemalige Chef der Präsidialadministration). In der Presse wurden stets nur die familiären Rufnamen benutzt, aber jeder wusste sofort, wer gemeint war. Damals waren sie noch nicht miteinander verheiratet, das sollte erst im Jahre 2001 geschehen. Zur »Familie« im weiteren Sinne zählte man auch die Tanja und Walja besonders nahestehenden Oligarchen Boris Beresowski und Roman Abramowitsch. Gewährsmann der »Familie« war Alexander Woloschin, seinerzeit Chef von Jelzins Administration, dem es auch zufiel, den Kreml aus einer fast ausweglos erscheinenden Lage herauszumanövrieren.

Im Kreml galt Woloschin als Eisblock – wegen der Härte und Entschlossenheit in den Fragen, die für ihn entscheidende Bedeutung hatten. Auch wenn Woloschin lächelte, bekam man seinen stählernen Händedruck zu spüren. Er kam aus der Wirtschaft und war in den Neunzigerjahren in einem guten Dutzend verschiedener Unternehmen von höchst zweifelhaftem, wenn nicht gar betrügerischem Ruf tätig gewesen. Woloschin galt als überzeugter Etatist: Er verteidigte die Interessen des Staates so, wie er sie verstand. Die Marktwirtschaft war für ihn ein absoluter, existenzieller Wert. Menschenrechte und Meinungsfreiheit hingegen nicht immer nützliche und zuweilen überflüssige Details.

Woloschins Situation als Chefmanager des Kremls wurde dadurch erschwert, dass die »Familie« einen sehr starken Gegner hatte – den Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow. Dieser galt lange Zeit als der natürliche Erbe Jelzins und zugleich als dessen Antipode, etwa so wie der Oberbürgermeister von Paris, Jacques Chirac, unter dem betagten französischen Präsidenten François Mitterrand. Das ganze Land kannte Luschkow, aber nicht als Liberalen oder Konservativen, denn eine Ideologie hatte Luschkow nicht, sondern als tüchtigen Geschäftsmann.

Luschkow wollte die Macht für sich persönlich, was er kaum verhehlte. Bereits 1996 spielte er mit dem Gedanken, bei der Präsidentschaftswahl zu kandidieren. Damals überredete man ihn, Jelzin den Vortritt zu lassen, der sich für die zweite und letzte Amtszeit bewarb. 1998 aber ging Luschkow aktiv an die Vorbereitungen. Er gründete seine eigene Partei »Vaterland«. Luschkow hatte auch seine Anhänger im Kreml, die Jelzin bedrängten, auf ihn zu setzen und ihn zu seinem Nachfolger zu küren. Aber Jelzin mochte Luschkow nicht.

Erste Verhandlungen wurden aufgenommen. Heute erinnert sich Luschkow, dass als Emissär der »Familie« der Oligarch Beresowski bei ihm auftauchte und ihm erklärte, man könnte ihn unterstützen, wenn er zwei Bedingungen erfülle: Er sollte die Unantastbarkeit der gesamten Familie und die Unumkehrbarkeit der Ergebnisse der Privatisierung garantieren. Das lehnte Luschkow ab, und genau aus diesem Grund wurde, wie er erklärt, gegen ihn ein wahrer Medienkrieg entfesselt. Woloschin erinnert sich, dass er als frischgebackener Chef der Präsidialadministration versucht habe, Luschkow zu umwerben: Er habe ihn besucht und mit ihm Tee getrunken. Doch die Gespräche führten zu nichts, klagt Woloschin. Luschkow konnte sich einfach nicht zurückhalten: Angesichts der Schwäche des Präsidenten ging er ganz automatisch zum Angriff über. Wie dem auch sei, der Medienkrieg zwischen Luschkow und der »Familie« hätte beinahe auch diesen Popularität gekostet. Erneut griff der Moskauer Oberbürgermeister zu einer List: Er unterstützte Primakow, ließ dem in die Jahre gekommenen Patriarchen der ganzen Nation den Vortritt, um in seinem Schatten den Sturm abzuwarten und in vier Jahren selbst anzutreten.

Gegen den äußerst beliebten Pensionär Primakow hatte der Kreml nichts aufzubieten. Ein Jahr vor Ablauf von Jelzins zweiter Amtszeit begann die »Familie« mit dem Casting für dessen Nachfolger. Dieses endete erst im August. Damals wurde der Chef des Geheimdienstes FSB, Wladimir Putin, zum Ministerpräsidenten ernannt – ein junger, völlig unbekannter Tschekist (Geheimdienstler), ehemals die rechte Hand von Anatoli Sobtschak, eines Demokraten der ersten Stunde, der inzwischen seine frühere Popularität eingebüßt hatte. Eine Woche vor Putins Ernennung fielen Untergrundkämpfer aus Tschetschenien in die nordkaukasische Nachbarrepublik Dagestan ein. So wurde Putin zum ersten Regierungschef, der sich nicht mit den Problemen der Wirtschaft herumschlagen musste, was schnell zu sinkendem Ansehen führen konnte. Er kämpfte gegen einen äußeren Feind und sammelte dabei Punkte. Einen Monat später sprengten Terroristen in Moskau zwei Wohnhäuser in die Luft. Das war ein Schlag gegen Oberbürgermeister Luschkow und half Putin noch ein Stückchen weiter.

Trotz alledem glaubte niemand daran, dass die kompromittierte »Familie« in der Lage sein könnte, die Wahl zu gewinnen. »Primakow ist dazu verurteilt, bei der Präsidentschaftswahl zu siegen«, erklärte der bekannteste Fernsehmoderator des Landes, der Chefredakteur des Senders NTW, Jewgeni Kisseljow, im September 1999. Primakow hatte die besten Umfragewerte, ihn unterstützten der Moskauer Oberbürgermeister Luschkow und fast alle Gouverneure Russlands. Seinen Wahlkampf finanzierten die zwei größten Erdölfirmen des Landes, Lukoil und Yukos, für ihn spendete der Oligarch Wladimir Jewtuschenkow, er erhielt Rückenwind von Gazprom und dem wichtigsten Medienmagnaten des Landes, Wladimir Gussinski. Daher lobte ihn auch dessen Fernsehsender NTW, damals der angesehenste im Lande.

Aber das war nicht die Hauptsache. In drei Monaten sollten Parlamentswahlen stattfinden. Bislang hatte noch nie eine Kremlpartei die Dumawahl gewonnen, aber diesmal sah es noch schlechter aus. Der Kreml hatte überhaupt keine eigene Partei. Die hatte Primakow, und sie schickte sich an, die Wahl für sich zu entscheiden. Ihr gehörten fast alle Gouverneure des Landes an, was bedeutete, dass die Ressourcen des Staatsapparates für Primakow wirken würden. Seine Partei »Vaterland – ganz Russland« (OWR) war der absolute Favorit.

Der Traum, Lenin zu begraben, wurde erneut aufgeschoben. Der Kampf gegen das Erbe des Kommunismus trat in den Hintergrund. Vorerst galt es, den Exkommunisten Primakow zu besiegen.

Ein Neujahrsmärchen

Am 31. Dezember 1999 schrieb Alexander Woloschin sein Rücktrittsgesuch. Eine Stunde zuvor war sein Chef, Präsident Jelzin, selbst zurückgetreten und hatte Ministerpräsident Putin zum amtierenden Präsidenten ernannt. Das bedeutete, die hochkomplizierte Operation der Machtübergabe, die die Journalisten bald nur noch »Operation Nachfolger« nennen sollten, war damit erfolgreich vollzogen.

