Ententanz - Ingvar Ambjörnsen - E-Book

Ententanz E-Book

Ingvar Ambjörnsen

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der 2. Teil der Elling-Tetralogie vom norwegischen Kultautor Ingvar Ambjörnsen Elling lebt jetzt in einem Heim für psychisch Kranke, und nach anfänglicher Irritation findet er die kleine "Pause" nur natürlich – schließlich hat er eine Krise hinter sich und etwas Erholung verdient. Zögernd schließt er Bekanntschaft mit der neuen Umgebung: mit der Abteilungsleiterin Gunn, zu der er bald in platonischer Liebe entbrennt, und mit Kjell Bjarne, seinem Zimmergenossen, den er zwar für reichlich beschränkt hält, im Laufe der Zeit aber doch als seinen einzigen wahren Freund zu schätzen lernt. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 342

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ingvar Ambjörnsen

Ententanz

Ein Elling-Roman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

FISCHER E-Books

Inhalt

IIIIII

I

Ich erwachte, und im Zimmer war es dunkel. Ich wußte nicht, wo ich war. Hatte ganz einfach keine Ahnung. Hatte ich geträumt? Träumte ich jetzt? Nein. Das hier war die Wirklichkeit. Irgendwo weit weg ein Auto. Der Umriß eines Schrankes am Fußende des Betts. Das Bettzeug fühlte sich fremd und steif an, und alles roch anders, als ich es gewöhnt war. Es roch nicht nach meinem Zimmer. Es roch … ich weiß nicht. Irgendwie übertrieben sauber. Grüne Seife mit einem Hauch Chlor. Ich setzte mich im Bett auf. Und langsam gewöhnten meine Augen sich an die Dunkelheit. Wie gesagt: Hier stand ein Schrank. Ein ganz neutraler weißer Kleiderschrank stand am Fußende. Und rechts von dem Schrank war an der Wand ein Waschbecken befestigt. Über dem Bett war ein Fenster, aber irgendwer hatte die Vorhänge zugezogen. Die waren aus einem dicken, kratzigen Stoff, synthetisch. Irgendwo tief in mir saß ein kleiner Junge, der gerade aus voller Kehle schrie, aber als ich den Mund aufmachte, brachte ich nicht einmal das Echo über die Lippen. Ich hatte Angst. Schreckliche Angst. Ich hatte in meinem Leben noch nicht solche Angst gehabt. Aber meine Angst war verpackt. Sie lag unten in meinem Magen und brannte.

Ich wollte die Vorhänge aufziehen, doch meine Arme waren bleischwer. Es war wirklich harte Arbeit. Schließlich kam ich mit Mühe auf die Knie.

Doch. Draußen war Nacht. Dunkle Winternacht. Es hatte geschneit, und weiße und schwarze Flächen wechselten in hartem Kontrast miteinander ab. Ein Haus; es sah aus wie eine alte Scheune. Große schwere Bäume mit Schneeflecken auf den schwarzen Zweigen. Weiße Felder. Irgendwo unter dem Fenster befand sich eine elektrische Lampe, die auf dem vom Schnee befreiten Hof einen gelben Halbkreis malte. Keine Blocks. Kein einziger Block, so weit das Auge reichte.

Ich mußte pissen. Ich mußte ganz dringend pissen. Das merkte ich erst jetzt. Vermutlich hatte mich der Druck auf der Blase geweckt. Ich drehte mich um und setzte mich vorsichtig auf die Bettkante. Der Fußboden fühlte sich seltsam warm an. Und weicher als der zu Hause. Es war ganz einfach angenehm. Das war immerhin etwas, fand ich. Angenehmer Fußboden. Ein Strohhalm in meiner Verwirrung. Ich stand auf, aber sofort drehte sich alles vor meinen Augen, und deshalb mußte ich mich gleich wieder hinsetzen. Der Druck auf die Blase verstärkte sich. Und wie sah ich überhaupt aus? Wenn das ein Witz sein sollte, dann war es ein schlechter. Irgendwer hatte mir doch tatsächlich ein Nachthemd verpaßt! Es reichte mir bis knapp über den Hintern. Mit anderen Worten, eine Art Babydoll. Weiß. Und darunter war ich nackt. Ich hatte nicht einmal eine kurze Unterhose an!

Langsam ging mir auf, daß mir offenbar irgendein Unfall widerfahren war. Daß ich mich in einem Krankenhaus befand. Eine andere Erklärung gab es einfach nicht. Ich konnte nicht glauben, daß es Menschen gab, die junge Männer entführten, ihnen mit einem harten Gegenstand auf den Kopf schlugen und dann ein Babydoll anzogen. Außerdem tat mein Kopf nicht weh. Mein ganzer Körper war wie betäubt, meine Fingerspitzen prickelten, aber mein Kopf tat nicht weh.

