Entbrannt - Jessica Shirvington - E-Book

Entbrannt E-Book

Jessica Shirvington

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Beschreibung

Dunkle Mächte, gefallene Engel und eine unmögliche Liebe.

Phoenix ist es gelungen Lilith, die Mutter der Finsternis, aus der Hölle zu befreien. In New York steht Violet jetzt ihr größter und vielleicht letzter Kampf bevor. Sie muss sich nicht nur der gefährlichsten und mächtigsten Verbannten stellen, sondern auch der Akademie und dem Rat der Grigori. Violet kann nicht länger warten und hoffen, dass Phoenix sich doch noch auf ihre Seite schlägt. Sie weiß, wenn sie das nächste Mal ihren Dolch zieht, stehen die Chancen gut, dass es das Ende für sie beide bedeutet. Neben all dem Schrecklichen akzeptieren Violet und Lincoln endlich ihre Liebe füreinander. Aber der Preis dafür ist hoch und nichts wird jemals wieder so sein wie zuvor ...

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Seitenzahl: 661

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Die Autorin

Foto: © privat

Jessica Shirvington hat eine Kaffeeimportfirma gegründet und geleitet und nebenbei zu schreiben begonnen. Nach »Erwacht«, »Verlockt« und »Gebannt« erscheint mit »Entbrannt« nun der vierte Band ihrer erfolgreichen Engel-Saga.

Jessica Shirvington lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Sydney. Neben ihrer Familie widmet sie sich nun ganz dem Schreiben.

Weitere lieferbare Titel von Jessica Shirvington beicbt:

Erwacht (38011)

Verlockt (38018)

Gebannt (38020)

cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe April 2013

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2013 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel »Endless« bei Hachette Australia, Sydney.

© 2012 by Jessica Shirvington

Published by arrangement with Jessica Shirvington

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler

Umschlaggestaltung: © Birgit Gitschier, Augsburg, unter Verwendung eines Motivs von gettyimages (RF/STOCK4B Creative)

jb · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-09628-1

www.cbt-jugendbuch.de

Für Phil und Jenny– Danke für all eure Liebe und Unterstützung (und das ganze Recherchematerial!)

»Das Licht und die Finsternis, das Leben und der Tod, rechts und links sind einander Brüder. Sie sind untrennbar. Deswegen sind weder die Guten gut noch die Schlechten schlecht, noch ist das Leben ein Leben noch der T od ein Tod.«

Philippusevangelium, Nag-Hammadi-Schriften

Kapitel Eins

»Jeder wird sich früher oder später zu einem Festmahl aus Konsequenzen zu Tische setzen.«

Robert Louis Stevenson

Was machst du, wenn dein Vater entdeckt, dass deine tote Mutter noch lebt, in seiner Wohnung steht und keinen Tag älter aussieht als an ihrem Todestag– der über siebzehn Jahre zurückliegt?

Ich bekam nie die Gelegenheit, diese Entscheidung zu treffen.

»Du hättest ihn doch nicht gleich zu schlagen brauchen!«, schrie ich, während ich Dads ohnmächtigen Körper auf das Sofa hob.

»Er war kurz davor, einen Schock zu bekommen«, sagte Evelyn ohne die geringsten Anzeichen von Reue. »Und du und ich hatten bisher noch keine Gelegenheit zu reden.«

Diese Frau war unglaublich. »Ich will nicht mit dir reden! Wann geht das endlich in deinen Kopf?«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und schaute auf mich herunter wie… wie… wie eine Mutter. Meine Gedanken gerieten ins Stolpern und mussten sich anstrengen, etwas Nützliches zu produzieren.

Vielleicht ist noch Zeit, Beth anzurufen. Sie könnte kommen und Dads Erinnerung löschen.

Doch ich wusste, dass es dafür zu spät war. Und war ich nicht sowieso nach Hause gekommen, um Dad alles zu erzählen?

Aber nicht so! Und nicht über sie!

Sie starrte mich immer noch an.

Ich räusperte mich. »Was? Hast du dir den Kopf gestoßen, als du von deiner Wolke gefallen bist?«

Evelyn blinzelte und war einen Moment lang sprachlos, dann wandte sie sich von mir ab und legte ein Kissen unter Dads Kopf. Sie strich ihm die Haare aus dem Gesicht.

Ihre Hand verweilte ein wenig dort.

Meine ballte sich zur Faust.

»Würdest du jetzt bitte einfach gehen? Sonst rufe ich die Cops!«, fauchte ich. Ich war zornig, weil sie sich weiterhin in meinem Zuhause breitmachte und mich– und meine giftigsten Todesblicke– ganz einfach ignorierte.

Sie tastete nach Dads Puls und betrachtete prüfend sein Gesicht. »Er kommt bald zu sich.«

Oh, mein Gott. Wie hatte das bloß passieren können?

Ich hatte mich Phoenix entgegengestellt– und verloren–, dann war ich nach Hause gekommen und hatte nicht gewusst, ob mich mein Vater überhaupt noch als seine Tochter anerkennen würde, nachdem er die Male an meinen Handgelenken gesehen hatte und ich gegen seinen Willen nach Griechenland aufgebrochen war. Dann war ich dabei, wie er eine extreme Panikattacke erlebte, bevor meine von den Toten auferstandene Mutter, Evelyn, ihm in aller Seelenruhe, mit ihrer übernatürlichen Kraft, die Faust ins Gesicht rammte.

Oh, Mann. Familienzusammenführungen sind echt unsere Stärke.

»Du hättest ihm den Kiefer brechen können!«, sagte ich, weil ich mir nicht anders zu helfen wusste, als sie zu beschimpfen. Meine Mutter war eine Fremde für mich. Alles, was ich über sie wusste, war, dass sie mich in dem Moment, als ich geboren wurde, eingetauscht hatte, dass sie mein Schicksal Engeln anvertraut und uns beide, Dad und mich, zu einem Leben verdammt hatte, das aus unbeantworteten Fragen bestand. Nun war sie zurückgekommen, und ich hatte null Ahnung, wie ich mit ihr umgehen sollte.

»Nur ein blauer Fleck«, tat sie meine Bemerkung ab.

Ich stürmte in die Küche, machte ein Geschirrtuch nass und schaufelte eine Handvoll Eis hinein, bevor ich wieder zurück an Dads Seite stapfte, um ihm damit die Wange abzutupfen, die sich bereits violett färbte.

»Bevor eine von uns irgendetwas zu James sagt, sollten wir reden«, sagte Evelyn und setzte sich gegenüber von mir an den Couchtisch, der Blick aus ihren stahlblauen Augen huschte zwischen Dad und mir hin und her. Ich konnte mir gut vorstellen, was ihr durch den Kopf ging.

Wetten, dass du nicht damit gerechnet hast, wieder mit uns konfrontiert zu werden. Konsequenzen sind schon zum Kotzen!

»Du meinst, du brauchst Zeit, um schnell mal darüber nachzudenken, wie du ihn wieder verlassen kannst.« Jedes Wort schmeckte bitter. Ich musste mich in den Griff kriegen. Ich wollte verdammt sein, wenn diese Frau mich um den Verstand brachte. »Hör mal…« Ich stieß den Atem aus. »Du hattest recht. Es war eine gute Idee, ihn auszuknocken. Mach dir nicht die Mühe mit dem Balkon, es ist ein Albtraum, hinunterzuspringen– geh einfach durch den Haupteingang und versteck dein Gesicht vor den Sicherheitstypen, auf die du unterwegs triffst. Wenn Dad aufwacht, sage ich ihm, dass ein Eindringling hier war und dass er angegriffen wurde. Er wird denken, dass er sich Sachen einbildet und es darauf beruhen lassen.«

Sie sah mich mit großen Augen an. »Glaubst du wirklich, ich würde einfach zur Tür hinausgehen?«

Ich hätte fast über ihren verletzten Tonfall gelacht. »Glaubst du wirklich, dass du das nicht tun würdest?«

Sie seufzte und sah wieder Dad an. »Du hast seine Sturheit geerbt.« Sie sah aus, als wollte sie noch mehr sagen, schüttelte aber dann frustriert den Kopf. Die Bewegung verschaffte mir ein klein wenig Befriedigung. »Ich gehe nirgendwohin.«

Oh, bitte!

Ich starrte sie an und fragte mich, ob ich noch genug Zeit hätte, sie hinauszuwerfen, bevor er aufwachte.

Himmel. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie Dad aufwacht und sieht, wie sich seine Tochter und seine tote Frau in der Luft zerreißen.

»Bitte, geh einfach«, sagte ich. Alles würde besser werden, wenn erst mal mehrere Städte zwischen uns lagen. »Du gehörst nicht hierher.«

Sie verschränkte die Arme. Aber ich merkte, dass sie angespannt und bereit war, falls die ganze Angelegenheit in einem Kampf enden würde.