»Was soll das?«, fragte Putin, als er Woloschins Gesuch gelesen hatte. Der erklärte ihm lächelnd, zum Chef der Präsidialadministration habe ihn der ehemalige Präsident ernannt. Wladimir Putin solle jetzt Gelegenheit haben, selbst einen Chef seiner Administration auszuwählen. Putin lächelte zurück und bat Woloschin, auf seinem Posten zu bleiben. Der neue Kremlherr und sein alt-neuer Ideologe gingen mit einer Verbeugung auseinander.

Nur zwölf Tage zuvor hatten in Russland Parlamentswahlen stattgefunden, die einen Sieg Woloschins und seiner Strategie bedeuteten. Die künstlich geschaffene Partei »Einheit« überholte ihren Hauptrivalen, den Block »Vaterland – ganz Russland« (OWR), den der ehemalige Ministerpräsident Jewgeni Primakow und der Moskauer Oberbürgermeister Juri Luschkow anführten. Drei Monate zuvor war dieser Sieg noch unmöglich erschienen.

Aus der Taufe heben sollte die Partei »Einheit« Boris Beresowski. Ihn nannte die russische Presse zu dieser Zeit nur die »graue Eminenz« des Kremls. Das war natürlich eine Übertreibung. Boris Beresowski, ein früherer Mathematiker und ziemlich zerstreutes Genie, sprühte wirklich vor Ideen, die der Kreml nutzte. Auf ihn hörten Tanja und Walja. Jelzin hingegen war er nicht geheuer. Beresowski hat nie in seinem Leben ein Vieraugengespräch mit Jelzin gehabt. Das kompensierte er mit Geschichtchen, die er den Reportern erzählte. Danach war die gesamte Politik des Kremls eine Frucht seiner genialen Einfälle.

Aber jetzt war tatsächlich Beresowskis Stunde gekommen: Er reiste persönlich zu mehreren wichtigen Gouverneuren, um sie zu überreden, Luschkow-Primakow fallen zu lassen und ins Lager des Kremls überzulaufen. Ziemlich bald verlor Beresowski jedoch das Interesse an dieser Kärrnerarbeit zum Aufbau einer neuen Partei und überließ das dem jungen Mitarbeiter Woloschins, Wladislaw Surkow. Das sollte der erste Wahlkampf des späteren Ideologen Putins werden.

Insgesamt gelang es, nur 39 Gouverneure mit dem neuen Projekt des Kremls anzulocken. Bei Primakow blieben 45. Nun wurde nach einem Führer für die neue Partei gesucht. Für Putin selbst war es gefährlich, dieses Risiko auf sich zu nehmen: Sollte die Partei die Wahl verlieren, dann hätte sich damit auch die »Operation Nachfolger« erledigt. Seine Wahl wäre unmöglich geworden. Daher entschied man sich, auf Nummer sicher zu gehen und einen anderen Volkshelden zu ernennen – den Minister für Katastrophenschutz und Rettungshelfer von Amts wegen, Sergej Schoigu. Schlagzeilen wie »Schoigu kommt, um Russland zu retten« erschienen in den kremlnahen Zeitungen bereits, als der Minister noch nicht einmal sein Einverständnis gegeben hatte, zur Wahl anzutreten. Dazu überreden musste ihn Jelzin persönlich.

Die Finanzierung der neuen Partei übernahmen vor allem Beresowski und Abramowitsch. Aber ihren Beitrag leisteten auch solche, die mit der anderen Hand Primakow Geld gaben: Die Wirtschaft ging auf Nummer sicher.

Ein solcher Scheck war im Durchschnitt zehn Millionen US-Dollar schwer – so viel berappte in der Regel ein Oligarch. Insgesamt brachte die proputinsche »Einheit« ungefähr 170 Millionen Dollar zusammen.

Woloschin bemühte sich, auch die liberale Öffentlichkeit unter seine Fahnen zu holen. Der Kremlideologe verkündete, OWR sei der Weg in die Vergangenheit, zur Sowjetrevanche, der Versuch des KGB, an die Macht zurückzukehren.

Alle Liberalen und Reformer, alle, die Veränderungen wollten, müssten sich auf die Seite von »Einheit« und Putin schlagen, hieß es aus dem Kreml. Tatsächlich aber liefen der »Einheit« dieselben Konjunkturritter aus den Regionen zu wie OWR, meist jene, die bei OWR kein warmes Plätzchen gefunden hatten. »Einheit« legte einen erfolgreichen Start hin. Primakows Hauptproblem war sein Alter; in dieser Hinsicht erinnerte er sehr an den kranken und schwachen Jelzin. Putin und Schoigu dagegen waren jung und voller Energie. Anfang Oktober fiel OWR in den Umfragen auf 20 Prozent, »Einheit« dagegen sprang von null auf sieben Prozent. Für Putin und Primakow sprachen sich damals 15 bzw. 20 Prozent der Befragten aus.

In den folgenden zweieinhalb Monaten lief der schmutzigste Wahlkampf der russischen Geschichte ab. Sein Höhepunkt war die Vorführung der Röntgenaufnahmen von Primakows Hüftgelenk im Programm von Sergej Dorenko bei ORT, Beresowskis Fernsehen, zur besten Sendezeit. Der Fernsehsender NTW, der Gussinski gehörte, unterstützte dagegen mit aller Kraft Primakow. Da er aber zu der neuen Partei »Einheit« kein kompromittierendes Material vorlegen konnte, verlor er den Medienkrieg. Ironie des Schicksals: Die beiden Symbole dieses Krieges, ORT und NTW, wie auch ihre Gesichter, Kisseljow und Dorenko, wurden binnen Kurzem selbst Opfer der neuen Machthaber, unabhängig davon, für wen sie gekämpft hatten. Noch interessanter ist, was aus den »Polittechnologen« wurde, die die beiden Wahlkämpfe leiteten und sich auf Leben und Tod bekriegten. Aufseiten des Kremls war das Wladislaw Surkow, auf Primakows Seite der junge Wjatscheslaw Wolodin aus Saratow. Das war ihr erster Zweikampf gewesen. Aber nicht der letzte – in den folgenden 15 Jahren sollten sie noch öfter darum streiten, wer den größeren Einfluss auf Wladimir Putin ausüben durfte.

Bei diesen Wahlen erhielt Surkows »Einheit« insgesamt 23 Prozent der Stimmen, ein Prozent weniger als die Kommunisten, Wolodins OWR nur 13 Prozent. Das Wichtigste aber war, dass Putins Umfragewerte ständig stiegen und schließlich 30 Prozent erreichten, während Primakows Popularitätswert bei 20 Prozent verharrte.

Die unerwartete Niederlage bei den Wahlen vom 19. Dezember 1999 entmutigte das Lager Primakow-Luschkow ein wenig. Aber die Protagonisten waren der Meinung, dass man bis zur Präsidentenwahl noch ein halbes Jahr habe und der eigentliche Kampf erst bevorstehe. Allen war jedoch klar, dass man noch Zeit hatte und bis Neujahr ohnehin nichts Ernsthaftes passieren würde. Man ging auseinander, um nach dem langen, zermürbenden Wahlkampf ein wenig auszuruhen.

Am 29. Dezember veröffentlichte die Zentrale Wahlkommission das amtliche Endergebnis. Und zwei Tage später stellte sich heraus, dass das Spiel zu Ende war. Am 31. Dezember verkündete Präsident Jelzin seinen Rücktritt und ernannte Putin zu seinem Nachfolger. Das bedeutete, dass die Präsidentschaftswahl bereits im März stattfinden würde und nicht im Juni, wie von der Verfassung vorgeschrieben. Es bedeutete auch, dass Primakow, Luschkow und den anderen Gegnern des Kremls keine Zeit zur Vorbereitung blieb.