Wieder erhob ich mich. Schwindlig war mir, grauslich schwindlig, aber ich zwang mich, stehen zu bleiben, und nach einer Weile ging es besser. Mit Greisenschritten schleppte ich mich zum Waschbecken.

Das hing haarscharf zu hoch. Wenige Zentimeter tiefer, und ich hätte problemlos mein Glied über die Porzellankante hängen können. Aber nein. Allerdings hatte ich keine Wahl mehr, ich mußte das Kunststück probieren oder ganz einfach auf den Boden pissen. Ich zog die Vorhaut zurück und lehnte mich so weit zurück, wie ich es nur wagte. Und dann ließ ich das Wasser laufen. Aber was als sanfter kleiner Bogen zum Abfluß hin geplant gewesen war, wurde zu einer unkontrollierten Explosion. Ich verlor restlos die Kontrolle. Zuerst richtete der Strahl sich nach links, dann nach rechts, und das mit einer Kraft, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Der ganze Atlantik schien aus mir herauszudrängen. Der Strahl hämmerte gegen die Wand und wurde als Sprühregen zu mir zurückgeworfen. Und von Zusammenkneifen konnte keine Rede mehr sein. Hier waren alle Schleusen sperrangelweit geöffnet, und ich hatte das Gefühl, bis ins Jahr 2000 weiterpissen zu können. Wie ein gut gewarteter Springbrunnen.

Noch während ich so dastand und litt, ging hinter mir die Tür auf. Natürlich. Ein Unglück kommt selten allein, wie man so sagt. Wenn ich mich nicht sehr irrte, dann wollte Nachtschwester Helen nach dem neuen Patienten sehen. Nach dem jungen Mann, der bei einer Rauferei mit zwei Bankräubern einen Kolbenschlag gegen die Schläfe abbekommen hat. Nach dem bewußtlos geschlagenen Helden der Boulevardpresse. Eigentlich hat sie jetzt dienstfrei, aber sie schaut trotzdem kurz herein, um sich über das Befinden des Patienten zu informieren. Und hier stehe ich … Herrgott, warum kannst du mich nicht holen? Warum kannst du mich nicht sterben lassen?

Es war nicht Helen. Ich wandte den Kopf und erblickte den größten Mann, den ich je gesehen hatte. Einen Riesen. Einen Gorilla. Zwei Meter hoch und breit wie ein Scheunentor. Ein Kopf wie ein Fußball. Groß, kugelrund und komplett haarlos. Da stand er im Licht der Flurlampen und starrte mich mit dem Weißen seiner Augen an. Ich rutschte aus und fiel seinen riesigen Händen entgegen.

 

Nach und nach ging es besser. Das muß ich einfach zugeben. Allerdings wahrte ich Abstand. Ich bin nicht unzugänglich, aber meine Freundschaft gibt es nicht im Sonderangebot. Ich teile mich nicht mit jedem. Ein Mann ohne Stolz ist ein Mann ohne festen Boden unter den Füßen. So einfach ist das. Mit welchem Recht sind sie in mein Leben eingebrochen? Ich fragte ja nur. Und die Antwort, die flattert im Wind umher, um mit einem pensionierten Protestsänger zu sprechen. Meine Alben mit den Zeitungsausschnitten über Gro Harlem Brundtland hatten sie beschlagnahmt. Vermutlich waren sie schon längst vernichtet. Nun gut. Einen echten Elling kann man auf diese Weise nicht brechen. Sie verboten mir, über sie zu sprechen. Gut. Also schwieg ich. Es paßte mir ganz ausgezeichnet, über fast alles zu schweigen. Mein Ideal ist der Indianer. Der stumme Felsen von einem Mann, der, dem nichts etwas anhaben kann. Es bringt nichts, sich bei ihm einschmeicheln zu wollen, indem man ihm eine frischgebackene Waffel mehr zusteckt oder ihn in ein blödes Dorfkino schleppt. So bringst du ihn nicht dazu, seine Seele mit dir zu teilen. Sie kamen bei Nacht. Sie holten mich aus den tiefen Wäldern, aus meiner Wohnung, in der ich mich als freier Mann fühlte. Sie sagten, ich lebte wie ein Tier und im ganzen Treppenhaus sei der Gestank zu riechen. Aber ich frage: Was wissen diese Menschen denn vom Gestank? Vom wirklichen Gestank? Sie legten mich in Eisen und pumpten mir den Körper mit Gift voll. Und als ich erwachte, war ich hier im Reservat.

Gunn weckte mich. Sie strich mir über die Haare.

