Erwacht - Jessica Shirvington - E-Book
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Erwacht E-Book

Jessica Shirvington

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Beschreibung

Gefallene Engel, unmögliche Liebe und ein Kampf gegen dunkle Mächte - Romantisch, dramatisch, atemberaubend!

An Violet Edens 17. Geburtstag gerät ihre Welt aus den Fugen. Sie erhält einen Brief ihrer verstorbenen Mutter und erfährt: Sie ist eine Grigori, ein Wächter-Engel – genau wie der unglaublich attraktive, nur leider so unnahbare Lincoln, für den sie schwärmt. Mit siebzehn erwachen ihre Fähigkeiten und rufen gefährliche Gegner auf den Plan. Nun muss sie sich entscheiden, ob sie ihre Gabe annimmt in einer Welt, in der Engel des Lichts und Engel der Finsternis einen schrecklichen Kampf führen ...

Alle Bücher der Violet Eden-Reihe:
Band 1 – Erwacht
Band 2 – Verlockt
Band 3 – Gebannt
Band 4 – Entbrannt
Band 5 – Vereint

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Seitenzahl: 489

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cbt ist der Jugendbuchverlagin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenDie Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Embrace«bei Hachette Australia, Sydney.© 2010 by Jessica ShirvingtonPublished by arrangement with Jessica ShirvingtonDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Aus dem Englischen von Sonja HäußlerUmschlaggestaltung: © HildenDesign, München, www.hildendesign.deUmschlagillustration: Marion Hirsch, HildenDesign unterVerwendung eines Motivs von Kiselev Andrey Valerevich/ShutterstockKK · Herstellung: AnGSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-05952-1V003
www.cbt-jugendbuch.dewww.penguinrandomhouse.de

DIE AUTORIN

Jessica Shirvington hat eine Kaffeeimportfirma gegründet und geleitet und nebenbei zu schreiben begonnen. »Erwacht« ist ihr erster Roman und der Beginn einer Trilogie. Jessica Shirvington lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Sydney. Neben ihrer Familie widmet sie sich nun ganz dem Schreiben.

Inhaltsverzeichnis

DIE AUTORINWidmungInschriftKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFKAPITEL DREIZEHNKAPITEL VIERZEHNKAPITEL FÜNFZEHNKAPITEL SECHZEHNKAPITEL SIEBZEHNKAPITEL ACHTZEHNKAPITEL NEUNZEHNKAPITEL ZWANZIGKAPITEL EINUNDZWANZIGKAPITEL ZWEIUNDZWANZIGKAPITEL DREIUNDZWANZIGKAPITEL VIERUNDZWANZIGKAPITEL FÜNFUNDZWANZIGKAPITEL SECHSUNDZWANZIGKAPITEL SIEBENUNDDZWANZIGKAPITEL ACHTUNDZWANZIGKAPITEL NEUNUNDZWANZIGKAPITEL DREISSIGKAPITEL EINUNDDREISSIGKAPITEL ZWEIUNDDREISSIGKAPITEL DREIUNDDREISSIGKAPITEL VIERUNDDREISSIGKAPITEL FÜNFUNDDREISSIGKAPITEL SECHSUNDDREISSIGENGELHIERARCHIEDANKSAGUNGENCopyright

Für Matt, der mir bewiesen hat, dass wahre Liebe möglich ist (selbst mit 17), und für unsere Mädchen Sienna und Winter, die neues Licht in die Welt bringen und dafür sorgen, dass jeder Tag

Bilder von Morgen und Abend flimmerten vor meinen Augen, blendeten mich.

Es war … brutal. Schmerzhaft. Ich fiel auf die Knie und schrie.

Ich hörte Lincoln rufen, aber er erreichte mich nicht. Ich wollte, dass es aufhörte, aber ich schaffte es nicht. Kalte Hitze durchströmte meinen Körper. Ich fühlte mich wie eine starre Statue aus Eis, in deren Innerem ein Vulkan ausbricht. Ich konnte meine Schreie hören. Welten entfernt.

Mein Rücken bog sich, meine Arme fielen nach hinten, baumelten herunter, meine Knöchel schleiften über den Betonboden.

Ein Arm umfasste meine Taille, hielt mich hoch, als ich mich noch weiter nach hinten krümmte. Hände umfassten mein Gesicht, hielten mich still.

Ich spürte, wie ich fortglitt, mich selbst an die Sinneswahrnehmungen verlor. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, mich daran zu erinnern, was Phoenix mir gesagt hatte. Gefühle. Ich musste meine Gefühle unter Kontrolle bringen. Oder sie mit etwas ablenken, das mich voll und ganz verzehren könnte.

Ich hoffte, dass es Lincolns Arm war, der um meine Taille griff.

»Küss mich«, flüsterte ich.

»Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit den Mächtigen und Gewaltigen, mit den Beherrschern dieser finsteren Welt, mit den bösen Geistern zwischen Himmel und Erde.«

EPHESER 6, 12

KAPITEL EINS

»Nach außen hin, unter Seinesgleichen, unterFremden, muss man den äußeren Schein wahren,es gibt hundert Dinge, die man nicht tunkann; doch im Inneren herrscht die schrecklicheFreiheit!«

RALPH WALDO EMERSON

 

Geburtstage sind überhaupt nicht mein Ding. Es ist schwer, sich auf den Todestag seiner eigenen Mutter zu freuen. Nicht dass ich mir die Schuld dafür geben würde, dass sie nicht mehr da ist. Niemand konnte ahnen, dass sie meine Geburt nicht überleben würde. Es ist auch nicht so, dass ich sie vermisse. Ich meine, ich kenne sie ja überhaupt nicht. Aber jedes Jahr an diesem Tag stehe ich irgendwann vor der Frage, ob es das wert war. War mein Leben es wert, dass ihres dafür genommen wurde?

Ich starrte aus dem Busfenster, um auf andere Gedanken zu kommen. Steph plapperte weiter, irgendetwas über das perfekte Kleid, und war völlig vertieft in das, was sie gerade sagte. Sie war unerbittlich, wenn es um die hohe Kunst des Shoppens ging. Ich spürte ihren Blick auf mir, voller Enttäuschung über meinen Mangel an Begeisterung. Gebäude blitzten im Rahmen des verschmierten Busfensters auf und zogen vorüber und unwillkürlich wünschte ich mir, dass mein siebzehnter Geburtstag morgen ebenso rasch und schemenhaft vorbeiziehen möge.

»Violet Eden!«, sagte Steph streng und riss mich dadurch aus meiner Trance. »Wir haben die American-Express-Karte von deinem Dad, grünes Licht und kein festgelegtes Limit.« Ihre vorgetäuschte Strenge verwandelte sich in ein hinterhältiges Grinsen. »Kann man sich ein besseres Geburtstagsgeschenk vorstellen?«

Streng genommen war es meine American Express. Mein Name, meine Unterschrift. Sie lief nur zufällig über Dads Konto. Eine Nebenwirkung, wenn man die einzige Person zu Hause war, die dafür sorgte, dass die Rechnungen bezahlt wurden.

Ich wusste, dass mich Steph nicht verstehen würde, wenn ich ihr sagte, dass ich nicht in Stimmung wäre, deshalb log ich: »Ich kann heute nicht shoppen gehen. Ich … ähm … muss ins Training.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und schaute mich an. Einen Augenblick lang dachte ich, sie würde meine Ausrede hinterfragen. Aber dann wechselte sie zu einem Thema, das wir in letzter Zeit immer öfter diskutierten.

»Mit Lincoln?«

Ich zuckte die Achseln und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie allein schon die Erwähnung seines Namens auf mich wirkte. Das mit dem Training stimmte zwar nicht, aber ich hatte tatsächlich vor, ihn später zu treffen, und gab mir schon die größte Mühe, nicht jede Minute bis dahin zu zählen.

Steph rollte die Augen. »Also wirklich! Irgendwann werde ich ihm sagen, dass du lieber auf eine andere Art und Weise mit ihm ins Schwitzen geraten würdest!« Sie bedachte mich mit diesem fiesen Lächeln, das sie normalerweise für andere Leute reserviert hatte.

Ich lehnte mich zurück und wartete, bis sie fertig war. Das war einfacher. Steph kapierte es einfach nicht, und das konnte ich ihr nicht übel nehmen – ich hatte ihr nie alle Gründe dafür genannt, weshalb das Training so wichtig für mich war. Über manche Dinge konnte ich einfach nicht sprechen.

»Aber du merkst schon, dass du dich so langsam in einen dieser Sportfreaks verwandelst, oder? Und tu bloß nicht so, als würde dir das alles Spaß machen. Ich weiß ganz genau, dass du Langstreckenlauf hasst.« Steph konnte einfach nicht verstehen, dass jemand lieber klettern oder boxen ging als zu shoppen.