Im Grunde genommen war das Spiel bereits in der Neujahrsnacht gelaufen, obwohl das niemand vorausgesehen hatte. Während das Primakow-Lager noch die Plätze im Wahlstab verteilte, gelang dem Chef der Präsidialadministration Woloschin, der nur 15 Meter von Lenins Leichnam entfernt saß und diese Nachbarschaft unbedingt beenden wollte, etwas Unwahrscheinliches: Er einigte sich mit den Kommunisten. Das Hauptziel des Kremls war einfach: Es galt, die Allianz der Kommunisten mit den Primakow-Anhängern zu spalten.

Bei der Eröffnungssitzung der Duma am 18. Januar 2000 stellte sich heraus, dass »Einheit« und die Kommunisten während der Feiertage eine Paketvereinbarung geschlossen hatten: Parlamentspräsident wurde ein Vertreter der Kommunistischen Partei, die Vorsitzenden aller Ausschüsse teilten beide Parteien unter sich auf. Die übrigen, darunter OWR, gingen leer aus. Als sie begriffen, dass das Glück sich von Primakow abgewendet hatte, ließ ihn die halbe Fraktion schon bei der ersten Sitzung im Stich. »Das ist ein Komplott!«, brüllte Primakow vom Rednerpult und verließ unter Protest den Saal.

Er sollte auch nicht mehr zur Präsidentschaftswahl antreten. Nach anderthalb Jahren verließ er die Duma und setzte als Fraktionsvorsitzenden seinen Protegé, den hoffnungsvollen Abgeordneten Wjatscheslaw Wolodin, ein. Der lief bald zu Putin über und handelte Ende 2001 die Fusion von OWR und »Einheit« zur neuen Regierungspartei »Einheitliches Russland« aus. Zehn Jahre später war er der Chefideologe des Kremls.

Der erste Freund

Am 11. März 2000 gab es im Mariinski-Theater von St. Petersburg eine Premiere. Alles geschah hier zum ersten Mal, und alles war sehr symbolisch.

Erstmals versammelten sich in diesem Saal Menschen, die in den kommenden Jahrzehnten die politische Elite Russlands stellen sollten. Die Theaterleute beäugten sie mit Staunen: Zum ersten Mal sahen sie eine so große Zahl von Leuten mit Mobiltelefonen.

Die Premiere war ein prächtiges Spektakel. Man gab das Ballett »Krieg und Frieden« in der Inszenierung des aus Hollywood zurückgekehrten russischen Filmregisseurs Andron Kontschalowski. Das Bühnenbild stammte von dem nach Hollywood gegangenen russischen Theaterkünstler Georgi Zypin.

Doch an diesem Abend im Mariinski-Theater war der Hauptheld nicht Kontschalowski und auch nicht sein Bruder, der Oscarpreisträger und Regisseur Nikita Michalkow. Beide hatten lediglich einen Platz im Parkett. Die Logen waren von Ministern, Mitarbeitern der Präsidialadministration und Gouverneuren besetzt. Die Hauptpersonen saßen in der Zarenloge. Es waren zwei Regierungschefs: Tony Blair und Wladimir Putin. Letzterer war bereits sechs Wochen lang auch amtierender Präsident, und dies war seine Weltpremiere. Zum ersten Mal empfing er den Regierungschef eines ausländischen Staates, und noch dazu mit solchem Pomp.

Zwei Monate zuvor hatte die amerikanische Reporterin Trudy Rubin auf dem Weltwirtschaftsforum von Davos die russische Delegation auf einer Pressekonferenz mit der Frage schockiert: »Who is Mr Putin?« Niemand auf der Welt kannte den Nachfolger Boris Jelzins, niemand wusste, welche Chancen er hatte, wie sein politischer Hintergrund aussah, wie selbstständig oder unselbstständig er war, woran er glaubte, was er fürchtete, ob er für Reformen oder für die Sowjetrevanche stand. Das wusste auch die russische Öffentlichkeit nicht. Ihr wurde ein sehr einfaches Bild geboten, das sich Alexander Woloschin ausgedacht hatte: Ein tough guy, ein Mann der harten Hand, das genaue Gegenteil zu dem alten, abgeschlafften Boris Jelzin. Für die Welt, vor allem die westliche Öffentlichkeit, hielten Putin und dessen Mannschaft ein anderes Image bereit – ein smart guy, ein junger, energischer Jurist, kompetent und selbstsicher, aber auch freundlich und offen. Diese Rolle war im Grunde Tony Blair nachgebildet. Zu ihm wollte Putin als Erstem ein freundschaftliches Verhältnis herstellen. Zu wem sonst? Clinton und Chirac waren mit Jelzin befreundet und wurden zu sehr mit ihm assoziiert, Clinton würde zudem selbst in einem Jahr aus dem Amt scheiden.

Manch einer erinnerte sich auch daran, dass 16 Jahre zuvor Margaret Thatcher Michail Gorbatschow mit den Worten für die Welt entdeckt hatte: »Mit dem kann ich.« Putin wollte kein zweiter Gorbatschow werden, aber auf eine ähnliche Auslandswerbung hoffte er schon. Schließlich wollte er gefallen. Und er begann Tony Blair nach allen Regeln der Kunst zu umwerben. Der britische Premier wurde nach Petersburg, Putins Heimatstadt, eingeladen, wo er mit wesentlich größerem Effekt als bedeutender Europäer präsentiert werden konnte als in Moskau. Die erste Begegnung Putins mit Blair fand in Petershof statt, der Sommerresidenz der Zaren. Dann führte er den britischen Premierminister durch die Ermitage. Und schließlich besuchten beide mit ihren Frauen am Abend die Premiere im Mariinski-Theater.

Am Eingang wurden die beiden Spitzenpolitiker von einer kleinen Gruppe Demonstranten mit dem Spruchband empfangen: »Putin – das ist der Krieg« (gemeint war der Tschetschenienkrieg). Gegeben wurde die Premiere der Oper »Krieg und Frieden«, die von der denkwürdigen Zeit in der Geschichte Russlands und Großbritanniens handelt, da die beiden Imperien Verbündete waren und über einen gemeinsamen Feind siegten. Im ersten Akt trat Zar Alexander I. auf, der äußerlich an Putin erinnerte und außerdem einen Zwergpudel auf dem Arm hatte, in dem das Publikum sofort Putins geliebte Hündin Tossja erkannte.

Zehn Jahre später sollte Tony Blair in seinen Memoiren schreiben, er sei von dem eines Zaren würdigen Empfang überrascht gewesen. Bei einer Theaterpremiere in London hätte er lächeln und Hände schütteln müssen. Im Mariinski-Theater war alles anders. Die Zuschauer machten ihnen Platz und senkten ehrfürchtig die Köpfe. »Putin ist in Russland wie ein Zar«, sollte Blair in seinem Buch »Mein Weg« schreiben.

Im Jahre 2000 sprach er natürlich anders. »Putin ist ein hochintelligenter Mann mit genauen Vorstellungen davon, was er in Russland erreichen will. Sein Russland ist eine starke Macht, in der Recht und Gesetz herrschen, dazu ein demokratisches, liberales Land«, sagte er in einem Interview, als er in London zurück war. Die erste Prüfung hatte Putin bestanden. Ihm war es gelungen, bei Blair einen unauslöschlichen Eindruck zu hinterlassen. Noch am selben Tag meldete Blairs Pressedienst, nach seiner Rückkehr in die Downing Street habe der Premier alle seine Amtskollegen der G7 angerufen und ihnen seine angenehmen Eindrücke von der Begegnung mit Putin geschildert.

