Verlockt - Jessica Shirvington - E-Book

Verlockt E-Book

Jessica Shirvington

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Beschreibung

Gefallene Engel, unmögliche Liebe und ein Kampf gegen dunkle Mächte

Violet ist nun eine Grigori, ein Wächterengel. Sie genießt in vollen Zügen, endlich mit Lincoln zusammen zu sein, doch sie verliert ihr Ziel nicht aus den Augen: Sie muss die verlorene Grigorischrift finden, bevor sie in die Hände der Verbannten gelangt. Doch gerade als Violet meint, einen entscheidenden Schritt weitergekommen zu sein, kehrt Phoenix zurück und sofort sind zwei Dinge klar: Liliths Sohn hat nicht vor, den guten Jungen zu spielen, und er hat immer noch Macht über sie – mehr, als ihr lieb ist. Und auch er ist auf der Jagd nach jener Schrift, die ungeahnte Macht in sich birgt …

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Seitenzahl: 589

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Die Autorin

Foto: © privat

Jessica Shirvington hat eine Kaffeeimportfirma gegründet und geleitet und nebenbei zu schreiben begonnen. Nach ihrem ersten Roman »Erwacht« erscheint mit »Verlockt« nun der zweite Band ihrer Engel-Saga. Jessica Shirvington lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Sydney. Neben ihrer Familie widmet sie sich nun ganz dem Schreiben.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Deutsche Erstausgabe März 2012

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Enticed« bei Hachette Australia, Sydney.

© 2011 by Jessica Shirvington

Published by arrangement with Jessica Shirvington

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler

Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: © bürosüd°, München

jb · Herstellung: AnG

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-06734-2V003

www.cbt-jugendbuch.de

Für Mum und Dad,

weil ich durch sie immer jemanden hatte,

zu dem ich aufschauen konnte, und weil sie sowohl in meinem Leben als auch in meiner Arbeit ein steter Quell der Inspiration sind.

Danke, dass ihr immer da seid.

Ich liebe euch.

»Ich bin der Herr, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.«

Jesaja 45,7

Prolog

»Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es freiwillig.«

Johannes 10, 18

Dem Engel war befohlen worden, seine Wahl zu treffen. Sie sollte seinem freien Willen unterliegen. Aber was sie von ihm forderten, hatte einen hohen Preis. Wahrscheinlich würde er niemals zurückkehren. Höchstwahrscheinlich würde er vernichtet werden. Oder noch schlimmer.

Und niemand würde jemals die Wahrheit erfahren.

»Du hast dich also entschieden«, sagte eine Stimme zu ihm.

In jedem Augenblick empfand ich das Gleiche wie er– die verschwommene Version der Zeit an diesem Ort, der im Jenseits liegen musste– aber sehen konnte ich nichts. Es war surreal; keine sichtbaren Personen– nur ihre Präsenz oder vielleicht ihre Auren.

Es ging nicht darum, was gesagt wurde. Als er seine Entscheidung traf, wussten sie es sofort. Wahrscheinlich wussten sie es noch vor ihm. Er konnte sie überall um sich herum spüren, die mächtigen Seraphim. Ihr grenzenloses Wissen verlieh ihnen eine überwältigende Präsenz, aber an diesem Tag fühlte sie sich bitter an.

»Wenn die erste deiner Aufgaben erfüllt ist, wirst du zur nächsten übergehen. Du darfst dich nicht zu erkennen geben und dich niemandem anschließen, vor allem keinen Verbannten, es sei denn, es dient der Erfüllung deiner Ziele.«

»Ich verstehe.«

»Du wirst drei Jahre warten, bis der Tag kommt, an dem du handeln musst. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen. Und das wird nicht möglich sein ohne dein vorheriges Handeln.«

»Ich verstehe.«

Und das tat er– er verstand. Er hatte aus seinem freien Willen heraus die Entscheidung getroffen, trotz des Opfers, das er bringen musste. Denn er wusste, dass es nur von ihm verlangt wurde, weil er die perfekte Wahl war.

Er spürte das Universum um sich herum, die Freiheit uneingeschränkter Herrschaft über Raum und Reich, und fragte sich, wann er das je wieder fühlen würde– und ob überhaupt.

»Wähle einen Namen, der in die Zeit passt, wenn du dort bist. Geh jetzt.«

Und so geschah es. Sein Übergang führte ihn mitten durch Bilder von Zorn und aufgebrachten Menschenmassen. Zu seinem Schicksal. Zum Tod. Das Aufblitzen eines Kusses. Alles, was kommen wird.

Um mich herum lichtete sich der Nebel und meine Umgebung wurde sichtbar. Plötzlich war ich in meinem Atelier. Am Fenster stand eine Gestalt, die ich erkannte. Die, die ich für den Engel hielt, der mich gemacht hatte.

»Wie heißt du?«, fragte ich, noch immer erstaunt über die Art und Weise, wie meine Worte in diesen Träumen durch die Luft zu schweben schienen, als hätten sie ihre eigene, körperliche Präsenz.

»Das tut nichts zur Sache. Aber wenn du einen Namen brauchst, kannst du mich Lochmet nennen.«

»Was bedeutet das?«

»Krieger.«

Ich schluckte, plötzlich war ich nervös. Die Art, wie er das sagte– mit so viel Kraft und Selbstvertrauen–, ließ ihn so mächtig erscheinen.

»Warum hast du mir diesen Engel gezeigt? Ich begreife das nicht.«

»Noch nicht. Aber du wirst es verstehen. Es ist nur ein Schicksalsfaden einer einzigen Existenz, vor sehr langer Zeit.«

»Nein, bitte nicht… bitte sag es mir einfach.«

Er wandte sich mit gestrafften Schultern zu mir um und ich rang mit widerstreitenden Gefühlen. Einerseits fühlte ich mich zu ihm hingezogen, andererseits wollte ich mich verstecken. Ich war mir sicher, dass er das sehen konnte, dass er direkt in mich hineinschauen konnte, was mich nur noch verletzlicher machte.

»Wir alle können den Willen aufbringen zu tun, was getan werden muss– auch wenn uns das, was wir tun müssen, am meisten Angst einflößt. Denk immer daran.«

»Das war’s? Das erklärt überhaupt nichts. Wer war er? Ich dachte, es sei gegen die Engelgesetze, ins Exil auf die Erde zu gehen. Wie kommt es, dass die Seraphim es von diesem Engel verlangten?«

Er betrachtete mich einen weiteren zögerlichen, ausdruckslosen Moment lang, bevor sich sein Kopf zu einem Gemälde neben ihm neigte. Die Ansicht eines Sandstrands mit mitternachtsblauer See, die gegen Felsen brandete, schien ihn zu berühren. Er streckte den Arm aus und fuhr leicht mit den Fingern über die gewellte Struktur der mit Ölfarben bemalten Leinwand. Einen Moment lang war das Schweigen zwischen uns beinahe angenehm.

Aber dann schaute er mich wieder an und ich wusste: Er würde mir nicht mehr über den Engel erzählen, den er mir gezeigt hatte.

»Sei vorsichtig. Ein Verräter ist unter den Deinen«, sagte er.

»Wer ist es?«

Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder zum Fenster.

»Du musst deinen Weg gehen und deine Fußabdrücke als Beweis deiner Reise hinterlassen. Das kann ich dir nicht abnehmen… oder es ändern.«

Seine Stimme ließ zum ersten Mal einen Hauch von Gefühl erahnen– ein winziges, fast unmerkliches Beben.

»Aber du hast mir schon einmal geholfen«, begann ich. »Vor zwei Jahren, in diesem Klassenzimmer…« Selbst in meinem Traum spürte ich die schreckliche Erinnerung und den Kloß im Hals, der mich nicht weitersprechen ließ. »Es kann niemand anderes gewesen sein. Du hast die Lehrerin durch die Schule geschickt, damit sie mir hilft.«

Ich schluckte schwer und kämpfte darum, dass meine Gedanken nicht zu jenem Tag abschweiften, zu jenem Lehrer, der mich nach unten drückte, während ich mich unter seinem schweren Gewicht zur Wehr setzte.

»Du hast eingegriffen«, sagte ich, dann senkte ich den Kopf. »Danke.«

Sein Schweigen gab mir die Bestätigung, die ich gebraucht hatte. Ich schaute mich im Zimmer um, unsicher, was ich als Nächstes sagen sollte. Meine Gemälde umgaben mich, aber anders als zuvor waren jetzt auch diejenigen dabei, die ich nur geplant hatte. Die ich mir vorgestellt hatte. Irgendwie waren in diesem Raum die Gemälde meiner Vorstellung.

Ich schauderte.

Hinter mir hörte ich ein Brüllen. Ein tiefes Grollen, das so stark war, dass ich es durch meine Beine bis zu meinem Rückgrat spüren konnte.

»Mein Löwe«, flüsterte ich.