»Es macht einfach Spaß, mit ihm zu trainieren«, sagte ich in der Hoffnung, das Thema damit zu beenden, auch wenn sie mit dem Langstreckenlauf nicht ganz unrecht hatte. Wenn ich nicht die ganze Zeit auf Lincolns Hintern starren könnte, wäre ich wahrscheinlich nicht so motiviert.

Ich kramte in meinem Rucksack herum, der mit all den Büchern vollgestopft war, die sie einem am Ende des Schuljahrs aufs Auge drückten. Steph schien sich nicht vom Thema abbringen zu lassen.

»Man könnte meinen, er trainiert dich für einen Kampfeinsatz oder so was.« Ihre Augen leuchteten auf. »Hey, vielleicht leitet er einen illegalen Schlägertrupp und versucht, dich dafür aufzubauen!«

»So wird es sein, Steph. Ganz bestimmt.«

Ich wollte nicht darüber reden. Wollte nicht zugeben, dass ich am liebsten rund um die Uhr bei Lincoln gewesen wäre. Als würde etwas tief in mir Trost in seiner Anwesenheit finden.

In den Besten von allen verknallt, Vi!

Wirklich Pech, dass es aussichtslos war. Das war es schon von dem Moment an, als ich ihn vor zwei Jahren kennenlernte. Er stieß etwas verspätet zu dem Selbstverteidigungskurs, für den ich mich angemeldet hatte.

Eigentlich dachte ich, es wäre nur wieder einer meiner Versuche, fit und stark zu werden, aber es wurde sehr viel mehr, als er mein Trainingspartner wurde.

Ich fand nie heraus, weshalb Lincoln den Kurs belegt hatte. Offensichtlich wusste er mehr als der Lehrer und absolvierte die Übungen mit einer Leichtigkeit und Eleganz, die klarmachten, dass er in einer anderen Liga spielte. Nach den ersten paar Wochen, als ich schließlich in der Lage war, mehr als zwei Wörter in seiner Gegenwart aneinanderzureihen, fragte ich ihn, weshalb er da war. Er tat es ab und sagte, dass es immer gut wäre, einen Auffrischungskurs zu machen.

Am Ende des dreimonatigen Kurses hatte ich mehr von ihm gelernt als vom Lehrer, und er bot an, mir Unterricht im Kickboxen zu geben. Dadurch hatte ich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ich wurde jeden Tag stärker – die Liste unserer Sportarten weitete sich auf Klettern, Laufen und sogar Unterricht im Bogenschießen aus – und ich konnte mit Lincoln zusammen sein. Es war perfekt … beinahe jedenfalls.

»Na gut, das heißt wohl, dass wir erst morgen shoppen gehen«, schmollte Steph, konnte es aber nicht lange durchhalten. Sie konnte einem nie lange böse sein.

Leider hatte sie recht. Ich wusste, dass Dad ihr wegen meiner Lustlosigkeit und seines Mangels an Know-how strenge Anweisungen gegeben hatte, weil er sichergehen wollte, dass ich für mein Geburtstagsessen morgen Abend ein neues Kleid hatte. Die Zeit lief – shoppen war unumgänglich.

»Ich kann es kaum erwarten«, sagte ich und warf ihr ein gut einstudiertes falsches Lächeln aus meinem Geburtstagsrepertoire zu.

Es klingelte, weil eine Gruppe Jugendlicher auf den Halteknopf gedrückt hatte. Der Bus wurde langsamer, Steph stand von unserem Sitz in der dritten Reihe von hinten auf. Sie war davon überzeugt, dass nur die Möchtegern-Coolen ganz hinten saßen. Die Streber saßen ganz vorne, gleich dahinter die Goths und die Durchgeknallten. So blieben nur drei Reihen, in die wir uns setzen konnten, um zu zeigen, dass wir nicht zu denen gehörten, die versuchten cool zu sein, sondern dass wir einfach nichts dafür konnten, dass wir es waren. Das Ironische daran war, dass Steph die größte Streberin war, die ich jemals kennengelernt hatte – wenn man mal ausschließlich von ihren Noten ausging. Natürlich würde sie niemals an die große Glocke hängen, dass sie so etwas wie ein Genie war.

Sie wickelte ihren schmalen Körper um die Metallstange an den Türen, setzte ihre Lieblingssonnenbrille von D&G auf und warf mir eine Kusshand zu. Ich lachte. Glücklicherweise ließ sich Steph nicht nur auf Marken reduzieren. Dafür, dass sie mit einer kompletten Designerausstattung herumlief, war sie erstaunlich ausgeglichen. Dass sie aus einer schwerreichen Familie stammte und für gewöhnlich Kleider trug, die so viel kosteten wie mein ganzer Kleiderschrank zusammengenommen, wirkte sich nicht nachteilig auf unsere Freundschaft aus. Ich machte mir nicht allzu viel aus materiellem Besitz, und ihr machte es nicht allzu viel aus, dass das so war.

»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte sie, während sie zur Tür hinausging. Dabei nahm sie keinerlei Notiz davon, dass sich hinter ihr die Jugendlichen wie Sardinen in einer Dose zusammendrängten. »Wenn du hier schon die ganze Zeit Mr Fantastic ansabberst, dann tritt ihm wenigstens ab und zu ordentlich in den Magen dafür, dass er deine ganze Freizeit in Anspruch nimmt und meine beste Freundin mit Beschlag belegt.«

»Geht klar«, sagte ich und warf ihr ebenfalls eine Kusshand zu. Mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich meine beste Freundin angelogen hatte, unterdrückte ich dabei.

KAPITEL ZWEI

»Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde.«

GENESIS 9, 13

 

Anstatt nach Hause in die leere Wohnung zu gehen, ertappte ich mich dabei, wie ich den Weg zu Dads Büros einschlug. Ich war mir nicht sicher, warum. Auf dem Weg hinauf in den vierten Stock piepste mein Handy. Eine SMS von Lincoln.

Bin bisschen spät dran. Um 7 bei mir?

Ich lächelte das Handy an, während meine Finger eilig über die Tastatur huschten.

Ja – wir treffen uns dann dort!

Dann löschte ich das Ausrufezeichen und zählte bis dreißig, bevor ich mir erlaubte, auf »senden« zu drücken.

Meine Beziehung zu Lincoln war bittersüß. Wie immer holte mich, kurz nachdem die Euphorie, von ihm zu hören, nachließ, die Realität unserer »Freundschaft« wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Wenn es ein wirkliches Date gewesen wäre! Aber eigentlich gewährte er mir nur Zutritt zu seinem Domizil in einem Lagerhaus – dort gab es eine gigantische Wand, die förmlich danach schrie, angemalt zu werden, und Lincoln hatte sich schließlich doch noch einverstanden erklärt, sie mir zu überlassen. Zwischen zwei Schichten Grundierung konnte ich allenfalls auf eine Mahlzeit hoffen. Obwohl ich versucht hatte, Lincoln zu versichern, dass Kaffee und Fertignudeln eine ausgewogene Ernährung aus Milchprodukten und Kohlehydraten darstellten, konnte ich ihn nicht überzeugen. Da Dad zur Abendessenszeit nie zu Hause war, hatte Lincoln vor Kurzem damit angefangen, mich zum Abendessen zu sich einzuladen und dann nach Hause zu bringen. Auch wenn das nicht romantisch war – überhaupt nicht, meistens unterhielten wir uns einfach über unser Training –, so war es doch schön, jemanden zum Reden zu haben, anstatt allein zu essen.

Dads Firma nahm den gesamten vierten Stock ein. Als sich die Aufzugstüren öffneten, fiel mein Blick auf das vertraute Schild aus rostfreiem Stahl, auf dem »Architekturbüro Eden« stand. Seit acht Jahren prangte es an dieser Stelle.

»Hi, Caroline«, sagte ich, als ich am Empfangsbereich vorbeikam. »Ist er da?«

Dads Rezeptionistin lächelte mich an und zog die Augenbrauen nach oben. »Wo sollte er sonst sein?«

Ich traf Dad in seinem Büro an. Er beugte sich tief über seinen Zeichentisch, auf dem Unmengen von Papier ausgebreitet waren – ein Bild, das typisch war für meinen Dad und das ich schon vor langer Zeit hatte akzeptieren müssen. Früher hatte ich immer dagegen angekämpft – oder vielmehr um seine Aufmerksamkeit gekämpft –, aber ehrlich gesagt fühlte ich mich sowieso immer, als müsste ich ersticken, wenn ich endlich seine volle Aufmerksamkeit erlangt hatte.

Was immer er da gerade machte, er war vollständig darin vertieft und zwar schon eine ganze Weile, so wie es aussah. Er hatte seine Krawatte abgelegt und die Ärmel hochgekrempelt. In der Hand hielt er ein Lineal und an seinem Mund hing ein Bleistift. Ich konnte seine Füße unter dem Zeichentisch nicht sehen, aber ich wäre jede Wette eingegangen, dass er auch die Schuhe ausgezogen hatte.