Zwei Wochen später gewann Putin die Präsidentschaftswahl, ernannte seine Regierung und besetzte die Posten in der Präsidialadministration. Der Chef blieb derselbe – Alexander Woloschin. Nachdem er die Übergabe der Macht von Jelzin an Putin erfolgreich über die Bühne gebracht hatte, wurde Woloschin zum Ideologen der ersten Amtszeit, zum Inspirator aller Reformen, mit denen Putin diese Herrschaftsperiode einleitete.

Heute erinnert er sich, dass Putin »wie alle russischen Präsidenten« in der vollen Gewissheit antrat, mit dem Westen, vor allem mit Amerika, ein gutes Verhältnis entwickeln zu können. Er war der Meinung, dass die westlichen Politiker die Besonderheiten Russlands nicht verstehen. Daher müsse man sich mit ihnen treffen, ihnen erklären und sie davon überzeugen, wo die Russen stehen und welche Probleme sie haben. Putin empfing jeden Spitzenpolitiker des Westens, jeden Außenminister persönlich und sprach mit ihnen allen wesentlich länger, als das Protokoll und der gesunde Menschenverstand es geboten.

Mit Blair schien es gut zu laufen. Der britische Premier war auch zuvor nicht mit besonders heftiger Kritik an den Militäraktionen in Tschetschenien aufgefallen. Putins Erklärungen leuchteten ihm offenbar ein. Der erklärte dem britischen Freund lange und ausführlich, dass der zweite Tschetschenienkrieg mit dem Einfall der Untergrundkämpfer in Dagestan begonnen habe und die Wahhabiten nach der Devise handelten: »Über uns ist Allah, und unter uns sind die Böcke.« – »Die Böcke, das sind wir alle!«, ereiferte sich Putin. Blair begriff nicht gleich, denn im Englischen ist »Bock« kein Schimpfwort, aber Putin machte ihm klar, dass der Begriff im Russischen höchst beleidigend klinge.

Im Jahre 2000 trafen sich Putin und Blair insgesamt fünf Mal. Im April, bald nach der Wahl, aber noch vor seiner Amtseinführung unternahm Putin seine erste Auslandsreise zu seinem Freund nach London. Die britische Presse empfing ihn unfreundlich. »Das einzige bekannte Eigentum des 48-jährigen Präsidenten außerhalb von Moskau ist ein Holzhäuschen … mit Plumpsklo auf dem Hof. Das Hotel Royal Garden, das Mr Putin gestern Abend nicht mehr verlassen hat, ist zweifellos luxuriöser. In seiner Suite gibt es Satellitenfernsehen, Filme rund um die Uhr, eine Massagedusche, zahllose Sorten Seife, Shampoos, Handtücher, Cremes, Telefon mit Anrufbeantworter, Fax, Internetanschluss und ein riesiges Arbeitszimmer, das mit dem prächtigen Schlafzimmer verbunden ist – für einen Gast, der viel Raum um sich braucht … Hoffen wir, dass er der Versuchung widersteht, aus seiner Suite den Bademantel des Hotels Royal Garden mitgehen zu lassen«, schrieb die Daily Mail. Putin las es, war gekränkt, aber ließ sich nichts anmerken.

In London gab er übrigens seine erste Pressekonferenz nach der Wahl zum Präsidenten – zusammen mit Blair. Dabei nannten sie einander Wladimir und Tony.

Im November 2000 kam der britische Premier erneut nach Russland, diesmal nach Moskau. Putin führte ihn in das Restaurant »Piwnuschka« (»Bierkneipe«). Dort tranken sie Wodka (Putin hatte herausbekommen, dass Blair starken Getränken zugetan war), aßen Kartoffeln, Hering und marinierte Pilze und redeten darüber, wie man die Beziehungen zu den USA entwickeln sollte. Zwei Wochen zuvor hatte in Amerika die Präsidentenwahl stattgefunden, aber das Ergebnis war immer noch nicht bekannt. Nach wie vor wurden im Staate Florida die Stimmen ausgezählt, und es war unklar, ob man bis zum neuen Jahr wissen werde, wer als nächster Präsident gewählt war. Putin und Blair, zwei populäre Politiker, die ihre Wahlen sicher gewonnen hatten, mokierten sich darüber.

Ein Kreuz aus Zypressenholz

Im US-Wahlkampf Al Gore gegen George W. Bush hatte Russland eine besondere Rolle gespielt. Die Republikaner benutzten es als Waffe gegen die Demokaten. Sie warfen Bill Clinton und Al Gore vor, sie hätten »Russland verloren«. Pünktlich zu den Wahlen wurde im Kongress der Sonderbericht einer Russland-Expertengruppe mit dem Titel »Der Weg Russlands in die Korruption« vorgelegt. Darin wurde die Clinton-Administration beschuldigt, mit ihrer Russlandpolitik gründlich gescheitert zu sein. Die Verfasser des Berichtes verglichen die Jahre 1945 und 1991 – das Ende des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges. Die USA hatten beide Kriege gewonnen. Aber während es im ersten Fall der Truman-Administration gelungen war, alles zu tun, um revanchistische Tendenzen in Europa zu vermeiden, den Marshallplan zu realisieren und damit die europäische, besonders die deutsche Wirtschaft wieder auf die Beine zu stellen, in Europa ein normales Leben wiederaufzubauen und es sogar als Verbündeten zu gewinnen, sei der Clinton-Administration nach 1991 genau das Gegenteil passiert. Alles Geld, das zur Wiederherstellung der russischen Wirtschaft ausgegeben wurde, sei bei Duldung der amerikanischen Regierung in dunklen Kanälen verschwunden. In Russland habe es keinerlei Entsowjetisierung (nach dem Beispiel der deutschen Entnazifizierung) gegeben, zu Beginn der 2000er-Jahre habe der Antiamerikanismus in Russland einen Höhepunkt erreicht – ein erstaunlicher Kontrast zu der Lage Anfang der Neunzigerjahre. Während die USA beim Zerfall der Sowjetunion noch sehr populär waren, sei zehn Jahre später davon nichts mehr zu spüren. Jetzt gebe das russische Volk den Amerikanern die Schuld an der Armut und Korruption, die das Land erfasst hätten, stellten die Verfasser des Berichtes fest. Die Clinton-Administration habe die historische Chance vertan, Russland zu helfen, ein demokratischer Staat zu werden, weil sie solchen führenden Politikern wie Jelzin, Tschernomyrdin und Tschubais zu sehr vertraut habe. Schuld daran seien drei Männer, die sich persönlich mit Russland befasst hätten – Vizepräsident Al Gore, der stellvertretende Finanzminister Lawrence Summers und der stellvertretende Außenminister Strobe Talbott.

Der Bericht war natürlich ein klassisches Wahlkampfpamphlet, mit dem Al Gore diskreditiert werden sollte. Im Schlussteil hieß es übrigens, es gäbe noch eine Chance – das sei der neue russische Präsident Wladimir Putin, der sich bemühe, die notwendigen Reformen durchzuführen. Es sei sehr wichtig, ihm zu helfen. Das sei die letzte Chance sowohl für Russland als auch für Amerika. In dem Bericht stand nicht, war aber gemeint, dass man diese wichtige Mission nicht einer Gore-Administration anvertrauen könne. Diese werde nur einer Bush-Administration gelingen.

Ende der Neunzigerjahre war der Antiamerikanismus in Russland tatsächlich stark angewachsen. Darauf war unter anderem die Popularität des alten »Kalten Kriegers« Jewgeni Primakow zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund erschien Putin, besonders aber seine rechte Hand Woloschin (mit seinem hervorragenden Englisch) den Amerikanern als Partner weitaus wünschenswerter. »Putin hat eine erstklassige Mannschaft, und ich glaube daran, dass er bereit ist, die notwendigen Reformen durchzuführen«, erklärte Bill Clinton noch vor der Präsidentschaftswahl in Russland.

