Gebannt - Jessica Shirvington - E-Book

Gebannt E-Book

Jessica Shirvington

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gefallene Engel, dunkle Mächte und eine Liebe, die nicht sein darf

Seit Violet an ihrem 17. Geburtstag erfuhr, dass sie eine Grigori, ein Wächterengel, ist, hat sich ihr Leben schlagartig geändert. Ihr langersehntes Glück mit Lincoln ist in Gefahr und auch der Kampf gegen die dunklen Mächte, allen voran gegen Phoenix, ist noch lange nicht vorbei. Er gelangt in den Besitz der verloren geglaubten Schrift der Verbannten. Wird es ihm nun gelingen Lilith, die Mutter der Finsternis, aus der Hölle zu befreien? Allein Violet kann ihn jetzt noch aufhalten, doch es ist ein Wettlauf gegen die Zeit …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 592

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Alle deutschsprachigen Rechte vorbehaltenDie Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Emblaze« bei Hachette Australia, Sydney.© 2011 by Jessica ShirvingtonPublished by arrangement with Jessica ShirvingtonDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Aus dem Amerikanischen von Sonja HäußlerUmschlaggestaltung: © Birgit Gitschier, Augsburg unter Verwendung eines Motivs von Konrad Bak / Shutterstockjb · Herstellung: AnGSatz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN 978-3-641-07993-2V003
www.cbt-jugenbuch.dewww.penguinrandomhouse.de

Die Autorin

Foto: © privat

Jessica Shirvington hat eine Kaffeeimportfirma gegründet und geleitet und nebenbei zu schreiben begonnen. Nach »Erwacht« und »Verlockt« erscheint mit »Gebannt« nun der dritte Band ihrer erfolgreichen Engel-Saga. Jessica Shirvington lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Sydney. Neben ihrer Familie widmet sie sich nun ganz dem Schreiben.

Weitere lieferbare Titel von Jessica Shirvington beicbt:

Erwacht (38011)

Verlockt (38018)

Für Matt

»Denn Gott hat selbst die Engel, die gesündigt hatten, nicht verschont, sondern hat sie in die finsteren Höhlen der Unterwelt gestoßen, damit sie dort bis zum Gericht festgehalten werden.«

2. Petrus 2,4

Prolog

»Und wenn es kommt, dass ich Wetterwolken über die Erde führe, so soll man meinen Bogen sehen in den Wolken. Alsdann will ich gedenken an meinen Bund…«

1. Mose 9,14

EVELYN

Sie musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er da war. Es war lange her, dass sich Evelyn ausschließlich auf ihre Augen verlassen musste.

Sie stieß einen letzten markerschütternden Schrei aus, einen Schrei, mit dem sie zu gleichen Teilen ihre Erleichterung und Freude, aber auch ihre Verzweiflung und ihren Schmerz herausschrie. Es war vollbracht– ihre höchste Freude war nun zum Greifen nahe, gleichzeitig stand ihr jedoch ihr größtes Opfer bevor.

»Es ist ein Mädchen«, sagte die Hebamme und legte ihr das Baby in die Arme.

Evelyn starrte auf das winzige Baby hinunter und fragte sich, wie sie die Stärke aufbringen sollte, es loszulassen.

»Sie ist perfekt, Eve. Sie sieht genau wie du aus. Meine beiden wunderschönen Engel«, sagte James.

Er weinte noch immer. Seit der ersten Wehe war er ein heulendes Häufchen Elend gewesen, aber seine Worte ließen die erste stille Träne aus Evelyns Auge quellen. Liebevoll wischte er sie ab.

»Ich wusste, du würdest weinen«, neckte er sie, während sein Blick zwischen seiner Frau und seiner Tochter hin- und herwanderte. Sanft strich er dem Baby über die Stirn.

Evelyns Herz zog sich zusammen. Sie war nicht darauf gefasst gewesen, ihn zu verlassen. Sie war immer davon ausgegangen, dass sie ihn überleben würde. All die Zeit, die sie damit verbracht hatte, sich zu überlegen, wann sie ihm endlich alles sagen würde– wie sie erklären sollte, dass er immer älter werden würde, während man ihr das Älterwerden kaum ansehen würde. Vertane Zeit.

Sie blickte auf ihre Tochter hinunter, die ein wenig die Augen öffnete. Jetzt war es ihre Entscheidung, ob er es je erfahren würde.

Evelyn zog James’ Hand an ihren Mund und küsste sie, wobei sie ihre Lippen auf seiner Haut verweilen ließ. Sie atmete seinen Vanilleduft ein und übergab ihn ihrer Erinnerung. Sie wünschte, sie hätten mehr Zeit, aber sie spürte die Magneten der Macht um sie herum. Sie konnte es nicht mehr viel länger ignorieren.

»James, ich würde mich gern kurz frisch machen.« Es war ihre letzte Lüge, und trotzdem hasste sie es. Ihren Mann zu belügen war ihr schon immer schwergefallen.

Er küsste sie rasch. Es ging zu schnell.

»Bin gleich wieder da, ›Mum‹«, sagte er augenzwinkernd, bevor er ging. Es zerriss ihr das Herz zu wissen, dass sie dieses Wort nur ein einziges Mal hören würde.

Allein mit ihrer Tochter küsste Evelyn sie auf ihr perfektes Köpfchen. Sie hatte bereits einen vollen Haarschopf, dunkelbraun wie Evelyns, und sie roch… so unglaublich gut. Es war ein Duft, in dem sie sich für alle Ewigkeit verlieren könnte. Sie wünschte, sie könnte sie für immer so halten, ihren Duft einsaugen und mit ihren winzig kleinen Fingern spielen.

Doch sie wusste… Sie waren nicht wirklich allein.

»Habe ich dir die Träume zu verdanken?«, fragte sie in den leeren Raum.

Er materialisierte sich, eine körperliche Gestalt, die die mächtige Präsenz bestätigte, die sie bereits gespürt hatte. Es war, als wäre er schon immer da gewesen. Sie spürte ihn mit ihrem ganzen Körper. Sie hatte sie schon immer spüren können. Sie konnte sie auch riechen. Sie rochen immer nach Blumen, aber er duftete ausschließlich nach Lilien.

Und sie wusste: Lilien besaßen alle Macht.

Unnötigerweise stellte er sich vor. Sie wusste genau, wer er war und weshalb er hier war. Er hatte sie jetzt schon seit Wochen in ihren Träumen heimgesucht.

Er stand am Fenster, das auf einen kleinen Park hinausging. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er die Welt regelmäßig besuchen konnte, aber diese Zeit war längst vergangen. Er wollte während seines kurzen Besuchs wenigstens das Gras und den Himmel sehen.

Sie wussten beide, wie es funktionierte. Neues Leben und neuer Tod ähnelten einem Tor.

»Ist dir klar, was du von mir verlangst?«, fragte sie.

»Ja.«

»Was wird aus ihr werden?«

»Der Keshet.« Er sagte das mit einer Ehrfurcht, die Evelyn nervös machte.

»Der Regenbogen?«, wiederholte sie, weil sie das hebräische Wort kannte.

Er nickte. »Der Bogen, der unseren Pfeil hält. Die Verbindung zwischen den Reichen.«

»Der Bogen«, flüsterte Evelyn vor sich hin. »Warum sie? Warum ich?« Es schien nicht fair zu sein– sie hatte schon so viel gegeben.

Er spürte ihren Schmerz.

»Durch dich ist sie bereits mehr als menschlich. Sie ist einzigartig. Vielleicht wird es nie wieder jemanden wie sie geben.«

Evelyn schüttelte ungläubig den Kopf, auch wenn sie wusste, dass er die Wahrheit sagte.

»Du weißt bereits, dass ich zustimmen werde, sonst wärst du nicht hier«, sagte sie resigniert, dann atmete sie stockend ein. Sie musste stark bleiben. »Gibt es etwas, was du nicht weißt?«

»Ich weiß nicht, was sie wählen wird.«

Evelyn umkreiste das Gesicht des Kindes mit dem Finger– so weich, so unschuldig. »Sie wird mit dem Herzen wählen.«

»Dann lass uns hoffen, dass sie Liebe findet«, sagte er.

Sie hob den Kopf und klang jetzt bestimmter. »Ich habe Bedingungen.«

Er wusste bereits, welche es waren, er hatte sie in ihren Träumen mit ihr diskutiert.

»Sie werden akzeptiert, wenn du bereit bist, den Preis zu zahlen. Hast du es?«

Sie nickte, dann griff sie unter die Decke und zog eines ihrer silbernen Armbänder hervor. Sie streifte es sich vorsichtig über den Arm, während sie das Baby wiegte, und zog die Augenbrauen nach oben. Sie hätte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde.

»Ihr braucht sie wirklich.«

Als stumme Bestätigung, begleitet von Gewissensbissen, neigte er den Kopf. Es war schwer für ihn, ihr Versagen zuzugeben. Einzugestehen, dass sie sich an Menschen wenden mussten, um diese Opfer zu bringen, weil sie ihre eigenen Kräfte nicht kontrollieren konnten.