Meine Augen wurden schmal, und die Versuchung, sie zum Handeln zu zwingen, wurde größer. Doch wir wussten beide, dass wir das nicht riskieren konnten.

»Weiß er, was du bist?«, fragte sie, und ihre Schultern entspannten sich.

Ich setzte mich zurück auf meine Fersen. »Nein. Aber er weiß etwas. Er hat deinen Brief gelesen und meine Male gesehen. Ich hatte vor, es ihm heute zu sagen.«

Sie nickte, als ihr alles klar wurde. »Nun, dann komme ich ja gerade richtig. Wir werden es ihm gemeinsam sagen. Alles.«

»Wie umsichtig von dir«, schoss ich aus dem Hinterhalt.

Dad begann sich zu regen.

»Gut«, sagte ich. »Aber wenn du anfängst, mit Lügen um dich zu werfen, dann rechne nicht damit, dass ich da mitmache. Anders als bei dir wird meine Version tatsächlich die Wahrheit enthalten.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, bewegte sich Dad und schlug die Augen auf.

»Violet?«, krächzte er, seine Stimme hörte sich unsicher an.

»Es ist alles in Ordnung, Dad«, erwiderte ich und legte ihm den Arm um die Schulter. »Du bist zu Hause und in Sicherheit.« Ich warf Evelyn einen warnenden Blick zu, dann wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder meinem Vater zu. »Niemand wird dir mehr was tun.«

Seine Augen wurden klarer, und trotz seiner Verwirrung lächelte er mich an. Ich lächelte zurück. Dann sah er Evelyn. Er schnappte nach Luft und ich musste nach ihm greifen, um ihn zu stützen, während er sich bemühte, sich aufzusetzen.

»Atme, Dad. Sonst bekommst du wieder eine Panikattacke«, sagte ich so beruhigend wie möglich.

Seine Augen waren so groß, dass sie fast weiß waren. »Oh, Gott. Ich habe mir das nicht eingebildet. Wer bist du? Du… du siehst aus…«, stammelte er.

Evelyn holte tief Luft und sah ihm in die Augen. »Bei unserem ersten Date hast du mich zu einer Kutschfahrt durch den Central Park eingeladen. Du hattest nur das Geld für die Hälfte der Tour, deshalb wurden wir mitten im Park rausgeworfen und mussten zu Fuß zurückgehen. Unterwegs hast du Blumen für mich gepflückt. Als du dich an diesem Abend verabschiedet hast, hast du mich geküsst und gesagt: ›Das ist nur der Anfang.‹ Am nächsten Tag haben wir uns zum Frühstück getroffen– und alle darauffolgenden Tage ebenfalls, ganze sechs Wochen lang. Der erste Morgen, an dem wir nicht zusammen gefrühstückt haben, war der Tag unserer Hochzeit.«

Dad war wie erstarrt. Genau wie ich. In einer einzigen kleinen Rede hatte ich mehr über ihre Beziehung erfahren, als Dad mir je erzählt hatte. Und das machte mich nur noch zorniger.

Wie hatte sie ihm das nur antun können?

Die Zeit schien still zu stehen. Evelyn sah Dad an, ihr Blick flehte darum, dass er diese Unmöglichkeit akzeptieren würde. Dad starrte sie ungläubig an. Mein Blick schoss zwischen den beiden hin und her…

Meine Eltern.

»Evelyn?«, hauchte er.

Sie nickte.

»Bist du…« Er schluckte. »Bist du ein Geist?«

»Nein«, sagte Evelyn ruhig. »Ich bin ein Mensch. Überwiegend zumindest.« Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Glaube ich.«

»Oh«, sagte Dad.

Ich sah sie an und verdrehte die Augen.

Tolle Erklärung.

»James, Violet und ich haben eine Menge zu erklären. Wir würden dir gern alles erzählen, wenn du bereit bist zuzuhören, aber wir müssen dich warnen– wenn du es erst mal weißt, wirst du Teil dieser Welt…« Sie senkte den Blick und Traurigkeit schlich sich in ihre Stimme. »Und du kannst nie mehr zurück.«

Ich knirschte mit den Zähnen. Ich hasste, dass sie recht hatte. Ich hasste auch die Art und Weise, wie sie uns vereinte. Es gab kein »wir«. Sie hatte ihre Geheimnisse vor Dad verborgen, seit dem Augenblick, in dem sie sich kennengelernt hatten. Alles war eine Lüge gewesen. Dann, als ich geboren wurde, hatte sie sich auf einen Handel mit einem Engel eingelassen– wahrscheinlich für einen herrlichen Aufenthalt im Himmel– und mich zu einem Leben als Grigori verpflichtet. Klar hatte ich die Wahl, ob ich das akzeptieren würde, doch ich lernte schnell: Engel sind zielstrebige Wesen, und was sie wollen, bekommen sie in der Regel.

Das wusste sie bestimmt auch.

Schlimmer noch– sie hatte in dem Moment, in dem ich geboren wurde, nicht nur mein Schicksal aus der Hand gegeben, sie hatte mich auch einem Engel der Einzigen gegeben und dadurch den einzigen menschlichen Grigori aus mir gemacht, der je seine Kräfte vom höchsten und geheimnisvollsten Engelrang erhalten hatte.

Ja, ich stehe ganz weit oben auf der Top-Ten-Liste der Freaks.

»Violet?«, sagte Dad und unterbrach damit meine Gedanken. Auf seinem Gesicht zeichnete sich immer noch der Schock ab.

Ich seufzte und wandte meinen Blick von Evelyn ab. »Sie ist es, Dad. Ich… habe sie gefunden, als ich in Griechenland war. Bist du sicher, dass du bereit bist, die ganze Geschichte zu hören?«

Er veränderte seine Position und fing an, seine Ärmel hochzukrempeln, so wie er es immer machte, wenn er eine Entscheidung getroffen hatte. Er nahm meine Hand, packte sie fest und warf einen misstrauischen Blick in Evelyns Richtung.

»Ich kenne meine Tochter. Ich kannte meine Frau. Du siehst ihr unglaublich ähnlich, aber sie ist vor siebzehn Jahren gestorben und du… Du siehst aus, wie sie an ihrem Todestag ausgesehen hat.« Er warf einen Blick auf ihre Haare. »Fast.«

Ich lächelte. Ich war stolz auf Dad, weil er sich nicht einfach in ihre Arme warf.

»Ich will die ganze Geschichte hören. Lasst nichts aus.« Er deutete auf Evelyn. »Du weißt Dinge, die andere Leute nicht wissen können, aber das beweist meiner Ansicht nach noch gar nichts.« Er ließ meine Hand los, streckte seine Arme über die Sofalehne und zog die Augenbrauen nach oben. »Fangt an zu erzählen.«

Es musste all seinen Mut gekostet haben, nicht hier und jetzt zusammenzubrechen, Evelyns Hand zu ergreifen und festzuhalten– ob er nun glaubte, dass sie es war, oder nicht. Dad liebte sie wie keinen anderen Menschen auf der Welt, und ich wusste, dass sich daran in den letzten siebzehn Jahren nichts geändert hatte.

Evelyn starrte ihn an, ihr Gesicht war nachdenklich. »Du hast dich verändert«, sagte sie schließlich.

»Du offenbar nicht. Erzähl!«, verlangte Dad.

Bravo, Dad.

Evelyn sah die Belustigung in meinem Gesicht und verdrehte als Reaktion darauf ihre Augen.

»Ich bin ein Mensch, genau wie du«, begann sie, »Tochter menschlicher Eltern. Aber als meine Mutter in der späten Schwangerschaft war, riss ihre Plazenta. Die Ärzte konnten mich zur Welt bringen, aber es war eine andere Zeit damals– man war noch nicht so weit wie heute. Meine Mutter hat es nicht überlebt.«

Mein Herz wurde schwer. Ich hatte immer gedacht, es gäbe nichts Schlimmeres als zu wissen, dass mich meine Mutter nur ein paar wenige kurze Minuten in den Armen gehalten hatte. Aber es gab Schlimmeres, das konnte ich in ihren Augen sehen, als sie die Geschichte erzählte. Ihre Mutter hatte sie nie gehalten.

Dad rutschte auf seinem Sitz herum. »Das hat mir Evelyn nie erzählt«, sagte er behutsam.

Sie lächelte traurig. »Ich fürchtete mich davor, zu viele Informationen preiszugeben. Ich war immer vorsichtig– so wurde ich erzogen.«

Dad behielt seinen stoischen Gesichtsausdruck bei. Ich glaube, nur so konnte er weitermachen.

»Sprich weiter«, sagte er.