Ich drehte mich in traumartiger Zeitlupe um. Da war nichts. Ich wandte mich wieder meinem Engel zu. Er war weg. Regen spritzte durch den Riss im Fenster.

Ich stand da und wartete.

Und dann explodierte alles um mich herum in einem Lichtblitz aus Farben, die zu einem Nichts verpufften. Ich war nirgendwo, allein mit dem Regen, der mir mit jedem Tropfen überraschend kalt ins Gesicht stach.

Scherben aus Eis.

Kalt genug, um mich aufzuwecken.

Kapitel Eins

»In der Natur gibt es weder Belohnungen noch Strafen. Es gibt Folgen.«

Robert Green Ingersoll

Ich hielt den Dolch in meiner rechten Hand. Das Heft war schwer und raffiniert verziert, die Klinge war lang und dünn. Die scharfe Spitze hinterließ einen Abdruck auf der Spitze meines Zeigefingers– gerade genug, um zu pieksen und die Erinnerungen heraufzubeschwören. Entscheidungen waren getroffen worden und ich hatte die Folgen zu tragen. Auch wenn ich alles noch mal genauso machen würde, auch wenn ich jetzt wusste, dass ich eine Aufgabe hatte, die wichtiger war als alles andere– die Wahrheit war: Ich trauerte um das Leben, das ich zurückgelassen hatte. Langsam drehte ich das Heft und schaute zu, wie die Spitze des Dolches eine Pirouette auf meinem Finger drehte.

Mein Dolch– der Dolch, mit dem ich mich selbst getötet hatte.

Ich legte ihn neben mich, weil ich ihn nicht länger berühren wollte, konnte ihn aber nicht wegräumen. Ich wollte mich ausklinken. Mich auf die positiven Seiten konzentrieren. Zum Beispiel darauf, dass ich Anfang dieser Woche meine Tage bekommen hatte. Noch nie war ich so glücklich über einen eiligen Gang zum Drogeriemarkt gewesen.

Alles, woran ich je geglaubt hatte, war erschüttert. Es war noch immer demütigend, zu wissen, dass ich unter Phoenix’ Einfluss so naiv gewesen war. Ich hatte wirklich gedacht, ihm trauen zu können– so sehr, dass ich meine Jungfräulichkeit an ihn verloren und somit unabsichtlich eine Art emotionales Band zwischen uns erschaffen hatte. Eine Verbindung, die er ausnutzte, um meine ohnehin schon zerbrechliche Freundschaft mit Lincoln zu zerstören. Darüber hinaus war ich von einem Felsen gesprungen, wäre beinahe von einem Haufen durchgeknallter Psycho-Verbannter umgebracht worden und hatte entdeckt, dass Phoenix der Sohn der ersten Verbannten der Dunkelheit, Lilith, war und dass er mich mit einem Trick dazu gebracht hatte, eine Grigori zu werden. Und, na ja, Kondome waren da nicht meine erste Sorge gewesen.

Am schwierigsten war es, diese Erinnerungen– und Fragen– abzuschütteln, wenn ich allein war. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sich Dad am wohlsten bei der Arbeit fühlte, weil er dort seinen eigenen Erinnerungen entfliehen konnte. Für mich stellte das ein Problem dar: Wenn ich allein war, konnte ich das hartnäckige Flüstern meiner Vergangenheit nicht abwehren.

Ich ging in mein Atelier und trug ein paar Schichten frischer Farbe auf– ich hatte mir erst kürzlich einen neuen Vorrat schillernder Farben zugelegt, und seit ich von der Schule nach Hause gekommen war, spielte ich damit herum. Da piepste mein Handy.

Bin vor der Tür, wo bist du?

Ich atmete aus und warf einen Blick in den Spiegel. Ich hatte mal wieder die Zeit vergessen. Jetzt war ich spät dran und sah beschissen aus. Mein langes, dunkles Haar war zu einem verfilzten Knoten verdreht, und die losen Strähnen, die mir ums Gesicht fielen, waren mit roter und grauer Farbe verschmiert. Ich hatte mir heute Morgen noch nicht einmal die Mühe gemacht, mich zu schminken. Grundierung brauchte ich zwar keine– die meisten davon waren ohnehin zu dunkel oder zu gelblich für meinen cremigen Teint–, aber Mascara war ein Muss für meine ansonsten glanzlosen haselnussbraunen Augen. Das Einzige, was ich jetzt noch in Ordnung bringen konnte, waren meine Klamotten.

Bin in 5 Minuten unten.

Ich rannte in mein Zimmer, zog mich auf dem Weg dorthin aus und schlüpfte in meine altbewährten Jeans, die einzige Option, wenn ich unter Zeitdruck stand, und in das erstbeste T-Shirt, das ich finden konnte– langweilig schwarz, aber sauber. Ich versuchte, mein Haar zu retten, scheiterte aber. Schließlich steckte ich es zu einer neuen Version des gleichen unordentlichen Knotens nach oben; vor meinen farbverschmierten Händen kapitulierte ich. Nach einem hektischen Versuch, wenigstens eine Schicht Mascara aufzutragen, schnappte ich mir meinen Dolch und ging zur Tür hinaus. Beim Gehen zog ich mir die Turnschuhe an.

Dass der Spiegel im Aufzug nicht in schallendes Gelächter ausbrach, war ein echtes Wunder.

Shit.

Als ich die Eingangstür des Wohngebäudes erreichte, hatte ich mein Aussehen total vergessen und konzentrierte mich unbewusst, aber vorhersehbar auf Lincoln. Krankhafte Vorfreude keimte in mir auf, durchflutete mich und wurde mit jedem Atemzug stärker.

Ja, ich war ihm vollkommen verfallen.

Schlimmer denn je, wenn das überhaupt möglich war.

Es gab eine Zeit, in der ich glaubte, Lincoln würde meine Liebe nicht erwidern, aber jetzt… Na ja, es ist komplizierter denn je, aber die Schwingungen– diese verrückten, unberechenbaren Vibes, die zwischen zwei Menschen den Funken überspringen lassen, zwei Menschen, die umeinander herumtanzen und sich gleichzeitig entgegenfiebern. Durch diese Schwingungen musste ich durch, strauchelnd, als würde ich mich durch ein Dickicht schlagen, wann immer wir uns nah waren.

»Hey. Ich weiß, dass es cool ist, zu spät zu kommen, aber könntest du wenigstens die akademische Viertelstunde einhalten?«, fragte Lincoln mit einem Lächeln in der Stimme. Ich spürte, wie seine Augen mich musterten, und rasch fiel mir wieder mein katastrophales Aussehen ein. Ich strich mir das Haar hinter die Ohren und er schenkte mir ein schräges Lächeln. Er kannte mich zu gut.

»Weißt du, wenn du so redest, merkt man dir dein Alter echt an«, witzelte ich, während ich meine Schlüsselkarte in die Tasche steckte.

Lincolns Augenbrauen schossen nach oben.

Na, bravo, Vi.

Noch nicht mal eine Minute zusammen, und schon hatte ich für betretenes Schweigen gesorgt. Der Altersunterschied zwischen uns spielte eine noch größere Rolle, seit ich herausgefunden hatte, dass er zwar aussah wie höchstens zweiundzwanzig, er in Wirklichkeit jedoch schon sechsundzwanzig war. Da ich erst siebzehn war, vergrößerte dies die Kluft zwischen uns auf stolze neun Jahre. Andererseits waren weder Lincoln noch ich auf die normalen Maßstäbe bezüglich der Lebenserwartung beschränkt, da wir Grigori waren. Wenn wir uns bis dahin nicht umbringen ließen, würden wir wahrscheinlich ein paar Hundert Jahre alt werden, wobei sich der Alterungsprozess umso mehr verlangsamen würde, je älter wir würden. Deshalb würde der Altersunterschied letztendlich nicht ins Gewicht fallen. Es waren die übrigen Rahmenbedingungen, die uns zu schaffen machten.

»Wohin gehen wir denn?«, fragte ich, begierig, das Thema zu wechseln.

»Griffin hat gerade angerufen. Er hat einen Tipp erhalten. Ein paar Blocks von hier entfernt wurden Verbannte gesichtet. Wenn wir uns gleich auf den Weg machen, sollten wir sie noch erwischen. Bist du bereit?«

Lincoln wollte, dass ich gut war. Er wollte, dass ich stark und kompetent war. Das gehörte zu den Dingen, die ich an ihm liebte. Er wollte nicht, dass ich mich versteckte und nicht in der Lage war, mich selbst zu verteidigen, doch gleichzeitig konnte ich die Besorgnis in seiner Stimme hören.

»Ja, lass uns gehen.« Ich sammelte mich wieder und versuchte, so sicher zu klingen, wie ich sein sollte.