»Schwöre, dass du dafür sorgen wirst, dass sie das Amulett trägt.« Evelyn stemmte sich mit einer Hand ein wenig hoch, um sich hinzusetzen. Dabei fühlte sie, wie die Kraft sie verließ. Sie ignorierte es so gut es ging und konzentrierte sich wieder auf ihre Tochter.

»Du hast sie besiegt, es ist nicht sicher, dass sie zurückkehren wird«, sagte er.

»Schwöre es!« Sie würde darauf bestehen, sie hatte zu viel gesehen, zu heftig gekämpft.

»Ich schwöre«, gab er nach, wobei er von ihrer Intuition ebenso beeindruckt war wie von ihrem Opfer.

Sie schüttelte den Kopf und schwieg, bis ihr schließlich eine Träne über die Wange lief und sie flüsterte: »Nur ein weiteres Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird.«

Er riss sich von der Aussicht los und ging auf sie zu. »Nicht irgendein Lamm. Du vergisst– du bist auch ein Halb-Engel.«

»Wann?«, fragte sie, obwohl sie es bereits fühlen konnte.

»Jetzt.«

»Ich bin 187 Jahre alt. War es das alles wert?«

Sie sahen beide das Baby an.

»Sag du es mir«, sagte er und war überrascht darüber, welche Wirkung die Nähe des Kindes auf ihn hatte.

Evelyn wusste, dass ihr nur noch Minuten blieben. Sie legte die Hand auf den Knopf, um die Krankenschwester zu rufen.

»Gib mir einen Moment mit meiner Familie. Geh dorthin, wo ich dich nicht wahrnehmen kann. Ich will dies als Mensch zu Ende bringen.«

»Du glaubst noch immer an die Menschheit, nach allem, was du gesehen hast?«

Der Herzfrequenzmonitor fing an, hektisch zu piepsen. Evelyn küsste den Kopf des Babys und atmete wieder und wieder seinen Duft ein, während sie auf den Alarmknopf drückte.

»Nur ein Mensch kann solche Wunder erleben, ganz egal wie kurz. Ich würde euch nicht mein Leben schenken und ihr Schicksal in eure Hände legen, wenn ich nicht daran glauben würde.«

»Ich werde mit dir reisen, bis zu einem gewissen Punkt, wenn du das willst«, bot er an.

Sie konnte ihre Furcht nicht verleugnen. »Begleitung wäre schön.«

Die Türen flogen auf, die Hebamme kam hereingestürzt, gefolgt von dem Arzt und von James.

Die Hebamme konnte ihren Schrecken nicht verbergen, als sie die Laken sah, die jetzt rot waren. Sie begann, das Bettzeug wegzuziehen, während der Arzt versuchte, die Blutung in den Griff zu bekommen, doch Evelyn wusste, dass ihm das nicht gelingen würde.

James’ Gesicht war totenbleich geworden. Evelyn hielt ihm das ordentlich verschnürte Bündel Leben hin. Seine Arme bebten, als er das Baby nahm. Er wusste, dass es schlimm war. Er sah es in ihren Augen.

Evelyn betrachtete ihn, genoss die letzten Momente mit ihm.

»Sagen Sie mir, was da gerade passiert!«, bettelte James, der verzweifelt versuchte, den allzu ergebenen, leuchtend blauen Augen seiner Frau auszuweichen.

Der Arzt antwortete nicht und rief stattdessen nach mehr Leuten.

Es war zu spät.

»James«, sagte sie, aber er konnte sie nicht ansehen.

Sie versuchte es wieder, ganz leise. »James, ich habe mir einen Namen überlegt.«

»Was?«, fragte er mit bebenden Lippen.

»Sie ist das Herz des Keshet, James. Sie ist Violet.« Das war alles, was sie aufbringen konnte. Das Beste, was sie als Erklärung für das, was vor ihnen lag, bieten konnte. Sie hatte ihm zuvor bereits Geschichten vom Regenbogen erzählt. Sie hoffte, er würde sie eines Tages Violet erzählen.

»Violet.« Er nickte und wischte sich über sein tränenüberströmtes Gesicht.

»Schon gut«, versicherte sie.

James blickte den Arzt an und sah wie aus weiter Ferne, dass er ein leichtes Kopfschütteln erwiderte. Sein Herz sank in eine Tiefe, die er nie zuvor gekannt hatte.

»Ich liebe euch beide.«

»Wir lieben dich, Evelyn«, flüsterte James.

Er war von dem Moment, als es vorbei war, für sie da, und er blieb während der Reise bei ihr. Später kehrte er zu dem Kind zurück, das Evelyn Violet genannt hatte, und ließ den Teil von sich selbst bei ihr, den er nur einmal geben konnte.

Alles, was er jetzt tun konnte, war… warten.

Kapitel Eins

»Die Erinnerung kann ein Paradies sein, aus dem wir nicht vertrieben werden können, aber ebenso eine Hölle, der wir nicht entkommen können.«

John Lancaster Spalding

Sanfte schwarze Linien bluteten aus mir heraus– meine Seele sprach zu mir, eine verzweifelte Bitte um Erlösung. Kohle war nicht mein bevorzugtes Medium, aber neuerdings schien es mir angemessen. Ich stand mit dem Rücken zum Fenster, und die Sonne zeichnete einen hellen Schein um meinen Schatten, der auf das verbleibende Weiß meiner Leinwand fiel. Darüber hinaus schnitt die Kohle kräftigere, schärfere Linien, während ich mich in meine Arbeit vertiefte und mich darin verlor. Diese Wirkung hatte die Kunst auf mich– sie ließ die Zeit beinahe stillstehen.

Beinahe.

Ich hatte mich verändert, auch wenn ich mich bemühte, es nicht zu zeigen. Mich selbst konnte ich nicht täuschen. Das Einzige, was ich tun konnte, war, mich an die Regeln zu halten. Das war das einzig Mögliche. Schule, Training– und Nachforschungen, wenn ich dazu in der Lage war. So hatte ich das Gefühl, die Kontrolle zu behalten, was nie so wichtig gewesen war wie jetzt– und nie so zerbrechlich. Die vergangenen Ereignisse hatten Tatsachen geschaffen, die wir nicht verleugnen konnten. Phoenix hatte, was wir wollten, und wir hatten das, wofür er bereit war, alles zu tun, um es zu bekommen. Und wenn ich dabei sterben sollte? Na ja, er würde das wahrscheinlich als wohlverdienten Sieg betrachten.

Das hieß nicht, dass ich es ihm leicht machen wollte. Wenn die Grigori-Schrift in den Händen der Verbannten bliebe, würde eine unfassbare Zahl unschuldiger Leben auf dem Spiel stehen. Also blieb uns nichts anderes übrig, als auf seinen vorgeschlagenen Handel einzugehen. Das war alles andere als ideal. Wenn wir Phoenix die Schrift der Verbannten aushändigten, würde er etwas so Zerstörerisches tun, dass wir uns den Preis dafür nicht einmal ansatzweise vorstellen konnten.

Oder wie viele ihn bezahlen müssten.

Wie berechnet man den Preis, den man bezahlen muss, wenn die Mutter der Finsternis aus der Hölle aufersteht?

Ich schmeckte den Apfel– süß und jung–, roch die Blumen– so schwer von Pollen, dass die Luft ganz dick wurde. Ich zuckte zusammen, weil sie so nah waren, aber ich reagierte langsam, weil ich noch immer in meine düsteren Gedanken versunken war– die Kohlestriche waren jetzt starr und angestrengt. Auch das Flügelschlagen setzte ich zusammen mit dem Aufblitzen von Morgen und Abend auf meiner Staffelei um.

Endlich wurde ich durch Miss Kinkaids unverwechselbares Räuspern aufgeschreckt. Sie beugte sich über mein Kunstwerk. Ich brauchte nicht zu raten, weshalb.

»Ähm, Violet…«

Aber jetzt, wo ich mir meiner Umgebung wieder bewusst geworden war, begannen in meinem ganzen Körper die Alarmglocken zu schrillen.

Verdammt, nicht schon wieder.

Griffin würde verärgert sein.

»Miss Kinkaid, Sie müssen vom Fenster weggehen«, sagte ich und schnitt ihr das Wort ab, bevor sie mit ihrer Kritik anfangen konnte. Ich war bereits aufgestanden und holte ein paarmal tief Luft, um meine engelhaften Sinne zu beruhigen. Es war schon schlimm genug für normale Grigori, die einen, gelegentlich auch zwei Sinne hatten. Ich war die Erste, die über alle fünf verfügte– und das war mehr als anstrengend.

»Ich, na ja… wie bitte?« Sie schlug sich die Hand vor die Brust, als hätte ich gerade ihre schiere Existenz beleidigt.

Ich verdrehte die Augen.

Jedes Mal die gleiche Reaktion.