Evelyn nickte. »Wenn ein menschliches Wesen auf die Welt kommt, sind die ersten Tage nachdem es geboren wurde ausschlaggebend. Neugeborene sind in der Aura neuen Lebens gebadet. Wenn das Kind in den ersten zwölf Tagen seines Lebens den Verlust verwandten Blutes erleidet, meist den Verlust eines Elternteils, dann wird es darüber hinaus von der Aura neuen Todes überwältigt. Wenn die beiden entgegengesetzten Kräfte stark genug sind, kann ein Eingang entstehen.«

»Was für ein Eingang?«, fragte Dad, der jetzt vorsichtig in meine Richtung schaute. Er reimte sich bereits alles zusammen.

»Wenn sich neues Leben mit neuem Tod vereint, bildet sich eine Art Tunnel.« Sie holte tief Luft. Ich ertappte mich dabei, wie ich dasselbe tat. »Ein Tunnel, den… ein Engel benutzen kann, um einen Teil seiner Essenz auf den Körper des Kindes zu übertragen. Wenn das Kind siebzehn wird, kann es sich entscheiden, ob es die Gaben und die Verantwortung, die diese Essenz mit sich bringt, annimmt oder nicht.« Sie sah mich an.

Ich hatte praktisch aufgehört zu atmen.

»Ein… Engel?«, sagte Dad langsam.

»Ja, James. Engel sind sehr real. Sie sind nicht das, was du dir jetzt wahrscheinlich vorstellst– sie sind nicht immer freundlich, und sie sind nicht immer grausam, aber sie sind definitiv immer aktiv und beherrschen unsere Welt. Wenn ein Mensch, der eine Engelessenz in sich trägt, sich dafür entscheidet, dann erhält er oder sie– unter anderem– größere Kraft, Schnelligkeit, sowohl innere als auch äußere Waffen, die Fähigkeit überirdische Wesen wahrzunehmen, die Fähigkeit zu heilen, einen Partner im Kampf und… Und wir können zwar noch immer gewaltsam zu Tode kommen, doch unsere Lebensspanne ist erheblich länger, und je älter wir werden, desto langsamer altern wir.« Sie blickte zu Boden. »Wir können viele Hundert Jahre alt werden.«

Ich war beeindruckt, dass Dad noch immer aufrecht und im Zimmer war. Er räusperte sich. »Wie alt bist du?«

Evelyn blinzelte nicht einmal. »Ich war hundertfünfundachtzig, als ich starb. Jetzt, wo ich zurückgekommen bin, könnte man wohl sagen, dass ich mein zweihundertjähriges Jubiläum überschritten habe.«

Dad sah mich mit großen Augen an. »Violet, hast du das gehört? Das ist doch wohl nicht das, was in den letzten Monaten mit dir los war, oder? Das kann doch nicht wahr sein.«

»Ich wünschte, das wäre es nicht, Dad.« Ich ergriff seine Hand. Sie war heiß und feucht. »Aber alles, was sie sagt, stimmt. Und genau wie ein Engel seine Essenz Evelyn gegeben hat, als… bin auch ich das, was man eine Grigori nennt. Zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Engel. Ich habe Fähigkeiten– aber du hast ja meine Handgelenke gesehen.« Ich biss mir nervös auf die Lippe, weil ich mich an seine heftige Reaktion erinnerte, als er die wirbelnden, silbrigen Male gesehen hatte, bevor ich nach Santorin aufgebrochen war.

Während er die Male betrachtete, fingen sie an, sich durch einen Zauber zu bewegen, den niemand von uns begreifen konnte. Sie wirbelten wie ein Fluss aus Quecksilber um meine Handgelenke. Zarte, gefiederte Spitzen tauchten in den Mustern auf, die zu Evelyns Armbändern passten. Dad sah uns abwechselnd an und ich bemerkte, dass Evelyn die Male wie hypnotisiert anstarrte.

»Sie sagt, du hattest die Wahl. Wolltest du das, Violet?«

»Am Anfang nicht. Ich wollte die Schule beenden, eine Künstlerin werden,… normal sein. Nach allem, was passiert ist…« Mir stockte die Stimme, als ich an den Übergriff dachte.

Dad nickte und zwang mich nicht dazu, es laut auszusprechen. Evelyn hörte weiterhin schweigend zu. Ich würde es ihr auf keinen Fall erzählen– wie dieser Lehrer mich an meiner alten Schule angegriffen hatte. Dad und ich hatten nach der Gerichtsverhandlung und den ganzen schrecklichen Fragen alles, was wir konnten, dafür getan, um unser Leben wieder in den Griff zu bekommen.

»Was ist passiert?«

Ich funkelte sie an und sprach weiter mit Dad.

»Jeder Grigori hat einen Partner. Eine Person, deren Macht die unsere am besten ergänzt. Grigori können den Heilungsprozess einleiten, wenn ihr Partner verletzt wurde. Das einzige Problem dabei ist, dass Grigori– abgesehen von mir– nur ihren eigenen Partner heilen können. Mein Partner ist Lincoln.«

»Was meinst du mit abgesehen von dir?«, warf Evelyn ungeduldig ein.

»Ich bin nicht hier, um deine Fragen zu beantworten!«, fuhr ich sie an. Wieder wandte ich mich Dad zu. »Ich habe ein paar… besondere Fähigkeiten. Nichts Wichtiges«, sagte ich mit einem Schulterzucken. Dad sah mich an, als sei ich soeben grün angelaufen.

»Lincoln war verletzt«, sagte Evelyn, die sich alles zusammenreimte.

Ich nickte, während ich mich daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte zu wissen, dass er ohne meine Hilfe sterben würde. Die überwältigende Angst vor einer Welt ohne ihn war alles, was ich brauchte, um zu wissen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte.

»Er lag im Sterben«, sagte ich.

»Du bist…« Er suchte nach Worten. »Du bist das geworden!« Er deutete auf meine Handgelenke. »Das hast du für Lincoln getan?«

Seine Enttäuschung tat weh, aber ich blieb ruhig, um ihm Zeit zu geben, es zu verarbeiten. »Er wäre gestorben. Ich bereue meine Entscheidung nicht, Dad. Und jetzt bin ich eine Grigori, das heißt, ich bin eine Kriegerin.«

»Eine Kriegerin gegen was?«, bellte er ungläubig.

Ich holte tief Luft. »Gegen Engel, die verbannt wurden und menschliche Form annehmen.«

»Gefallene Engel?«, stellte er klar. »Du kämpfst gegen gefallene Engel?«

»Ja. Sie sind stark und mächtig und… böse. Sie können Dinge tun, die andere nicht können, und sie sind darauf aus, diese Welt an sich zu reißen.«

»Liebes, auf dieser Welt spazieren keine gefallenen Engel herum.« Er schüttelte den Kopf, als wollte er sich selbst in die Realität zurückbringen.

»Doch. Du kennst sogar einen.« Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und biss mir auf die Innenseite meiner Wange. »Phoenix ist ein verbannter Engel.«

»Phoenix? Dieser Typ, mit dem du vor einer Weile so oft zusammen warst?«

Ich nickte. Dad hatte ihn nie gemocht.

»Du hast Phoenix mit nach Hause gebracht?«, fragte Evelyn ungläubig.

Ich bedachte sie mit einem raschen Lächeln. Ich schuldete ihr keine Erklärung.

»Aber du hast doch gerade gesagt, dass sie alle böse sind«, fuhr Dad fort.

Ich nickte wieder, dieses Mal mit Bedauern. »Phoenix hat auch menschliches Blut in sich, und das bedeutet, dass er menschlicher erscheinen kann als andere Verbannte. Er hat mich getäuscht.« Ich ließ den Kopf hängen, weil ich mich für meine Entscheidungen schämte. »Viele Leute mussten den Preis dafür zahlen– mit ihrem Leben.«

»Violet, wovon redest du da?«, fragte Dad.

Ich dachte an die Grigori, die auf Santorin umgekommen waren, als sie gegen Phoenix’ Verbannte kämpften. »Leute sind gestorben, Dad. Ich bin gerade von dem Versuch zurückgekommen, Phoenix davon abzuhalten, die Tore der Hölle zu öffnen. Er hätte Tausende von Menschen töten können, aber Grigori aus aller Welt wurden mobilisiert. Wir haben gekämpft, wir haben Santorin gerettet, aber… wir haben dennoch versagt. Er hat mich dazu benutzt, etwas aus der Hölle zu holen, neben dem Albträume wie Zuckerwatte aussehen. Er ist entschlossen, allmächtig zu werden und… und er ist wegen mir so, wie er ist.«

Ich konnte sehen, wie Dad sich bemühte, meine Worte zu verarbeiten, aber es hatte keinen Sinn, jetzt aufzuhören, deshalb machte ich weiter.