Wenn ich an all die Gemeinheiten denke, die ich Gunn an den ersten beiden Tagen hier gesagt habe, dann schäme ich mich fast. Ich weiß nicht, was in mich gefahren war. Es mußte wohl einfach aus mir heraus, nehme ich an. Gunn deutet an, daß das so ungefähr die Antwort ist. »Aufgetürmte Trauer und Verzweiflung«, sagt Gunn. »Und dann hab’ ich alles an den Kopf gekriegt, weil ich zufällig daneben stand. Das macht nichts. Ich bin schon Schlimmeres genannt worden als Pferdefotze.«

»Pferdefotze?« Hatte ich Gunn wirklich als Pferdefotze bezeichnet? Wie kindisch! Wie durch und durch unnötig!

Von den ersten Tagen weiß ich nicht mehr viel. Es waren zu viele Gesichter auf einmal. Zu viele Stimmen, die sich miteinander vermischten. Ich kam aus einem geordneten Dasein mit drei Zimmern und Küche, und nun befand ich mich im Chaos. Alles schien zu schwimmen. Tag und Nacht gingen in eins über. Ich blieb zumeist auf dem Zimmer, zumeist im Bett – obwohl sie behaupteten, ich hätte schon länger als vierundzwanzig Stunden geschlafen! Worauf mir aufging, daß sie mir sicher Gift gegeben hatten. Nach und nach tauchten auch Erinnerungsbilder in meinem Bewußtsein auf. Bilder von meinem letzten Tag in der Blockwohnung zu Hause. Die Polizei, die einfach die Tür aufbrach. Die blödsinnige Rauferei, zu der es kam, als sie mich zu ihrem Wagen schleifen wollten. Die Nachbarn, die überall herumstanden und glotzten. Aber danach ist alles schwarz. Ganz schwarz. Ich habe versucht, aus ihnen herauszukitzeln, wer mir die Spritze verpaßt hat, aber wenn ich dieses Thema anschneide, dann wird ihr Blick unruhig, und eilig machen sie sich an etwas anderem zu schaffen. Von mir aus. Ich bin nicht nachtragend. Und wer immer das war, er oder sie wird sich früher oder später vor seinem oder ihrem Gott verantworten müssen. Das genügt mir.

Wie gesagt: Alles war ein einziger Brei. Ich brauchte mehrere Tage, um richtig wach zu werden. Ich hatte wohl auch keine große Lust, wach zu werden, glaube ich. Wenn ich mich umsah, war ich ja doch an einem Ort, der mir nicht gefiel. Ich wollte nach Hause. Ich wollte meine Ruhe, wollte mich meinen verschiedenen Aufgaben widmen. Ich hatte doch wirklich viel zu tun.

Nach drei Tagen wurde es schlimmer. Als sie mich holen kamen. Noch einmal, muß ich wohl sagen. Bisher hatten sie mir meine Mahlzeiten aufs Zimmer gebracht, aber ich merkte schon, daß sie jetzt andere Saiten aufziehen wollten. Außerdem sollte ich in ein anderes Zimmer ziehen, wie ich erfuhr. In ein Zimmer, in dem bereits ein gewisser Kjell Bjarne hauste.

Ich weigerte mich. Das kam nicht in Frage! Um nichts in der Welt! Ich sagte wahrheitsgemäß, daß sie mich lieber hier und jetzt erschlagen sollten. Ich zeigte ihnen sogar die empfindliche Stelle hinter dem Ohr. Ein gezielter Schlag dorthin, und ich würde mausetot umfallen. Quelle: zahllose Agentenfilme im Fernsehen. Darin wird mit solchen Details kein Pfusch getrieben.

Und sie lachten! Sie lachten mir doch tatsächlich mitten ins Gesicht!

Die einzige, die nicht lachte, war Gunn. Und das brachte ihr einen ziemlichen Punktgewinn. Sie schickte alle anderen aus dem Zimmer, selbst die, denen sie nichts zu befehlen hat, und dann setzte sie sich auf meine Bettkante. »Elling«, sagte sie, und ich hörte ihrer Stimme an, daß sie sich auch nicht besonders wohl fühlte. »Elling.« Nur dieses schlichte Wort, meinen Namen, immer wieder. Wie ein Mantra. Sie nahm meine Hand, und wir saßen lange so da. Ja, sie klammerte sich beinahe an meine ausgestreckte Hand. Mit stumpfen Fingerchen mit rosa Nagellack. Was machte ihr so zu schaffen? Wo war sie da hineingeschlittert? Ich sah, daß sie einen Trauring trug, und konnte mir so einiges denken. War über Nacht eins von den Kleinen unheilbar krank geworden? Leukämie konnte wirklich schlimm sein, das wußte ich. War ihr Mann vielleicht nicht nett zu ihr? Es braucht ja nicht einmal Brutalität im Spiel zu sein, wenn eine Frau sich in einer Beziehung mies fühlt. Das große Gespenst heißt da doch Gleichgültigkeit. Daß er sie in seiner selbstauferlegten Geschäftigkeit nicht mehr sieht. Sie tat mir so leid, ich sah doch, daß sie eine innere Güte ausstrahlte. Vor wenigen Tagen noch hatte ich mir geschworen, daß ich mich vor den vielen Fremden hier durch eine Mauer schützen wollte. Aber als wir so beisammen saßen, Gunn und ich, ging mir auf, daß diese Mauer sie nicht würde aussperren können. Nicht auf die Dauer. Mit ihren leicht zerzausten Haaren und der spitzen Nase erinnerte sie mich an einen kleinen Spatz vor einem Vogelhäuschen. Vor einem leeren Vogelhäuschen. Vor einem Vogelhäuschen, in dem Krähe und Eichelhäher gewütet haben. Sie war nicht auf die Idee mit diesem fremden Kjell Bjarne und seinem Zimmer gekommen.