Ich schaffte es bis zur Mitte des Büros, ohne dass er mich überhaupt bemerkte.

»Hi, Dad«, sagte ich und hob die Hand.

Er blickte auf und lächelte, wobei er mit der Hand durch sein grau meliertes Haar fuhr, als würde ihn das irgendwie aus seiner Welt aus Linien, Winkeln und Lichtreflexen befreien. Er klemmte sich den Bleistift hinter das Ohr und kam hinter seinem Zeichentisch hervor. Nur Socken.

»Hi, Süße.« Er räusperte sich. »Was für eine schöne Überraschung. Ah … wie war dein letzter Schultag?«

Ich hasste, dass ich es hören konnte, aber da war es wieder, immer dasselbe. Die Stimme, die sagte: Schön, dass du hier bist, aber eigentlich bin ich gerade mittendrin in einer Sache und möchte dabei nicht gestört werden.

Ich schluckte und zog es durch. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich wusste, dass er sich schämen würde, wenn er wüsste, dass ich es heraushören konnte.

»Großartig!«, sagte ich und strahlte dazu. »Ich habe es in den Fenton-Kunstkurs geschafft. In sechs Monaten geht es los.« Das war heute meine Hauptmotivation gewesen, in die Schule zu gehen. Am letzten Schultag war normalerweise nichts mehr los, im Grunde war es schon ein Ferientag. Dad hatte nie darauf bestanden, dass ich am letzten Tag hinging. Na ja … Dad bestand nie auf irgendetwas. Aber ich konnte es schon seit Monaten nicht abwarten zu erfahren, ob ich den Platz bekomme, und als ich dann sah, dass mein Name und noch ein anderer auf der engeren Auswahlliste standen, war der Tag gerettet.

Er schenkte mir sein aufrichtiges Stolzer-Vater-Lächeln. »War klar, dass du das schaffst! Daran gab es keinen Zweifel. Du kommst nach deiner Mum.« Am Ende brach seine Stimme ein wenig. Sie war auch eine Künstlerin gewesen. Er brachte nur selten das Gespräch auf sie. Genau wie ich ließ er schmerzhafte Dinge lieber ruhen. Das war einfacher … und zugleich schwieriger. Aber in Wirklichkeit konnte nichts seinen Schmerz betäuben. Seit ihrem Tod war er ein gebrochener Mann.

»Danke, Dad«, sagte ich. Ich brannte darauf, das Thema zu wechseln. Er richtete sich abrupt auf und kam auf mich zu. Dann hielt er inne, ging wieder zurück und setzte sich an seinen Zeichentisch, wobei er sich an die Tischkanten klammerte, als wollte er sich dort festschrauben. So langsam drehte Dad durch.

»Ich weiß, dass dein Geburtstag eigentlich erst morgen ist, aber ich möchte dir schon jetzt etwas geben.« Er knackte mit dem Kiefer, das machte er sonst nur, wenn ein Abgabetermin näher rückte oder wenn er ein großes Angebot am Laufen hatte. Dann holte er tief Luft und legte entschlossen die Hand auf den Tisch. Mit dem Handgelenk stieß er dabei an den einzigen persönlichen Gegenstand, den er in seinem Büro aufbewahrte – die Skulptur einer weißen Tür mit einem Graffiti, das Kein Zutritt für Kindermädchen! besagte. Es war das erste und einzige Kunstwerk, das wir je gemeinsam angefertigt hatten.

Bis ich dreizehn war, hatte Dad sieben Kindermädchen vergrault, weil er nicht pünktlich nach Hause kam, vergaß, sie regelmäßig zu bezahlen, und von ihnen erwartete, dass sie auch am Wochenende arbeiteten. Ich hatte elf vergrault. Was soll ich sagen – sie waren dem Job einfach nicht gewachsen. An dem Tag, an dem Kindermädchen Nr. 19 einen Wutanfall bekam und davonstürmte, holten Dad und ich ein bisschen Ton heraus und beschlossen, dass damit ein für alle Mal Schluss sein sollte. Seitdem sind wir nur noch zu zweit. Oder eher nur noch ich allein.

»Dad, ich möchte keine Geschenke mehr«, jammerte ich. Ein Abendessen und das Kleid, das bis dahin noch gekauft werden musste, waren bereits mehr, als ich wollte. Morgen war so ungefähr der einzige Tag im Jahr, an dem ich keine Geschenke wollte.

»Es ist nicht von mir«, sagte er leise und schaute mich dabei nicht an. Er öffnete die unterste Schublade seines Zeichentischs, die einzige, die man abschließen konnte. Seine Bewegungen waren langsam, fast schon gequält. Er zog ein kleines Holzkästchen aus der Schublade und stellte es vorsichtig auf seinen Tisch. Seine Hand zitterte über den raffinierten Schnitzereien, mit denen der Deckel verziert war.

Meine Augen begannen zu brennen und ich musste schnell blinzeln. Es kam nicht oft vor, dass Dad auf diese Weise seine Gefühle offenbarte. Er hob die Hand, und während sie noch über dem Kästchen schwebte, ballte er sie zur Faust und schloss die Augen. Er sah aus, als würde er beten – das war etwas, was er nie tat, und das wusste ich. Bisher hatte es nur einen einzigen Anlass gegeben, an dem er so ausgesehen hatte.

Schließlich blickte er zu mir auf und lächelte ein wenig. Ich blinzelte noch einmal.

»Ich habe Anweisungen erhalten. Ich habe siebzehn Jahre gewartet, um dir das zu geben. Es ist von Evelyn … Es ist von deiner Mum.«

Unwillkürlich riss ich den Mund auf. »Aber … wie?«

Meine Mum war völlig unerwartet gestorben. Eine Blutung bei der Geburt, die nicht vorhersehbar gewesen war. Sie konnte unmöglich irgendwelche Anweisungen für die Zeit nach ihrem Tod hinterlassen haben.

Dad kniff sich in die Nasenwurzel und legte sich dann das Kinn in die Hand. »Ich weiß es wirklich nicht, Liebes. In dieser Nacht, als ich aus dem Krankenhaus zurückkam«, er machte eine Handbewegung zu dem kleinen Kästchen hin, »stand das auf ihrer Kommode. Darauf lag eine Notiz, auf der stand: Für unser Mädchen zu ihrem siebzehnten Geburtstag.« Er holte tief Luft. »Vielleicht war sie einfach nur gut organisiert, vielleicht … ich weiß es nicht … Sie war eine außergewöhnliche Frau … Sie spürte Dinge, die andere nicht spüren konnten.«

»Willst du damit etwa sagen, du glaubst, dass sie wusste, was passieren würde?«

»Das will ich damit nicht sagen, Liebes«, sagte er und strich dabei geistesabwesend über das Kästchen. »Aber darum geht es jetzt nicht. Sie wollte, dass du das bekommst, und es war ihr wichtig, dass du es genau jetzt erhältst.« Während er das Kästchen über den Tisch auf mich zuschob, stand er auf. »Ich … ähm … lasse dich jetzt kurz allein.«

Er schlüpfte in seine Schuhe und verließ leise das Büro. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und sah so … allein aus. Mir fiel ein, dass Mum wahrscheinlich nicht besonders beeindruckt davon wäre, was aus uns geworden war.

Das Kästchen war schön. Es war aus sattem, dunklem Mahagoni, das von leuchtenden goldenen Verzierungen durchbrochen wurde. Die Schnitzereien auf dem Deckel waren detailreich und schön gearbeitet, sie formten kein Bild, sondern ein Muster, eine Reihe zarter Federspitzen. Die Künstlerin in mir wusste es sofort zu schätzen.

Ich hatte nie ein Geschenk von meiner Mutter bekommen. Sie hatte mir nie warme Milch gemacht, mir nie die Tränen abgewischt oder mir ein Pflaster aufgeklebt. Sie hatte mir nicht die Peinlichkeit erspart, mit dem Kindermädchen meinen ersten BH kaufen zu müssen, und sie hatte keinen hübschen kleinen Vorrat an Tampons für mich im Bad gebunkert, der niemals ausging und der nie thematisiert werden musste. Es gab eine Menge Dinge, die ich niemals von ihr bekommen würde, aber das hatte ich schon vor langer Zeit akzeptiert. Nun ein Geschenk von ihr zu bekommen, etwas, das sie mir – und nur mir – absichtlich hinterlassen hatte, war … irgendwie komisch.