Seit ich zu einer Grigori wurde, hat sich mein Leben total verändert. Ich bin jetzt eine Kriegerin. Das passt mir in vielerlei Hinsicht ganz gut. Es gefällt mir, stark zu sein, und es ist auch okay für mich, durch übernatürliche Kräfte zusätzliche Fähigkeiten zu besitzen. Ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass verbannte Engel nichts unter Menschen verloren haben. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass wir durch Raum und Zeit getrennt waren. Außerdem sind Engel einfach nicht dafür gemacht, mit den emotionalen Besonderheiten zurechtzukommen, die ein körperliches Dasein mit sich bringt.

Menschen können von Geburt an fühlen, berühren, riechen, Liebe und Schmerz körperlich erfahren. Engel können das nicht. Sie können es nicht bewältigen, menschlich zu werden. Am Ende werden sie verrückt und die meisten von ihnen waren vorher schon rachsüchtige Monster.

Doch obwohl ich das alles wusste, sträubte sich ein Teil von mir noch immer gegen den Plan, sie zu töten. Rein technisch taten wir das zwar nicht, denn wir nahmen den Verbannten nur ihre körperliche Form, wenn wir sie in ihr eigenes Reich zurückschickten. Aber…

Und als wäre das noch nicht genug: Seit der Annahme meiner Engelhälfte in der Wüste, bei der ich die Klinge in mein eigenes Abbild gerammt hatte, bin ich nicht in der Lage gewesen, meinen Dolch zu benutzen, auch wenn ich kaum ohne ihn irgendwohin gehe. Er steckt in einer Scheide und ist sorgfältig mit einer »Blendung« versehen, damit er von normalen Menschen nicht gesehen werden kann (der Gedanke daran, nicht mehr zu den normalenMenschen zu gehören, ist seltsam), und wann immer ich trainiere oder, wie jetzt, auf die Jagd gehe, nehme ich mir ganz fest vor, ihn zu benutzen, falls es die Situation verlangt.

»Sicher, dass alles okay ist? Ich kann auch Griffin anrufen und ihn bitten, mit ein paar von den anderen hinzugehen.«

»Und wer sollte mit ihm gehen? Magda kommt erst in ein paar Tagen zurück, und alle anderen, die infrage kommen würden, haben bereits zu tun.«

Lincoln senkte den Kopf. Beim Gehen stupste ich ihn an der Schulter. »Alles okay. Außerdem: Übung macht den Meister, nicht wahr?«

Er holte Luft, um sich zu sammeln, dann richtete er sich auf und fuhr sich mit der Hand durch sein golden schimmerndes braunes Haar. Er wusste, dass er es mir nicht mehr ausreden konnte, und irgendwann musste er sich ja darauf einlassen. Es würde keinem von uns helfen, wenn wir nicht zusammenarbeiteten.

»Klar«, sagte er mit einer Endgültigkeit, die mich zum Lächeln brachte. Damit ging er nahtlos zu einem motivierenden Vortrag über Taktik über, den ich mir aufmerksam anhörte. Ich war gerade erst dabei zu lernen, eine Grigori zu sein, eine Kriegerin, doch Lincoln war da schon viel weiter. Unter seiner freundlichen Fassade schlummerte ein mächtiger Krieger.

Kapitel Zwei

»Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?«

Hiob 2,10

Die Straßen um die Brücke herum waren dunkel und unheimlich. Obdachlose scharten sich um die massiven Steinpfeiler, die sie als Stütze für ihre provisorischen Behausungen nutzten. Die Gegend war einigermaßen geschützt, und da sowieso jeder wusste, dass hier immer Obdachlose herumlungerten, konnten diese nachts in aller Ruhe ihre Einkaufswagen und Planen auspacken. Tagsüber verzogen sich die meisten von ihnen. Eine Tatsache, die Steph verblüffte. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, wie jemand sein Hab und Gut in einem einzigen Einkaufswagen unterbringen konnte. Das letzte Mal, als wir uns in diesen Teil der Stadt verlaufen hatten, spekulierte sie wie wild darüber, wo sie wohl die Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten tagsüber verbargen. Ich meine, da hat sie nicht ganz unrecht. Schließlich sieht man tagsüber nicht Dutzende Obdachlose herumlaufen, die einen Einkaufswagen vor sich herschieben. Und irgendwohin müssen sie schließlich gehen.

Gerade als wir in eine kleine Nebenstraße abbogen, verschwand der letzte Rest Tageslicht. Straßenlampen gab es hier keine. Der Abend war klar und es war kühl, aber das Fehlen von Licht verunsichert mich immer; außerdem bevorzugen natürlich sowohl die Verbannten des Lichts als auch die der Finsternis den Schutz der Dunkelheit für ihre Spielchen.

Ganz oben auf der To-do-Liste der Verbannten steht, sich über die Schmerzen der Menschen zu amüsieren. Sie haben die Fähigkeit, die Vorstellungskraft zu beeinflussen und was immer ihnen an Horrorfilmen gefällt in den Kopf eines Menschen zu setzen. Manche von ihnen tun das nur, um zu verhöhnen oder Angst einzujagen, andere setzen es als eine Art Strategie ein.

Laut Griffin haben sie diese Fähigkeit im Lauf der Zeit immer wieder dazu verwendet, Menschen komplett aus der Bahn zu werfen.

Offensichtlich kommen daher die Mythen von Vampiren, Werwölfen und anderen gruseligen Dingen, selbst die von Feen und Elfen. Wenn Verbannte spüren, dass ihre übernatürlichen Kräfte entdeckt wurden und sie nicht in der Lage sind, das Problem durch ihre bevorzugte Methode, das Töten, zu lösen, geben sie einfach vor, nicht menschlich zu sein, sondern irgendetwas anderes, alles Mögliche, nur nicht das, was sie wirklich sind.

Das macht Sinn. Ich habe gelernt, dass die Leute im Großen und Ganzen besser mit der virtuellen Realität von Vampiren und intergalaktischen Besuchern klarkommen als mit der verstörenden Aussicht auf ein biblisches Armageddon durch ehemalige Engel– ganz gleich ob des Lichts oder der Finsternis–, die jetzt, getrieben von Rache und Machthunger, als Verbannte unter uns leben. Ja, wir sind aus eigener Entscheidung naiv.

Ich schaute, soweit es mein Blick erlaubte, die schmale Straße entlang. Überall lagen Obdachlose auf flach gedrückten Pappkartons. Wer Glück hatte, war in einen zerrissenen Schlafsack gewickelt, der Rest hatte sich mit Stapeln alter Zeitungen zugedeckt. Ich suchte die dunklen Backsteinmauern ab, die auf beiden Straßenseiten mindestens fünf Stockwerke hoch verliefen. Der Schutz, den sie boten, machte diese Gegend unter anderem so beliebt.

Lincoln ging langsam neben mir her, seine Hand berührte kurz meinen Ellbogen– eine stumme Erinnerung daran, dass ich wachsam sein musste. Ich versuchte, mich rasch durch die Hitzewelle zu bewegen, die mich überkam, wann immer ich seine Berührung spürte.

Ich blieb stehen und er schaute mich an, eine Frage zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab. Noch bevor ich mich zurückhalten konnte, lächelte ich in seine smaragdgrünen Augen.

»Ich glaube, ich kann sie spüren«, sagte ich.

Ich glaubte es nicht, ich wusste es. Ich hatte schon während der letzten paar Blocks den Geschmack von Apfel wahrgenommen und das Geräusch flatternder Vögel in den Bäumen konnte außer mir hier niemand hören. Das waren meine engelhaften Sinne. Die meisten Grigori hatten einen davon. Einige, wie Lincoln, hatten zwei. Ich Glückliche hatte gleich alle fünf und schien sie schärfer wahrzunehmen als jeder andere Grigori, dem ich je begegnet war. Großartig, wenn man besonders war und so weiter, aber wenn man fünf zusätzliche Sinne hat, kann das ziemlich überwältigend sein.

»Wie lange spürst du sie schon?«

Ich zögerte. Er merkte es. »Violet… wie lange schon?«

Ich hatte Angst, Lincoln würde mich verurteilen– als wäre die Tatsache, dass ich sie von so viel weiter weg spüren konnte, eine Form von übernatürlicher Arroganz, die mich ihm entfremdete. »Nicht lang. Vielleicht seit der letzten Straße«, sagte ich verlegen.

Lincoln schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Seit drei Straßen.«

Seine Mundwinkel kräuselten sich. Er musste sich zusammenreißen um nicht bis über beide Ohren zu grinsen. Ich war so eine Idiotin– er war stolz auf mich.

Ich verdrehte die Augen über seinen funkelnden Gesichtsausdruck. »Sie sind auf der Straße. Es sind zwei«, sagte ich.

Er nickte und konzentrierte sich wieder. »Ich kann sie riechen.« Sein wichtigster Engelsinn war Geruch, aber er konnte auch Dinge hören.

Ich nickte ebenfalls. Morgen und Abend, oder genauer gesagt, die Macht, die sie erschuf, flackerten vor meinen Augen, während Übelkeit erregend süßer Blumenduft die Gegend so stark einhüllte, dass er den schlechten Geruch der Straße überdeckte.