»Ja. Jetzt. Und ihr anderen auch!«, rief ich meiner Kunstklasse zu. Zum Glück waren wir eine relativ kleine Gruppe von fünfzehn Leuten. »Mit dem Rücken zur gegenüberliegenden Wand!«, befahl ich, während ich mein Handy schnappte, »BIU3« tippte, auf»Senden« drückte und es fallen ließ.

Bin im Unterricht, drei Verbannte unterwegs.

Ja, wir hatten uns sogar Abkürzungen für meine… Unaufmerksamkeit… einfallen lassen. Manchmal konnte ich nicht verhindern, dass ich meine Verteidigung sinken ließ– vor allem wenn ich malte, vergaß ich einfach alles andere.

Meine Mitschüler sahen mich an, als wäre ich ein Freak, und obwohl ich keine Zeit hatte, mich darum zu kümmern, ging es mir auf die Nerven.

Vielleicht weil sie recht hatten.

»Tut mir wirklich leid, aber bewegt euch! Alle!«, rief ich und fing an, die Leute buchstäblich von der einen Seite des Raumes auf die andere zu zerren– meine Kommilitonen rissen wegen meiner übermenschlichen Kraft Augen und Mund auf. Das Geschrei würde später losgehen, wenn ihnen klar werden würde, dass das alles kein dummer Scherz war. Momentan schafften es alle, einigermaßen cool zu wirken, nur für den Fall, dass es irgendwo eine versteckte Kamera gab. Ich konnte bereits sehen, dass Tristan Newland sein Handy hoch hielt.

Verbannte kamen hierher, sie waren schon fast da. Ich verfluchte mich selbst. Wenn ich meine Schutzschilde nur noch eine halbe Stunde aufrechterhalten hätte. Dann wäre ich außerhalb des Schulgeländes gewesen und diese ganze Angelegenheit wesentlich einfacher.

Die Sache ist, dass sich verbannte Engel an nicht viele Regeln halten müssen– oder sich darum scheren würden, sie einzuhalten. Während es schwierig für sie ist, Grigori– Engel-Menschen-Mischlinge wie mich– zu Hause aufzuspüren, was an den Schutzbarrieren liegt, die jedes Zuhause natürlicherweise hat, ist man als Grigori an allen anderen Orten, einschließlich der Schule, vogelfrei.

Ich zog meinen Pulli aus. »Die Fenster zerspringen gleich! Schließt die Augen!«, befahl ich meinen Mitschülern, die allmählich reagierten. Aber nur die Hälfte von ihnen nahm mich wirklich ernst und verbarg das Gesicht zwischen den Knien. Vielleicht glaubten sie, ich würde sie als Geiseln nehmen. Wahrscheinlich machte es auch keinen so guten Eindruck, dass ich meinen sehr tödlich aussehenden Dolch aus seiner »geblendeten« Scheide zog. Die Blendung diente der Tarnung, damit niemand auch nur ahnte, dass er dort war.

»Oh, du lieber Gott«, wimmerte Miss Kinkaid.

Doch es blieb keine Zeit, ihnen zu helfen, denn in diesem Moment krachten drei Verbannte mit der Wucht eines Güterzuges durch die Fenster. Fast das ganze Glas und das Holz darum herum regneten in das Zimmer und über alle, die sich dort befanden.

Angeber!

Ich sah, dass ein paar meiner Mitschüler von umherfliegenden Glasscherben getroffen wurden, aber das war nichts Ernstes. Noch nicht.

Drei gegen einen war schlecht. Drei gegen einen, der auch noch fünfzehn schutzlose Menschen verteidigen musste, war noch schlimmer. Ein weißhaariger Verbannter erblickte mich sofort und kam auf mich zugestürzt. Ich hatte weniger als eine Sekunde, um zu reagieren, weil ich wusste, dass ich nicht zulassen durfte, dass die anderen beiden an meinen Mitschülern ihre eigene Vorstellung von Kunst auslebten– Verstümmelung und Folter.

Als der Verbannte gerade neben mir landen wollte, ließ ich den Dolch fallen, rollte herum, wobei seine Faust mich nur knapp verfehlte, und hatte dadurch gerade genug Zeit, den nächsten rötlich-blonden Verbannten zu ergreifen und wie eine Bowlingkugel in den dritten zu schleudern, bevor sich der Weißhaarige wieder auf mich stürzte. Für diesen Schachzug musste ich bezahlen– mein Kopf schlug in das Pult neben mir und spaltete die Schreibfläche in zwei Hälften.

Der Weißhaarige warf mich zu Boden und setzte sich rittlings auf mich, dann bearbeitete er mein Gesicht mit den Fäusten. Das alles geschah innerhalb von Sekunden. Es gelang mir, mich so weit aus seinem Griff zu winden, dass ich ihm das Knie in den Bauch rammen konnte, dann kroch ich rückwärts und sprang auf die Füße.

Zwei weitere Gestalten sprangen durch das inzwischen glaslose Fenster und landeten elegant hinter den drei Verbannten. Sie zögerten nicht, zückten einfach ihre Dolche und stürzten sich ins Getümmel. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, dann schlug ich dem Verbannten, der sich mir näherte, die Faust ins Gesicht. Der Schlag hatte so viel Wucht, dass er gegen die Wand geschleudert wurde. Dadurch erhielt ich die Gelegenheit, mir meinen Dolch zu schnappen und auf die Kraft zuzugreifen, die tief unten in meiner Magengrube angesiedelt war. Ich beschwor sie herauf.

Mein unverkennbarer violetter Nebel hüllte den Raum ein, und ich lächelte, als er mich umgab. Die Verbannten hörten alle auf, sich zu bewegen, lahmgelegt durch meine Kraft und unfähig, sich zu wehren.

Ich spürte ein Rinnsal warmes Blut, das mir seitlich am Gesicht herunterlief. Das Aufschlagen auf dem Pult hatte wohl mehr Schaden angerichtet als vermutet.

»Hey, Leute«, sagte ich zu Beth und Archer und biss mir auf die Lippe.

Meine Mitschüler fingen an zu schreien oder zu weinen, was ich ihnen wirklich nicht verübeln konnte.

Beth und Archer zogen gleichzeitig die Augenbrauen nach oben. »Das ist das vierte Mal in fünf Tagen,Violet.«

Ich ging hinüber zu dem Weißhaarigen, der an der Wand zusammengesackt war. Er konnte mich hören und wenn nötig auch sprechen. Er beobachtete, wie ich mich ihm näherte, wusste, was ich ihm antun konnte. Genau dasselbe, was sie zu mir geführt hatte, sagte ihnen jetzt, wie mächtig ich war.

Ja, offensichtlich… ich strahlte das ja förmlich aus.

Er war jung. Nicht nur vom Aussehen, sondern auch von der Erfahrung her. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass er kaum mehr als ein Jahr hier war, was mehr war, als ich bei den anderen beiden schätzen würde. Ein jahrtausendelanges Engelleben bereitete sie nicht wirklich darauf vor, menschliche Gestalt anzunehmen. Dieser hier wirkte linkisch, als hätte sein Körper die falsche Größe. Wenig überraschend, dass er männlich war. Alle entscheiden sich, männlich zu sein, zumindest die meisten. Ihrer Meinung nach war das Männliche dem Weiblichen, dem schwachen Geschlecht ohne Macht, überlegen.

Idioten.

Der Verbannte sah nicht älter aus als ich, sein leuchtend weißes Haar stand nach oben. Er hatte eines von diesen Oma-Haarfärbemitteln benutzt und es hatte einen Lilastich bekommen. Ich hätte fast gelacht, als ich mir vorstellte, wie er menschlich geworden war und die Wochen danach damit verbracht hatte, mit Haarfarben herumzuexperimentieren.

Miss Kinkaid kam auf die Beine und lehnte sich zitternd wie ein neugeborenes Fohlen an die Wand, um Halt zu finden.

»V-V-Violet, leg… Leg diese W-Waffe weg. Wir müssen die… Polizei rufen«, sagte sie, wobei fast jedes ihrer Worte in einem schluckaufartigen Schluchzen unterging.

Ich seufzte. Das war nicht gut. Und selbst wenn wir das wieder hinkriegten– ich fragte mich, ob diese Menschen nicht später in ihrem Leben psychische Schäden davontragen würden. Griffin, der Anführer der Grigori in unserer Stadt, versichert zwar immer, dass das nicht der Fall sei, aber trotzdem…

Wenigstens waren die Kunsträume in einem separaten Gebäude untergebracht, sonst wäre inzwischen bestimmt schon die ganze Schule herbeigestürzt. Aber ich konnte hören, dass bereits Leute in unsere Richtung liefen.

»Ich wünschte, es wäre so einfach«, murmelte ich vor mich hin und ließ den Verbannten nicht aus den Augen, der mich mit einem Lächeln umgebracht und dann auch alle anderen im Raum getötet hätte. Verbannte sind nun mal gründlich.