Ich setzte mich auf Dads Stuhl und strich mit den Fingern über die Schnitzereien, wie er es zuvor getan hatte. Ein Schauder lief mir den Rücken hinunter. Ich rutschte auf dem Stuhl herum und schüttelte hektisch die Hand, mit der ich das Kästchen berührt hatte. »Reiß dich zusammen, Vi.«

Als ich das Kästchen öffnete, wurde mir das Herz richtig schwer. Eine winzige Silberkette mit einem kleinen Amulett lag darin. Zum letzten Mal hatte ich meine Baby-Halskette in dem Schmuckkästchen auf meinem Schminktisch gesehen. Offenbar hatte sie meine Mum als eine Art Glücksbringer für mich anfertigen lassen, als sie schwanger war. Auf jedem einzelnen meiner Babyfotos trug ich diese Halskette. Dad hatte dafür gesorgt, dass Mums Wünschen entsprochen wurde – und mehr als das.

Offensichtlich hatte Dad sie von meinem Schminktisch genommen. Ich fragte mich, ob der übrige Inhalt des Kästchens auch von ihm stammte, aber dann verwarf ich den Gedanken. Er hatte noch nie den Drang verspürt, Geschenke für mich zu fälschen. Das war nicht sein Stil.

Ich zog zwei Umschläge aus dem Kästchen. Beide waren noch versiegelt, aber vergilbt und an den Rändern ziemlich abgegriffen. Es musste Dad fast umgebracht haben, siebzehn Jahre lang davon zu wissen und keine Ahnung zu haben, was sich darin befand. Ich fragte mich, wie oft er mit seinen Fingern über die Siegel gestrichen und überlegt hatte, ob er sie brechen sollte. Es war beeindruckend, dass er hatte widerstehen können.

Ich öffnete den ersten Umschlag. In ihm steckte eine Seite, die aus einem Buch herausgerissen worden war. Es war ein Gedicht.

Liebe das Nichts,Fliehe vor etwas,Bleibe alleinUnd gehe zu niemandem.Handle beherztUnd mach dich frei von allem.Übergib die GefangenenUnd bezwinge die, die frei sind.Tröste die Kranken,Aber für dich besitze nichts.Trinke das Wasser des LeidensUnd entzünde das Feuer der Liebe mit dem Holz der Tugenden,Dann lebst du in der wahren Wüste.

Es war schön, fand ich, auf eine traurige und überraschend religiöse Art und Weise. Dem bisschen nach, was ich über sie wusste, war Mum nicht religiös gewesen. Sie hatte alles gehasst, was Menschen ihrem Glauben nach in Schubladen steckte. Ich war nur getauft, weil Dads Familie darauf bestanden und er selbst den Vorteil darin gesehen hatte, dass ich dadurch an eine bessere Highschool kommen konnte.

Ich öffnete den zweiten Umschlag. Darin steckte ein handgeschriebener Brief. Die Schrift wirkte selbstbewusst: lange Buchstaben, ineinander verschlungen wie altmodische Kalligraphie. Meine Hände bebten ein wenig, als sie das Stück Papier anfassten, das zum letzten Mal von meiner Mutter gehalten wurde.

Mein Mädchen,alles Gute zum 17. Geburtstag. Ich wünschte, ichkönnte bei Dir sein, aber ich glaube, wenn Du dasliest … dann bin ich es nicht. Das tut mir leid. DerTag, an dem Dein Dad und ich erfuhren, dass wirein Kind bekommen würden, war der glücklichste Tagmeines langen Lebens. Ich wusste, dass der einzigeTag, der noch schöner sein würde, der Tag DeinerGeburt sein würde – ganz egal, wie dieser Tag endenwürde.Eine wichtige Entscheidung steht bevor. Die Lastdes Bundes ist schwer zu tragen. Entscheide mit demHerzen, denn ich weiß schon jetzt, dass Du, meinMädchen, Deinem Herzen folgen musst.Glaube an das Unglaubliche – denn es wird nicht aufDich warten – und Du sollst wissen, dass nichts ein-fach nur gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Esgibt Mächte auf dieser Welt, die nicht so sind wie wir,mein Mädchen. An ihrem rechtmäßigen Platz sindsie wunderbar und schrecklich, heldenhaft und böse –und das ist gut so, denn wir brauchen beides. Haltedie Augen offen, aber glaube nicht allem, was sie dirzeigen. Sie werden von der Vorstellungskraft geleitet,wir von unserem freien Willen.Denk daran: Für jeden gibt es einen Ort, an den ergehört, und wenn er diesen ohne Erlaubnis verlässt, somuss er wieder dorthin zurückgeschickt werden.Ich liebe Dich. Bitte, verzeih mir.Mum

Sorgfältig faltete ich den Brief und das Blatt mit dem Gedicht wieder zusammen und steckte beide jeweils in ihren Umschlag zurück. Dabei konzentrierte ich mich sorgfältig auf jede Bewegung, damit ich an nichts Anderes denken musste. Ich bündelte meine Gedanken, damit sie sich verlangsamten und nicht zu Orten wanderten, mit denen ich nicht umgehen konnte. Noch nicht. Das war eine Fähigkeit, die ich mir selbst beigebracht hatte, durch Üben, Üben und noch mal Üben.

Der letzte Gegenstand in dem Kästchen war ein Armband. Es bestand aus dickem Leder, obwohl es metallisch aussah, mit einer Art Silberüberzug, der ziemlich abgegriffen war. Es war ungefähr vier Zentimeter breit und hatte ein ähnliches Muster wie das Kästchen. Es war faszinierend. Schön, nicht nur hübsch. Neben dem Armband befand sich ein identischer, kreisförmiger Abdruck auf dem Holz des Kästchens, wo der Lack abgeblättert war. Irgendwann hatte hier das Pendant des Armbands gelegen.

Ich nahm das Armband und ignorierte die Tatsache, dass mein Mund und meine Augen feucht wurden. Meine Nase lief auch, aber ich hätte schwören können, dass ich Parfüm roch. Irgendetwas Blumiges? Ich fragte mich, ob es ihr Duft war – aber er konnte sich doch unmöglich all die Jahre in dem Kästchen gehalten haben? Ich schob den Gedanken beiseite. Aber genauso schnell trat ein anderer an seine Stelle.

Der Brief. Sie hatte gewusst, dass sie sterben würde.

Nein, ich konnte einfach nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt. Dad konnte jeden Augenblick zurückkommen. Ich musste mich zusammennehmen, durfte mich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Ich wusste sowieso nicht, was der Brief zu bedeuten hatte. Eine wichtige Entscheidung? Vielleicht Schule oder Uni? Es konnte alles sein. Wahrscheinlich hatte sie es nur vorsorglich gemeint – jede Mutter möchte, dass ihr Kind glaubt, alles wäre möglich. Das mit dem langen Leben verstand ich nicht. Wie konnte jemand wie sie glauben, ihr Leben sei lang gewesen? Sie war erst fünfundzwanzig, als ich geboren wurde … als sie starb.

Ich wischte mit der Hand über meine triefende Nase und legte alles wieder genauso in das Kästchen zurück. Als Dad zurückkam, hatte ich es schon in meine Tasche gesteckt und war auf die Couch umgezogen.

Er zögerte. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, mir geht’s gut … bestens … ja. Da war ein Brief drin. Möchtest du ihn lesen?« Ich wollte ihm den Brief eigentlich nicht geben. Es war schön, etwas von ihr für mich allein zu haben, auch wenn es seltsam war; aber ich wusste, dass es für jeden eine Qual sein musste, siebzehn Jahre auf die Folter gespannt zu werden.

Dad lächelte, die Falten in seinen Augenwinkeln wurden tiefer, aber er ließ die Schultern hängen. »Nein, schon okay«, sagte er.

Oh, Shit, ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte, wenn Dad jetzt tatsächlich zu weinen anfing. Aber er fasste sich wieder, räusperte sich und wandte seinen Blick zur Decke. »Nein, Liebes. Das ist etwas zwischen dir und Mum. Aber … danke, dass du es angeboten hast.«

Offensichtlich reichte das Angebot schon.

»Nun, wie du schon sagtest, ich glaube, sie hatte sich einfach vorbereitet. Es war einer von diesen … Folgedeinem-Herzen-Briefe. « Ich sagte das, als würde ich die ganze Zeit solche Briefe kriegen.

»Jetzt werde nicht zynisch«, tadelte er mich, aber ich wusste, dass es ihm gefiel, dass ich genauso zynisch war wie er.

Er setzte sich neben mich und legte mir die Hand auf das Knie. Ich legte meine Hand auf seine. Einen Moment lang schwiegen wir.

»So …«, sagte er schließlich, während wir beide unsere Hände wieder wegnahmen. »Was machst du heute Abend?«

»Ich gehe zu Lincoln. Hab dort eine Wand anzumalen. «

»Er hat also endlich nachgegeben?«

»Ja.« Es tat definitiv gut, gesiegt zu haben.

»Gut … klar. Dann gehst du jetzt gleich zu ihm?«, fragte er in einem munteren Tonfall, der normalerweise bedeutete, dass er mir etwas zu sagen hatte, was ich nicht hören wollte.

»Ja«, sagte ich gedehnt.