Er stellte sich mit einem kleinen Schritt vor mich und ich ließ ihn gewähren. Ich konnte sie zwar aus weiterer Entfernung wahrnehmen, aber Lincoln konnte sie besser einschätzen und viel schneller als ich den stärksten erkennen.

Sie tauchten aus der Dunkelheit auf, sahen aus wie Menschen, aber gleichzeitig auch nicht. Beide waren lässig gekleidet, aber der Arm des einen war von oben bis unten mit Blut verschmiert. Er sah aus wie ein Schlachthofmitarbeiter am Ende eines langen Tages. Ich hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, was das bedeutete. Verbannte haben die Angewohnheit, die körperlichen Qualen ihrer Opfer zu genießen. Das veranlasste mich dazu, erneut meine Umgebung in Augenschein zu nehmen.

Während ich die beiden, die sich uns näherten, im Auge behielt, warf ich einen raschen Blick auf die schlafenden Menschen zu beiden Seiten der Straße. Warum hatte niemand etwas zu uns gesagt, warum hatte uns niemand davon abgehalten, ihr Territorium zu betreten, wo wir doch eindeutig nicht hierhergehörten? Ich betrachtete eine, dann zwei, dann drei der Gestalten, die unbeweglich in ihren Schlafsäcken steckten. Energie summte durch meinen Körper und ein grausames Surren breitete sich bis in mein Innerstes aus.

Ich hatte das schon einmal zugelassen– hatte der Energie erlaubt, sich meines Körpers zu bemächtigen, mich zu Boden zu zwingen, mich durch die Schmerzen anderer zu lähmen. Ich packte Lincoln am Arm. Er sah mich nicht an, aber ich hatte seine volle Aufmerksamkeit.

»Sie sind alle tot. Sie haben sie alle getötet«, sagte ich und war mir nur allzu bewusst, dass die Verbannten jede Sekunde näher kamen. Agenten des Todes.

»Linc, soll ich… du weißt schon?«, flüsterte ich zittrig. Er wusste, was ich vorschlug. Gleich nachdem ich eine Grigori geworden war, befand ich mich in der unangenehmen Situation, tödlich verwundet und gleichzeitig von Verbannten umgeben zu sein. Damals entdeckte ich, dass ich mehr konnte, als einem Verbannten die Kräfte zu entziehen oder ihn ins Engelreich zurückzuschicken. Normalerweise sind Grigori auf Körperkontakt mit einem Verbannten angewiesen, um ihn so lange außer Gefecht zu setzen, dass sie ihn zurückschicken können. Es stellte sich heraus, dass ich diesen Kontakt nicht brauchte und meine Kräfte sogar auf mehrere Verbannte gleichzeitig anwenden konnte.

»Nein. Du verströmst deine Kräfte in der ganzen Gegend hier. Ist alles okay?«, antwortete Lincoln rasch und leise. Sie kamen näher.

Die Sinneswahrnehmungen waren hart an der Grenze, aber ich hatte sie im Griff… gerade so.

»Alles in Ordnung. Ich könnte es probieren.«

»Konzentrier dich. Halt dich an den Plan«, flüsterte er zurück. Sein Tonfall ließ wenig Raum für Diskussionen.

Großartig. Der Plan. Der, bei dem ich bereitwillig den Dolch einsetze. Nur, dass ich nicht so bereitwillig bin.

Lincoln und Griffin hatten darauf bestanden, dass ich auf die gleiche Weise wie alle anderen Grigori in die Schlacht ziehe. Dass es nicht ausreichte, wenn ich mich darauf verließ, dass ich mit meinen Kräften überall wieder herauskomme. Theoretisch stimmte ich ihnen zu. Aber in diesem Augenblick, in dem ich mitten in der Kampfzone stand und zwei übereifrige, ausgesprochen durchgeknallte Verbannte auf uns zukamen, erschien mir das zu krass.

Die Verbannten blieben vor uns stehen und lächelten. Sie schätzten uns ab, wie es nur überirdische Wesen vermochten. Ein Flackern der Augen, bei dem nicht nur ihr Verteidigungsmechanismus sichtbar wurde, sondern gleichzeitig auch ihr Hunger. Verbannte, sowohl die des Lichts als auch die der Finsternis, hassen die Grigori, und es bereitet ihnen mehr Freude, uns zu töten als alle anderen. Wir stellen ihre größte– ihre einzige– Bedrohung dar. Wenn es den Verbannten gelänge, uns auszulöschen, dann gäbe es für alle anderen keine Hoffnung mehr.

»Ihr seid ein bisschen spät dran«, sagte der Kleinere der beiden, der mit dem blutigen Arm, als hätte er schon auf uns gewartet.

Lincoln war bereits auf gleicher Höhe mit ihm– nicht dass ich eine Vorwarnung gebraucht hätte, dass dies der Gefährlichere von beiden war.

»Wie schade. Wir hätten gern ein paar von ihnen vor euren Augen zerrissen. Ich bevorzuge es, ein Publikum zu haben. Aber wir haben uns gelangweilt.« Er lächelte. Perfekte weiße Zähne, volle rosafarbene Lippen. Wäre ich mir meiner Sinneswahrnehmungen nicht so sicher gewesen, hätte ich geschworen, dass es sich um einen sechzehnjährigen Sportler handelte. Die Sache ist– alle Verbannten sehen gesund und stark aus, alle stehen in der Blüte ihres Lebens.

»Ihr wusstet, dass wir kommen?«, fragte Lincoln und drehte seinen Körper ein wenig, um mich zu schützen.

Der Verbannte lachte. »Ich habe eine Botschaft für dich.«

»Und ich dachte, deine Tage als Bote wären vorbei.«

Der Verbannte, der aussah wie ein Sportler, leckte sich über die Lippen, er konnte sich kaum zusammenreißen. »Die Belohnung, dich und sie zu töten ist mir Motivation genug«, sagte er und warf mir einen Blick zu.

»So?«, sagte Lincoln, er zeigte keinerlei Besorgnis.

Das Lächeln des Verbannten wurde breiter, langsam sprach er weiter. »Nahilius trug mir auf, dir zu sagen, dass er sich das, was dein ist, holen wird.«

Lincoln wurde steif. Der Verbannte lachte laut.

»Triff deine Wahl«, knurrte Lincoln. Man konnte nicht leugnen, dass er lebensgefährlich war, wenn der Krieger in ihm zum Vorschein kam. Doch das waren sie auch.

»Wahl?« Der Sportler lachte. »Wie nett, dass du das anbietest. Ich denke, ich wähle Enthauptung für dich, und für sie… würde ich gern nach Lust und Laune etwas improvisieren. Er blickte mich an, sein Kumpel lachte. Dann sah ich es. So schnell, wie es gekommen war, war es auch wieder weg, aber es war definitiv da gewesen. Erkenntnis.

Er konnte mich wahrnehmen, konnte meine Macht spüren. Angesichts dessen, was er wahrnehmen konnte und was er wahrscheinlich über mich gehört hatte, hätte er eigentlich davonlaufen sollen. Stattdessen stürzte er sich in typischer Verbannten-Manier auf mich und genoss die Herausforderung.

Lincoln war bereit, er streckte den Arm aus und rammte seinen Unterarm gegen den Hals seines Gegners. Dadurch bremste er dessen Geschwindigkeit und lenkte seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Das war alles, was ich noch sehen konnte, bevor der andere, unheimliche Ex-Engel begann, in meine Richtung zu schlagen.

Wie kam es, dass sie alle so verdammt gut kämpfen konnten?

Verbannte schienen auf die Erde zu kommen, menschliche Form anzunehmen, und obwohl keiner von ihnen eine großartige Technik hatte, wussten sie alle, wie man zuschlug. Hart zuschlug. Aber das konnte ich dank vieler Trainingsstunden und etwas engelhafter Beihilfe zum Glück auch.

Wir tauschten Schlag um Schlag aus. Für ein Mädchen war ich nicht klein, doch für einen Mann war er groß, deshalb hatte er mir etwas voraus. Er erzielte ein paar gute Schläge auf mein Gesicht, aber er bevorzugte seine rechte Seite, deshalb hielt ich darauf zu und kam ihm so nahe, sodass er keinen Durchbruch gegen mich erreichen konnte. Allmählich bekam ich ihn in den Griff, eine Reihe von Tritten gegen seine Beine hatte ihn zittrig gemacht. Ich hatte zwar noch keinen Treffer an seinem Knie gelandet, aber er taumelte.

Zu meiner Rechten glommen Farben auf. Ich wusste, was das bedeutete, aber ich schaute weg. Lincoln hatte den Sportler im Schwitzkasten, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie er seinen Dolch in den Verbannten stieß und ihn zurück ins Engelreich schickte. Was ich nicht sah, war die Faust des großen Verbannten, die unterwegs zu meinem Ohr war. Der Schlag kam völlig unerwartet, aber diese Kerle hatten einfach keine Manieren, geschweige denn Kämpfermoral. Ich geriet aus dem Gleichgewicht und spürte, wie eine warme Flüssigkeit, die nur Blut sein konnte, an meinem Hals hinunterlief, während ich fiel. Mir war vollkommen bewusst, dass sich der Verbannte jetzt gleich auf mich stürzen würde.