»Willst du, dass ich einen Menschen aus dir mache?«, fragte ich, während ich einen Blick auf die anderen Verbannten warf. Bei einem direkten Angriff wie diesem war es nicht notwendig, dieses Angebot zu machen, und ich kannte ihre Antwort sowieso, aber ich hatte trotzdem das Bedürfnis, es auszusprechen.

Ja, total mitfühlend.

Der Verbannte antwortete nicht, er sah mich nur weiterhin an, als würde er sich gerade vorstellen, wie er mir den Kopf abreißt. Ich umklammerte meinen Dolch noch fester.

Archer räusperte sich. Leider wusste ich auch, warum.

Ich unterdrückte einen frustrierten Seufzer. »Hat jemand von euch eine Botschaft für mich?«, fragte ich und hielt mich damit an unsere neuesten Benimmregeln.

Der Verbannte zögerte nicht, um seine Worte abzuwägen, während die anderen einfach knurrten.

»Ich werde dich in jeder Hinsicht übertreffen! Ich bin mächtiger, als du dir vorstellen kannst, und wenn ich dich töte, werden sich die anderen vor mir verneigen!«, rief er, unfähig, den Zorn seiner menschlichen Gestalt in Schach zu halten, ein Gefühl, das sein vorheriges, körperloses Selbst nicht verarbeiten konnte. Er gab sich bereits seinen Wahnvorstellungen hin.

Nicht unbedingt die Botschaft, auf die ich gewartet hatte, aber gut genug.

Gleichzeitig mit Miss Kinkaids Schrei rammte ich ihm den Dolch durch die Brust und stellte sicher, dass es eine schnell tötende Wunde wurde. Der Dolch brauchte nicht durch das Herz zu gehen, es gab viele andere Stellen, die das Ende eines Verbannten bewirken würden. Das einzig Wichtige war, dass die Wunde mit einer Grigori-Waffe zugefügt wurde und dass der Stich tödlich war. Ansonsten ist es so gut wie unmöglich, verbannte Engel loszuwerden.

Archer zögerte nicht, er erledigte einen der Verbannten und wirbelte auf der Stelle herum, um dem anderen gegenüberzutreten. Seine Klinge schlitzte dem Verbannten geradewegs die Kehle auf.

Ich schaute weg. Archer war noch von der alten Schule, und er war sehr gut.

Zwei meiner Mitschüler, JeffWillis und Meredith Faro, wählten genau diesen Moment, um von Schock in absolute Hysterie zu geraten. Jeffs Tonlage war dabei am höchsten. Wenigstens versuchte dieses Mal niemand abzuhauen.

Es würde nicht lange dauern, Beth befasste sich bereits mit den anderen Schülern. Jeder Grigori hatte eine bestimmte Stärke und wir waren alle ein wenig verschieden. Beths Stärke betraf das Gedächtnis. Wie all unsere Gaben hatte jedoch auch sie ihre Grenzen. Beth hatte etwa zehn Minuten lang die Gelegenheit und nur eine Kapazität von einer halben Stunde, um Erinnerungen zu löschen, außerdem musste sie auf jeden Fall das Zielobjekt berührt haben.

Sie fing mit Miss Kinkaid an, die jetzt still war, obwohl sie ihren Mund zu einem stummen Schreckensschrei weit geöffnet hatte. Beth streichelte tröstend ihre Hand.

»Es ist okay. Jetzt ist alles gut.«

Sie ging an ihr vorbei zu den Nächsten, dabei berührte sie jeden auf die eine oder andere Weise, auch diejenigen, die sich vor ihr duckten. Dann starrte sie jeden einzelnen eindringlich an.

»Hilfe ist unterwegs«, sagte sie beruhigend. »Würdet ihr bitte alle mal kurz zu mir schauen?«, fuhr sie fort, wobei sie ein wenig Süße in ihre Stimme legte, die alle in eine leichte Trance versetzte. Beth gehörte auch noch zur alten Schule.

Archer sprang aus dem Fenster und verschwand, während ich umherging und mich vergewisserte, dass alle Hinweise auf die Anwesenheit von Verbannten verschwunden waren. Ihre Körper waren dabei der leichteste Teil. Sobald sie »zurückgeschickt« wurden, verschwand ihre körperliche Form, aber ab und zu blieben andere Überbleibsel zurück. Für gewöhnlich waren es Waffen, aber kürzlich hatten wir damit angefangen, auf andere Dinge zu achten, die eine Botschaft enthalten konnten, auch wenn ich wusste, dass sich Phoenix mit solchen Spielchen nicht aufhalten würde. Er überbrachte Botschaften am liebsten persönlich.

»Ihr wart wie an jedem anderen Tag im Kunstunterricht. Vandalen haben Chaos in der Gegend angerichtet und genau wie letzten Freitag«, Beth warf mir einen vielsagenden Blick zu, »kam eine Motorradgang angefahren und warf Steine durch die Fenster. Zum Glück hat Miss Kinkaid so geistesgegenwärtig reagiert, dass ihr euch alle rechtzeitig in der Ecke zusammendrängen konntet. Einige von euch wurden von herumfliegendem Glas getroffen, aber es geht euch allen gut und ihr wisst, dass ihr jetzt in Sicherheit seid. Leider ist es keinem von euch gelungen, einen Blick auf die Täter zu erhaschen. Stimmen mir alle zu?«

Meine Lehrerin und meine Mitschüler nickten alle.

Beth wartete, bis sie zufrieden war. »Okay, jetzt bleibt ihr ruhig hier sitzen, bis wir weg sind. Beachtet uns gar nicht, und wenn wir weg sind, werdet ihr euch nicht mehr an uns erinnern, außer an Violet, die eure Mitschülerin ist und zusammen mit euch Übrigen in der Ecke in Deckung gegangen ist.«

Alle nickten wieder.

Ich schrak zusammen, als Archer mit backsteingroßen Steinen, die er vorne in sein Road-Runner-T-Shirt gelegt hatte, wieder durch das Fenster gesprungen kam. Er verteilte sie im Zimmer, um das zerbrochene Glas zu erklären. Ein paar davon ließ er auf das Pult fallen, das ich mit meiner Stirn zerschmettert hatte.

»Zum Glück gibt es an deiner Schule keine Videokameras, dann wäre das nämlich viel schwieriger«, merkte er an.

Rasche Schritte erklangen auf dem Korridor. Beth und Archer spannten sich an.

»Schon gut, es ist nur Spence«, sagte ich. Ich konnte Grigori wahrnehmen, nicht so leicht wie Verbannte, aber ich war jeden Tag mit Spence laufen– ich kannte seinen Gang gut genug, um sicher zu sein, dass er es war.

Spence schlitterte regelrecht in den Raum, dann sah er meine Mitschüler an, erkannte, dass sie momentan wie betäubt waren, und brauchte einen Augenblick, um alle Puzzleteile zusammenzufügen. Er schnaubte. »Ich habe es verpasst, nicht wahr? Mann, Eden, du hättest mich wenigstens anrufen können!«

Klar. Ich fühlte mich schlecht. Er war ganz in der Nähe gewesen und liebte es zu kämpfen.

»Tut mir leid, ich habe kaum Zeit gehabt, Beth und Archer zu rufen.«

Wir wussten alle, dass sie für solche Fälle die erste Adresse waren. Beths Fähigkeit, Probleme… verschwinden zu lassen, war unerlässlich.

»Schutzschilde?«, fragte Spence, gerade als ich das Summen eines weiteren Neuankömmlings spürte.

»Ja«, gab ich zu. Ich hasste, dass ich noch immer nicht stark genug war.

Mit einem weiteren dumpfen Schlag wirbelte ein weiteres Beinpaar durch das Fenster. Ich verdrehte die Augen zur Decke.

Mussten wirklich alle hierherkommen?

Lincoln nahm die Szene ungefähr genauso auf wie Spence. Gleich danach ruhte sein Blick auf mir. »Du bist verletzt.« Er knurrte fast.

Ich seufzte. »Nein. Ich bin okay. Dumm, aber okay«, sagte ich, wobei ich versuchte, ihn nicht anzublicken. Nicht dass das einen Unterschied gemacht hätte. Allein seine Anwesenheit brachte jeden Teil von mir– menschlich oder engelhaft– zum Hyperventilieren.

Er sah mich an, als wollte er näher kommen, aber aus einem nachdenklichen Blick auf meinen Kopf musste er wohl geschlossen haben, dass die Wunde nicht allzu schlimm war, und wandte sich stattdessen an Beth. »Wie viel Zeit haben wir?«

»Etwa dreißig Sekunden bis dieser Haufen da wieder zu sich kommt«, sagte sie, während sie Tristan das Handy aus der Hand nahm und offensichtlich sein neuestes Filmmaterial löschte.

»Und ungefähr eine Minute, bis die ganze Schule hier eintrifft«, sagte Spence.

Ich schnappte mir ein paar Papiertücher von Miss Kinkaids Pult und begann, mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Es war wirklich nicht schlimm.

»Violet, ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte Lincoln.