 

Kjell Bjarne saß am Fenster und machte sich an irgend etwas zu schaffen, als wir kamen. An einer Kassette, wie sich dann herausstellte. Das Band lag als Salat auf seinem Schoß, und er versuchte, es mit der Spitze seines kleinen Fingers wieder auf die Spule zu drehen. Er war ein großer Bursche in meinem Alter. Mit schütterem Haar und einem düsteren Kabeljaugesicht, das durchaus nichts Gutes verhieß. Ich wollte wieder gehen, aber Gunn hielt mich zurück. Und dann wurden wir einander vorgestellt. Ich kam mir vor wie der eine Bräutigam bei einer verbotenen pakistanischen Schwulenhochzeit. Elling, das ist Kjell Bjarne. Du hast ihn zwar noch nie gesehen, aber er ist der Mann deines Lebens. Von nun an sollt ihr in guten wie in bösen Zeiten zusammen wohnen. Er wird genau wie du in Verwahrung gehalten, und irgendwie werdet ihr euch schon zusammenraufen. Ich hätte am liebsten geweint.

»Wo ist Petter?« fragte Kjell Bjarne. Bisher hatte er von seinen Bandspaghetti noch nicht aufgeblickt. Machte weiter, als ob ich überhaupt nicht existierte.

»Petter ist umgezogen«, sagte Gunn.

»Als ich zuletzt mit dem geredet hab’, hat er nix davon gesagt«, murrte Kjell Bjarne.

»Nein«, sagte Gunn. »Da hat er ja auch noch hier gewohnt!« Sie zwinkerte mir listig zu und drückte leise meine Hand.

»Man sagt doch Bescheid, wenn man umzieht«, sagte Kjell Bjarne. »Petter wohnt hier. Für den Heini da ist hier kein Platz.«

Als er das sagte, riß ich mich von Gunn los und klatschte in die Hände. Hart. Kjell Bjarne blickte sofort von seinem ruinierten Band hoch, und ich wich bis an die Wand zurück.

»Wir haben schon genug darüber diskutiert«, sagte Gunn, plötzlich mit einer mir ganz fremden Entschiedenheit in der Stimme. »Elling wohnt ab jetzt in diesem Zimmer. Petter ist schon vor über drei Wochen ausgezogen, also komm mir nicht mehr mit solchem Schnickschnack.«

»Mir hat der kein Sterbenswörtchen gesagt«, sagte Kjell Bjarne. »Keinen Mucks.«

Einen Moment lang schien Gunn es mit Kjell Bjarne einfach aufzugeben. Statt dessen fing sie an, mir praktische Dinge zu erklären. Zum Beispiel, daß das Bett an der linken Wand meins sei. Das galt auch für den Schrank an derselben Wand. Das Waschbecken mußten wir uns teilen. Und da es nur einen Schreibtisch gab, mußten wir uns auch den teilen. Als sie das sagte, blickte Kjell Bjarne mich mürrisch an, und mir war klar, daß ich den Schreibtisch bis auf weiteres vergessen konnte.