Instinktiv wanderte meine Hand zu meinem Dolch, meine Finger umklammerten erbittert sein Heft. Das Spiel war eröffnet. Ich ging zu Boden, er warf sich auf mich, aber ich ließ mir Zeit. Wenn ich nicht gezögert hätte, hätte ich den Dolch herausziehen können. Ich hätte ihn zurückschicken können.

Stattdessen knallten meine Schultern auf die Straße, und ich wälzte mich rasch auf den Rücken, um ihm auszuweichen. Er prallte so heftig auf mich, dass ich das Gefühl hatte, der obere Teil meiner Wirbelsäule würde in die Straße gedrückt. Ich brüllte auf. Ich schlug ihm zweimal ins Gesicht, aber er war jetzt zu nah und nutzte seinen Vorteil aus. Er rammte mir das Knie in den Magen, er riss die geballte Faust nach hinten– und ich wusste, das würde jetzt gleich wehtun. Sehr wehtun.

Tat es aber nicht. Er bekam nie die Gelegenheit dazu.

Alles, was ich sah, war, dass Lincolns Dolch durch die Brust des Verbannten kam, dann sah ich den farbenprächtigen Nebel seiner Kraft. Und dann war der Verbannte fort.

Lincoln stand über mir, stark und zu allem bereit. Ich sah in seine Kämpferaugen, und sie brauchten einen Augenblick, bis sie sanft wurden.

Er streckte die Hand aus und half mir auf. Sie war warm und real, er zog mich zu sich und schlang seine Arme um mich, um mich zu stützen.

»Ich konnte es nicht.« Ich wollte es erklären und eine akzeptable Entschuldigung liefern. Ich enttäuschte ihn, indem ich mich nicht verbesserte. Dadurch brachte ich nicht nur mich selbst in Gefahr, sondern auch alle anderen.

Wir verließen den Ort des Geschehens. Die Körper der Verbannten waren verschwunden, aber wir waren noch immer umgeben vom Schlachtfeld der toten Obdachlosen, tote Menschen, auf die niemand Anspruch erheben, von denen kaum jemand merken würde, dass sie nicht mehr da waren. Es war so leicht für die Verbannten gewesen, sie zu quälen. Ich fühlte mich schlecht, als wir weggingen, so als wäre ich respektlos, aber wir hatten keine andere Wahl. Wir würden später der Polizei einen anonymen Tipp geben. Wir konnten es nicht riskieren, in Mordermittlungen verwickelt zu werden, die wir nie würden erklären können.

»Du warst großartig. Ich kann keine weiteren wahrnehmen«, sagte er und schaute sich um. »Du?« Er klang ungewöhnlich besorgt.

»Nein«, sagte ich und schaute zu Boden. »Weißt du, worüber sie gesprochen haben? Wer ist Nahilius?«

Lincoln zögerte. »Nur ein Unruhestifter. Niemand, über den du dir den Kopf zerbrechen solltest.«

»Oh«, sagte ich. Mein Blick ruhte auf ihm, während er wegschaute.

Lincoln legte den Arm fester um mich, stützte mich. »Es wird eben noch etwas Zeit brauchen. Was du durchgemacht hast… in der Wüste. Es ist okay, wenn du Zeit brauchst.«

»Du bist böse auf mich, das kann ich dir ansehen«, sagte ich. Die Schmerzen in meinem Ohr und meinem Nacken ließen mich zusammenzucken.

»Was ist die oberste Kampfregel, Violet?« Er sprach jetzt mit seiner Trainerstimme. Dieses Mal zuckte ich nicht vor Schmerz zusammen, sondern wegen der begangenen Dummheit, die ich gleich würde zugeben müssen.

»Lass deinen Gegner nie aus den Augen.«

»Genau.« Wir gingen weiter. Er brauchte nichts weiter zu sagen. Wir wussten beide, dass ich selbst damit klarkommen musste.

Als wir um die Ecke in eine belebtere Straße einbogen, zog er mich beschützend ein wenig näher zu sich. Ich liebte es, in seinen Armen zu sein, eingehüllt in seine Wärme, und ich wünschte, wir hätten die Chance, herauszufinden, was wir füreinander sein könnten.

»Wir müssen dich von hier wegbringen, damit ich dich heilen kann.«

Ein Betrunkener in zerfetztem Anzug torkelte gegen die Mauer neben der Straße, und als wir vorbeigingen, fiel ihm die fast leere Flasche aus der Hand, klirrte in den Rinnstein und brachte mich dazu, nach unten zu schauen. Ich blieb stehen. Ich spürte etwas. Nicht die Sinneswahrnehmungen, etwas anderes. Es war… schal. Ein nachklingender Schatten von irgendetwas…

Ich bückte mich und hob die Flasche auf, um sie dem Obdachlosen zu reichen, aber das war nicht gut durchdacht, denn als ich mich wieder aufrichtete, packte mich ein heftiger Schwindel, gefolgt von einem heftigen Pochen vom Hals bis hinauf zu den Schläfen.

Ich schloss kurz die Augen und atmete langsam ein. Lincoln hielt mich fest.

»Sie haben das fallen gelassen«, sagte ich und hielt dem Obdachlosen die Flasche hin.

Der Mann blickte auf.

So viele Dinge passierten im Bruchteil einer Sekunde. Erstens: Die Anstrengung, die Hand auszustrecken, ließ den Mann das Gleichgewicht verlieren und seine obere Hälfte gesellte sich wieder zu seiner unteren Hälfte auf dem Boden. Zweitens: Ich schnappte nach Luft. Drittens: Lincoln schob mich hinter sich und zog mitten auf der belebten Straße seinen Dolch.

Dann… brach Onyx in schallendes Gelächter aus.

Kapitel Drei

»Doch, Menschen sind wir all’,

gebrechlicher Natur und unterthan

dem Fleisch an uns. Nur Wenige sind Engel!«

William Shakespeare

»Endlich! Ich habe schon auf euch gewartet«, hickste er zwischen diversen Hustenanfällen, »damit ihr kommt und mich mit euren kleinen Messerchen umbringt!«

Er legte sich mit ausgebreiteten Armen auf den Boden. »Nur zu! Wo immer ihr wollt! Aber nicht mein Gesicht.« Er schloss die Augen und lachte wieder, während er unmelodisch vor sich hin sang: »Endlich… endlich… endlich… sind sie gekommen, um mich zu holen!«

»Oh, mein Gott«, sagte ich und zog mich hoch, um neben Lincoln zu stehen.

Es gab da draußen eine ganze Menge Dinge, vor denen man sich fürchten musste, selbst wenn man übernatürlich stark und schnell war. Und obwohl die Erinnerung daran, was mir Onyx angetan hatte– wie er mir völlig gewissenlos in den Rücken gestochen und lächelnd zugeschaut hatte, wie das Leben aus meinem Körper wich–, noch frisch war, bestand wenig Zweifel daran, dass dieser Mann nur noch ein Schatten dessen war, was einst ein sehr beeindruckender, furchterregender Feind gewesen war.

»Was hast du hier zu suchen?«, fragte Lincoln, wobei er nicht annähernd so cool war wie sonst. Mir wurde klar, dass er vielleicht an seine eigene Nahtoderfahrung dachte, die er durch Onyx gemacht hatte. Meine Hand zuckte, instinktiv wollte ich ihn trösten, aber ich hielt mich zurück. Es war nicht cool, Schwäche zu zeigen– noch weniger cool war es, die Schwäche eines anderen zu enthüllen.

Onyx öffnete seine Augen zu Schlitzen und schnaufte ein wenig. »Gottverdammt! Ihr seid nicht gekommen, um mich zu töten, oder?«

»Nein«, sagte ich.

»Ich nehme an, ihr seid hinter den beiden dort in der Straße her. Laute Kerle. Ohne Raffinesse.« Obwohl er lallte, konnte man Verachtung und gleichzeitig Verlangen aus seinen Worten heraushören. »Aber ich sehe, dass sie ein bisschen Spaß mit euch hatten«, sagte er und betrachtete das Blut, das von meinem Ohr tropfte.

»So viel Spaß, dass sie jetzt nicht mehr bei uns sind«, schoss ich zurück. Auch wenn das wohl kaum mein Verdienst war.

»Glückliche Mistkerle.«

»Du kannst sie immer noch wahrnehmen?«, fragte Lincoln.

»Irgendwie schon. Nicht dass das nötig gewesen wäre. Wenn sie mit Panzern angerückt wären, wäre das weniger auffällig gewesen als so. Also, wenn ihr nicht gekommen seid, um mich zu töten– verschwindet.« Er schnappte sich die Flasche, die ich noch immer in der Hand hielt, und schlurfte zurück zur Mauer.