Ich steckte meinen Dolch zurück in die Scheide und band mein Haar zu seinem ursprünglichen Pferdeschwanz zusammen. »Ja, ihr geht jetzt besser.«

Spence ging durch die Tür hinaus, durch die er hereingekommen war. Archer und Beth sprangen aus dem Fenster. Lincoln wollte ihnen schon folgen, hielt dann aber kurz inne.

»Ist das deins?«, fragte er und zeigte auf die Kohlezeichnung, die jetzt auf dem Boden lag.

»Ja.«

Er runzelte die Stirn. »Es ist schön… und schrecklich zugleich. Was ist das?«

»Das bin ich.«

Kapitel Zwei

»Die Defekte und Fehler des Verstandes sind wie Wunden des Körpers. Auch wenn alles Vorstellbare unternommen wird, um sie zu heilen, Narben werden trotzdem bleiben.«

François de la Rochefoucauld

Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder die Alte werden würde, nach allem was in Jordanien geschehen war. Und ob ich das überhaupt wollte. Rudyard zu verlieren… und Nyla– die unglaubliche Art und Weise, wie ihre Seelen miteinander verflochten gewesen waren, und wie sie dann so brutal auseinandergerissen wurden. Der Schrei, das letzte Geräusch, das über Nylas Lippen gekommen war, hallte noch immer in meinen Ohren nach. Verfolgte mich. Und auch wenn ich so tat, als ginge es mir gut– es brauchte all meine Kraft, um mich dazu zu zwingen, nicht mit ihr zu schreien.

Das Härteste daran waren die Gedanken, die sich in mein Gehirn schlichen, wenn ich sie nicht daran hinderte. Die egoistischen Gedanken, die mich wünschen ließen, Lincoln und ich hätten nicht gewartet und hätten unseren Seelen vor Rudyards Tod erlaubt, vollständig miteinander zu verschmelzen, bevor wir wussten, dass wir uns dadurch gegenseitig zu solch einem qualvollen Schicksal wie Nylas verdammen würden.

Ich schauderte, schlang mir die Arme um die Taille und schob rasch diese Gefühle, für die ich mich selbst hasste, beiseite.

Steph wartete bereits an meinem Spind auf mich. Sie unterhielt sich mit Marcus, ihrem Exfreund. Irgendwie war es ihnen gelungen, Freunde zu bleiben. So etwas konnte auch nur Steph schaffen.

Vielleicht sollte ich mir ein paar Tipps geben lassen.

Als ich ankam, verabschiedete er sich bereits, indem er ihr einen Kuss auf die Wange drückte, bevor er davonstürzte, um seine Freunde einzuholen.

Ich lächelte, als ich auf die Mappe blickte, die sie unter den Arm geklemmt hatte. Ganz oben lag eine Englischarbeit– mit einer dicken, rot umrandeten Eins plus. Bei all der außerschulischen Belastung sollte man annehmen, dass ihre Noten darunter leiden würden, aber Steph behielt alles im Griff.

Sie trat nah an mich heran und senkte die Stimme.

»Ich habe von deinem Kunstunterricht gehört. Alles in Ordnung?«, fragte sie, wobei sie nervös über ihre Schulter blickte, als würde sie jeden Augenblick damit rechnen, dass Geheimagenten von der Decke fielen.

Ich unterdrückte einen Seufzer. »Ja, das war meine Schuld.«

»Gab es, du weißt schon… Hat Phoenix eine Botschaft geschickt?«

»Nein«, sagte ich ein wenig schärfer, als ich vorgehabt hatte. Wie es aussah, war das die einzige Frage, die mir die Leute zurzeit stellten.

Sie nickte und sah besorgt aus, aber sie spürte auch, dass ich gern das Thema wechseln wollte. »Sal hat mir heute eine SMS geschrieben«, leitete sie elegant über. »Sie haben gefragt, ob sie zurückkehren dürfen, aber es läuft nicht gut.« Sie machte ein finsteres Gesicht. »Spence’ Entscheidung hierzubleiben, ohne das mit der Akademie zu besprechen, war nicht unbedingt hilfreich. Er glaubt, es wird noch ein paar Wochen dauern, bis sie eine Entscheidung treffen.«

Es war sechs Wochen her, seit Salvatore und Zoe nach New York zurückgekehrt waren. In mancherlei Hinsicht schien es erst gestern gewesen zu sein, dass wir alle in Dappers Wohnung gestanden und die Schrift der Verbannten enträtselt hatten, nachdem ich den Verbannten Jude beziehungsweise Judas »zurückgeschickt« hatte.

Ich lächelte und versuchte, Mitgefühl für Steph aufzubringen. Ich freute mich für sie und Sal, den italienischen Grigori, in den sie sich verliebt hatte, es war nur manchmal schwierig, mich selbst davon zu überzeugen.

»Stehen sie sehr unter Druck, die Einzelheiten darüber, was in Jordanien geschehen ist, preiszugeben?«, fragte ich, wobei ich mich schuldig fühlte. Griffin hatte all denen ein Redeverbot erteilt, die mit in dieser Höhle gewesen waren, als Phoenix die große Enthüllung gemacht hatte, dass ich die erste Grigori sei, die von einem der höchstrangigen Engel, einem der Einzigen, gemacht wurde. Es war ein schmaler Grat, auf dem sich Griffin da bewegte– die Information zurückzuhalten, bis er sich absolut sicher war. Deshalb hatte er mir gegenüber auch ganz deutlich gemacht, dass er nichts von dem wissen wollte, was ich vielleicht über dieses Thema wusste– wie zum Beispiel, wie der Engel, der mich gemacht hat, meine Träume heimsuchte und, na ja, alles bestätigte.

»Ich glaube, der Rat hat es aufgegeben, irgendetwas aus ihnen herauskriegen zu wollen. Sal sagte, zumindest seien haufenweise Gerüchte im Umlauf.«

Ich zuckte mit den Schultern. Das hatten wir erwartet. Außer den anderen Grigori waren in der Höhle noch haufenweise verbannte Engel gewesen. Wir waren uns sicher, dass sie die Neuigkeiten verbreiten würden– zusammen mit ihrem heftigen Verlangen, derjenige zu sein, der mich umbringen würde.

»Sie werden eine Lösung finden«, versicherte ich ihr und schob die anderen Gedanken gekonnt beiseite. »Sal wird einen Weg finden.«

Sie stieß einen frustrierten Seufzer aus. »Ja, er sagte, dass Zoe an etwas arbeitet. Es ist nur… du weißt schon.«

»Ja.« Ich schluckte und versuchte, mich zusammenzureißen.

Oh, ich weiß.

Eine Tasche plumpste schwer auf meine Füße. Ich drehte mich um und sah, wie Spence an den Spinden hinunterglitt und sich auf den Boden fallen ließ.

»Diese Schulsache war eine schlechte Idee«, stöhnte er. »Eden, du musst etwas unternehmen, deine Autorität spielen lassen oder so.«

»Keine Chance, Mann«, sagte ich, weil er mir überhaupt nicht leidtat. Griffin hatte Spence gezwungen, seine Ausbildung zu beenden, wenn er vorhatte, in dieser Stadt zu bleiben. »Jedenfalls hattest du eine großartige Zeit in Sport, wie ich gehört habe«, fügte ich hinzu und zog die Augenbrauen nach oben. Es war seine zweite Woche an der Schule und Spence hatte bereits die Grenzen des menschlich möglichen Sports überschritten.

Er sah mich verlegen an. »Du hast es gesehen, was?«

»Nein, aber alle reden seit dem Mittagessen darüber. Offensichtlich bist du Gottes Geschenk an den Basketballplatz.«

»Hättest du nicht wenigstens versuchen können, dich anzupassen?«, fragte Steph gereizt, wenn auch aus anderen Gründen, wie ich vermutete.

Spence hielt inne, aber dann ließ er sich noch weiter nach unten sinken und seine Hände auf den Boden klatschen. »Ich musste Dampf ablassen.«

Steph verdrehte die Augen und sagte dann rundheraus: »Er ist durch den unangekündigten Test in Chemie gerasselt.«

»Und Geschichte«, fügte Spence hinzu. »Und dann habe ich nicht einmal einen Kampf bekommen.« Er funkelte mich an.

Er sah so niedergeschlagen aus, dass ich fast Mitleid mit ihm bekam, aber genau da schlenderte Lydia Skilton vorbei, mit drei ihrer Möchtegern-Lydias im Schlepptau. Beim Gehen schien ihr rosa Ballerina-Tutu– kein Witz– ganz von selbst hochzurutschen, während sie sich wie in Zeitlupe über die Lippen leckte und affektiert mit den Fingern in Spence’ Richtung winkte.

»Ciao, Spence. Bis morgen.«

Spence setzte sich ein wenig auf und wandelte sich vom selbstmitleidigen Idioten zum relaxten heißen Typen, als er träge lächelnd seine Hand hob.

»Ciao, Lydia.« Er starrte auf ihren Hintern, bis sich die Türen am Ende des Korridors hinter ihr schlossen.