»Phoenix ist erst mal weg, aber nicht für ewig, wie ich glaube, und selbst wenn, dann sind da noch mehr Verbannte. Sie werden weiterhin kommen und wir werden weiterhin gegen sie kämpfen. Das ist die Wahrheit, die du verdient hast, Dad. Die Wahrheit, die sie«– ich zeigte mit dem Finger auf Evelyn– »dir schon vor langer Zeit hätte sagen sollen, zum Beispiel bevor sie dich geheiratet oder ein Kind mit dir bekommen hat. Aber ganz bestimmt bevor sie beschlossen hat, zu sterben und uns im Stich zu lassen.« Mein Vorhaben, ruhig zu bleiben, scheiterte.

Dad schien starr vor Schreck zu sein, aber irgendwie schaffte er es, ein Taschentuch vom Couchtisch zu nehmen und es mir zu reichen. Ich tupfte mir damit die Augen ab und ignorierte ansonsten die Tatsache, dass mir die Tränen gekommen waren.

»Hast du das wirklich getan?«, fragte Dad, der jetzt Evelyn ansah. Seine Stimme klang gleichmäßig und leise.

Evelyn schloss kurz die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, sah sie entschlossen aus. »Ein paar Tage vor Violets Geburt hatte ich auf einmal Träume. Als Grigori haben wir alle unsere Stärken. Ich bin eine sogenannte Traumgängerin– ich kann mit anderen über Träume kommunizieren. Dadurch war es für Engel schon immer einfacher, Kontakt mit mir aufzunehmen. Vor Violets Geburt besuchte mich hin und wieder ein Engel. Er war sehr mächtig. Er erzählte mir, dass Kriege bevorstanden. Ich wurde vor die Wahl gestellt: Entweder konnte ich in einer Welt leben, in der meine Familie extrem leiden würde, weil sie von verbannten Engeln beherrscht wurde, oder ich konnte mein Leben aufgeben und, ja«, sie warf mir einen Blick zu, »meine Tochter einem Schicksal überantworten, durch das sie zu dem wurde, was ich bin.« Sie zögerte. »Nach allem, was ich gesehen habe, ist sie eine geachtete Kriegerin.«

Ich verdrehte die Augen. »Komplimente helfen dir hier auch nicht weiter. Und du hast den Teil vergessen, in dem du im Gegenzug glücklich bis ans Ende deiner Tage lebst– das heißt, bis ich dich aus deinem Himmel gezerrt habe!«

»Violet!«, sagte Dad scharf.

Ich schloss den Mund.

»Warte mal, was meinst du mit, du hast sie aus ihrem Himmel gezerrt?«

Ich presste die Lippen zusammen. Es gab so viel zu erklären, dass man gar nicht wusste, wo man anfangen sollte. »Der Engel, der mich gemacht hat, erzählte mir, dass sie mich ihnen in einem Tauschhandel überlassen hat. Man muss kein Genie sein, um dahinterzukommen, wohin sie nach ihrem Tod gegangen ist.« Ich zwang mich, gleichgültig zu bleiben. »Phoenix hat in Santorin ein Opferritual aus einer alten Schrift durchgeführt, und etwas von meinem Blut ist in die Mischung geraten. Er hat seine Mutter zurückbekommen und… ich irgendwie meine.«

Wir saßen alle einen Moment lang schweigend da und verdauten das Gesagte.

»Das ist…« Dad schüttelte den Kopf, aber dann platzte er heraus: »Welche Farbe hatte meine Unterwäsche in der Hochzeitsnacht?«

Evelyn schürzte die Lippen. »Du hast gar keine getragen.«

Gleich muss ich mich übergeben.

»Als wir zu unserem Flitterwochenhäuschen hinausgefahren sind– was ist unterwegs passiert?«, schoss er zurück.

»Dir ist das Benzin ausgegangen und du hast mich drei Stunden lang im Auto warten lassen, während du zur Tankstelle gegangen bist.« Ihr Lächeln wurde breiter.

»Was war das Letzte, was du je zu mir gesagt hast?«

Ihr Lächeln verblasste. »Ich habe dich darum gebeten, unsere Tochter Violet zu nennen.«

»Das allerletzte«, hakte Dad nach.

Evelyn biss sich auf die Lippe und sah zum ersten Mal verletzlich aus. »Ich liebe euch… beide.«

Dad ließ sich vom Sofa vor ihr auf die Knie fallen.

»War alles eine Lüge?«, fragte Dad flehentlich, wobei er nicht näher kam.

»Nein.«

»Du bist gestorben…«, sagte er, während ihm eine Träne über die Wange lief.

»Ja.«

»Und jetzt bist du zurückgekommen.«

»Ja.«

Er schluckte und stand auf, wobei er versuchte, die Fassung zu bewaren. »Für wie lange?«

»Ich weiß nicht.« Und dann verloren Evelyns Augen ihren Fokus und sie fiel bewusstlos zu Boden.

Kapitel Zwei

»Muss ich nach deinem Sinn dir Antwort geben?«

William Shakespeare

Die Dinge liefen nicht so, wie ich wollte.

Nachdem Evelyn wieder zu sich gekommen war, wurde sie zwischendurch immer wieder ohnmächtig, während wir versuchten, Dads zahlreiche Fragen zu beantworten. Nachdem sie zum vierten Mal das Bewusstsein verloren hatte, brachte Dad sie in sein Zimmer und befahl ihr, sich auszuruhen.

Das war vor drei Wochen gewesen.

Und jetzt war sie immer noch da.

Ich versuchte Dad alles zu erklären. Ich saß Nacht für Nacht mit ihm zusammen und führte ihm meine Kräfte vor, aber Logik erschwert die Akzeptanz dessen, was man sieht. Schließlich rief ich Griffin und Spence zu Hilfe. Griffin hatte die Fähigkeit, einem Menschen die Wahrheit einzuflößen, solange das, was er sagte, auch wirklich der Wahrheit entsprach. Nach ein paar ausgewählten Worten wurde es für Dad schwierig, ihn infrage zu stellen.

Spence setzte schließlich noch die letzten Zweifel außer Kraft, indem er seine Fähigkeiten demonstrierte und sich in eine ganze Reihe verschiedener Personen verwandelte. Er setzte noch eins drauf, indem er einfach seine Hand auf meine Schulter legte und uns beide unsichtbar machte. Bei dieser Vorführung musste ich feststellen, dass Spence’ Kräfte in den letzten paar Monaten beträchtlich gewachsen waren.

Schließlich kannte Dad die ganze Wahrheit.

Gleich nachdem er das alles akzeptiert hatte, wollte er Lincoln sehen.

Sie saßen sich am Esstisch gegenüber und Dad starrte Lincoln auf eine ganz neue– unfreundliche– Weise an.

»Ich habe dich in meinem Zuhause willkommen geheißen«, sagte Dad drohend. »Ich habe zugelassen, dass du trotz des Altersunterschieds Zeit mit meiner Tochter verbringst. Ich dachte, wir hätten eine Übereinkunft.«

»Dad«, stöhnte ich von der Küchenbank aus, aber es nutzte nichts.

Ich hatte erwartet, dass Lincoln nervös wäre oder zumindest vorsichtig. Aber ich hatte mich geirrt.

Er starrte Dad geradewegs ins Gesicht. »Mit allem gebührenden Respekt, Mr Eden, ich war oft hier und habe Sie nur sehr selten gesehen. In den ersten beiden Jahren, seit ich Violet kenne, waren wir einfach nur Freunde, die gemeinsam trainiert haben. Ich habe nie etwas getan, was… über eine Freundschaft hinausgeht.«

Leider wahr.

»Als ich sie kennenlernte, versuchte sie gerade, ihr Leben nach dem Übergriff wieder auf die Reihe zu bekommen, obwohl ich davon erst kürzlich erfahren habe. Ihre Welt war durch diesen Mistkerl völlig aus den Fugen geraten.« Seine Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten. »Kein Wunder, dass sie verzweifelt nach einem Weg suchte, ihr Leben unter Kontrolle zu bekommen. Ich habe meinen Teil dazu beigetragen, dies zu erreichen.« Er sah mich an, während ich blass wurde und schon halb damit rechnete, dass Dad aufspringen und ihn schlagen würde. »Den Rest hat sie selber erledigt.«

Dad zuckte zusammen und warf einen Blick in den Flur hinaus, wo Evelyn lauschte. Sie sah nicht glücklich aus.

»Das ist zum Teil richtig«, gab Dad zu. »Aber ich habe dir in Bezug auf Violet vertraut und jetzt höre ich, dass du sie, ohne mit der Wimper zu zucken, mit nichts Geringerem als einem bösen Engel losgeschickt hast, damit sie von einem Felsen springt, um dir das Leben zu retten!«

Eins musste ich Dad lassen– er verstand es wirklich, die Dinge in einem ungünstigen Licht erscheinen zu lassen.