Alexander Woloschin war in der Tat mit Strobe Talbott und Larry Summers gut bekannt und wusste genau, wie das Verhältnis zu einer Gore-Administration zu gestalten wäre, wenn sie denn die Wahl gewinnen sollte. Bush durchschaute er wesentlich weniger. Daher entsandte er im August 2000 eine große Delegation der Partei »Einheit« zum Konvent der Republikanischen Partei, wo Bush zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde. Woloschin erläuterte, die Republikaner seien pragmatischere und konstruktivere Politiker, sie seien weniger ideologisiert und nähmen die Menschenrechte nicht so wichtig. Die Beziehungen zwischen Russland und den USA seien unter republikanischen Präsidenten stets wesentlich einfacher gewesen. Auf dem Konvent der Republikaner machte man sich miteinander bekannt: Sowohl Bush als auch seine außenpolitische Beraterin Condoleezza Rice gefielen den Abgesandten Putins und Woloschins ausnehmend gut. Im Januar 2001 lud Bush eine Delegation der Partei »Einheit« zu seiner Amtseinführung ein.

Auf seine erste Begegnung mit Bush bereitete sich Putin ebenso sorgfältig vor wie auf die mit Blair. Er beschloss, sich diesem perfekt anzupassen. Vor der ersten Begegnung in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana studierte Putin das für ihn zusammengestellte Dossier über Bush, das eine ausführliche Beschreibung seines Charakters und seines Lebensweges enthielt. Dort las er, dass Bush sehr religiös sei, in seiner Jugend dem Alkohol zugetan war, mit 40 Jahren aber das Trinken aufgegeben und zu Gott gefunden hatte.

Gleich zu Anfang ihres inoffiziellen Gesprächs in Ljubljana erzählte Putin Bush eine Geschichte aus seinem Leben. Er hatte bei Leningrad eine Datscha besessen. Vor einigen Jahren war sie abgebrannt, zum Glück kam dabei niemand aus seiner Familie zu Schaden. Wie durch ein Wunder blieb ein kleines Kreuz aus Zypressenholz unversehrt, das an einer Wand hing. Das habe ihn davon überzeugt, dass es noch Wunder gäbe, fasste Putin zusammen. Der gläubige Bush war überrascht. »Ich habe ihm in die Augen gesehen und dort eine Seele erblickt«, soll er nach dieser denkwürdigen ersten Begegnung gesagt haben.

Bush war offenbar ebenfalls überzeugt, dass er Putin für sich gewinnen könne. Das Gesagte war ein Kompliment im Hinblick auf künftige gute Beziehungen, berichtet Bushs damaliger Redenschreiber David Frum. Nach seinen Worten war Bush anfangs der Meinung, Russland könnte durchaus ein normales europäisches Land wie zum Beispiel Deutschland werden. Natürlich keine Supermacht wie die USA oder China, aber durchaus erfolgreich. Bush wurde aber ziemlich schnell klar, dass er sich geirrt hatte, bekannte Frum.

Die fetten 2000er-Jahre

Die »erstklassige Mannschaft«, von der Bill Clinton gesprochen hatte, ging in der Tat unverzüglich daran, Reformen am System einzuleiten. Noch vor seiner Amtseinführung erteilte Putin seinen alten Bekannten aus Petersburg, liberalen Ökonomen, die in der Mannschaft des ersten demokratischen Oberbürgermeisters Anatoli Sobtschak tätig gewesen waren, den Auftrag, für die neue Regierung einen Reformplan auszuarbeiten. Diese Kreativgruppe leiteten German Gref und Alexej Kudrin. Nach seiner Wahl ernannte Putin sie zum Minister für wirtschaftliche Entwicklung bzw. Finanzminister.

Als sie noch an ihren Zukunftsplänen arbeiteten, zeigte sich bereits, dass sie Glück hatten. Schon 1999 – Putin war gerade erst Ministerpräsident geworden – begannen in der ganzen Welt die Ölpreise zu steigen. Daher gelang es Kudrin, im Jahr 2000 zum ersten Mal im Russland nach der Perestroika einen positiven Haushalt abzuschließen. Jetzt kam es darauf an, dieses quasi vom Himmel gefallene Glück zu nutzen. Und die »Petersburger Ökonomen« gaben sich alle Mühe, maximalen Ehrgeiz zu entwickeln.

Die Regierung führte eine Steuer-Flatrate von 13 Prozent ein. Die Anzahl der verschiedenen Steuern wurde auf ein Drittel gesenkt, sie wurden in den Erdölsektor verlegt, und das Steueraufkommen erhöhte sich. Ein Bodengesetz wurde ausgearbeitet. Zum ersten Mal seit der Revolution von 1917 gab es in Russland wieder die Möglichkeit Grund und Boden zu veräußern und zu erwerben.

Diese revolutionären Reformen wurden von der Duma beschlossen. Während das Parlament unter Jelzin jedes Gesetz torpedierte, das von der Regierung ausging, wurden unter Putin alle Entwürfe durchgewinkt – dank der neuen Koalition: Die ehemaligen Anhänger Primakows hatten sich mit der »Einheit« zusammengeschlossen; die neue Putin-Partei »Einheitliches Russland« besaß in der Duma die Mehrheit.

Der Ölpreis stieg rasant, die Bevölkerung wurde wohlhabender – das putinsche Wirtschaftswunder war nicht zu übersehen. Nach den wilden Neunzigern begannen in Russland die fetten 2000er-Jahre.

Rechtzeitig mit der Durchführung von Wirtschaftsreformen gingen Putin und Woloschin auch einige radikale politische Veränderungen an. So dachte sich Woloschin ein neues Verfahren zur Bildung des Föderationsrates aus, des Oberhauses des Parlaments. Bisher saßen dort die Gouverneure der Regionen in Person. Nach dem neuen Verfahren sollten die Regionen von hauptamtlichen Senatoren vertreten werden. Irgendwann tauften Politologen diesen neuen Kurs »gelenkte Demokratie«. Wahrscheinlich sollte das heißen, dass sie unter Jelzin ungelenkt war. Den ersten Schritt zur stärkeren Lenkung bildete eine straffere Kontrolle der Regionen. Diese hatte nur ein Ziel, erläuterte Woloschin: Regionalchefs und Wirtschaftslobbyisten sollten daran gehindert werden, die Reformen zu torpedieren. Diese Reform schmeckte den Gouverneuren allerdings gar nicht, denn damit wurden sie aus dem Parlament vertrieben und verloren ihr Mitspracherecht auf der Ebene der Föderation. Vor allem fühlten sich jene Gouverneure vor den Kopf gestoßen, die im Wahlkampf auf Putin gesetzt und die »Einheit« unterstützt hatten.

Im Parlament wurde die Reform durchgewinkt. Zugleich wurden alle Posten in der Duma noch einmal neu verteilt. Die Paketvereinbarung mit den Kommunisten wurde nicht mehr gebraucht und über Bord geworfen. Von dieser Niederlage haben sich die Kommunisten nie erholt. Sie hörten auf, eine bedeutende politische Kraft zu sein, und waren nicht mehr gefährlich. Woloschin verabschiedete sich auch von dem Vorhaben, Lenin aus dem Mausoleum zu entfernen. Diese Nachbarschaft störte ihn nun wirklich nicht mehr.