»Entschuldigt, aber bevor ich jetzt auf die Toilette gehe und mich übergebe, muss ich es genau wissen– hast du gerade tatsächlich Lydia Skilton zugezwinkert?«, fragte Steph angewidert, und ich war mir ziemlich sicher, dass ich genauso aussah.

Spence sank wieder zurück auf den Boden und nahm seine vorherige Das-Leben-hat-mir-übel-mitgespielt-Haltung ein und zuckte mit den Schultern. »Das Mädchen ist heiß.« Dann sprach er schnell weiter, bevor Steph eine bissige Bemerkung machen konnte, und sah mich dabei mit einem erwartungsvollen Funkeln in den Augen an. »Gehen wir?«

Ich schluckte, ebenfalls erleichtert, und schnappte meine Trainingstasche. »Ja.«

Ich wand mich aus meinem Malkittel, wischte dabei meine immer noch kohleverschmierten Hände daran ab und zog eine schwarze Leggins unter meine Schuluniform, bevor ich sie auszog. Ich zog immer ein schwarzes Unterhemd darunter an, um mich schnell und leicht umziehen zu können.

»Training?«, fragte Steph.

Ich zuckte mit den Schultern. Das war keine Überraschung. Das Training war jedenfalls der beste Teil meines Tages.

»Lincoln?«, fügte sie rasch hinzu und schaute an mir vorbei den Korridor entlang. Sie musste schon eine Weile vorgehabt haben, diese Frage zu stellen. Seit Wochen hatte sie das Thema nicht mehr angesprochen.

»Nein«, sagte ich und versuchte, das Thema damit zu beenden.

Das hieß nicht, dass ich Lincoln nicht mehr sah, aber in einer Art unausgesprochener Übereinkunft– oder auch Vermeidungsstrategie– hatten wir geglaubt, dass es so besser wäre. Bis die Dinge leichter würden. Ich war mir nicht sicher, ob das für ihn funktionierte.

»Oh«, sagte sie und warf mir einen mitleidigen Blick zu, was ich hasste.

Ich zog einen schwarzen Pullover an und schnallte mir den Gürtel mit dem Dolch um die Taille. Steph sah aufmerksam zu, sie wusste, was ich da machte, aber sie konnte den Dolch mit ihren rein menschlichen Augen nicht sehen. Es erstaunte– und irritierte– sie immer noch, welche Streiche das Übernatürliche ihrem Gehirn spielen konnte. Schließlich stopfte ich meine Tasche in den Spind und holte eine Baseballkappe heraus, die ich mir erleichtert aufsetzte.

»Alles bestens«, sagte ich mit einem Hauch falscher Fröhlichkeit. »Willst du, dass ich dich noch in die Bibliothek begleite?« Wir hatten die Schrift der Verbannten in den Tagen, nachdem wir sie entdeckt hatten, kopiert, und Steph arbeitete fast jeden Tag daran, sie zu entziffern. Bisher hatte sie noch nicht viel. Aber sie hatte mehr Theorien als Griffin und auch als die Akademie.

»Eigentlich gehe ich ins Hades. Die Bücherauswahl in der Bibliothek geht mir langsam aus, und Dapper hat ein paar interessante Bücher, von denen er sagt, dass ich sie mir anschauen kann, aber ihr wisst ja, wie er ist.« Sie verdrehte die Augen. »Er lässt sie mich nicht mitnehmen.«

»Bist du sicher, dass es okay für dich ist, dorthin zu gehen?« Ich machte mir noch immer Sorgen darüber, dass Steph ein Teil dieser Welt war, und das Hades wurde gerade zu einem Knotenpunkt für die Grigori-Aktivitäten in dieser Stadt. Sie wusste so viele Dinge, die normale Menschen niemals erfahren würden, und sie war gegenüber den Mächten, von denen sie umgeben war, schutzlos.

Außerdem lebte dort immer noch Onyx, ein ehemals Respekt einflößender Feind, der inzwischen zwar vollkommen menschlich, aber keineswegs gut war. Wie es aussah, war das zu einem dauerhaften Arrangement geworden.

»Ja. Ich glaube, Samuel und Kaitlin werden auch dort sein«, sagte sie. Es linderte meine Besorgnis nicht, dass zwei weitere Grigori dort sein würden. Im Gegenteil, dass Steph von Grigori eskortiert wurde, bestätigte nur, wie wichtig sie geworden war.

»Okay, na ja, wir können zusammen mit dem Bus hinfahren. Wir trainieren heute im Park«, sagte ich und beschleunigte meine Schritte, weil ich mich darauf freute, mich zu bewegen.

»Endlich!«, beschwerte sich Spence.

»Herrlich«, sagte Steph, als sie den Regen entdeckte, der gegen das Fenster prasselte. »Besser du als ich, nehme ich an«, fügte sie hinzu, während sie ihren Burberry-Karo-Schirm zückte. Sie warf mir ein fieses Grinsen zu. »Aber andererseits darfst du die nächste Stunde oder so Spence vermöbeln.«

Sie nahm es ihm tatsächlich übel, dass Salvatore nicht hierher zurückkehren konnte, aber… ganz unrecht hatte sie nicht. Sie lächelte und knuffte mich liebevoll.

Kurz darauf sagte Spence, der ein paar Schritte vor uns ging: »Das habe ich gehört.«

Ich erwiderte Stephs Lächeln und im nächsten Moment hatten wir uns eingehakt und lachten. Sie hatte so eine Art, die Dinge besser zu machen. Sie war nicht nur meine beste Freundin, sie war meine Familie.

Kapitel Drei

»Wir sind unser eigener Teufel und machen uns diese Welt zur Hölle.«

Oscar Wilde

Der Regen hatte nachgelassen, als wir den Park erreichten, aber noch immer erfüllte ein hartnäckiges Nieseln die kühle Luft. Was mich betraf, so hielt ich Allwetter-Training für sehr wichtig– Lincoln hatte mir das schon früh beigebracht. Wir konnten uns nicht aussuchen, bei welchem Wetter wir kämpfen mussten, deshalb sollte das auch im Training berücksichtigt werden.

Abgesehen von Griffin war der Park– wie immer– menschenleer.

»Hi«, sagte ich zu ihm, während ich meine Tasche neben seine schleuderte, die bereits unter dem großen Baum lag, den wir als Treffpunkt nutzten. »Bist du schon lange hier?«

»Hey, Griff«, sagte Spence mit einem breiten Lächeln und einem weniger glücklichen Blick in meine Richtung.

Ja, ich hatte nicht erwähnt, dass wir heute Gesellschaft haben würden. Mein Fehler.

Griffin blickte von seiner Dehnübung auf. »Nein, ich bin noch nicht lange hier. Wärmt euch auf, damit wir anfangen können.«

Genau das wollte ich hören. Spence’ Feuereifer ließ jedoch nach. Er teilte meine Ansichten über das Allwetter-Training nicht.

»Du solltest darüber nachdenken, deine künstlerischen Aktivitäten auf zu Hause zu beschränken. Wir können nicht riskieren, Unschuldige mit hineinzuziehen. Es könnte sein, dass Beth nicht immer verfügbar ist«, sagte Griffin, während ich meinen Pulli auszog und anfing, mich aufzuwärmen.

»Wahrscheinlich«, sagte ich, wobei ich nicht bereit war, mich auf eine Diskussion einzulassen.

»Phoenix hat offenbar Verbannte in der Nähe der Schule postiert, die versuchen, dich wahrzunehmen. Ein Wunder, dass sie nie die ganze Schule stürmen, aber aus irgendwelchen Gründen scheint er sie darauf eingeschworen zu haben, dich nur dann anzugreifen, wenn sie sicher sind, wo du bist. Diesen Vorteil können wir nicht ignorieren.«

Er hatte natürlich recht. Ich beugte mich zu den Zehen hinunter, um ihn nicht anschauen zu müssen. »Es wird nicht wieder vorkommen.«

Ich wusste nicht, warum Phoenix dauernd Verbannte schickte, um auf diese Weise mit mir zu kämpfen. Es nützte ihm nichts, außer dass er Leuten die Zeit stahl, mich verärgerte und fast immer seine eigenen Leute verlor. Meine Schutzbarrieren hin oder her– Phoenix wusste, wo ich wohnte. Er hätte ganz einfach Verbannte zu mir schicken können, aber keiner von ihnen war je in mein Zuhause eingedrungen. Ich wusste, dass das teilweise an seiner verkorksten Kämpfermoral lag, aber es steckte noch mehr dahinter. Taktisch gesehen konnte sich keiner von uns einen Reim darauf machen.

»Irgendwelche Kontakte, von denen ich wissen sollte?«, fragte Griffin und wich damit dem Wesentlichen aus.

»Nein.« Ich machte weiterhin Dehnübungen und hoffte, dass es die beiden dabei belassen würden.