Lincoln ließ sich nicht provozieren. »Ich war bewusstlos und hatte keine Ahnung, was sie vorhatte. Ich wollte nie, dass sie ihre Entscheidung um meinetwillen trifft.« Seine nächsten Worte wogen schwer, als er langsam sagte: »Damit muss ich jetzt für den Rest meines Lebens zurechtkommen.«

Dad schüttelte den Kopf. »Und so sollte es auch sein.«

Ich wählte diesen Moment, um einen Schritt nach vorne zu treten. »Wäre es dir lieber, wenn ich anders wäre, Dad?«

Er unterbrach den Blickkontakt mit Lincoln, um mich anzuschauen.

»Wäre es dir lieber gewesen, wenn ich ihn hätte sterben lassen? Wenn ich meiner Zukunft den Vorzug vor seinem Leben gegeben hätte?«

Dad schwieg.

Ich blickte in Evelyns Richtung. »Damit hätte ich nicht leben können.« Ich ging zu Lincoln und stellte mich hinter ihn, eine symbolische Handlung, die niemandem entging. »Ich habe Entscheidungen getroffen. Manche bereue ich, einige werden mich für immer verfolgen. Aber von diesem Felsen zu springen, um zu werden, wozu ich bestimmt war, und um ihn zu retten– das ist eine Entscheidung, die ich niemals bereuen werde.«

Ich konnte Lincolns Gesicht nicht sehen, doch sein Körper war völlig regungslos.

Schließlich räusperte sich Dad und stand auf. Er war bei Weitem nicht bereit, zu vergeben und zu vergessen.

»Ich höre, was du sagst, Violet. Aber mir drängt sich der Verdacht auf, dass du aus den falschen Gründen in diese Welt gezwungen wurdest.« Er funkelte Lincoln an.

Lincoln stand auf. »Ich verstehe Ihre Gefühle, Mr Eden. Ich hoffe, Sie werden eines Tages Ihre Meinung über mich ändern. Doch bis dahin kann ich Ihnen nur mein Wort geben, dass ich Violet als Mensch und als Grigori wertschätzen werde. Und…«, er warf mir einen kurzen Blick zu, »ich würde alles für sie tun.« Und damit ging er zur Tür.

Ich folgte ihm hinaus zum Aufzug. Ich hatte erwartet, dass er sauer wäre, dass er toben und behaupten würde, Dad hätte den Verstand verloren. Aber er war still. Zu still.

Ich drückte auf den Aufzugsknopf. Lincoln sah mich nicht an.

»Er braucht nur jemanden, dem er die Schuld geben kann. Das wird nicht lange andauern«, sagte ich leise und wünschte, ich könnte so für ihn da sein, wie ich gern wollte.

Er versuchte, etwas zu sagen, doch er klappte den Mund wieder zu, als könnte er nicht sprechen, und schüttelte den Kopf.

»Linc?« Ich streckte die Hand nach ihm aus, meine Fingerspitzen strichen über seine. Der Kontakt entzündete wie immer qualvolle Seelenschmerzen.

Lincoln ergriff meine Hand, und plötzlich, ohne Vorwarnung, zog er mich an seine Brust und schlang seine Arme so fest um mich, als wollte er mich nie wieder loslassen.

Es war ein seltener Ausbruch seiner wahren Gefühle und ein noch seltenerer Ausdruck physischen Verlangens. Ich hielt ihn ebenso fest, keiner von uns sagte oder tat etwas. Wir hielten uns nur umschlungen. Ich atmete seinen Duft ein– Sonne und schmelzender Honig–, und meine Seele lechzte nur noch mehr nach ihm.

So standen wir da, bis die Aufzugstür aufging. Lincoln seufzte und ließ mich los, seine Hand wanderte dabei zu meiner Wange, sein Daumen strich in der Art und Weise über mein Haar, wie ich es so liebte, der Blick aus seinen smaragdgrünen Augen drang in mich. Wortlos betrat er den Aufzug.

In dem Moment, als sich die Türen schlossen, gaben meine Knie nach und ich fiel zu Boden, weil ich wahre Höllenqualen erlitt. Ich griff mir an Brust und Bauch, denn irgendwo dort drin wurde gerade der Zauber zerrissen, der unsere Seelen verband.

Ich hörte nicht einmal, wie die Tür hinter mir aufging, aber plötzlich war Evelyn da und kauerte sich neben mich. Ich spürte eine zaghafte Hand auf meinem Rücken, während ich versuchte, nicht vor Schmerzen zu weinen.

»Bist du verletzt?«, fragte sie rasch und scharf. Ich konnte ihre Anspannung fühlen, als sie sich nach einem Feind umschaute.

»Nein«, brachte ich heraus.

»Was dann?«, fragte sie und musterte mich von oben bis unten. »Ich verstehe nicht…« Sie unterbrach sich, sah zuerst mich an und dann den Aufzug. »Lincoln? Das ist…« Wieder hielt sie inne. Dann packte sie mich hart an den Schultern und zog mich auf die Füße.

»Sag mir jetzt nicht, dass es da etwas zwischen euch gibt!« Sie schüttelte mich. »Sag mir, dass du nicht in deinen Partner verliebt bist!«

Ich versuchte, den Schmerz hinunterzuschlucken, die Strafe dafür, dass ich ihn berührt hatte. Ich fing an zu zittern.

»Antworte mir sofort! Schläfst du mit ihm?«, fragte Evelyn und schüttelte mich noch einmal, wobei sie mich dazu zwang, den Kopf zu heben. Ihre Augen blitzten, als sie mich eindringlich ansah.

»Nein«, sagte ich. Tränen strömten aus meinen Augen, teils wegen der körperlichen Schmerzen, teils wegen meines Herzens. Ich wusste, weshalb sie fragte– es war Grigori-Partnern verboten, eine Beziehung miteinander zu haben, denn es löste eine Art negative Reaktion in unseren Engelbestandteilen aus, und das Resultat war gefährlich. Bestenfalls wurden die Grigori-Kräfte geschwächt, schlimmstenfalls gingen sie verloren. Doch Lincoln und ich waren so ziemlich das Gegenteil.

Wir waren Seelenverwandte.

Unsere Kräfte würden größer werden, wenn wir zusammen wären… Doch es würde andere verlustreiche Konsequenzen haben, die keiner von uns hervorrufen wollte.

Ihr Blick ruhte auf mir, während ich versuchte, mich in den Griff zu bekommen. »Aber irgendetwas läuft da, oder? Zwischen euch beiden, etwas, das du mir nicht sagst.«

Ihre Frage war genau das, was ich brauchte, um mich zusammenzureißen und mich aus ihrem Griff zu lösen.

»Weißt du was, Mum, wenn du so clever bist, dann finde es doch selbst raus!« Und damit stürmte ich an ihr vorbei in die Wohnung.

Evelyn richtete sich bei uns zu Hause gemütlich ein. Dad schlief jetzt im Wohnzimmer, und trotz meiner Bemühungen schien sie nicht weggehen zu wollen.

Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass sich Dad wieder total in sie verliebte. Ich versuchte, ihm begreiflich zu machen, wie schrecklich sie war– und er stimmte dem, was ich sagte, auch zu, teilweise zumindest. Evelyn hatte ihn während ihrer ganzen Beziehung angelogen, und das hatte er nicht vergessen. Trotzdem folgte er ihr dauernd mit Blicken durch die ganze Wohnung.

Am Morgen nach Lincolns Besuch mied ich mein Zuhause und versuchte, dem übrigen Seelenschmerz davonzulaufen, den seine Berührung hinterlassen hatte. Nach einem straffen Workout fühlte ich mich besser.

Als ich nach Hause kam, schnappte ich mir in der Küche eine Flasche Wasser und bemerkte die Fetzen einer weiteren zerschnittenen Zeitung auf der Küchenbank. Ich hielt sie Dad hin und fuchtelte damit herum.

»Hat sie schon erklärt, weshalb sie dauernd die Zeitung massakriert?« Täglich zerstörte sie all unsere Zeitungen, und im Mülleimer fand ich auch internationale Blätter.

»Ich glaube nicht, dass das noch lange so weitergeht«, sagte Dad mit einem Lächeln, das nichts Gutes verhieß. »Ich habe ihr gezeigt, wie man das Internet benutzt.«

Großartig, das erklärt, warum ich meinen Laptop nicht finden kann.

»Wir sollten sie einfach in ein Hotel schicken oder so. Griffin könnte das arrangieren.« Ich hatte diese Lösung schon ein paarmal vergeblich vorgeschlagen, aber ich war entschlossen nicht aufzugeben.