Und dann ging Gunn. Sie verließ mich ganz einfach. Instinktiv wollte ich hinterher, aber dann fiel mir ein, daß ich noch nicht allein auf der Station gewesen war. Dort waren noch andere, das wußte ich. Fremde. Und ich wollte mich nicht lächerlich machen. Es war entschieden worden, daß ich in diesem Zimmer zu wohnen hätte, und damit basta. Was Kjell Bjarne davon hielt, war mir ziemlich gleichgültig. Sollte der doch mit seinem viel zu dicken kleinen Finger an seiner blöden Kassette herumdrehen! Ich hatte ihm nichts zu sagen, und was diesen Petter anging, der war nun mal in eine ganz andere Gegend gezogen. Darauf hatte ich Gunns Wort. Das Bett war frei; das hieß, jetzt gehörte es mir. Nicht für sehr lange, hoffte ich, aber doch für einige Tage. Bis ich wieder nach Hause könnte. Bis dieses Mißverständnis, oder wie ich das nennen sollte, geklärt war. Denn niemand konnte doch verlangen, daß ich auf Dauer hier blieb. Ich hatte schließlich längst kapiert, daß das hier eine Art Erholungsheim war. Und – von mir aus, die letzte Zeit war wirklich ziemlich stressig gewesen. Ich hatte meine Mutter verloren, und das macht einem schon zu schaffen. Vor allem, da sie die einzige war, die ich zu verlieren hatte. Alles andere war längst über Bord gegangen. Mutter war mein einziger Halt gewesen. Und ich ihrer. Dieses Märchen war jetzt beendet, und ehe ein neues anfing, war doch klar, daß ich einen kleinen Zusammenbruch erleiden konnte, solange ich noch in Trauer war; das konnte jedem so gehen. Das ist doch alles nur natürlich, überlegte ich mir. Im Grunde ganz natürlich. Aber die Art und Weise, wie ich hier gelandet war, gefiel mir nicht. Ich fand es sehr großzügig vom Staat, Räumlichkeiten für Personen zur Verfügung zu stellen, die aus irgendeinem Grund in eine etwas hektische Lebensphase geraten sind. Aber hätten sie mir das nicht vorher sagen können? (Elling? Du bist eine emsige Ameise, aber jetzt mußt du mal ein bißchen ausspannen vom Hügel. Der Staat hat ein großes Haus auf dem Lande, und Gro bezahlt.) So einfach wäre das gewesen! Statt dessen schickten sie die Polizei. Zwei Mann hoch. Vertreter einer Behörde, die so gut wie pleite war, wenn wir der Presse glauben durften. Es war unfaßbar.

Ich setzte mich auf die Bettkante. Was war denn eigentlich aus Petter geworden?

»Haste Ahnung von Kühen?« fragte Kjell Bjarne, blickte aber noch immer nicht auf.

Von Kühen? Was war das für eine sinnlose Frage? Ich beschloß, keine Antwort zu geben. Das Schicksal hatte uns zwar in dieses Zimmer geführt, aber ich hatte deshalb noch lange nicht vor, mich mit Kjell Bjarne anzufreunden. Nicht nach diesem eiskalten Willkommen. Jetzt brachte Schleimen auch nichts mehr. Der Zug war abgefahren, das stand fest.

»Petter hatte auch keine«, sagte Kjell Bjarne. »Und das ist ja auch egal. Kühe sind ein Scheiß!«

Na gut. Aus irgendeinem Grund hätte ich ihm schrecklich gern widersprochen, aber das ließ ich sein. Schließlich konnte er gerade das ja gewollt haben. Solche Typen waren mir schon früher über den Weg gelaufen. Man wußte nie, was man von ihnen halten sollte.

Er hatte offenbar begriffen. Über eine Stunde lang fiel kein weiteres Wort. Dann sagte er: »Jetzt gibt’s Essen!« Und in einem Tempo, das ich ihm wirklich nicht zugetraut hätte, war er aus der Tür.

Ich blieb noch eine Weile sitzen und sah mir das schreckliche Chaos an, das er auf seinem Stuhl hinterlassen hatte. Er war über eine Stunde mit dieser Rettungsaktion beschäftigt gewesen, aber als einziges Resultat hatte er ein noch größeres Chaos hervorgebracht. War Kjell Bjarne immer so? Ein Wirrkopf, der das Dasein zu einem einzigen großen und unauflösbaren Knoten verfilzte – während er gleichzeitig versuchte, Ordnung in sein Leben zu bringen? Warum war er hier? Hatte auch er einen lieben Menschen verloren? War er in Trauer? Ich wußte, daß trauernde Menschen sich sehr unterschiedlich verhalten können. Manche versanken in tiefer Depression, andere gaben sich oberflächlichen Betrachtungen hin und verdrängten das Böse mit aufgesetzten Scherzen und Witzen. Meine Methode war immer, mich in harte Arbeit zu stürzen. In ein Projekt, bei dem die Wirklichkeit um mich herum bis ins kleinste Detail registriert werden mußte. Und das war dann wohl zuviel gewesen. Aber Kjell Bjarne? Ich merkte, daß ich gegen meinen Willen langsam neugierig auf ihn wurde. War ich in meinem eiskalten Schweigen zu hart zu ihm gewesen? Ich hatte zwar wirklich keine Ahnung von Kühen, aber ich hätte doch nein sagen können. Seine kleine Frage war vielleicht nur ein etwas hilfloser Versuch gewesen, mit etwas außerhalb seines Kopfes in Kontakt zu kommen, er mußte das durchaus nicht böse gemeint haben.