Griffin wusste, dass ich es nicht verschweigen würde, wenn es etwas Neues gäbe. Er schien die Schwingungen wahrzunehmen und wandte seine Aufmerksamkeit Spence zu. »Wie war es in der Schule?«

»Die Schule ist bereits zu einer Erinnerung verblasst, die ich in der Vergangenheit belassen möchte«, sagte Spence flapsig.

Griffin lächelte. »Du wirst dich damit arrangieren.«

Spence machte ein finsteres Gesicht. Er wusste ganz genau, dass er die Schule beenden musste, wenn er in dieser Stadt bleiben wollte. Um seinen Frust irgendwo loszuwerden, trat er näher an mich heran, während ich meine Waden dehnte. »Mann, du bist ganz schön eingebildet, Eden.«

»Wie bitte?«, erwiderte ich, aber ich wusste, worauf er hinauswollte.

»Dachtest du wirklich, du müsstest Griffster mitbringen?«, spottete er. »Als ob ich es nicht schaffen würde, dir das Fell über die Ohren zu ziehen.« Ich ignorierte ihn und machte einfach weiter mit meinen Dehnübungen.

Nicht dass Spence kein großartiger Kämpfer gewesen wäre, aber ich wurde immer besser. Stärker und schneller. Nicht so stark wie Lincoln, aber es hatte sich wirklich ausgezahlt, von ihm trainiert zu werden. Seit ich ohne ihn trainierte, hatte ich zusätzliche Trainingseinheiten hinzugefügt, von denen niemand etwas wusste– ich ging früh am Morgen lange laufen und hörte erst spät am Abend mit dem Training auf. Ich hatte die Hälfte meines Ateliers in ein Fitnessstudio verwandelt und war fitter denn je.

Ich kannte alle Bewegungen von Spence und er verließ sich auf leichte Siege. Wenn das nicht klappte, hatte er einen Hang zum Dramatischen, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass er sich davor fürchtete, Dinge auf gut Glück mit mir auszuprobieren. Zurzeit schlug ich ihn regelmäßig durch taktisches Vorgehen und ich brauchte allmählich weitere Herausforderungen.

»Okay, nur mit den Beinen. Keine Hände«, sagte Griffin und fügte dann hinzu: »Und keine Köpfe.«

Ich lächelte Spence an und hüpfte auf der Stelle auf und ab, um warm zu bleiben. »Du hast ihm erzählt, dass ich dir eine Kopfnuss verpasst habe.«

Er blickte mich schuldbewusst an. »Das tut verdammt weh, Eden.«

»Los geht’s«, sagte Griffin. Er klatschte in die Hände und nahm im Schutz des Baumes seine Schiedsrichterposition ein.

Ich wischte mir den Regen aus den Augen und vergewisserte mich rasch, dass wir keine Zuschauer hatten. Spence kam direkt auf mich zu, kampflustig wie immer. Ich wich seinen ersten drei Tritten aus und arbeitete daran, dass er sich bewegte und sich weiterhin darauf konzentrierte, mit meinen Bewegungen Schritt zu halten. Sein Bein schoss wieder nach vorne und ich wich aus, aber er holte noch einmal aus und traf mich im zweiten Anlauf hart in die Rippen.

Ich stolperte nach hinten.

»Alles in Ordnung?«, fragte Griffin ruhig.

»Ja«, erwiderte ich, ohne zu zögern.

Ich schluckte den Schmerz hinunter und redete mir ein, dass alles in Ordnung war. Ich musste auch in der Lage sein, Schläge einzustecken.

Wir traten wieder gegeneinander an. Spence fühlte sich gut, weil er den ersten Angriff für sich entschieden hatte, aber dafür war meine Entschlossenheit wieder erwacht. Wie zuvor ließ ich ihn laufen, aber dieses Mal war es mein Schlag, der zählte. Mein Bein schoss nach oben und traf ihn mit der Fußsohle direkt zwischen den Schulterblättern. Noch bevor er reagieren konnte, folgte mein anderer Fuß, ich holte weit damit aus und rammte ihn ihm in den Bauch.

Er ging zu Boden.

Griffin räusperte sich. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Dieses Mal war er nicht mehr ganz so ruhig.

Spence lag auf den Knien, atemlos holte er ein paarmal tief Luft.

»Fantastisch«, sagte er und nahm mich für die zweite Runde ins Visier. »Hat bloß gekitzelt.«

Wir machten sechs weitere Runden, die alle ziemlich ähnlich verliefen. Spence ärgerte sich immer mehr darüber, dass ich ihn so gut einschätzen konnte. Als ich meine Hand ausstreckte, um ihn hochzuziehen, schlug er sie weg.

»Noch bin ich nicht geschlagen, Eden. Ich könnte die ganze Nacht so weitermachen.« Er ließ die Augenbrauen hoch und runter hüpfen.

»Daran zweifle ich nicht, Spence«, sagte Griffin von der Seitenlinie aus. Er zog seinen Pulli aus und enthüllte ein weißes langärmliges T-Shirt.

Was für eine Überraschung, eine Abweichung von seinem üblichen Button-Down-Hemd!

Griffin war ein Rätsel. Er sah aus wie Mitte zwanzig, benahm sich, als wäre er Ende vierzig und war in Wirklichkeit über achtzig. Aber gleichgültig, wie alt er wurde, er steckte immer ein wenig in seiner Zeit fest. Was nicht heißen sollte, dass er es nicht draufgehabt hätte, denn das hatte er ganz offensichtlich.

»Wie wäre es, wenn wir ein wenig die Plätze tauschen?«, schlug er vor.

Spence stand auf und gab sein Bestes, nicht zur Seitenlinie zu humpeln. »Du könntest mich wenigstens heilen«, brummte er, als er an mir vorbeiging. »Auch wenn das noch mehr wehtut als die verdammten Tritte.«

Andere Grigori außer Lincoln zu heilen war ziemlich schmerzhaft– und es zu können machte mich zu einer Art Ausnahmeerscheinung.

Noch etwas, was mich zu einer Besonderheit machte.

Aber das kümmerte mich im Moment nicht, mein Augenmerk war allein auf Griffin gerichtet und ich schenkte meinem neuen Gegner meine volle Aufmerksamkeit. Ich bekam nicht oft die Gelegenheit, mit Griffin in den Ring zu steigen. Er hielt Abstand von mir. Pirschte sich heran. »Du wirst stärker.«

Ich nickte nur und schob die Angst beiseite, dass das nicht stimmen könnte. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass er meine körperliche Stärke meinte.

»Und mutiger«, sagte er, was ich als Warnung auffasste. Griffin ist fieser, als man meint, und er kämpft mit dem Kopf. Ich konnte ihn nicht so einfach ausmanövrieren.

»Eine Runde«, sagte Griffin, er bewegte sich weiter und zog sich zum Baum zurück.

»Warum?«, versuchte ich ihn zu provozieren.

»Weil du mit Verbannten keine Proberunden bekommst. Entweder du schlägst mich jetzt oder du lässt es.«

In meinem Bauch prickelte es. Aber es war eine Herausforderung, vor der ich nicht zurückschrecken würde. »Na schön«, sagte ich und ignorierte meinen trockenen Mund. Dem war ich gewachsen. Ich war mir sicher, dass ich fitter war als Griffin, er steckte nicht auch nur annähernd so viele Stunden ins Training wie ich. »Ich hab sowieso noch was anderes vor. Irgendwelche Regeln?«

»Der Erste, der mit dem Rücken auf dem Boden liegt, hat verloren.«

Heute würde ich auf keinen Fall wieder auf dem Rücken landen.

»Einverstanden«, sagte ich. Aber das Lächeln, das seine Lippen umspielte, gefiel mir nicht.

Ich ging auf ihn zu. Ich wusste, was er tun würde, so wie er zurückwich, mich zu sich heranlockte, aber ich durfte keine Furcht zeigen. Ich sorgte weiterhin für einen festen Stand und beobachtete seine Füße und Hände. Er war fast unter dem Baum, als ich näher kam. Dann schoss seine Hand nach vorne, schnell wie der Blitz– er zog mir die Faust, die sich wie eine Metallstange anfühlte, quer durchs Gesicht. Ich taumelte, richtete mich aber rasch wieder auf. Er würde sich schon etwas Besseres einfallen lassen müssen, um mich fertigzumachen.

Er trat einen weiteren Schritt zurück, und das war sein Fehler. Er hatte dadurch Platz gemacht für einen Tritt, und ich war in der perfekten Position dafür. Ich zögerte nicht. Mein Bein schoss nach vorne und ich legte all meine Kraft in den Tritt. Aber anstatt ihm auszuweichen, kam er auf mich zu, ergriff mein Bein und benutzte meinen eigenen Schwung, um mich zu werfen. Direkt nach oben. In den Baum.

Mir blieb die Luft weg, als mein Rücken und meine Schultern in die dichten, überhängenden Äste krachten. Dann fiel ich wieder herunter, wobei mein rechter Arm einen großen Ast und mehrere kleine abriss, als ich auf dem Weg nach unten an ihnen abprallte.

Aber eines der knackenden Geräusche stammte nicht vom Baum.