Ich warf Lincoln einen Blick zu. Er schien vom Anblick und vom Geruch dieses Mannes angewidert zu sein. Ich war mir sicher, dass sich seine Reaktion auch in meinem Gesicht widerspiegelte. »Was wollen wir tun?«, fragte ich.

»Wie meinst du das? Wir müssen dich von der Straße holen und zusehen, dass wir dich geheilt kriegen. Komm!« Er gab mir ein Zeichen, weiterzugehen, aber sein Blick verweilte auf Onyx.

»Hast du, ähm… so jemanden schon mal gesehen?« Ich schwankte ein wenig, die Schmerzen wurden langsam unerträglich. Der Schock hatte sie bisher unterdrückt.

»Nein«, sagte er, wobei er seine Besorgnis hinter Ungeduld verbarg. »Du verlierst zu viel Blut.«

Ich schüttelte den Kopf und zuckte zusammen. »Ich weiß, das klingt jetzt verrückt, aber ich kann nicht einfach… Können wir nicht wenigstens dafür sorgen, dass er einigermaßen ordentlich aussieht?« Ich hielt den Atem an.

Lincoln zog mich ein paar Schritte von der Stelle weg, an der Onyx gerade den Bodensatz der Flasche austrank, die nach Bourbon aussah.

»Violet, hast du schon vergessen, was er getan hat?«, fragte er mich flüsternd, aber außer sich.

»Nein, aber ich…«

»Das könnte eine Falle sein. Er hat doch selbst gesagt, dass er sie noch wahrnehmen kann, wahrscheinlich arbeitet er mit ihnen zusammen.« Er schüttelte den Kopf und schaute dann wieder zu Onyx hinüber. »Es ist zu riskant. Vor allem in deinem Zustand.«

»Wir müssen ihn ja nicht mit nach Hause nehmen oder so. Aber wir treffen doch gleich Griffin. Vielleicht sollten wir ihn einfach mit ins Hades nehmen?«

Bevor wir weitersprechen konnten, zog sich Onyx hoch und lehnte sich gegen die Wand, um das Gleichgewicht zu halten. Er schaute zu uns herüber und… spuckte.

Wir sahen zu, wie seine Spucke Lincolns Stiefel traf, und drehten uns gleichzeitig zu Onyx um, der die leere Flasche schwenkte, und es war klar, dass sie als Nächstes in unsere Richtung fliegen würde.

»Dreckige Grigori«, lallte er.

»Also gut«, sagte Lincoln und wandte sich zu mir um, »können wir jetzt bitte gehen?«

Wir ließen Onyx mit seiner leeren Flasche am Straßenrand zurück.

Es war wahrscheinlich nicht die beste aller Ideen, mit einer offenen Kopfverletzung direkt in einen Klub zu gehen, aber wir waren wirklich spät dran für unsere Verabredung mit Griffin, und ich hatte sehr zu Lincolns Verdruss darauf beharrt, dass es mir gut ging. Abgesehen davon, dass mein Ohr ein massives Trauma erlitten hatte und nicht bereit war für pulsierende Bassklänge, die in jedem guten Klub zu hören sind, waren mein Gesicht, mein Hals und meine Schultern blutverkrustet. Ich war froh, dass ich nicht das ganze Ausmaß meiner Verletzungen sehen konnte.

Der Türsteher öffnete die massive Schwingtür, die kürzlich von schimmerndem schwarzem Lack zu einem ebenso schimmernden dunklen Orange umgestrichen worden war. Nachdem er uns von oben bis unten eingehend gemustert hatte, ließ uns der Typ erst hinein, nachdem Lincoln ihm einen Zwanziger zugesteckt und versprochen hatte, dass wir nur kurz hineinwollten, um jemanden abzuholen.

Griffin saß an der Bar. In seinem typischen Outfit aus schwarzer Hose und dunkelblauem Hemd wirkte er immer so, als würde er sich unbehaglich fühlen. Er hatte einen altmodischen Stil, aber allmählich glaubte ich, dass das womöglich das Beste an ihm war. Seine Loyalität war ja auch altmodisch.

Er unterhielt sich mit einem Mann, den wir beide als den Inhaber des Hades erkannten. Weder Lincoln noch ich hatten ihn zuvor kennengelernt, aber wir kannten ihn vom Sehen und wussten, dass Griffin ihn für mehr als nur menschlich hielt. Was immer Griffin gerade zu ihm sagte– es war offenbar die Ursache dafür, dass er sehr verärgert aussah.

»Sollen wir ihnen einen Moment Zeit lassen?«, fragte ich Lincoln, während er mir durch das Gedränge der feiernden Gäste half. Mein Kopf explodierte.

»Was? Und den ganzen Spaß verpassen?« Er zwinkerte mir zu. Ich lächelte, und mein Herz flatterte, als sein Blick diesen kleinen Moment länger, als es für Freunde üblich war, auf mir verweilte.

Griffin sah uns kommen und bemerkte sofort, wie es um mich stand. »Muss ich erst fragen?« Er sprach mit dieser väterlichen Stimme, gegen die ich mich am Anfang noch so gesträubt hatte. Griffin war eigentlich vierundachtzig Jahre alt und nach allem, was passiert war– wie ich meine Zusage vollzogen hatte und dann Onyx und Joel gegenübergetreten war–, hatte ich sein Vertrauen gewonnen.

Er verdrehte die Augen, als ich nicht antwortete. »Sieht aus, als wäre die Verstärkung nicht rechtzeitig gekommen.«

Ich nickte. Von mir würde er keine Einwände hören. Zwei Tutoren und drei Schüler aus dem Grigori-Trainingszentrum in New York sollten in zwei Tagen ankommen und ich hätte darüber glücklicher nicht sein können. Ich würde von den Experten lernen und mit Leuten in meinem Alter trainieren können, etwas, was ich wirklich brauchte. Ich war sicher, dass ich mit ihrer Hilfe würde überwinden können, was auch immer mich zurückhielt. Ganz zu schweigen von den anderen Gründen, für die ihre Dienste benötigt wurden: Das Schriftstück, das die Identität aller Grigori enthüllen konnte, selbst die, die ihre Zusage noch nicht hinter sich hatten und daher schutzlos waren, wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Ich würde auf keinen Fall die Hände in den Schoß legen und zuschauen, wie es in die Hände der Verbannten fiel. Wenn sie den Schlüssel fanden, wie sie die Grigori vernichten konnten, und die Oberhand gewannen, würde das Morden nicht aufhören, bis alle Menschen vor ihnen niederknieten und sie als Götter verehrten.

»Siehst du!«, brüllte der Besitzer des Hades gegen die Musik an. »Das ist genau das, was ich meine. Ihr Typen könnt diesen Laden nicht als eine Art Anlaufstelle benutzen. Ich betreibe hier ein Geschäft. Ich möchte nicht hineingezogen werden in dieses… dieses… ich meine, Himmel noch mal!« Er fuchtelte in meine Richtung. »Sie sieht aus, als wäre sie unter ein Auto gekommen!«

Ich schaute Lincoln an.

»Du siehst wirklich ziemlich schlimm aus.« Er lächelte.

»Ich gehe kurz auf die Toilette und mache mich sauber. Tut mir leid«, sagte ich zu dem Besitzer.

»Shit, Mann. So gehst du hier nirgendwohin.« Er knirschte mit den Zähnen. »Du kannst mit nach oben kommen.«

Ich schaute Griffin und Lincoln an und fühlte mich plötzlich irgendwie unbehaglich.

»Ja, ja!«, sprang er ein, bevor jemand von uns etwas sagen konnte. »Ihr könnt verdammt noch mal alle mitkommen.« Er stürmte die lange Seite der Bar entlang davon und durch eine unbeschriftete Tür, wobei er uns mit einem Beeilt-euch-gefälligst-Blick bedachte.

Wir stapften die Treppe hinauf zu einem kurzen Flur mit drei Türen. Beim Hinaufgehen setzte uns Griffin ins Bild. »Er heißt Dapper. Er ist eine Art Seher. Die Einzelheiten sind mir noch nicht so ganz klar, aber ich weiß sicher, dass er sehen kann, was wir sind. Er scheint Auren, die Leute umgeben, wahrnehmen zu können. Ich glaube, er kann so ziemlich alles Übernatürliche erkennen.«

»Das ist natürlich praktisch. Auf wessen Seite steht er?«, fragte Lincoln.

Griffin schnalzte mit der Zunge. »Na ja, genau das ist das Problem. Er hält sich raus und möchte daran auch nichts ändern.«

»Könnte schlimmer sein«, sagte Lincoln.

»Stimmt.«

Lincoln nahm mich wieder in Augenschein. »Hältst du noch durch?«

»Mir geht es gut«, sagte ich, obwohl ich alles nur verschwommen sah.