Am Ende dieses Jahres 2000 wurde im Kreml die Idee geboren, auch bei der Symbolik des Staates Ordnung zu schaffen. Seit 1991 wurde die Nationalhymne in Russland nicht mehr gesungen, denn ihr war der Text abhandengekommen. Boris Jelzin hatte die alte Sowjethymne aus der Stalinzeit abgeschafft und durch eine Melodie von Michail Glinka ersetzt, die dieser im 19. Jahrhundert geschrieben hatte. Einen neuen Text hatte noch niemand geschaffen. Woloschin wie auch Putin gefiel diese Musik nicht, sie gehe nicht ins Ohr, meinten sie. Eine lange Liste neuer Melodien wurde aufgestellt – fast ausschließlich alte Märsche –, um daraus eine Hymne für das neue Russland auszuwählen. Aber im letzten Augenblick überlegte Putin es sich anders – er entschied, zu der alten Stalinhymne zurückzukehren und ihr einfach einen anderen Text zu unterlegen. Den Auftrag, einen neuen Text zu schreiben, erteilte er ausgerechnet dem Verfasser der früheren Version, dem alten Sowjetdichter Sergej Michalkow, zugleich Vater der Filmregisseure Nikita Michalkow und Andron Kontschalowski.

Der Kommunistenhasser Woloschin war natürlich dagegen. Die »Familie« wies darauf hin, welch ein Schlag das für den Rentner Boris Jelzin sein werde. Aber Putin überzeugte seine Berater, dass dies für die Reformen günstig sei. Da man alle Kraft auf die Wirtschaft, auf unpopuläre, schmerzhafte Veränderungen konzentrieren müsse, solle man die Bevölkerung nicht mit Kleinigkeiten ärgern. Mochten sich die Alten doch freuen, so sammle man die Kräfte für die liberalen Reformen und die Deregulierung, argumentierte Putin. Und Woloschin lenkte ein: Wenn es den Reformen diente, durfte es auch die Sowjethymne sein.

Kapitel 2Boris Beresowski, der aufdringliche Pate

Boris Beresowski bin ich nie begegnet. Dabei habe ich fast zehn Jahre lang bei einer Zeitung gearbeitet, die ihm gehörte – der größten Wirtschaftszeitung Russlands der 2000er-Jahre, dem Kommersant.

Als ich 2007 an einem Buch über Gazprom mitgeschrieben habe, sollte ich eigentlich Beresowski aufsuchen und interviewen. Doch das habe ich bewusst vermieden. Mir schien, wenn Beresowski als Gesprächspartner in dem Buch auftaucht, dann könnte das nur kompromittierend wirken. So zweifelhaft war sein Ruf und alles, womit er zu tun hatte. Außerdem war ich überzeugt, dass Beresowski permanent lügt. Welchen Sinn sollte also ein Interview haben, das ich von vornherein für unglaubwürdig hielt?

Viele meiner Freunde, darunter auch sehr gute, dachten über Beresowski völlig anders. Einige kannten ihn persönlich und waren sogar mit ihm befreundet. Besonders in seinen letzten Lebensjahren, als er einsam war und das Londoner Exil ihn sehr bedrückte. Sie versichern, er sei absolut offen gewesen. Da ich dieses Buch erst nach seinem Tod geschrieben habe, musste ich mich auf die Erinnerungen von Freunden des verstorbenen Oligarchen verlassen.

Ein Jahr vor seinem Tod hat er meinen Journalistenkollegen vom Fernsehsender »Doschd« ein langes Interview gewährt. Außerdem hat er in seinen Zeugenaussagen im Prozess gegen Roman Abramowitsch seine Sicht auf die Ereignisse Ende der Neunziger- und Anfang der 2000er-Jahre wortreich dargelegt. Das Gericht in London war übrigens der Meinung, Beresowski habe in seinen Aussagen permanent gelogen, und entschied daher gegen ihn.

Beresowski besaß eine sehr wichtige Eigenschaft, die ihn von allen übrigen Helden dieses Buches unterscheidet. Er hat viele Male Irrtümer zugegeben. Gegen Ende seines Lebens (natürlich nicht in den Phasen seines abenteuerlichen Triumphes) hat er seine Taten oft bereut. Einige meinen, dabei sei er absolut ehrlich gewesen. Andere sind sich sicher, dass auch das eine billige Pose war.

Der Gänserich muss ins Loch

»Gestern bin ich mir wie Beresowski vorgekommen«, scherzt Roman Abramowitsch gern, »ich habe mehrere Leute zur selben Zeit zu mir bestellt.« Menschen, die Beresowski näher kannten, sehen ihn als ein zerstreutes Mathematikgenie, das vor Ideen sprühte, aber bei Weitem nicht immer kontrollieren konnte, wie man sie umsetzte.

Von Beresowski kursiert die Geschichte, wie er sich zufällig mehrere völlig über Kreuz liegende Geschäftsleute zur gleichen Zeit als Gäste einlud: Wladimir Gussinski, Michail Chodorkowski und Wladimir Potanin. Angeblich brachte er sie in verschiedenen Zimmern seines Hauses unter, damit sie sich nicht begegnen sollten. Dann aber tauchte ein Freund auf, dem er versprochen hatte, mit ihm ins russische Bad zu gehen. Er ging also mit seinem Freund ins Bad (offenbar ebenfalls in seinem Haus) und vergaß die übrigen Gäste. Es verging eine Stunde, und die Eingeladenen begannen im Haus umherzugehen, wobei sie sich natürlich über den Weg liefen. Schließlich versammelten sie sich alle um den Tisch im Esszimmer, wo plötzlich Beresowski im Bademantel vor ihnen stand.

Was ihm dann im Jahre 2000 passierte, schockierte ihn noch mehr, obwohl er auch daran nicht unschuldig war.

Die Präsidentschaft Wladimir Putins kann man teilweise auch als Beresowskis Idee sehen. Denn er hatte Putin bereits Anfang der Neunzigerjahre kennengelernt, und er war es auch, der den ehemaligen Stellvertreter Sobtschaks in den engeren Kreis um Boris Jelzin einführte. Von ihm stammt die Vorstellung, Putin sei der geeignetste Nachfolgekandidat des Präsidenten. Doch auch diese Idee führte sofort ein Eigenleben, das mit dem seinen nichts mehr zu tun hatte. Und das ihn immer mehr verdross.

Anfangs empörte Beresowski, dass Beteiligte an Putins Sieg nicht belohnt und ehemalige Gegner nicht bestraft wurden, wie man es 1996 gehalten hatte, als Beresowski und Gussinski die Spitzen der Wirtschaft zur Unterstützung Jelzins überredeten und nach dem Sieg dafür ihren Lohn erhielten. Gussinskis Fernsehsender NTW bekam eine Frequenz, auf der er unionsweit senden konnte. Beresowski wurde zum stellvertretenden Sekretär des Sicherheitsrates ernannt. Aber im Wahlkampf 1999/2000 kämpften Beresowski und Gussinski auf verschiedenen Seiten der Barrikade. Neben Gussinski waren auch Primakow, Luschkow und einige Dutzend Gouverneure unter die Verlierer geraten. Aber die Sieger hatten nichts davon, und die Verlierer mussten nicht leiden. Luschkow blieb Oberbürgermeister der Hauptstadt. Primakow sollte den Posten des Chefs der Industrie- und Handelskammer erhalten – sozusagen als Ehrenpension. Und ihre ehemaligen Anhänger mischten sich unter Putins Gefolgschaft.

Nur den Medienmagnaten Wladimir Gussinski, der gegen Putin agitiert und den Medienkrieg geführt hatte, beschloss der Kreml zu bestrafen. Denn Gussinski soll Putin bereits im Winter 2000 von oben herab erklärt haben, er werde ohne die Unterstützung seines Senders NTW niemals Präsident werden. Besonders aber kränkte Putin das Kabarettprogramm »Kukly« (»Puppen«), wo man ihn mit Klein Zaches verglich.