Ich landete hart auf dem Boden. Auf dem Rücken.

»Boah!«, hörte ich Spence ausrufen– halb panisch, halb lachend.

Ich schlug die Augen auf und wischte mir Schmutz und Rinde aus dem Gesicht.

Griffin stand über mir. »Stärker und mutiger, ja, aber jahrelange Erfahrung zählt auch. Ich habe die letzte halbe Stunde damit verbracht, dich einzuschätzen, deine Vorgehensweise zu erfassen. Du wechselst ab, aber letztendlich ist jeder vorhersehbar. Wenn du die Gelegenheit für einen Tritt siehst, dann ergreifst du sie.«

Er streckte die Hand aus und ich bewegte meinen rechten Arm, um sie zu nehmen, aber ich zuckte dabei vor Schmerzen zusammen und bemühte mich, nicht aufzuschreien. Mein Kopf sank wieder zurück auf den Boden.

»Gebrochen?«, fragte Griffin lässig.

Ich drehte den Kopf zur Seite und ärgerte mich über mich selbst. »Ich glaube schon.« Das war das andere Knacken gewesen, das ich gehört hatte. Verdammt.

»Perfekt«, sagte Griffin, als wäre das alles Teil des Planes. »Das wird helfen.«

Ich funkelte ihn an. Wenn er dachte, ich würde Lincoln darum bitten, dass er mich heute Abend heilte, dann war er auf dem Holzweg.

»Was immer es ist, es muss warten. Ich esse heute mit Dad zu Abend«, fauchte ich und stemmte mich dabei mit meinem heilen Arm hoch. Spence stand hinter mir und half mir aufzustehen. Mein Kopf drehte sich und mir wurde schwindelig.

»Langsam, Mädchen«, sagte er, als würde er auf ein Rennpferd einreden. Ich entzog meinen unverletzten Arm seinem Griff, um allein zu stehen. Dann wünschte ich verzweifelt, ich hätte das nicht getan.

Während sich mein Magen zusammenzog und ich gegen den Drang ankämpfte, mich zu übergeben, atmete ich ein paarmal beruhigend ein, versuchte, meine Mitte wieder zu finden und den Schmerz zu kontrollieren.

Und da spürte ich es.

Die unsichtbare Schlinge, die uns verband, vibrierte. Ich konnte seinen Herzschlag fühlen, zuerst war er gleichmäßig, dann, als würde er mich erkennen, wurde er schneller.

Er weiß, dass ich verletzt bin. Was zum…?

Dann riss die Verbindung ab. Ich wusste nicht, ob er das gewesen war oder ich. Er, glaubte ich, denn ich hatte gar nicht daran gedacht, es zu versuchen. Hinten in meiner Kehle konnte ich etwas schmecken.

Honig. Seit wann konnte er mich auf diese Weise wahrnehmen?

Griffins Handy klingelte. Er ging weg, um dranzugehen, aber ich konnte ihn trotzdem hören. Auch die normalen Sinne sind bei Grigori stärker ausgeprägt. Wir können zwar nicht durch Wände hören, aber wir können besser als der Durchschnitt hören, sehen und riechen.

»Alles okay… Du wusstest es?… Beeindruckend… Nein… Training… Nein… Wir untersuchen es… Ich rufe dich hinterher an.« Er klang, als wollte er etwas verschleiern und könnte gar nicht schnell genug vom Telefon wegkommen.

»Lincoln?«, fragte ich und versuchte dabei auszusehen, als würde mich das nicht kümmern, obwohl ich wusste, dass er inzwischen wahrscheinlich auf dem Weg zu uns war.

Griffin zog die Augenbrauen nach oben. »Du hast die Verbindung auch gespürt?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich war schon immer fähig gewesen, sie zu spüren, seit kurz vor meiner Zusage, als Lincoln verletzt war. Ich hatte nur nicht das Bedürfnis verspürt, es jedem zu erzählen. Ich brauchte ja wohl kaum noch etwas zu meiner Liste der Besonderheiten hinzuzufügen.

Er beobachtete mich einen Moment lang. Griffin durchschaute mich nur allzu gut, aber er würde momentan nichts dagegen unternehmen. Das gefiel mir an ihm.

»Er macht sich Sorgen.«

Ich wusste, dass er recht hatte, ich spürte sogar das kleine Fünkchen Wahrheit, das er extra für mich in seine Worte legte, aber ich wollte einfach nicht darüber nachdenken müssen. Vor allem wollte ich nicht dieses tiefe Verlangen spüren, in seiner Nähe zu sein, um die Leere in mir auszufüllen, die immer da war, wenn er es nicht war. Es ist nicht so, dass ich nicht auch die Besorgnis in Griffins Stimme hören konnte. Niemand wollte, dass Lincoln und ich ein Paar wären. Wir waren nicht die Einzigen, die gesehen hatten, was mit Nyla und Rudyard passiert war.

Spence reichte mir eine Flasche Wasser.

»Violet, ich möchte, dass du versuchst, dich selbst zu heilen. Ich habe auf eine Gelegenheit gewartet, aber du warst so gut im Training, dass sich bisher keine geboten hat.« Griffin zog sich wieder seinen Pullover an– perfektes Timing, um sein Lächeln zu verstecken. Selbst Griffin machte sich des Konkurrenzdenkens schuldig.

Kein Wunder, dass er in Bezug auf Lincoln so defensiv klang.

»Kommt Lincoln nicht?«, fragte ich und warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass ich sein Lächeln gesehen hatte und dass das noch eine Revanche geben würde.

»Nur, wenn wir ihn brauchen«, sagte er schulterzuckend, was auch eine Antwort auf meinen Blick war. Wir führten zwei Gespräche auf einmal.

In dem Teil von mir, der begonnen hatte, sich auf Lincoln zu freuen, sank die Stimmung.

»Okay«, sagte ich und versuchte, meine Enttäuschung zu ignorieren.

»Lass mich dir sagen, was wir versuchen werden«, sagte Griffin, bevor er fortfuhr, mit mir zu besprechen, wie ich mich selbst heilen sollte.

Zuerst dachte ich, er sei verrückt. Ich hatte gerade erst die Fähigkeit, Lincoln zu heilen, gemeistert. Klar hatte es auch einige Diskussionen darüber gegeben, dass ich vielleicht in der Lage wäre, mehr zu tun. Angespornt wurden sie noch dadurch, dass ich manchmal fähig gewesen war, den Kraftfluss zurück zu mir zu lenken und Verletzungen zu heilen, die ansonsten für Lincoln allein zu schwer gewesen wären. Und ich hatte es geschafft, andere Grigori zu heilen– na ja, bisher nur Spence, mit jemand anderem haben wir es noch nicht versucht. Aber trotzdem…

Griffin schlug Methoden vor, meine Kraft anzuzapfen, aber sie fühlten sich falsch an. Lincoln war mein Partner– er sollte mich heilen. Aber die Dinge waren… wie sie waren. Er versuchte, sich von mir fernzuhalten, ebenso wie ich mich von ihm fernhalten sollte.

Es dämmerte und regnete immer noch. Ich stand unter einem Baum, mit dem ich gerade einen Frontalzusammenstoß hatte, und tat, was Griffin mir sagte, ich griff auf meine innere Kraft zu und versuchte sie zu zwingen, meinen Arm zu heilen.

Zu meiner Freude… und meinem Schrecken erhielt ich schnell eine Antwort.

KapitelVier

»Doch kein Preis ist zu hoch für das Privileg, sich selbst zu gehören.«

Friedrich Nietzsche

Der Ganzkörperspiegel in meinem Schrank zeigte ein Bild, das ich kaum erkannte. Ich trug ein kleines schwarzes ausgestelltes Kleid und hatte mich für Strumpfhosen entschieden. Normalerweise mochte ich keine Strumpfhosen, aber sie waren gut, wenn man Blutergüsse verstecken wollte. Ein silbernes Tuch, das ich mir vor Ewigkeiten von Steph ausgeliehen hatte, drapierte ich über meine Arme, um die blauen Flecken zu verstecken. Zum Glück waren die Verletzungen an meinem Gesicht überwiegend verheilt, und was noch geblieben war, wurde unter einer Schicht Make-up verborgen.

Es hätte schlimmer sein können. Ich hatte es vorhin tatsächlich geschafft, auf meine Kraft zuzugreifen und mich selbst zu heilen. Ich hatte die Aufgabe nicht ganz erledigt, aber es hatte ausgereicht, den Bruch in meinem Arm und den Schnitt an meinem Kopf zu heilen. Auch ein Teil der Schmerzen und der blauen Flecken konnten dadurch gelindert werden, auch wenn mein Arm jedes Mal, wenn ich ihn bewegte, so wehtat, als würde ich ihn in einen Säurebehälter halten. Es würde noch ein paar Tage dauern, bis ich vollständig wiederhergestellt war. Griffin hatte vorgeschlagen, dass ich es noch einmal versuchen sollte, aber im Moment war ich dazu noch nicht bereit.