»Oh, gut. Weißt du, ich habe nämlich Lincoln zufälligerweise gestern getroffen, als ich draußen war, um mir ein Sandwich zu holen.« Sein Blick wanderte durch das Zimmer und er stand auf und ging zu seinem Schreibtisch, wo er auf einmal ganz versessen auf einen Stapel Papier zu sein schien.

»Was hast du angestellt, Dad?« Mein Herz setzte ein paar Schläge aus und ich hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, worauf das hinauslief.

»Nichts. Nichts. Wir haben nur über euch beide geplaudert, weißt du, über euer Training. Lincoln hat erzählt, dass ihr nächsten Monat an einem Marathon teilnehmt. Das hört sich nach einer Menge Spaß an.« Er lächelte angestrengt. »Und … ähm … er fragte mich nach der Arbeit, was ziemlich nett war von ihm und … weißt du …«

»Nein. Weißt – du – was?«

»Na ja, ich sagte, erwähnte eigentlich nur, dass du … na ja, dass du an deiner alten Schule eine harte Zeit hattest und … ach, weißt du … ob er das vielleicht berücksichtigen könnte … Er ist nun mal fünf Jahre älter als du, Vi. Ich wollte nur nicht, dass du dich unter Druck gesetzt fühlst. Ich hatte das nicht geplant, ich bin ihm nur zufällig über den Weg gelaufen und … Himmel noch mal«, sagte er und wurde immer nervöser. »Deine Mutter kam mir in den Sinn und ich dachte, dass sie bestimmt wollte, dass ich … etwas sage, weißt du?«

Jemand soll mich auf der Stelle erschießen! Erst tiefe Gefühle und dann das!

Ich stand auf und ging ans andere Ende des Raumes. Die Spannung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar. Keiner von uns wollte über den Übergriff reden. Tatsächlich bestand eine stille Übereinkunft, dass es tabu war, darüber zu sprechen. Schon die geringste Erwähnung erfüllte den Raum mit einer vertrauten Finsternis.

Ich starrte auf meine Füße hinunter und stieß den Zeh meiner Turnschuhe in den Teppich, als könnte ich ihn dadurch verschieben, wenn ich mich nur genug konzentrierte. Warum konnte ich nicht zu den Jugendlichen gehören, deren Eltern wussten, was sie taten?

»Dazu hattest du kein Recht«, sagte ich rundheraus.

»Das stimmt nicht ganz, Violet. Ich bin dein Vater.«

Er hatte sich echt einen großartigen Zeitpunkt ausgesucht, die Sache in die Hand zu nehmen.

»Dad, du liegst so was von daneben, ich kann noch nicht mal … Lincoln hat mich überhaupt nicht unter Druck gesetzt!« Ich schnappte meine Tasche und hievte sie mir auf den Rücken. »WIR SIND NUR FREUNDE! Er interessiert sich, was das angeht, kein bisschen für mich – und dank deiner Hilfe«, ich schüttelte ungläubig den Kopf und sah ihn an, »wird es jetzt auch niemals dazu kommen.«

Dads Augen weiteten sich vor Überraschung. Offenbar war er davon ausgegangen, dass Lincoln und ich längst ein Paar waren.

»Oh …« Er stolperte über seine eigenen Worte und kriegte die Kurve nicht mehr. Großartig, jetzt denkt auch noch mein eigener Vater, ich sei total armselig. »Oh … ich hatte das nur vermutet. Sorry, Vi. Ich bin nur … nach allem, was passiert ist … ich mache mir einfach Sorgen.«

Ich antwortete nicht.

»Ich werde mich ab jetzt raushalten«, fügte er hinzu.

»Ich muss los. Bis morgen Abend dann«, murmelte ich, weil ich wusste, dass wir uns vorher nicht über den Weg laufen würden, obwohl wir unter demselben Dach wohnten. Vor allem nicht jetzt.

»Ja! Großartig! Ich freue mich so auf dein Geburtstagsessen. Treffen wir uns um sieben?«, fragte er übertrieben begeistert.

Ich war schon auf dem Weg zur Tür. Ich warf eine Hand nach oben.

»Ja ja.«

Das Gute an Dad war, dass ich wusste, er würde einfach so tun, als hätte dieses Gespräch nie stattgefunden.

KAPITEL DREI

»Es gibt einen alten Wahn, der heißt Gut und Böse.«

FRIEDRICH NIETZSCHE

 

Ich überlegte mir, ob ich anrufen und unter irgendeinem Vorwand meinen Besuch bei Lincoln absagen sollte. Aber auch wenn ich nicht über den Übergriff sprechen wollte, hatte ich vor langer Zeit beschlossen, nicht zuzulassen, dass er mein Leben bestimmte. Ich wünschte, Dad hätte die Klappe nicht so weit aufgerissen, aber nun, da Lincoln Bescheid wusste, würde ich nicht davonlaufen. Das war eine meiner Regeln – ich laufe nicht davon und ich gebe nicht auf. Und seit dem Übergriff, seit der Gerichtsverhandlung und dem Schulwechsel, waren diese Regeln wie ein Mantra für mich. Sie halfen mir, das alles durchzustehen.

Obwohl ich ein extra gemütliches Tempo vorlegte, kam ich zu früh in Lincolns Straße an und entdeckte ihn durch das Schaufenster des Ladens an der Ecke. Dort stand er mit dem Rücken zu mir und hatte noch immer seine Trainingsklamotten an – eine schwarze Jogginghose und ein weißes, ärmelloses T-Shirt, das seine gebräunte Haut und sein sonnengebleichtes braunes Haar gut zur Geltung brachte. Er hatte wohl einen Pakt mit der Sonne geschlossen – nicht so wie ich, die trotz Kappe und Sonnencreme immer noch aufpassen musste. Ich blieb einen Moment stehen und genoss die Wärme, die mich immer durchströmte, wenn er in meiner Nähe war, und wappnete mich für das, was nun, da Dad seine Klappe nicht gehalten hatte, auf mich zukam.

Ich beobachtete, wie Lincoln Lebensmittel in einem Korb verstaute, nachdem er zuerst die Nährwerttabelle auf der Rückseite jeder Packung studiert hatte. Bei allem, nur nicht bei meinen Lieblingsschokokeksen – die warf er, ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen, hinein. Entschlossen holte ich Luft und klopfte an die Glasscheibe, wobei mir ein bisschen übel war, weil ich noch aufgeregter war als sonst, wenn ich ihn traf. Er wandte sich um und lächelte bereits, als hätte er schon vorher gewusst, dass ich es bin, und obwohl ich eigentlich darauf vorbereitet war, stockte mir der Atem und ich hatte Schmetterlinge im Bauch – etwas, das mir nur mit ihm passierte. Nachdem ich nun seit zwei Jahren fast tagtäglich sein Gesicht sah, sollte man annehmen, dass ich das besser im Griff hätte. Aber von wegen.

Forschend betrachtete ich sein Lächeln, prüfte es auf Anzeichen einer Veränderung. Er streckte zwei Finger nach oben, um mir mitzuteilen, dass er noch ein paar Minuten brauchen würde. Als er sich wieder umdrehte, hörte ich auf zu nicken wie eine Idiotin und fragte mich (zum millionsten Mal), ob er sehen konnte, wie hingerissen ich war. Falls er es sah, ließ er sich jedenfalls nie etwas anmerken. Auch sein Lächeln hatte nichts verraten. Es war dasselbe schöne – platonische – Lächeln wie immer.

Die Dämmerung brach herein, während ich neben ein paar ausrangierten Plastikkisten herumlungerte – den vielen Zigarettenkippen nach, die hier herumlagen, handelte es sich wohl um den provisorischen Pausenraum der Ladenangestellten. Eine kühle Abendbrise wehte durch die warme Luft und ich wandte ihr mein Gesicht zu, schloss die Augen und atmete sie ein. Dabei bemerkte ich das anschwellende Grillenkonzert in der Ferne. Zu dieser Jahreszeit erfüllte das Zirpen der Grillen die Nacht, auch wenn weit und breit keine Gärten in Sicht waren.

Als ich die Augen wieder öffnete, gingen gerade flackernd die Straßenlichter an. Die Gebäude, die den Gehweg säumten, warfen scharfe, gezackte Schatten über die Straße und veränderten mit einem Mal die Stimmung in ein finsteres Schauspiel aus Licht, das von Schatten geschluckt wird. Die Stimmung ergriff von mir Besitz, und ich musste mich anstrengen, dass meine Gedanken nicht anfingen zu kreisen, dass sie mich nicht dazu zwangen, Dinge erneut zu durchleben, die ich lieber vergessen wollte. Aber sobald ich einen aufwühlenden Gedanken verscheucht hatte, trat ein anderer an seine Stelle – nämlich der an das Holzkästchen meiner Mutter. Ich war froh, dass ich so viel Übung darin hatte, mich abzuschotten, denn eigentlich wollte ich jetzt nicht darüber nachdenken, ob sie gewusst hatte, dass sie sterben würde. Nein … das wollte ich gar nicht so genau wissen.