»Das ist nicht persönlich gemeint, es geht nur ums Geschäft«, behauptete Woloschin. Gussinskis Geschäft beruhe ausschließlich auf Krediten. Er nehme sie bei Banken auf und zahle sie nicht zurück, weil er davon ausgehe, dass man ihm seine Schulden erlasse, weil man Angriffe seitens des allmächtigen NTW-Fernsehens befürchte. Gussinski hatte mehr als eine Milliarde Dollar Schulden bei Staatsunternehmen. Aber wenn der Zahlungstermin näher rückte, organisierte Gussinski eine Präventivattacke auf den Gläubiger. Der verlängerte den Kredit sofort, und das auch noch zu Vorzugsbedingungen. Er brauche sich nicht einmal anzustrengen, sondern nur permanent Schulden machen, behauptete Woloschin.

Aber die Sache lief anders. Schon einen Monat nach Putins Amtseinführung eröffnete die Generalstaatsanwaltschaft gegen Gussinski ein Strafverfahren. Er wurde verhaftet und ins berüchtigtste Untersuchungsgefängnis von Moskau, Butyrki, gebracht. »Das war nicht unbedingt nötig, man hätte es auch lassen können«, erinnerten sich Kreml-Insider. Aber jetzt bestimmte nicht mehr er die Spielregeln, sondern die neuen Vertreter der staatlichen Gewaltorgane aus der Umgebung des Präsidenten. Beresowski hingegen war zufrieden. An dem Tag, da Gussinski festgenommen wurde, jubelte er ganz offen: »Der Gänserich muss ins Loch![1] Dass er es nicht vergisst! Dass er es nicht vergisst!« Doch die Geschäftswelt war schockiert. Oligarchen schrieben einen gemeinsamen Brief mit der Forderung, Gussinski freizulassen. Der Einzige, der nicht unterschrieb, war Beresowski.

Als Gussinski verhaftet wurde, befand sich Putin gerade auf einem offiziellen Besuch in Spanien. Auf die Frage der Journalisten, was mit Gussinski los sei, antwortete er, er wisse es nicht, da er »den Generalstaatsanwalt telefonisch nicht erreicht«. Gussinski musste nur ganze drei Tage hinter Gittern verbringen. Dann suchte ihn der Presseminister in seiner Zelle auf. Sie unterschrieben eine Vereinbarung, wonach der Oligarch freigelassen werde, wenn er sich von seinem Fernsehsender NTW trenne. Gussinski kam frei, verließ auf der Stelle Russland und machte die Vereinbarung öffentlich. Für Putins internationales Image war das ein schwerer Schlag. Gerade war er von einer Werbetour durch Europa zurückgekehrt, da ging Wladimir Gussinski mit Gegenpropaganda auf Tour und erzählte überall, was für ein schrecklicher Kerl der neue Präsident Russlands sei. Putin ärgerte nicht, wie plump die Operation durchgeführt wurde, denn keiner der Organisatoren musste dafür büßen, ihn ärgerte der Skandal. Daher ordnete er an, die Übernahme von Gussinskis Fernsehsender zu stoppen, bis Gras über die Sache gewachsen sei.

Doch mit Gussinskis Verhaftung wurde gleichsam der Geist aus der Flasche gelassen. Fast alle großen Geschäftsleute, die Oligarchen, wie man sie seit der Jelzin-Zeit nannte, mussten Betriebsprüfungen, Durchsuchungen und Beschlagnahmen über sich ergehen lassen. Das war offenbar keine geplante Operation, die Vertreter der staatlichen Gewaltorgane, die »Silowiki«, hatten das Signal ihres Chefs vielmehr so verstanden, dass sie Ordnung schaffen sollten.

Auch in der ausgehenden Jelzin-Zeit hatte die Staatsanwaltschaft nicht selten aufsehenerregende Strafverfahren eingeleitet, denn Ende der Neunzigerjahre erreichten die Kämpfe unter den Oligarchen ihren Höhepunkt. Aber jetzt breitete sich das Gefühl aus, diese Aktivierung der Ermittlungsorgane sei ein Merkmal der neuen Zeit. Der zu Beresowskis Medienholding gehörende Kommersant spielte darauf in seinen Schlagzeilen an. Immer wieder erschien er mit dem Aufmacher »Abgeholt wurde …« – eine deutliche Anspielung auf die Repressalien der Stalinzeit.

Wenn man allerdings jeden Fall einzeln betrachtet, dann wird klar, dass es im Jahre 2000 keinerlei stalinsche Repressalien gab. Jeder Fall von »Abgeholt wurde …« klärte sich bereits im Stadium der Ermittlungen, denn in allen berichteten Fällen handelte es sich um banale Schutzgelderpressung.

Das U-Boot

Dass die neue Macht so unberechenbar war, erboste Beresowski derart, dass er sich zum Äußersten entschloss. Er wollte Putin zwingen, auf ihn zu hören, und schien alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, ihn mit Worten zu überzeugen. Da dies nichts fruchtete, beschloss er, aktiv in dem Stil zu handeln, den er gewohnt war, das heißt, sich auf Abenteuer zu verlegen. Beresowski erklärte, er lege sein Abgeordnetenmandat nieder und verlasse das Parlament. Warum er das tat und was dahintersteckte, begriff niemand. Öffentlich erklärte Beresowski, er beabsichtige, eine echte Oppositionskraft aufzubauen, wofür er all seine Kraft einsetzen wolle. Dadurch geriet er relativ rasch in einen ernsten Konflikt mit der Staatsmacht.

Putin hatte derweil die erste wirkliche Prüfung zu bestehen, als es auf dem Atom-U-Boot Kursk zu einer Havarie kam. Es sank am 12. August, dem 97. Tag seiner Präsidentschaft. Anfangs nahm er den Unfall nicht besonders wichtig und fuhr in den Urlaub nach Sotschi. Die Militärs berichteten ihm, es sei alles unter Kontrolle, keine Sorge, die Sache werde bald ausgestanden sein. Als jedoch am nächsten Tag die Rettungsarbeiten begannen, stellte sich heraus, dass die Besatzung von 118 Mann in einer Tiefe von 108 Metern in der Falle saß. Erst nach fünf Tagen unterbrach Putin seinen Urlaub und reiste aus Sotschi ab. Dafür erntete er die vernichtende Kritik der Medien.

Als sich am 22. August herausstellte, dass alle Seeleute umgekommen waren, fuhr Putin in die Siedlung Widjajewo am Nordmeer, um deren Verwandte zu treffen. Die Begegnung war sehr bedrückend: Die Angehörigen schrien und weinten, sie warfen Putin und den Militärs Tatenlosigkeit vor, sie hätten auf Zeit gespielt, um keine Helfer aus dem Ausland hinzuziehen zu müssen. Im Gegenzug wurde Putin dreimal gegen das Fernsehen und dessen Besitzer ausfällig, die nach seinen Worten »Lügen verbreiten«. Das Gespräch mit den Angehörigen der Verunglückten leitete er mit einer Attacke ein: »Im Fernsehen gibt es Leute, die heute am lautesten schreien, die aber seit zehn Jahren die Armee und Flotte untergraben, wo heute Menschen sterben. Jetzt stehen sie mit einem Mal in der vordersten Reihe der Fürsprecher dieser Armee. Doch auch nur zu dem Zweck, Armee und Flotte zu diskreditieren und endgültig zu zerschlagen. Jahrelang haben sie Geld in riesigen Mengen zusammengestohlen, um jetzt alles und jeden zu kaufen! Solche Gesetze haben sie gemacht!« Im mittleren Teil der Zusammenkunft kam er noch einmal auf das Thema zurück: »Sie haben Geld gescheffelt, die Medien gekauft und manipulieren damit die öffentliche Meinung.« Zum Abschied fasste er zusammen: »Das Schema und die Logik ihres Vorgehens sind sehr einfach. Sehr einfach. Auf das Massenpublikum einwirken, damit der militärischen und der politischen Führung des Landes zeigen, dass wir sie brauchen, dass sie uns am Haken haben, dass wir sie fürchten, ihnen gehorchen und zulassen, dass sie unser Land, unsere Armee und Flotte weiter ausrauben. Das ist das wahre Ziel ihres Handelns. Aber wir können ihnen nicht einfach sagen: Hört auf damit! So wäre es richtig, doch (undeutlich) wir müssen selbst Informationspolitik machen – intelligenter, wahrheitsgetreu, präzise und zur rechten Zeit. Das erfordert Kraft, Mittel und gute Fachleute.«

Bei dieser Begegnung waren die Medien nicht zugelassen, jedoch erschien ein paar Tage später in der Zeitschrift Wlast, die zu der Holding von Boris Beresowski gehörte, das Stenogramm des Gesprächs.