Dad schüttelte nur den Kopf und gab mir seine übliche Antwort. »Sie ist zu schwach. Was immer ihr bei ihrem Übergang hierher zurück zugestoßen ist… sie kann nicht allein sein.«

Ich ließ mich auf die Kissen zurücksinken. »Wahrscheinlich täuscht sie diese Ohnmachtsanfälle nur vor. Sie gehört nicht hierher, Dad.«

Er seufzte und legte mir den Arm um die Schulter zu einer unserer traditionell peinlichen Umarmungen.

»Vi, ich weiß, was du sagen willst. Sie hat Entscheidungen getroffen, die wir nicht verstehen oder die wir nicht akzeptieren, aber ich finde, wir sollten ihr die Chance geben, sich zu erholen. Wenn es ihr erst mal besser geht, dann… werden wir ja sehen, was zu tun ist.«

Ja, klar.

Ich löste mich von ihm. »Ich muss duschen«, sagte ich und stand auf.

»Ich hatte gehofft, dich heute Abend in deinem Kleid zu sehen. Weißt du, für ein gemeinsames Foto oder so.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich mache mich mit Steph fertig«, sagte ich, wobei ich verschwieg, dass wir uns im Hades treffen würden.

»Sie hätte zu uns kommen können. Eine Zeit lang war sie mehr hier als bei sich zu Hause.«

Ich nahm einen letzten Schluck Wasser und machte die Flasche wieder zu. »Hier ist es inzwischen ein bisschen zu voll.«

Dad stand auf, nahm meine Hände in seine und schaute auf die Armbänder hinunter, die meine Male verbargen. »Irgendwas Neues?«

Ich schüttelte den Kopf. »Griffin hat täglich Kontakt zur Akademie. Sie wurden mehrmals gesichtet, aber nichts Konkretes.«

Tatsächlich war es, als wären Phoenix und Lilith von der Erdoberfläche verschwunden. Doch gleichzeitig wusste ich, dass sie das nicht waren. Etwas braute sich zusammen. Das spürte ich– und es war kein schönes Gefühl.

»Du gehst heute nicht ›jagen‹, oder?« Das war weniger eine Frage als eine Forderung.

Ich lächelte. »Heute nicht.« Ich hatte heute frei für unseren Abschlussball.

Er küsste mich auf den Scheitel. Er roch nach Dad– Rasiercreme und Aftershave.

»Weißt du, sie ist wach, falls du Tschüss sagen möchtest, bevor du gehst.«

Er ging zum Esstisch, wo er sich ein provisorisches Büro eingerichtet hatte.

Ich lachte. »Mal sehen.«

Kapitel Drei

»Kannst du das Schicksal kichern hören, wenn es auf Zehenspitzen naht? Das Schicksal ist herzlos.«

Anonym

Die folgenden Tage waren voller wichtiger Ereignisse, angefangen mit dem Abschlussball an diesem Abend, dem Fenton-Kunstkurs, der am nächsten Tag beginnen sollte– ja, auch am Wochenende war Anwesenheitspflicht– und am Montag war mein offizieller Abschluss.

Ich kann nicht sagen, dass ich von meinem Abschluss Großes erwartete. Meine Examensleistung war zweifellos unterdurchschnittlich. Aber immerhin war ich stolz darauf, dass ich es bis zum Ende der Highschool geschafft hatte. Außerdem freute ich mich auf Stephs Rede. Sie hielt die Abschlussrede– und hatte keine Angst davor… na ja, alles zu sagen, was ihr durch den Kopf ging.

Worauf ich mich wirklich richtig freute, war der Fenton-Kunstkurs. Ich hoffte, diese sechs Wochen würden für mich zum Sprungbrett in die Künstlerszene und– abgesehen von allen Dramen– eine Chance für mich, ganz normal zu sein.

Steph hatte eine unglaubliche Künstlermappe aus Leder für mich gekauft, die so groß war, dass ganze Leinwände und all meine Kunstutensilien hineinpassten. Ich wusste, dass es mich mit Stolz erfüllen würde, damit auf die Straße zu gehen.

Als ich mit meinem Kleid, das ich mir in einer Schutzhülle über die Schulter gehängt hatte, das Hades betrat, freute ich mich schon darauf, es am nächsten Tag gegen meine Kunstmappe einzutauschen.

Ich ging durch die Bar zu Dappers Wohnung. Dort klopfte ich an die Tür und rief meinen Namen, damit sie wussten, dass ich es war. Dapper war vor einem Monat von Phoenix’ Verbannten angegriffen worden, als wir versucht hatten, Steph gegen die Grigori-Schrift auszutauschen. Doch Phoenix hatte uns aufs Kreuz gelegt. Dapper, Onyx und vor allem Steph mussten den Preis dafür bezahlen.

Jedes Mal, wenn ich ihn jetzt besuchte, die stahlverstärkte Tür sah und hörte, wie er die vielen Schlösser öffnete, plagte mich mein schlechtes Gewissen. Dapper hatte sich früher um Neutralität bemüht, doch Phoenix war das egal gewesen– seine Verbannten hatten ihn trotzdem angegriffen. Dapper war an diesem Abend beinahe umgekommen, und seitdem fehlte ihm irgendetwas, von dem ich nicht sicher war, ob er es je wieder zurückbekommen würde.

»Sag mir doch noch mal, warum ich einfach nicht in der Lage zu sein scheine, dich loszuwerden«, murmelte er zur Begrüßung. Dann warf er einen Blick über seine Schulter und fügte hinzu: »Oder sie.«

Die Wahrheit? Beide mieden wir gerade unser Zuhause wie die Pest. Das Letzte, was ich gehört hatte, war, dass Stephs Mutter gerade einen besonders primitiven reichen, grabschenden Geschäftsmann »bespaßte«, den Steph kaum ertragen konnte.

»Weil du ohne uns verloren wärst, und so sehr dich das auch ärgert, verschafft es dir auch Genugtuung zu wissen, dass unsere Anwesenheit Onyx sogar noch mehr nervt.«

»Das habe ich gehört«, erklang Onyx’ Stimme von drinnen. »Und es ist vollkommen richtig. Es ist eine völlig verdrehte Form der Bestrafung.«

Dapper grunzte, aber ich sah, wie sich seine Mundwinkel fast zu so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln hoben.

Ich klopfte ihm auf die Schulter, als ich hineinging, um Steph zu suchen, die sich schon ausgebreitet hatte. Ihr Kleid hing am Rand einer Stehlampe, sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und ihre nassen Haare tropften auf den Teppich, auf dem sie im Schneidersitz saß, Kekse knabberte und in der Vogue blätterte.

Sie blickte zu mir auf. »Wenn du noch was essen willst, dann jetzt. In den nächsten zwei Stunden bis zum Ball wird nichts mehr gegessen.« Sie tätschelte ihren Bauch. »Sonst sieht man es gleich.«

Ich verdrehte die Augen. »Hast du etwa vor, den ganzen Abend nichts zu essen?«

Sie fixierte mich mit einem ernsten Blick. »Violet«– mehr sagte sie nicht.

Ich fasste das als Ja auf, ließ meine Tasche fallen und warf mein Kleid über das Sofa, bevor ich mich neben sie setzte und einen Keks aß. Ich machte mir nicht die Mühe zu erklären, dass ich mich nicht an das Essensverbot halten würde. Kein Kleid war das wert.

Es war ja nicht so, dass ich jemanden beeindrucken musste.

Wir gingen als Gruppe: Steph und Salvatore, Spence– der irgendwie doch noch seinen Abschluss geschafft hatte–, Zoe, Jase und ich. Ich fühlte mich unbehaglich, mit Stephs Bruder zu gehen, Zoe versicherte mir jedoch, dass sie an diesem Abend alles tun würde, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Jase hatte offenbar eine kleine Schwäche für mich entwickelt. Das war schmeichelhaft, weil ich in der Zeit vor Lincoln für ihn geschwärmt hatte. Doch auch wenn ich nicht mit Lincoln zusammen sein konnte, würde ich auf keinen Fall etwas mit jemand anderem in Betracht ziehen und… Mein Herz konnte einfach keine weitere männliche Komplikation ertragen.

Ich blickte zu Onyx hinüber, der an der Minibar saß, vor sich etwas, was den Geist betäubte, wie ich annahm, und ein aufgeklappter Laptop.

»Was machst du?«, fragte ich.

»Versuchen, ein paar alte Verbannten-Chats zu finden.«

Ich machte große Augen. »Du nimmst mich auf den Arm, oder?«

»Absolut nicht«, grinste er.

»Warum?«, fragte ich misstrauisch. Das Letzte, was wir jetzt gebrauchen konnten, war, dass Onyx Kontakt zu seinen alten Anhängern aufnahm und ihnen Informationen lieferte.