»Fertig.« Lincoln stand neben mir und ich hatte ihn noch nicht einmal kommen hören. Nicht gut, Vi.

Ich blickte ihn kurz an, ängstlich darauf bedacht, ihn nicht zu lange anzuschauen. »Hey. Willst du kochen?«

»Ja, ich dachte, das wäre eine gute Idee. Ist das okay?«

»Klar. Was steht auf dem Speiseplan?«, fragte ich und klemmte mir ein paar lose Haarsträhnen hinter das Ohr. Wir machten uns auf den Weg zu Lincolns Lagerhalle und ich nahm ihm eine der Taschen ab. Unsere Finger berührten sich ganz kurz, aber es reichte, um mein Herz höher schlagen zu lassen.

»Pasta, Huhn, Basilikum, Feta«, sagte er beiläufig, als er die Zutaten meines Lieblingsnudelgerichts aufzählte.

Ich biss mir auf die Unterlippe. Ein Mitleidsessen. Shit.

Als wir Lincolns Lagerhalle betraten, überkam mich eine Woge der Zufriedenheit. Kein Ort fühlte sich mehr nach Zuhause für mich an. Lincoln hatte sie gerade gekauft, als wir uns kennenlernten. Für Lagerhallenverhältnisse war sie klein, aber für einen Singlehaushalt war sie riesig. Als er sie in Besitz genommen hatte, war sie eine Müllkippe gewesen, aber Schritt für Schritt hatte er sie aufgemöbelt und dabei ein gutes Händchen bewiesen, das musste man ihm lassen. Er liebte seine Halle. Und ich auch. Das Schönste daran waren die riesigen Bogenfenster an beiden Enden. Durch sie flutete tagsüber das Sonnenlicht herein und ergoss sich über die große offene Fläche. Es war der perfekte Ort für Kunst. Das war einer der Gründe, weshalb ich die Lagerhalle liebte. Der andere Grund hing eher mit ihrem Bewohner zusammen.

Schweigend packten wir in der Küche die Lebensmittel aus. Bei jedem Öffnen des Kühlschranks und bei jedem Rascheln von Plastiktüten schlug mein Herz schneller, ich wurde noch beklommener und fragte mich, was er sagen würde. Aber er sagte nichts, sondern stapelte wie immer die Zutaten auf den Tisch und machte sich daran, das Abendessen zuzubereiten.

Nachdem er ein Schneidebrett herausgeholt und alles vorbereitet hatte, blickte er mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir auf. »Also …« Er räusperte sich. »Wie war dein Tag?«

Ich bemerkte, dass ich schweigend und reglos mitten in der Küche stand wie ein verlorenes Kind. Ich löste meine Füße vom Boden, ging hinüber zur Theke und lehnte mich, so lässig ich konnte, dagegen. »Großartig. In der Schule lief es gut. Ich habe es in den Fenton-Kurs geschafft.«

Lincoln legte das Messer hin, wandte sich zu mir um und grinste von einem Ohr zum anderen. Ich schmolz dahin, weil er mich so gut kannte. Weil er wusste, wie viel mir der Kurs bedeutete.

»Gott sei Dank! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ich hätte meine Wand einem Amateur versprochen«, neckte er mich und zog mich in eine Umarmung. Er roch nach getrockneter Sonnencreme, und sein Körper strahlte Wärme aus. Ich entspannte mich in seinen Armen. Es gefiel mir, dass ich die ideale Größe hatte, um meinen Kopf bequem an seine Schulter zu legen. Es war, als wären wir zwei Teile von einem Puzzle, so gut passten wir zusammen. Sobald ich mich entspannt hatte, trat Lincoln natürlich einen Schritt zurück. Es war wie bei den übrigen Millionen von Umarmungen zwischen uns, und obwohl ich mir jedes Mal wünschte, dass mehr dahintersteckte, signalisierte mir seine Körpersprache, dass das nicht der Fall war.

»Also«, sagte er, »bist du bereit für die Übertragung der offiziellen Eigentumsrechte?«

»Ja, definitiv«, sagte ich und sammelte mich wieder. »Ich würde sie zuerst gern grundieren, wenn das okay ist.«

»Es ist deine Wand – mach damit, was du willst.«

Er lächelte und wandte sich wieder seinem Schneidebrett zu. Ich hatte ihn über ein Jahr damit genervt, dass ich ein Wandgemälde an eine seiner Wände malen wollte, und schließlich hatte ich ihn überredet.

»Wollen wir vielleicht zuerst essen?«, schlug er vor. »Ich bin am Verhungern.«

»Klar.«

Hatte er wirklich nicht vor, darüber zu sprechen? Die Leute wollten doch immer die Einzelheiten erfahren. Zuerst die Behörden. Dann meine sogenannten Freunde, die mich daran hinderten zu vergessen. Dann fiel mir ein, dass es ihm vielleicht egal war, dass er es gar nicht wissen wollte. Bevor ich mich auf dieses unsichere Terrain vorwagte, zwang ich mich, eine Entscheidung zu treffen. Entweder musste ich geduldig abwarten, ob er damit anfing, oder ich musste einfach selbst etwas sagen.

»Ich war vierzehn«, brach es aus mir heraus.

Lincolns Augen blitzten zu mir auf und er hielt einen Augenblick in seiner Bewegung inne, dann zerlegte er einfach weiter das Hähnchen.

»Okay.«

»Ich weiß, dass dir Dad davon erzählt hat«, sagte ich abwehrender, als ich vorgehabt hatte.

Wieder schaute er kurz auf. »Wir sind uns zufällig über den Weg gelaufen, ja.« Schnipp, schnipp, schnipp.

»Und?«, fragte ich mit zunehmender Verwirrung. »Willst du mich nicht danach fragen?«

»Möchtest du denn, dass ich Fragen stelle?« Er warf das Hühnerfleisch in die Pfanne, wo es anfing zu brutzeln und zu dampfen.

»Was soll das heißen?«, fragte ich und klemmte mir einige Haarsträhnen hinter die Ohren.

»Es heißt, dass es einen guten Grund geben muss, weshalb du mir nicht schon vorher davon erzählt hast. Wenn dieser Grund noch steht, dann möchte ich nicht, dass du dich verpflichtet fühlst, es mir zu erzählen, nur weil dein Dad nebenbei etwas erwähnt hat. Wir haben alle unsere Geheimnisse, Violet. Glaub mir. Wir alle haben Dinge, über die wir nicht sprechen können.«

Er fuhr mit dem Kochen fort, aber dann blickte er wieder auf. »Jedenfalls machst du das mit deinen Haaren« – er zeigte auf sein Ohr – »nur wenn du dir Sorgen machst. Wenn du nervös bist.«

Wow. Damit hatte ich nicht gerechnet. Plötzlich wusste ich gar nicht mehr, was ich sagen sollte. Ich meine, ich hatte nicht gewollt, dass er es erfuhr. Ich wollte nicht, dass irgendjemand davon wusste. Aber da es nun einmal so war, fühlte es sich komisch an, wenn ich nicht so viel wie möglich erklärte. Und … wenn ich jemals gewollt hätte, dass jemand davon erfährt, wäre es ohnehin er gewesen. Nun wusste ich also nicht weiter, weil ich eigentlich nichts sagen wollte … aber ich sagte trotzdem etwas.

Lincoln holte die frische Pasta aus dem kochenden Wasser und begann, sie mit dem Huhn zu vermischen. Dann fügte er Zitrone, Feta und eine Menge Basilikum hinzu. Der Duft erfüllte den Raum und ich lächelte, denn ich erinnerte mich an die Zeit, als er versucht hatte, Basilikum in Blumentöpfen zu ziehen, und kläglich scheiterte. Innerhalb weniger Wochen hatte er alle drei Pflanzen eingehen lassen, was mich zu hysterischen Lachanfällen veranlasste. Bis heute wurde er noch sauer deswegen, was mich noch immer zum Lachen brachte.

Wir setzten uns an den Tisch und er gab mir eine Gabel. Ich beobachtete ihn beim Essen. Er beobachtete mich beim Herumstochern. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht viel hinunterbekam. Aber er beschwerte sich nicht, sondern räumte einfach die Teller ab und kam mit einer Tasse Kaffee zurück, von der sich meine Hände wie Magneten angezogen fühlten. Irgendetwas hatte der bittersüße Geruch von gerösteten Kaffeebohnen an sich, was mich an die Zeit erinnerte, als ich noch ein kleines Mädchen war, als Dad es tatsächlich noch nach Hause schaffte, bevor ich eingeschlafen war. Er hatte immer nach Kaffee und mehrere Tage altem Rasierwasser gerochen, was die reine Glückseligkeit für mich gewesen war. Sobald ich herausgefunden hatte, wie man Wasser aufsetzt, hatte ich begonnen, Kaffee zu trinken.