Noch ein paar Tage später brachte das ORT-Fernsehen (das ebenfalls Beresowski gehörte) im Abendprogramm die Sendung von Sergej Dorenko, demselben, der ein Jahr zuvor Primakows Röntgenaufnahmen im Fernsehen gezeigt hatte, dessen Umfragewerte abstürzen ließ und so Putin half, Präsident zu werden. Dorenko analysierte Putins Aussagen zur Kursk und warf ihm Lüge vor. Unter anderem gab er auch Zitate aus dem bei Wlast erschienenen Stenogramm zum Besten. Das war Dorenkos letzte Livesendung, danach wurde sie aus dem Programm genommen. In der Redaktion der Sendung »Wremja«, die von Stund an zur Hauptnachrichtensendung des dem Kreml nahestehenden Ersten Fernsehens wurde, kursiert bis heute die Geschichte, nach Dorenkos Livesendung habe in der Regie das Telefon geklingelt, und Putin persönlich sei am Apparat gewesen. Er erklärte, die Auslassungen von ORT seien Verrat. Den hat er Beresowski nie verziehen.

Um Beresowski ORT abzunehmen, brauchte es nicht viel. Wie Woloschin später beim Prozess Beresowskis gegen Abramowitsch vor dem Londoner Gericht aussagte, rief er einfach den Generaldirektor des Senders an und bat ihn, Beresowski künftig zu ignorieren.

Das war durchaus legitim, denn Beresowski besaß nur 49 Prozent und der Staat 51 Prozent der Anteile. Der Hauptaktionär hatte entschieden, sein Recht durchzusetzen, erklärte Woloschin, und den Sender allein zu führen.

Es gibt Fälle, so Woloschin weiter, da der Hauptaktionär dem Minderheitsgesellschafter die operative Führung einer Firma überlässt. Aber es ist wohl schwer vorstellbar, dass Letzterer die Firma dafür benutzt, um gegen den Aktionär vorzugehen, der das Kontrollpaket besitzt. Dann greift dieser kurzerhand zum squeeze out, und der Minderheitsaktionär verschwindet. Von allen Mitarbeitern des Senders ORT empörte sich dagegen allein Dorenko. Er wurde fristlos entlassen.

Ende August teilte Woloschin Putin mit, Beresowski wolle ein persönliches Gespräch. Putin willigte sein, aber dieses verlief ganz anders als früher. Putins Empfang war nicht einmal kalt. Gleichmütig, aber unerbittlich erklärte er Beresowski, der kontrolliere ORT nicht mehr. Wenn er wolle, könne er seine Anteile verkaufen, wenn nicht, dann eben nicht. Aber anfangen könne er damit nichts mehr.

Von dieser Haltung war Beresowski schockiert. Er glaubte immer noch, Putin werde nachgeben, er fürchte ihn und werde einlenken. Anfang September 2000 schrieb er dem Präsidenten einen offenen Brief, der im Kommersant erschien: »Herr Präsident, ich bitte Sie innezuhalten, bevor es zu spät ist! Lassen Sie den Geist der grenzenlosen Macht nicht aus der Flasche, der unser Land über siebzig Jahre lang verwüstet hat. Sie bekommen ihn nicht in den Griff. Er wird das Land und auch Sie zugrunde richten.« In diesem Brief versprach er, sein Aktienpaket Journalisten und kreativen Intellektuellen zur Nutzung zu überlassen. Diese Absicht führte er allerdings nicht aus. Einen Monat später verkaufte er seine ORT-Anteile an Roman Abramowitsch.

Zwölf Jahre später verklagte Beresowski Abramowitsch dafür, dass der ihm angeblich seine Anteile an ORT und anderen Unternehmen nicht korrekt bezahlt habe. Dabei kamen Einzelheiten dieses Geschäfts ans Licht, mehr noch, das Gericht legte ein Stenogramm des mitgeschnittenen Gesprächs von Beresowski und Abramowitsch am französischen Flughafen Le Bourget vor. Dort sprachen die beiden Oligarchen darüber, dass der Verkauf von ORT Putins Segen habe und zur Erleichterung des Ganzen der Chef der Russischen Zentralbank, Viktor Geraschtschenko, die Überweisung des Geldes von Abramowitsch auf Beresowskis Konto persönlich vornehmen werde. Abramowitsch sagte vor Gericht aus, er sei von Putin und Woloschin beauftragt worden, Beresowski ORT abzukaufen. Außerdem versicherte er, Anteile an anderen seiner Unternehmungen besitze Beresowski nicht. Seine regelmäßigen Überweisungen an ihn seien Entgelte für »politische Protektion« gewesen.

Mit der Kursk-Affäre begann Putins Kampf gegen jene, die »die Medien gekauft haben und die öffentliche Meinung manipulieren«, das heißt, gegen die nicht von ihm kontrollierten Medien. Das war keine durchdachte Strategie, sondern die spontane Reaktion auf entstandene Probleme. Aber jeder Schritt in diese Richtung zog weitere nach sich, denn Kritik zu ignorieren ist einfacher, als auf sie zu hören.

Diese Kosten seien unvermeidlich, versicherte Woloschin Kollegen, Hauptsache, die Reformen gingen weiter.

Die Rückzahlung der Schulden

Der Mannschaft liberaler Ökonomen, die Putin um sich versammelt hatte – allesamt Schüler von Anatoli Sobtschak, einer Art russischem Václav Havel –, machte die Verhaftung Gussinskis überhaupt nichts aus, auch nicht, dass die Presse beginnende Repressalien meldete oder dass der Medienmarkt neu aufgeteilt wurde. Der jungen Regierung war klar, dass sie für durchgreifende und damit schmerzhafte Reformen nicht allzu viel Zeit hatte. Stand erst einmal der nächste Wahlkampf vor der Tür, dann war mit Reformen nicht mehr viel zu holen. Daher war man bemüht, ein Maximum zu erreichen, solange die Konjunktur dies zuließ, der Erdölpreis nach oben ging und die Beliebtheit des Präsidenten revolutionäre Veränderungen erlaubte. Die intrigierenden Oligarchen, die nach Jelzins Rücktritt an Einfluss verloren hatten, waren den jungen Liberalen zuwider. Daher freuten sie sich insgeheim, dass diesen Geschäftemachern der Weg in den Kreml verwehrt wurde. Ohne sie lebten sie ruhiger. Auch das Geschrei der Medien nahm die Regierung stoisch hin – sie sah es als den unvermeidlichen Preis für einschneidende Reformen.

Allerdings war die liberale Regierung Putin überhaupt nicht darauf eingestellt, dass ihr nun der Westen Steine in den Weg legte,