»Sie lügt«, sagte Griffin, ohne mich auch nur anzusehen.

»Hey«, protestierte ich. Es galt als schlechte Manieren, die eigenen Kräfte gegen einen der Unseren einzusetzen, es sei denn, es ging nicht anders.

»Tut mir leid«, sagte Griffin.

»Und wer lügt jetzt?«, murmelte ich.

»Kommt schon!«, rief Dapper ungeduldig, er stand in einer offenen Tür. Er nahm fast den ganzen Raum ein. Es fiel mir schwer, Dappers gepflegtes Äußeres aus schicker Hose und schwarzem Hemd einzuordnen. Das alles schien in leichtem Widerspruch zu seinem derben Benehmen zu stehen. Aber was mich echt aus der Fassung brachte: Sein Gürtel war mit Diamanten besetzt.

Er führte uns in seine Wohnung. Das Hades war mit üppigen Farbakzenten und viel Glitzer ausgestattet, deshalb hätte es mich nicht überrascht, dieses offen feminine, elegante Dekor auch oben anzutreffen, aber ich konnte nur staunen. Dunkle Holzböden, die mit flauschigen, cremeweißen Flokati-Teppichen belegt waren, und schwere, moderne Möbel, die nur italienisch sein konnten– als Tochter eines Architekten gab es bei uns zu Hause auch nur dementsprechende Zeitschriften zu lesen. Ich kam aus einer Welt der Innenarchitektur und kannte mich ganz gut aus. Das hier war makellos und gleichzeitig warm.

Dapper machte das Licht an und ein schmaler Durchgang, der voller Bücherregale war, wurde sichtbar. Lauter gebundene Ausgaben. Alle alt. Nichts, was ich kannte. Er stapfte den Flur entlang und dirigierte mich zum Badezimmer, während Griffin und Lincoln im Eingang herumlungerten und mit gedämpften Stimmen stritten. Ich wollte gerade umkehren und herausfinden, worum es ging, aber dann schauten sie mich beide an. Worüber auch immer sie unterschiedlicher Meinung waren– es hatte etwas mit mir zu tun.

Na toll.

Ich wandte mich wieder dem Badezimmer und Dapper zu. »Wer wohnt sonst noch hier oben?«, fragte ich und nahm das frische Handtuch, das er mir reichte.

»Niemand«, sagte Dapper.

»Und die anderen Türen?«

»Mein Büro und noch eine Wohnung.«

»Niemand wohnt darin?« Ich dachte schon, er würde mir keine Antwort geben, weil er mich ansah, wie die sehr unerwünschte Besucherin, die ich war, aber dann antwortete er doch.

»Sie ist für die Barmitarbeiter. Manchmal ist es zu spät, wenn sie fertig sind mit Arbeiten, oder sie sind zu betrunken. Dann lasse ich sie die Wohnung benutzen. Dadurch kommen sie mir nicht in die Quere.«

Lincoln tauchte hinter Dapper auf und signalisierte ihm, dass er an ihm vorbeiwollte. »Darf ich?«

»Was? Musst du ihr die Hand dabei halten?«

Lincoln lachte. »Nein, aber ich würde gern rein, um sie zu heilen.«

Dapper schaute mich an, dann Lincoln. »Klar doch«, spottete er und ging weg. Lincoln lachte wieder. Ich wurde ein wenig rot.

Ich balancierte auf der Kante der übergroßen Badewanne, mir war übel und ich war nervös. Die Grenze zwischen dem, was die Wunde dabei für eine Rolle spielte, und dem, wie weit ich mich selbst da hineinsteigerte, verschwamm rasch. Mit jemandem das Badezimmer zu teilen war heilig.

»Ich musste noch nie zuvor etwas so Schlimmes heilen«, sagte er, während er sich neben mich setzte. Er klang, als fühlte er sich auch ein wenig unbehaglich.

Mein Blick fiel auf mein Spiegelbild in einem der drei Ganzkörperspiegel dieses extragroßen Badezimmers. Dapper war offensichtlich total eitel.

»Oh«, sagte ich, als ich mein Gesicht und meinen Hals betrachtete, die total blutverschmiert waren. Von meinem Ohr tropfte noch immer frisches Blut, und als ich mich ein wenig verrenkte, um meinen Nacken sehen zu können, der auf der Straße aufgeschlagen war, hielt Lincoln mich zurück.

»Vertrau mir.«

»Oh«, sagte ich wieder. Weil ich mich dagegen sträubte, Schwäche zu zeigen, zuckte ich die Achseln. »Okay, dann… tu, was du tun musst.«

»Du weißt, dass ich das nicht komplett heilen kann«, sagte Lincoln und schaute auf seine ineinander verschlungenen Finger hinunter. »Griffin…«

Als er nicht weiterredete, zog ich die Augenbrauen hoch. »Griffin was?«

»Er hat vorgeschlagen, dass…« Er atmete tief aus. »Er dachte, es wäre das Beste, wenn du versuchst…«, aber er fand die Worte nicht und sah aus, als würde er gleich aufspringen und flüchten.

Dann wurde mir klar, weshalb er mich so verlegen ansah. Oh. Mein. Gott. Mir fiel das eine Mal ein, als ich Lincoln geheilt hatte. Die Art und Weise, wie wir in Verbindung getreten waren. Das Gefühl, wie sich meine Kräfte von meinem Körper in seinen vorarbeiteten. Wie wir gemeinsam geheilt wurden. Gemeinsam– uns küssend.

»Du willst, dass ich…« Ich ließ den Finger zwischen uns hin und her tanzen.

»Es könnte dir helfen. Als du mich nach Onyx’ Angriff geheilt hast, schien es, als hättest du gleichzeitig auch deine Verletzungen geheilt, und da deine Fähigkeiten so viel stärker sind…«

»Ja«, stimmte ich ihm mit erzwungener Nonchalance zu. »Ich meine… wir sollten es versuchen. Ich glaube, es könnte funktionieren…« Aber eigentlich hatte ich keine Ahnung.

Er schenkte mir ein gequältes Lächeln. »Ich möchte, dass du geheilt wirst, und ich glaube, das würde helfen, aber ich möchte nicht, dass du etwas tust, was du nicht… Griffin versteht das nicht.«

Damit hatte er recht. Niemand außer uns wusste, wie tief unsere Gefühle füreinander wirklich gingen. Wie schwer es uns fiel, ihnen zu widerstehen.

»Also… du glaubst nicht, dass wir es tun sollten?«, fragte ich und hätte vor Verlegenheit im Boden versinken können.

»Nein. Ich finde, wir sollten. Wenn es bedeutet, dass du geheilt wirst und… wenn es okay für dich ist.«

Ich konnte nichts sagen.

Mein Mund war trocken geworden, und ich hatte bereits Panik, dass er zu trocken zum Küssen sein würde– wenn es dazu kommen würde. Aber dann verstand ich.

Er wollte nur sichergehen, dass ich nicht wie ein Schulmädchen reagieren würde– denn letztendlich konnten wir trotzdem nicht zusammen sein. Doch allein der Gedanke daran, einen Moment der Nähe mit ihm zu erleben– wenn auch nur aus medizinischen Gründen–, war einfach zu verlockend.

»Keine Panik, Linc. Es ist wie eine Behandlung beim Arzt– mehr nicht«, sagte ich, während ich versuchte, ein glaubwürdiges Lächeln aufzusetzen. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…!

Lincolns Blick brannte fast ein Loch in mich. Er versuchte, herauszufinden, ob ich die Wahrheit sagte, und einen Augenblick lang hatte ich den Eindruck, er wäre ein wenig enttäuscht.

Er streckte zärtlich die Hand nach meinem Gesicht aus. »Okay«, sagte er und kam bereits näher. Er hatte die Augen gesenkt, bis kurz bevor sich unsere Lippen trafen, und dann, als könnte er nicht anders, trafen sich unsere Blicke… und hielten einander stand. Augen sind die Fenster zur Seele– sie können in einem kurzen Moment so viel sagen.

Sanft trafen seine Lippen auf meine und zärtlich wanderten seine Hände zu meinen Schultern. Ich konnte nicht anders– ich musste die Augen schließen. Als würde ich mich selbst vor der Welt verschließen– nur er und ich.

Schloss man die Augen, wenn es nur darum ging, geheilt zu werden? Wenn es eigentlich nicht von Bedeutung sein sollte… aber trotzdem etwas bedeutete?

Ich merkte, dass er sich auf seine Kräfte konzentrierte und hart daran arbeitete, mich zu heilen. Ich versuchte, den Kopf frei zu bekommen und dasselbe zu tun. Ich hörte auf, über seine köstlichen Lippen nachzudenken, die perfekt zu meinen passten, schob das Gefühl der Hitze beiseite, das von ihm ausging, und den Gedanken daran, dass wir dieselbe Luft atmeten. Dann fand ich meine Kraft, die tief in mir schlummerte und sanft vor sich hin köchelte.