Gunn kam mich holen. Sie befahl mir, das Zimmer zu verlassen und mich an den Tisch zu setzen. Jetzt war essen angesagt, Schluß mit dem Jux, jedenfalls bis auf weiteres. Im Grunde war ich überrascht von meiner Reaktion auf diesen harten Ton, denn er mißfiel mir und mißfiel mir auch gleichzeitig wieder nicht. Natürlich war es ärgerlich, wie ein kleiner Bube behandelt zu werden. Andererseits verband ich aber auch gute Erinnerungen mit dieser Lebensphase, einer Phase, die unwiderruflich vorbei war, jetzt, da Mutter nicht mehr lebte. Aber das Ganze hatte auch seine komische Seite. Denn als Gunn vor mir stand und mich ein bißchen ausschimpfte, um mir klarzumachen, daß das ihr voller Ernst sei, sah ich plötzlich wie auf einer Art Doppelbild Gro Harlem Brundtland vor mir, die in der Parlamentskantine stand, wo ein Abgeordneter aus Hedmark herumhing. Hatte der denn nicht kapiert, daß Gruppenbesprechung angesagt war? Abmarsch, und weg mit der stinkenden Pfeife!

Die anderen glotzten mich an. Mit bohrenden Blicken, voll von … Ich weiß nicht, wovon. Nein, ich weiß es wirklich nicht. Nur Kjell Bjarne blickte in eine andere Richtung, er musterte eine Schüssel mit Aufschnitt, und dabei kaute er langsam und gründlich auf seinem Essen herum. Frauen und Männer. Acht bis zehn Leute. Ich beschloß, mich nicht auszuliefern. Zu Gunn hatte ich ein gewisses Vertrauen gefaßt, und das mußte reichen. Von größeren Versammlungen wird mir immer schlecht. Ich mag Menschen, möchte aber lieber eine gewisse Distanz halten. Sie zum Beispiel vom Fenster aus sehen. Im Grunde ist das ganz einfach: Ich finde es nun mal unmöglich, eine enge Beziehung, eine Vertrauensbeziehung zu einer Menschenmenge zu haben. Und ich glaube Leuten nicht, die behaupten, sie hätten eine. Die lügen. Vertrauen kann man zu einem Menschen haben, vielleicht noch zu zweien. Die Masse wird zu einer Mauer aus Fleisch und verworrenen Absichten. Die Masse ist das Unberechenbare. Das vielköpfige Ungeheuer, das uns am Palmsonntag zujubelt und uns am nächsten Freitag ans Kreuz schlägt. Deshalb war ich, als Gunn mich als »Elling – unser Neuer« vorstellte, auf das Schlimmste vorbereitet. Ich hatte schließlich gesehen, wie zu Hause auf dem Schulhof neue Schüler behandelt worden waren. Und ich hatte auch ein paar Tricks gelernt. Das Dümmste, was man tun konnte, war, den Kopf zu senken und alles hinzunehmen. Denn wenn der Pöbel eines haßt, dann ist das Feigheit. Deshalb verschränkte ich die Arme und lehnte den Kopf ein wenig zurück. Wie ein englischer Lord, der seine Tochter mit dem Gärtnerssohn hinter der Hecke ertappt hat.

»Nun setz dich doch«, sagte Gunn. »Setz dich zu mir.« Sie klopfte mit der flachen Hand auf den Stuhl neben ihrem.

Ich setzte mich. Auf die Stuhlkante. Mir gegenüber saß eine unglaublich dicke Frau, die versuchte, zwei Brote auf einmal in sich hineinzupressen.

»Tee oder Kaffee, Elling?«

Ich erklärte ihr, daß ich von Kaffee Durchfall bekäme. Und Angst.

»Meine Güte, nein, das wollen wir nicht!« meinte sie. »Reich mal Tee herüber, Kjell Bjarne!«

Kjell Bjarne gab uns den Tee. »Petter kommt sicher irgendwann nächste Woche.«

»Himmel«, sagte jemand anders, »ist der denn nicht weggezogen?«

Gunn goß mir einen großen Becher voll Tee. »Doch. Petter wohnt jetzt in einer betreuten Wohnung in Tøyen. Da hat er es richtig gut getroffen. Balkon und alle Schikanen!«

Der Tee war scheußlich. Ich stellte die Tasse weg und legte die Hände in den Schoß. Ich wollte nichts essen. Ich sah zwar Sachen, die ich mochte, Makrele in Tomate und Kunsthonig zum Beispiel, aber so was aß ich abends nicht. Null Fischpudding oder Salami. Der einzige abendliche Brotbelag, den ich entdecken konnte, war Gouda, aber an dem fummelte ein alter grauhaariger Mann herum. Lange gelbe Fingernägel mit Trauerrand. Ich stellte mir vor, wie er in seinen behaarten Nasenlöchern herumpolkte und wie er nach dem Toilettenbesuch locker das Händewaschen übersprang. Voller Ekel dachte ich daran, daß einige der Brote, die sie mir an den ersten Tagen gebracht hatten, mit Gouda belegt gewesen waren. Mit Gouda, und damit war jetzt für immer Schluß. Eine alte Freundschaft war auf ewig beendet.