»Keine Panik, Regenbogen. Ich schaue nur nach, ob die Fäden noch immer aktiv sind. Ich dachte mir, jemand würde vielleicht erwähnen, Phoenix und Lilith gesehen zu haben. Sie sind zurzeit richtige Berühmtheiten. Die ›erste Verbannte‹, die aus den feurigen Gruben der Hölle zurückgekehrt ist, und ihr Sohn, der Verbannte, der dich besiegt hat.«

Ein seltsamer Neid lag in seiner Stimme. »Eifersüchtig, was?«

»Und wie!« Er lächelte mich boshaft an und mir lief ein Schauder den Rücken hinunter. Erinnerungen daran, dass Onyx den Großteil seiner Existenz als Macht der Verdorbenheit und des Wahnsinns zugebracht hatte, waren etwas, was ich mir nicht leisten konnte zu vergessen. Im Moment schien jedoch seine Menschlichkeit Form anzunehmen, und irgendwie hatte er mein Vertrauen gewonnen. Doch das bedeutete nicht, dass ich unaufmerksam werden durfte. Immerhin hätte er es in der Vergangenheit fast geschafft, sowohl Lincoln als auch mich zu töten. Das ist schwer zu vergessen.

»Hast du etwas gefunden?«, unterbrach Steph meine Gedanken.

»Hier und da ein paar Gerüchte, ein wenig Aktivität in Europa und an der Ostküste Amerikas. Was immer sie tun, sie kommen herum, und das ist nicht gut.«

»Warum?«, fragte Steph.

Er klappte den Laptop zu. »Weil es bedeutet, dass sie einen Plan haben.«

Demonstrativ warf er einen Blick auf die Uhr und sah dann mich an– musterte mich von oben bis unten. »Du hast nur noch zwei Stunden. Hast du vor, auch nur halbwegs ordentlich zu deinem Date zu gehen?«

Ich lächelte ihn schmallippig an. »Das ist kein Date.«

Er grinste breit.

»Es ist kein…«, sagte ich warnend.

Steph blickte nach unten und blätterte wieder in ihrer Zeitschrift.

»Es gibt immer einen Weg, sicherzugehen«, sagte Onyx süffisant.

»Und wie?«

»Wenn er dich abholen kommt und ihr als Gruppe geht, dann wird er den Typen die Hand schütteln und jedes Mädchen auf die Wange küssen. Wenn er nur deinetwegen da ist, wird er den anderen einfach zunicken, bevor er sich vorbeugt, um dich auf die Wange zu küssen. Nur dich.«

Ich verdrehte die Augen und warf einen Keks nach ihm. »Du bist so ein Idiot!«

Dapper ging zum Schrank hinüber, zog einen Handstaubsauger heraus und reichte ihn mir knurrend. »Bis zum letzten Krümel.«

»Es war seine Schuld«, schmollte ich, machte mich aber ans Saubermachen.

Als Steph und ich schließlich aus dem Bad kamen, war Zoe da, sie trug ein mitternachtsblaues Kleid, das perfekt zu den gefärbten Spitzen ihrer kurzen braunen Haare passte.

Wenn man sie und Steph so anschaute, hätten sie unterschiedlicher nicht sein können– Steph trug ein schönes klassisches trägerloses Kleid aus goldfarbener Seide mit Spitzen.

Ich hatte mich für ein traditionelles schwarzes entschieden, ein schlichtes Kleid mit Nackenband, das durch eine feine Goldkette betont wurde, die tief auf den Stoff fiel. Die Haare trug ich hochgesteckt, und beim Make-up hatte ich mich auf die Augen konzentriert, Smokey Eyes, die von goldenen Rändern noch hervorgehoben wurden– das hatte ich mir von Morgan abgeschaut.

»Könnt ihr es fassen, dass wir heute ausgehen, einfach so, zum puren Vergnügen? Keine Verbannten, keine Grigori-Verpflichtungen– nur wir, Musik, Tanz und Hochprozentiges?« Steph sah aus, als würde sie vor Begeisterung gleich ins Delirium fallen.

»Und für einige von uns kommt dann noch die Party danach!«, fügte Zoe vielsagend hinzu und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Stephs Lächeln wurde breiter. »Damit könnte es auch zu tun haben«, sagte sie unschuldig. Doch wir wussten beide, dass heute die Nacht war, in der sie mit Salvatore Ernst machen wollte.

Ich lächelte, obwohl es mir einen Stich versetzte.

Stephs Handy piepste.

»Die Jungs sind hier«, sagte sie, bevor sie zur Tür sprintete. Dabei warf sie einen Blick über die Schulter und fügte hinzu: »Okay, ich bin dem Immer-schön-warten-lassen-Standardprogramm heute Abend nicht gewachsen.«

Zoe lachte und folgte ihr nach draußen.

»Du weißt, dass ich wild entschlossen bin, dir heute Abend dein Date abzuluchsen«, sagte Zoe, während wir die Treppe hinuntergingen.

»Er ist nicht mein Date«, sagte ich rasch. »Luchs ihn mir ruhig ab.«

Dapper entdeckte uns sofort, als wir den Barbereich betraten, und etwas in seinem Gesichtsausdruck sah verdächtig nach Stolz aus. Definitiv. Ich strahlte, auch wenn ich plötzlich ein wenig Reue empfand, weil ich Dad nicht in die Vorbereitungen mit einbezogen hatte.

Rasch wurde ich jedoch abgelenkt und schaute mich nach ihm um. Ich hatte seine Anwesenheit bereits gespürt, bevor wir die Treppe herunterkamen. Und wirklich– Lincoln saß an der Bar, zusammen mit Nathan und Becca, sein Blick war auf mich geheftet. Wie auf Autopilot begannen meine Füße, mich zu ihm zu tragen.

»Du siehst großartig aus«, sagte eine Stimme hinter mir. Ich blieb stehen und wirbelte herum. Es war Jase, der in seinem Smoking selbst ziemlich großartig aussah. Ich war mir sicher, dass er maßgeschneidert war– immerhin war er ein Morris. Über seinen Augen wölbten sich üppige dunkle Augenbrauen, die einen starken Kontrast zu seinen blonden Haaren bildeten. Er musterte mein Kleid und lächelte anerkennend.

»Danke«, sagte ich und errötete verlegen.

»Hey, Kumpel«, sagte Spence und schlug Jase auf die Schulter. Jase stolperte nach vorne. Ich funkelte Spence an, der nicht so sorglos mit seiner Grigori-Stärke umgehen sollte.

Jase blickte sich zum Rest der Gruppe um, nickte allen zur Begrüßung zu und wandte sich dann wieder an mich, legte die Hände auf meine Schultern und beugte sich mit seinem ganzen Körper zu mir vor. Dann küsste er mich auf die Wange.

Aus den Augenwinkeln sah ich, dass uns Onyx mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht beobachtete.

Mistkerl…

Onyx war nicht der Einzige, der darauf reagierte. Hinter mir spürte ich, wie sich Lincolns Wut steigerte. Ich konnte nicht anders, als mich umzudrehen und in seine grünen Augen zu schauen, die wütend funkelten. Er war bereits aufgestanden und kam auf uns zu. Ich seufzte.

Das wird nicht gut ausgehen.

Er blieb neben mir stehen, sah jedoch Jase an.

Jase streckte die Hand aus. »Lincoln. Bist du gekommen, um uns zu verabschieden?«

Lincoln schüttelte ihm die Hand, und ich konnte fast spüren, wie viel Anstrengung es ihn kostete, sie nicht zu brechen.

»Nein, ich bin nur hier, um mit Becca und Nate etwas zu trinken.«

»Oh, klar«, sagte Jase, der keinen Hehl daraus machte, dass er das nicht glaubte, und obendrein noch ein gefährliches Grinsen aufsetzte. »Nun, wie ich verstanden habe, siehst du dich als Violets großer Bruder oder so etwas, deshalb verspreche ich hiermit, dass ich gut auf sie aufpassen werde und dass es nicht zu spät wird.«

Gütige Mutter Gottes. Hat er Todessehnsucht, oder was?

Lincoln zuckte mit den Schultern, er war zu ruhig. »Ich würde das zwischen uns nicht als Bruder-Schwester-Beziehung bezeichnen. Das würde wohl so mancher seltsam finden. Nate?«

Nathan blickte kurz auf und zwinkerte.

»Definitiv.«

Rot werden? Ich?

Jase war ebenfalls sprachlos, während Lincoln immer selbstzufriedener aussah.

»Hör auf«, sagte ich leise.

»Na ja«, sagte Lincoln, dessen Tonfall inzwischen leichter war, »ich wünsche euch noch einen schönen Abend.«

»Den werden wir haben«, sagte ich, bevor Jase seine Retourkutsche aussprechen konnte und die Situation noch eskalieren würde.