Schließlich blickte ich von meiner Tasse auf. »Ich möchte, dass du es weißt.«

Er schaute mich an, meine Finger schlossen sich fest um die Kaffeetasse, unter dem Tisch wippte mein Knie.

»Bist du dir sicher?«

Ich nickte und zwang mich zur Ruhe, konzentrierte mich darauf, einen Punkt zu finden, der mir gerade genug Abstand ließ. Es begann immer auf dieselbe Weise – ich wählte einen Punkt und konzentrierte mich darauf; in diesem Fall meine Kaffeetasse. Dann holte ich tief Luft und beruhigte mich, damit ich meinen Tonfall beibehalten konnte und nicht zusammenbrach und wimmerte, wenn ich anfing zu sprechen.

»Wer war es?«, fragte er leise.

»Ein Lehrer von meiner alten Schule.«

»Was ist passiert?«, wagte er sich vorsichtig vor.

»Er hat mich nach dem Unterricht zu sich gerufen, um einen Aufsatz zu besprechen, den ich verhauen hatte.« Und indem ich einfach meine Gedanken dorthin schweifen ließ, indem ich ihnen diese Freiheit gewährte – was selten passierte –, war ich plötzlich wieder vierzehn, gefangen in diesem Klassenzimmer, und versuchte kläglich, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Ich konnte fühlen, wie sich seine Finger in meine Arme gruben, als er mich nach unten drückte, konnte die unbarmherzige Absicht in seinen Augen sehen; konnte das billige, scharfe Rasierwasser riechen, das sich mit dem Geruch seiner glitschigen, verschwitzten Haut mischte.

»Egal«, sagte ich rasch, weil ich versuchte, mich von den Bildern loszureißen. »Eine Lehrerin kam herein. Das war eigentlich seltsam. Sie arbeitete auf der anderen Seite des Schulgebäudes und konnte sich später nie wieder daran erinnern, warum sie den ganzen Weg herübergekommen war. Sie sagte, sie hätte nur gewusst, dass etwas nicht stimmte, und hätte sich veranlasst gefühlt, das Klassenzimmer zu überprüfen.«

»Moment mal. Sie sagte, sie hätte sich veranlasst gefühlt? «, fragte Lincoln mit großen Augen.

»Ja, etwas in der Richtung.«

»Jemand hat eingegriffen«, sagte er eher zu sich selbst und schüttelte den Kopf, als könnte er das nicht verstehen. Als er mein fragendes Gesicht sah, wich er aus. »Was ist passiert – ich meine … mit ihm?«

»Er verlor seinen Job und darf nie wieder mit Kindern arbeiten.«

»Deshalb hattest du gerade die Schule gewechselt, als wir uns kennenlernten.«

»Genau.« Dass ich Stephs Freundin wurde und Unterricht im Kickboxen bei Lincoln nahm, hatte mir wieder Hoffnung gegeben. Es war mir zu peinlich, vor ihm zuzugeben, dass mich, bevor sie in mein Leben getreten waren, das absolute Nichts umgeben hatte und dass ich mir nicht sicher war, ob ich dem je entkommen würde.

Er schwieg eine Zeitlang, aber ich konnte hören, dass er tiefer atmete, wie immer, wenn er sich aufregte. Dann kam die Frage, die ich erwartet hatte. Zumindest versuchte er, sie zu stellen.

»Vi … hat … hat er?«

Es ist nicht so einfach, jemanden rundheraus zu fragen, ob er vergewaltigt wurde. Man sollte meinen, dass das einfach nur eine Frage ist, aber sie auszusprechen ist etwas ganz anderes. Ich hatte die grässliche Erfahrung gemacht, eine Menge Leute dabei beobachten zu müssen, wie sie versuchten, den Mut aufzubringen, diese Frage zu stellen. Selbst Leute, bei denen man davon ausging, dass sie sachlich bleiben würden, schafften es nicht.

»Nein. Ich meine, er wurde rechtzeitig aufgehalten, aber …« Ich stand auf. »Ich hole noch Kaffee«.

Als ich zu ihm auf die Couch kam, legte Lincoln den Arm um mich und zog mich einen Augenblick lang an sich. Ich entspannte mich, lehnte meinen Kopf an seine Brust und akzeptierte, was er mir auf seine Weise sagen wollte – ich war sicher.

Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie mir hinter das Ohr; dabei redete er ruhig auf mich ein, wobei sein warmer Atem über meinen Hals strich. Er roch nach Kaffee mit Zucker. »Ich verspreche dir, dass er dir nie wieder etwas antun wird. Du bist … ich werde ihn niemals in deine Nähe lassen«, flüsterte er. Ich glaubte ihm. Auch wenn wir nur befreundet waren, wusste ich, dass es stimmte. Er kannte und verstand mich in einer Weise, wie niemals jemand es zuvor überhaupt versucht hatte. Er hatte immer verstanden, dass ich das Bedürfnis hatte, stark zu sein, dass ich vor nichts davonlaufen konnte – auch wenn er bis heute niemals vollkommen verstanden hatte, warum. Er hatte das nie infrage gestellt oder dafür gesorgt, dass ich mir blöd vorkam. Stattdessen half er mir und machte mich stärker.

»Linc?«

»Ja.«

»Wegen der anderen Sache, die mein Dad angesprochen hat.« Ich wand mich.

»Was sollte er sich denn sonst dabei denken?«, fragte er. In seinem Tonfall lag ein Lächeln. »Du bist die ganze Zeit hier. Entweder wir trainieren oder du bist einfach so da. Es überrascht mich, dass er mich nicht schon früher verwarnt hat. Schön zu sehen, dass er aufpasst.«

Und damit beendete er das Thema – schlicht und einfach. Aber dadurch fand ich ihn nur umso begehrenswerter und musste mich selbst fragen, was ich mir denn sonst dabei denken sollte.

KAPITEL VIER

»Im Laufe eines Jahres gibt es ebenso viele Nächte wie Tage, und die einen dauern gesamthaft gesehen ebenso lange wie die anderen. Auch das glücklichste Leben ist nicht ohne ein gewisses Maß an Dunkelheit denkbar, und das Wort Glück würde seine Bedeutung verlieren, hätte es nicht seinen Widerpart in der Traurigkeit.«

C. G. JUNG

 

Ich füllte eine Farbwanne mit Grundierung und machte mich an meiner Wand zu schaffen. So gern ich auch weiterhin auf der Couch herumgelungert wäre – der Kontrollfreak in mir hatte schließlich gewonnen. Im Moment war das der beste Ort für mich – mit dem Gesicht zur Wand, der Welt den Rücken zugekehrt. Das ist einer der Gründe, warum ich so gern male.

Ich fand in einen guten Rhythmus. Aber selbst das gleichmäßige Tempo konnte meine Erinnerungen nicht beiseiteschieben. Tränen strömten mir lautlos über das Gesicht. Ich hasste es, dass mir das passieren konnte. Immer noch.

Ich streckte mich nach oben und begann, die Geduld zu verlieren. Ich fühlte, wie alles in mir hochkochte, dann legte sich eine Hand auf meinen Arm und mein ganzer Körper fuhr vor Angst zusammen. Das war ein Reflex, den ich nicht verhindern konnte, und ich hasste mich dafür, dass ich ihn hatte. Es war der Reflex eines Opfers.

Lincolns Hand ließ mich nicht los. Stattdessen wanderte sie an meinem Arm herunter und nahm mir vorsichtig den Pinsel aus der verkrampften Hand.

»Ich mache das.«

»Schon okay. Ich kann …«

Aber er schnitt mir das Wort ab, indem er um mich herumkam, um mich anzuschauen. Ich konnte ihm nicht in die Augen blicken. »Ich werde auf dich aufpassen.« Er strich mir über das Haar und ich atmete bebend aus, vor Angst, die Fassung zu verlieren. »Bitte, nur heute Abend. Bevor …«, sagte er in kaum mehr als einem Flüstern. Ich schaute auf und mein Blick blieb an der Intensität seiner leuchtend grünen Augen hängen. Als Reaktion darauf schien mein Körper zu schmelzen. Die letzte der Erinnerungen verblasste.

»Bevor was?«, murmelte ich.

Er blinzelte und trat zurück. »Nichts. Hast du schon entschieden, was du malen wirst?« Er stieg auf den Hocker.

Ich setzte mich auf den Boden und schaute zu, wie er die Wand fertig grundierte, bei jedem Pinselstrich spannten sich die Muskeln seiner braun gebrannten Unterarme an. Alles wurde besser, wenn ich einfach nur bei ihm war. Das war immer so. Ich hatte noch nicht endgültig entschieden, was ich malen würde, aber es sollte ungefähr so aussehen, wie sich Lincolns Zuhause für mich anfühlte. Außerdem wollte ich wohl auch, dass er wusste, welche Gefühle er in mir auslöste.