»Du mußt essen«, sagte Gunn. »Vom Essen leben wir. Und du, Kjell Bjarne, du kannst langsam zur Landung ansetzen. Ich bin nicht so streng wie die anderen, was deine Diät angeht, aber das ist schon das siebte Brot.«

Kjell Bjarne schluckte den letzten Bissen und legte ebenfalls die Hände in den Schoß. »Irgendwas muß man doch machen!«

»Ja, genau!« sagte Gunn. »Und was du machen sollst, sind lange Spaziergänge. Jeden Tag, von hier bis nach Sibirien!«

Kjell Bjarne schmunzelte, und ich konnte an seinen Lippen ablesen, daß er in Gedanken das Wort »Sibirien« auskostete.

»Nein, wirklich, jetzt iß endlich etwas, Elling! Wenn du verhungerst, wird mein Gehalt gesenkt, und ich kann dir sagen, das kann ich mir nicht leisten!«

»Ich habe keinen Hunger«, sagte ich.

»Na gut, dann eben nicht. Und wovon bist du so satt? Von Nasenpopel und Wanzen? Du hast seit heute mittag nichts gegessen, und das ist fünf Stunden her. Aber von mir aus, dann schmierst du dir eben ein paar Brote für später. Dieser Laden macht jetzt dicht, und es gibt erst morgen früh wieder was.«

Was für ein Kommißton, dachte ich und tat, wie mir geheißen. Freundlich war sie, aber streng. Ich schmierte Butter auf zwei Scheiben Graubrot und nahm einen Aufschnitt, der wie Spießbraten aussah. Und während ich meine Brote belegte, passierte das Seltsame. Alle und jeder kennen doch das Gefühl, das uns manchmal überkommt; das Gefühl, daß jemand uns anstarrt. Und daß ich jetzt dieses Gefühl hatte, war ja fast logisch. Ich war schließlich »der Neue«, das natürliche Objekt der Neugier aller anderen. Aber das Gefühl, das ich jetzt hatte, umfaßte noch etwas anderes, mehr. Ich blickte vorsichtig von meinen zwei Broten auf und sah zu meinem Erstaunen, daß sich in Wirklichkeit nur eine einzige Person für mich interessierte. Und diese Person war Kjell Bjarne. Er sah aus wie ein großes Kind, dessen Mutter gerade den Versuch aufgegeben hat, es zu verkaufen. Er musterte meine Hände und meine Brote, als ob beides zusammen einen gütigen Missionar darstellte, der ihn vielleicht zu sich nehmen würde. Ich habe immer schon schnell denken können, und deshalb hatte ich die Lage sofort erfaßt. Kjell Bjarne hatte Hunger. Er war einfach von der Sorte, die nie genug zu essen bekommt. Das ist so eine Art Ernährungssucht. Ich wollte ihn zwar nicht zum Freund haben, da war ich mir ganz sicher. Aber wenn ich eins nicht brauchen konnte, dann war das ein Feind auf meinem Zimmer. Ich erwiderte seinen Blick und hielt ihm stand, während sich meine Hand dem Brotkorb näherte. Er schwitzte jetzt. Kleine Perlen auf Stirn und Oberlippe. Ich zögerte. Wollte ich denn wirklich abends noch ein drittes Stück Brot essen? Ich war mir da einfach nicht sicher. Nein! Zurück mit der Hand. Sein Kopf sackte vornüber, und er starrte seinen leeren Teller an. Schnell wie eine Kobra packte meine Hand zwei weitere Schnitten. Ohne mir etwas anmerken zu lassen, schmierte ich Butter darauf und belegte sie mit Cervelatwurst. Ich blickte nicht einmal in seine Richtung. Gunn gab mir Butterbrotpapier. Und sofort hatte ich sicheren Boden unter den Füßen. All meine Schuljahre hindurch hatte Mutter mich nämlich meine Pausenbrote selbst schmieren lassen. Ich konnte müde und mißgelaunt sein, aber mein Pausenbrot fiel in mein Ressort. Und deshalb hatte ich im Laufe der Zeit eine gewisse Brillanz entwickelt, was das Einwickeln von Butterbroten in fettabweisendes Papier betraf. Es ging blitzschnell, selbst jetzt, nach so vielen Jahren. Und das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Das kann ich wohl mit gutem Gewissen behaupten. Ein festes, feines Brotpaket mit scharfen Kanten. Nicht nur Kjell Bjarne betrachtete mich mit langem, sehnsuchtsvollem Blick. Und mitgerissen von dem stummen Beifall, den ich in diesem Moment wahrnahm, griff ich zu einer alten Kunst, die ich total vergessen gehabt hatte. Schnell und in festem Rhythmus warf ich das Brotpaket von der rechten Handfläche in die linke und steigerte dabei fortlaufend das Tempo, genau wie in alten Zeiten. Es hört sich einfach an, aber es ist wichtig, daß das Paket ganz flach auf die Handfläche trifft, wenn man einen gewissen Trommeleffekt erzielen will. Oder, genauer gesagt: Wenn man es richtig macht, dann knallt es. Wohlgemerkt, wenn das Brotpaket nicht zu stramm gepackt worden ist; zwischen Papier und Brot muß eine dünne Schicht Luft sein. Und fröhlich merkte ich, daß alles stimmte. Die vier Schnitten mit Spießbraten beziehungsweise Cervelatwurst hatten das perfekte Gewicht, und ich hatte meine alte Pack-Kunst nicht verlernt. Ich schleuderte die Brote hin und her, schneller, immer schneller – und eine glückliche Vision versetzte mich zurück nach Hause, in die Küche, eines Morgens früh, sagen wir, im Jahre 1971. Mit Mutter als verblüfftem Publikum betrieb ich mit dem Brotpaket meine Künste und vollführte dabei dramatische Tanzschritte quer durchs Zimmer. So auch jetzt. Ich stehe ganz einfach auf. Die Handflächen knallen gegen das Butterbrotpapier, es hört sich wirklich an wie das reine Trommelfeuer. Ich bin nicht freimütig genug, um mich dem Tanz hinzugeben – das blieb Mutter vorbehalten, nur ihr –, aber ansonsten ziehe ich dieselbe Nummer ab wie in den guten alten Zeiten. Es ist das Jahr 1971, noch ein volles Jahr bis zu der schlimmen Volksabstimmung über den EG-Beitritt und über eine Viertelstunde, bis ich die Blockwohnung verlassen und meinen Platz ganz hinten in der Klasse einnehmen muß. Ich bin fröhlich, fast verzweifelt fröhlich. Meine Hände fliegen wie von selbst.