Zuerst schien meine Kraft nach Lincoln zu greifen und nach irgendeinem Anzeichen für Verletzung oder Fehlfunktion zu suchen. Als dies erledigt war, wandte sie sich in mein Inneres. Unabhängig davon, dass sie ein Teil von mir war, konnte ich ihr folgen. Als sie Lincolns Kraft fand, die bereits in mir war, vereinten sich die beiden Kräfte zu einer, beschleunigten den Prozess und heilten mich beinahe auf der Stelle.

Ich spürte, wie Lincoln scharf den Atem einzog. Ich drückte mich an ihn, nahm unsere seltene Nähe in mich auf, verlangte nach mehr. Nur noch ein paar Sekunden, ein paar kostbare, gestohlene Momente.

Er wich ein Stückchen zurück: »Violet.«

»Hmm«, murmelte ich und wollte nur, dass er wieder näher kam.

Ruckartig fuhr er zurück, weg von mir. »Violet, stopp! Du bist geheilt.«

»Oh«, sagte ich, als wäre das etwas ganz Neues für mich. Ich trat zurück und wandte meinen Blick ab, auch wenn ich ihn dringend anschauen, seine Augen erforschen wollte. Ich wollte herausfinden, warum es so leicht für ihn war, sich zurückzuziehen, wo es sich für mich als unmöglich erwiesen hatte.

Die Stille im Badezimmer verstärkte jeden meiner schweren Atemzüge und ich fühlte mich so… entblößt. Schließlich konnte ich es nicht mehr aushalten.

»Konntest du fühlen, wie…«, begann ich.

»Sich unsere Kräfte vereinten?«, vollendete er den Satz.

Ich überprüfte mich im Spiegel. Alle Anzeichen einer Verletzung waren verschwunden, außer dem getrockneten Blut.

»Ja.« Ich wagte einen Blick in seine Richtung, wobei ich hoffte, dass mein Gesicht nicht alles, was ich empfand, preisgab.

Er nickte und lächelte mich ein wenig ehrfürchtig an.

»Es ist erstaunlich. Ich fühle mich vollkommen… erfrischt.«

Er stand auf, aber dann setzte er sich wieder hin und fuhr sich mit der Hand durch das Haar.

»Du weißt«, fuhr er fort, »dass es nicht geht.«

»Was?«

»Der Kuss. Es war eine Heilung, Vi, und schon bald wirst du heilen können, ohne… Weißt du, es war nicht… Es zählt nicht.«

Seine Worte waren wie ein harter Schlag ins Gesicht. Ich ließ den Kopf hängen. »Ja. Nein… ich… ich…« Shit, shit, shit.»Ich habe nicht, gedacht, dass… Nein… ich will nicht, dass es… ich…«

Doch bevor ich noch mehr Schwachsinn von mir geben konnte, wanderte seine Hand zu meinem Gesicht und brachte mich zum Schweigen. Sein Daumen rieb mit genau dem richtigen Druck über meinen Wangenknochen, sodass mein Herz raste und mein Atem aussetzte, wie nur er es vermochte.

Er hatte vollkommen recht.

Der Heilungskuss zählte überhaupt nicht.

Ich biss mir auf die Lippen, während er mich anschaute. Meine haselnussbraunen Augen waren seinen glitzernden grünen, die nun unfähig schienen, sein Verlangen zu verstecken, klar unterlegen.

Bang, bang, bang!

»Wenn du sie bis jetzt noch nicht wieder hingekriegt hast, dann ist sowieso nichts mehr zu machen! Raus aus meinem Bad!«, schrie Dapper.

Lincoln ließ die Hand von meinem Gesicht fallen und sah aus, als wäre er über sich selbst entsetzt. Ich schluckte den Schmerz hinunter und heuchelte ein plötzliches Interesse an meinen Fingernägeln.

»Vi, ich…« Er stand auf, dann wirbelte er herum, um mich anzuschauen. »Siehst du! Genau deshalb! Griffin versteht das nicht.« Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ fluchtartig das Badezimmer.

Und ich saß einfach nur da, auf meinem Platz in der ersten Reihe.

Ich hätte am liebsten geschrien, als er die Tür hinter sich zumachte.

Warum können wir nicht zusammen sein?

Er hatte immer gesagt, dass Grigori-Partner keine Zukunft zusammen hätten. Er sagte, es sei nicht erlaubt, es würde uns schwächen oder so. Das Problem ist, wann immer er das sagte, konnte ich es nicht voll und ganz glauben. Wie war es möglich, dass ich so für jemanden empfand und es keine Hoffnung gab? War es wirklich so leicht für Lincoln, einfach das zu leugnen, von dem wir beide wussten, dass es da war? Dann fiel mein Blick auf mein Spiegelbild und ich zupfte schaudernd an meinem blutverkrusteten Haar.

Kein Wunder, dass er die Flucht ergriffen hatte.

Kapitel Vier

»Hüte dich zu lügen! Es gibt den, der täuscht, und es gibt den, der getäuscht wird.«

Sextus 393

Als wir in Lincolns Wohnung zurückkamen, war es fast Mitternacht, was später war, als ich geplant hatte. Nicht nur, dass ich morgen Schule hatte, es war auch keine vernünftige Uhrzeit, nach Hause zu kommen, denn auch wenn Dad große Klasse darin war, sich blind gegenüber all dem zu zeigen, gefiel es mir nicht, ihn zu hintergehen. Wenn er auch nur die Hälfte von dem wüsste, was in meinem Leben passierte,es hätte ihm schon jetzt halbwegs das Herz gebrochen.

Dapper konnte sich, wie sich herausstellte, überhaupt nicht für uns erwärmen. Nachdem er uns erlaubt hatte, sein Bad zu benutzen, führte er ein kurzes Gespräch mit uns, in dem er– mit ziemlich deutlichen Worten– darauf hinwies, dass er nicht bereit war, in unsere Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Und wenn ein Verbannter in seine Bar käme und einen Drink bestellte, dann würde er genau das bekommen. Dann warf er uns hinaus.

Für Dapper war die Sache damit erledigt.

Ich neigte dazu, ihm zuzustimmen. Ich war auch nicht so begeistert von der Idee, ihn da mit hineinzuziehen, aber Griffin hoffte aus irgendwelchen Gründen darauf. Er sah eine wichtige Rolle für Dapper und letztendlich war er der Boss.

Ich wechselte in die Klamotten, die ich inzwischen bei Lincoln für Abende wie diese aufbewahrte. Leider nicht für die Morgen. Bei diesem Kleiderwechsel ging es einzig und allein darum, dass mich mein Vater und die Nachbarn nicht blutverschmiert sahen. Lincoln versuchte vergeblich, mich dazu zu bringen, ein paar Toastbrote zu essen, die er gemacht hatte, während ich mich umzog. Ich war noch immer zu wütend auf mich selbst wegen meines Versagens heute Abend, und mir war immer noch ganz elend vor Angst, dass ich vielleicht niemals in der Lage sein würde, meinen Dolch zu benutzen. Und es war mir so peinlich, dass ich nicht aufhören konnte, immer wieder unseren Kuss in Gedanken durchzuspielen. Doch das Paracetamol nahm ich dankbar an. Meine Kopfschmerzen kehrten wieder zurück.

Auch Lincoln schien nachdenklich zu sein. Ich konnte es nicht beschwören, aber seit dem Kampf machte ihn irgendetwas nervös, und was immer das war– er wollte nicht darüber reden, das wusste ich. Als wir gerade für meine Heimfahrt in seinen Volvo mit Allradantrieb steigen wollten, drängte er mich ins Auto und schaute sich um, als würde er erwarten, dass gleich etwas passierte.

»Linc? Alles in Ordnung?«

Was auch immer er sich bemüht hatte, im Dunkeln zu erkennen– er riss sich davon los. »Alles bestens. Ich will dich nur rasch nach Hause bringen. In ein paar Stunden musst du aufstehen und in die Schule.«

Ich ließ es durchgehen. Wenn es etwas gab, was ich wusste, dann das, dass wir nicht immer alles sagen konnten, wenn andere das gerade wollten. Wenn er etwas zu sagen hatte, musste ich darauf vertrauen, dass er es mir bald erzählen würde. Nicht so wie letztes Mal.

»Erinnere mich nicht daran«, schauderte ich und hoffte, dass die wenigen Stunden Schlaf, die ich bekommen würde, ausreichten, meine hämmernden Kopfschmerzen zu besänftigen.

Lincoln und ich hatten eine neue Seite aufgeschlagen. Es war nicht einfach gewesen, ihm zu vergeben. Aber andererseits hatte er auch mir eine Menge zu vergeben, und trotz allem wusste ich, dass ich ihn in meinem Leben brauchte. Die paar Wochen, in denen wir nicht miteinander gesprochen und uns nicht gesehen hatten, hatten sich angefühlt, als müsste ich ohne Lungen überleben.

Als ich nach Hause kam, ging ich wie üblich vor