Onyx nutzte diesen Augenblick dazu, an mir vorbeizugehen und dabei meine Schulter zu streifen, während er beobachtete, wie Lincoln davonstolzierte und wieder seinen Platz an der Bar einnahm. »Er wird mir immer sympathischer.«

»Hey, Jase!«, rief Spence.

»Ja?«, sagte Jase, erleichtert über die Unterbrechung. »Ich brauche jemanden, der sich hier in der Gegend auskennt.«

Jase sah mit hochgezogenen Augenbrauen wieder mich an. »Das wird keine gute Idee sein, oder?«

Spence hatte ein vertrautes hinterlistiges Funkeln in den Augen.

»Überhaupt nicht«, sagte ich.

Trotzdem machte sich Jase auf den Weg zu Spence. Und ich machte auf dem Absatz kehrt und sah Lincoln an, der auf seinem Hocker saß und direkt zu mir herüberschaute.

Ich stürmte zu ihm hinüber. »Das war wirklich nicht nötig«, fauchte ich.

»Ich weiß«, erwiderte er ruhig und überrumpelte mich damit völlig. Er seufzte und sah aus, als hätte er ein schlechtes Gewissen. »Ich weiß«, sagte er wieder. Sein Blick ruhte auf mir und schien irgendwie meinen ganzen Körper zu erfassen und in Flammen aufgehen zu lassen.

Verdammt, er weiß ganz genau, wie er mich völlig aus dem Konzept bringen kann.

»Aber was soll ich deiner Meinung nach tun? Dabeistehen und lächeln, während er dich anbaggert?«

Er blickte auf seine Hände hinunter, die auf der Bar lagen. Ich warf einen Blick zu Nathan und Becca, die beide so taten, als würden sie unser Gespräch gar nicht hören.

Jetzt war ich an der Reihe zu seufzen. »Du weißt, dass ich nicht… Du weißt, dass es nicht… so ist.«

Er ergriff meine Hand und legte sie auf seine. Einen Augenblick lang sagte keiner von uns etwas. Seine Hand lag flach unter meiner auf der Bar, er hatte die Finger gerade so weit gespreizt, dass meine in die Lücken passten.

Die winzigen Bewegungen– die Berührung eines Daumens, das langsame Heben der Knöchel– waren sinnlicher als alles, was ich je erlebt hatte.

Schließlich räusperte ich mich, mein Herz raste. »Du kannst immer noch mitkommen. Wir gehen als Gruppe, das weißt du ja.«

Er holte tief Luft, seine Aufmerksamkeit galt noch immer unseren Händen.

Ich bemühte mich weiter.

Ignorier die Hände. Ignorier die Hände.

»Wir könnten vielleicht einfach gemeinsam einen Abend verbringen, an dem wir uns über nichts anderes Sorgen zu machen brauchen? Wir könnten einfach Spaß haben, tanzen.« Ich lächelte keck. »Wir könnten es mal mit Salsa versuchen.«

Daraufhin sah er mich an und zog eine Augenbraue nach oben. »Salsa?«

Ich zuckte mit den Schultern und wurde rot. »Ja, na ja… oder so was in der Art.«

»Du kannst Salsa?«

»Ähm, nein, aber ich wollte es immer lernen«, sagte ich und merkte dabei, wie bescheuert das klang.

Doch seine Augen leuchteten auf. »Und das, wo ich gerade dachte, du könntest mich nicht mehr überraschen.«

Ich hielt die Luft an, weil ich dachte, er könnte sich vielleicht doch dazu entschließen mitzukommen. Aber noch während ich ihn beobachtete, sah er sich im Raum um und senkte den Blick.

»Ihr geht nicht als Gruppe, Vi, und das wissen wir beide. Jedenfalls ist es keine gute Idee, auch wenn ich wünschte, es wäre eine.« Und damit machte er dicht. Typisch Linc.

Und typisch ich– ich reagierte gereizt, zog abrupt meine Hand weg und entfernte mich.

Genau in dem Moment kam Spence mit einem Tablett Schnapsgläser zurück.

»Wird Zeit, dass die Party anfängt, Eden.« Nervös blickte er über die Schulter. »Vorzugsweise bevor Dapper zurückkommt!«

Um mich herum lächelten alle und kippten ihren Schnaps. Ich warf Lincoln einen Blick zu. Unbeeindruckt schaute er zu. Ich schnappte mir ebenfalls ein Glas und kippte es hinunter.

»Die Autos sind da!«, rief Steph.

Spence neigte das Tablett und hielt Lincoln das letzte Glas hin. Lincoln schüttelte einfach den Kopf. Ohne zu zögern, und nur weil das alles so schmerzte und ich es an ihm auslassen wollte, nahm ich das Glas vom Tablett und stürzte das Getränk hinunter. Dann lächelte ich und ignorierte das Brennen in der Kehle.

»Spare in der Zeit, so hast du in der Not«, sagte ich schulterzuckend, dann drehte ich mich um und ging zur Tür.

Kapitel Vier

»Sind sie nicht alle nur dienende Geister, ausgesandt, um denen zu helfen, die das Heil erben sollen?«

Hebräer 1, 14

Zwei Stunden und ein paar hochprozentige Getränke später flüchtete ich von der Tanzfläche, um frische Luft zu schnappen.

Alle wirbelten umher, lachten über die idiotischen Tanzstile von Steph und Salvatore und über Lydia Stilton, die verzweifelt versuchte, sich Spence zu krallen– nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Jase und ich tanzten mit Zoe und den anderen, bis ich es schließlich schaffte, mich davonzustehlen, in der Hoffnung, Zoe dadurch die Gelegenheit zu geben, Jase für sich allein zu haben.

Ich schlüpfte durch die Schiebetüren unserer Aula, die heute als Ballsaal fungierte, auf den kleinen Balkon. Ehrlich gesagt war der Abend eine kleine Enttäuschung. Nicht das, was ich mir in all den Schuljahren davor ausgemalt hatte, und im Großen und Ganzen auch weniger bedeutend.

Als ich allein war, ließ ich meine Fassade fallen. Mein Lächeln fiel ab und die Einsamkeit, die ich normalerweise in Schach hielt, kam an die Oberfläche. Sobald ich mich geöffnet hatte, nahm ich ihn wahr. Und ich merkte, wie nah er war.

Ich richtete mich auf, ging zurück zu den Türen und schaute in den Ballsaal. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich ihn entdeckte, er stand am Eingang und trug einen Anzug und ein Hemd, das am Kragen offen war. Die Art und Weise, wie er diesen Anzug ausfüllte, hatte etwas– etwas, was mich glauben machte, dass das der ursprüngliche Grund war, weshalb Anzüge überhaupt hergestellt wurden. Sein Haar war zerzaust, hellbraun mit goldenen Strähnen, seine vollen Lippen waren gerade weit genug geöffnet, seine goldbraune Haut schrie danach, berührt zu werden und– das Beste von allem– seine gefährlich verführerischen grünen Augen blickten genau in meine.

Er ist hier.

Mein Herz setzte einen weiteren Schlag aus, und ich wollte mich in seine Arme werfen. Stattdessen ertappte ich mich dabei, wie ich langsam auf ihn zuging, während er sich mir näherte– die Hände in den Hosentaschen. Es fühlte sich an, als würde der ganze Raum verschwinden, sodass nur noch wir beide übrig waren, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt starrten wir uns an und meine Seele schrie nach seiner. Meine Augen verengten sich, und ich stemmte die Hände in die Hüften.

»Warum bist du hier?«

Er zuckte zusammen. »Du lallst.«

»Versuch das mal zu ignorieren und beantworte meine Frage.«

Er dachte einen Moment nach, dann nickte er, als wäre er zu einem Entschluss gekommen. »Drei Gründe.« Er blickte in Jase’ Richtung, der am Rand der Tanzfläche stand, sich mit Zoe unterhielt und zu uns herübersah. »Erstens, damit er die Hände von dir in diesem Kleid lässt. Zweitens: Das letzte Mal, als ich dich aus einem Zimmer gehen ließ, ohne dir zu sagen, wie schön du bist, musste ich dich am Ende aus einem Vulkan fischen und du bist gegangen, bevor ich dir sagen konnte…« Er schluckte und sah mich von oben bis unten an. »Du siehst atemberaubend aus.« Er sah mich eindringlich an und die Stille dehnte sich aus, bis er blinzelte und wieder im Hier und Jetzt ankam. »Und drittens«– er lächelte teuflisch–, »wenn du schon mit jemandem Spaß hast und Salsa tanzt, dann besser mit mir.« In seinem Blick lag jetzt etwas Grundlegenderes, Raubtierhaftes und… definitiv etwas Herausforderndes.

ENDE DER LESEPROBE