»So ungefähr. Es wird so etwas wie eine … Aura werden, denke ich.«

Er schaute auf mich herunter und zog eine Augenbraue hoch. »Erklär es mir.«

»So etwas wie: Obwohl irgendwelche Mächte von außen auf die Wände drücken, fühlt man sich hier drin wie in einem Kokon des Guten. Als würde man nach Hause kommen.« Ich spürte, dass er lächelte, was mich ermutigte, fortzufahren. »Wenn ich darüber nachdenke, wie andere es sehen würden, stelle ich mir vor, dass sie eine gute Macht sehen, die die Mächte des Bösen überstrahlt und diesen Ort beschützt.« Lincoln fiel beinahe von seinem Hocker. Er sprang mit bestürztem Gesicht zu Boden.

Ich versuchte ihn zu beruhigen. »Mach dir keine Sorgen! Es wird dezent und zart werden, aber trotzdem nicht mädchenhaft. Es wird dir echt gefallen.« Ich machte mir Sorgen, dass ich gerade dabei war, meine Wand zu verlieren, noch bevor ich überhaupt angefangen hatte, deshalb fügte ich rasch hinzu: »Wenn es dir nicht gefällt, streiche ich sie wieder weiß für dich. Versprochen!«

»Nein … Nein, das klingt großartig – um nicht zu sagen perfekt. Ich war nur überrascht. Zu hören, dass du es so erklärst. Die Sache mit Gut und Böse. Denkst du … viel darüber nach? Über Gut und … Böse?«

Erleichtert stieß ich den Atem aus. Ich hatte meine Wand noch.

»Ähm … keine Ahnung. Nicht wirklich. Ich weiß echt nicht, was ich von diesem ganzen Thema Gott halten soll.« Obwohl ich das wusste, wenn ich ehrlich war. »Du weißt, dass ich nicht religiös bin.«

Wie konnte ich an Gott glauben? Was für ein Mistkerl würde mich im Moment meiner Geburt mutterlos zurücklassen? Würde mich in einem Zimmer allein lassen mit einem Perversling, der für immer durch meine Gedanken spuken würde? Und ich spreche hier nur von mir – vom Rest der Welt will ich gar nicht erst anfangen. Gott? Der ist nur etwas für die besonders Verlorenen, die ihn infrage stellen können, und für die besonders Berufenen, die ihn loben können.

Er nickte, als hätte er all die Dinge, die ich nicht gesagt hatte, gehört. »Ich auch nicht. Aber ich glaube, dass gute und böse Mächte in unserer Welt wirken und … darüber hinaus. Ich glaube, dass zwischen uns und dem ›Thema Gott‹« – er wackelte mit den Fingern, um Anführungszeichen anzudeuten – »sozusagen eine weitere Ebene liegt.«

»Eine weitere Ebene?«, fragte ich.

»Einfach …« Er bewegte seine Hände, als würde er überlegen, ob er fortfahren sollte oder nicht. »Weitere Bereiche … weitere Wesen.«

»Tatsächlich?«, sagte ich ein wenig irritiert. »Was haben immer alle mit diesem jenseitigen Kram?«

»Wie? Hat sonst noch jemand mit dir geredet?«, fragte er und machte plötzlich einen Schritt auf mich zu.

»Nein … na ja, irgendwie schon. Meine Mum hat auch an Geister oder so etwas geglaubt.«

»Oh«, sagte er, wobei er ausatmete und wieder ein bisschen zurückwich.

»Und?«, ermunterte ich ihn, erpicht darauf, ihn vom Thema meiner Mutter abzulenken. »Glaubst du, dass diese anderen Wesen, oder was auch immer, gut sind?«

»Vielleicht. Aber alle Dinge brauchen ihr Gegengewicht. Du weißt schon, Licht und Dunkelheit, Sonne und Mond, Yin und Yang … Wo es also Wesen gibt, die Gutes hervorbringen, muss es auch solche geben, die das nicht tun.«

»Du meinst, das Böse?«, fragte ich ihn verwirrt.

»Vielleicht ist es nicht ganz so eindeutig. Vielleicht bedingt das Vorhandensein einer Sache – Licht oder Dunkelheit – die Existenz der anderen. Denk mal darüber nach, niemand kann ein Superheld werden, wenn er nicht zuerst gegen die Mächte der Finsternis gekämpft hat. Ärzte könnten nicht Gutes tun, wenn es keine Krankheiten gäbe, die sie behandeln könnten.« Sein Blick war fest auf mich gerichtet, als wollte er unbedingt, dass ich ihn verstehe. Als er bemerkte, dass nichts von mir kam, stieß er ein halbherziges Lachen aus. Dann streckte er lächelnd seine Hand aus, um mich vom Boden hochzuziehen.

Ich stand auf und nahm ihm den Pinsel aus der Hand. »Ist es okay, wenn ich sage, dass ich absolut keine Ahnung habe, wovon du sprichst?«

»Das wirst du schon noch«, sagte er leise und ging in Richtung Küche, bevor ich sein Gesicht sehen konnte.

Nachdem er mir geholfen hatte, die Pinsel sauberzumachen, und ich ihm geholfen hatte, die Küche aufzuräumen, schnappte ich mir meine Tasche und er schnappte sich gleichzeitig seine Schlüssel, dabei nahmen wir uns beide kurz Zeit, um uns gegenseitig anzulächeln. Ich mochte, was wir da hatten – was immer das war. Wir brauchten keine Worte; wir hatten unsere eigene kleine Routine. Ohne zu fragen, wusste ich, dass er mich nach Hause fahren würde, und er wusste, ohne zu fragen, dass ich ihm das erlauben würde.

Als er sein Allradantrieb-Auto vor unserem Wohnblock zum Stehen brachte, stellte er den Motor ab und wandte sich mir zu.

»Es geht mir gut«, sagte ich, bevor er fragen konnte.

Er nickte und lächelte finster. »Gehst du morgen früh laufen?«

»Ich bin schon früh mit Steph zum Shoppen verabredet. «

Zum ersten Mal war ich froh, dass ich eine gute Ausrede hatte, keinen Zehnkilometerlauf zu machen.

Lincoln stieß ein mildes Gelächter aus. »Aha, Geburtstags-Shopping. «

»Ja, aber fang gar nicht erst an damit. Ich verlasse mich darauf, dass der Tag ohne irgendwelche besondere Aufmerksamkeit von deiner Seite vorübergeht.«

»Ich verspreche dir, dass ich noch nicht mal freundlich zu dir sein werde.«

Er log.

»Gut«, sagte ich, was ebenfalls gelogen war.

KAPITEL FÜNF

»Bist du bereit für dein Schicksal?«

WILLIAM SHAKESPEARE

 

»Es wird Zeit, dass du es erfährst.« Die Worte hingen in der Luft, sie umgaben mich förmlich, noch bevor sie mich erreichten.

»Dass ich was erfahre?«, fragte ich, denn mir fehlte der Zusammenhang.

»Wer du bist.«

Der Mann in meinem Traum kam auf mich zu. Ich erkannte ihn nicht, aber er kam mir bekannt vor. Sein Gesicht schien um eine ausgeprägte Kieferpartie herum angelegt zu sein. Ich hätte gesagt, er sei gut aussehend, wenn da nicht seine Augen gewesen wären. Sie waren so distanziert. Durch sie wirkte er anders, entrückt.

»Und wer bin ich?«

Ich trug Jogginghosen und ein ehemals weißes T-Shirt, das jetzt eher einer Farbpalette ähnelte. Vor mir stand eine Staffelei mit einer Leinwand. In der Hand hielt ich einen Pinsel.

»Du bist du und du bist ich. Du bist der Keshet.«

Er stand am Fenster meines Ateliers und schaute hinaus zum bewölkten, grauen Himmel. Er schien enttäuscht zu sein von dem, was er sah. Für mich war das normal. Das Wetter in meinen Träumen ist immer ein bisschen trist.

»Ich bin du?« Meine Stimme hallte wie eine Glocke. Meine Worte schienen, genau wie seine, unsichtbar und schwerelos zwischen uns zu schweben.

»Teilweise. Aber du bist zum Teil auch menschlich.«

Meine Hand strich abwesend über die Leinwand.

»Du bist nicht menschlich?« Es roch nach Blumen. Ich kannte diesen Duft gut. Ich liebte Lilien, vor allem weiße. Sie waren stark und schön. Ich hatte mich immer von ihnen angezogen gefühlt.

»Nein.«

»Was bist du dann?«

Er glitt auf mich zu. Ich kam gar nicht auf die Idee, auszuweichen.

»Die Frage ist nicht, was wir sind, sondern vielmehr, was aus uns werden wird.«

Er streckte seine Hand aus, den Zeigefinger erhoben.

»Was machst du da?«, fragte ich.

»Ich erwecke dich!« Sein Finger verwandelte sich in eine löwenartige Kralle und schlug nach mir. Ich stolperte zurück.