»Leg jetzt die Brote hin«, sagte Gunn. »Und ich habe jetzt Feierabend. Euch allen wünsche ich noch einen schönen Abend.«

 

Der Abend war scheußlich. Und schwierig. Gunn ging, nachdem sie den Tisch abgeräumt hatte … ich wußte nicht, was ich machen sollte. Wußte nicht, wohin. Das neue Zimmer gehörte mir irgendwie noch nicht. Das Recht war auf meiner Seite, davon war ich überzeugt. Aber Kjell Bjarnes mürrische Abweisung und sein ewiges Gerede über Petter machten mich unsicher. Das eigene Zimmer, das doch ein traulicher Schlupfwinkel sein soll, wurde bedrohlich und fremd. Und der Grund lag ja auf der Hand: Dieses Zimmer gehörte mir nicht. Ich hatte es geliehen. Zusammen mit einem gewissen Kjell Bjarne. Ich war nicht daran gewöhnt, mit anderen zusammen zu übernachten. Und auf Kjell Bjarne war kein Verlaß. Ein Mann, der stundenlang an einer ruinierten Kassette herumfummelt und sinnlose Fragen nach unserem Wissen über Kühe stellt, lädt nun wirklich nicht zum großen Vertrauen ein. War er vielleicht homosexuell? Hatte der Blick, mit dem er mich vorhin bedacht hatte – und den ich für einen Ausdruck des Hungers gehalten hatte –, vielleicht sexuelles Begehren zum Ausdruck gebracht? Einen krankhaften Hunger auf Sex mit dem eigenen Geschlecht? Ich konnte da nicht sicher sein. Und je länger ich mir das überlegte, desto unsicherer wurde ich. Allerdings war ich immer schon ein liberaler Mann. Ich habe immer gemeint, und meine es noch, daß es niemanden etwas angeht, was zwei erwachsene Menschen aus freien Stücken im Bett unternehmen. Aber das hier war etwas anderes. Die Sache war doch die, daß ich durchaus nicht aus freien Stücken mit einem anderen Mann die Nacht verbringen wollte. Es war mir befohlen worden. Von Menschen, die sich nicht einmal die Mühe gemacht hatten, sich nach meiner sexuellen Orientierung zu erkundigen. Mir wurde richtig schlecht, als ich mir überlegte, in welche Lage ich da geraten war. Ganz einfach schlecht. Wenn Kjell Bjarne nun mit mir zusammen onanieren wollte? Was dann?

Die Nachtwache kam. Derselbe Koloß, der mich aufgefangen hatte, als ich einige Nächte zuvor in meiner eigenen Pisse ausgerutscht war. Ich hatte mir gemerkt, daß er Berg hieß, hatte aber noch kein Wort mit ihm gewechselt. Wenn er durch die Tür zu meinem Einzelzimmer gelugt hatte, hatte ich mich schlafend gestellt. Jetzt überraschte er mich mitten im Aufenthaltsraum und begrüßte mich freudestrahlend. Als hätte er mich nie im Leben wild um mich pissend und im Babydoll gesehen. Oder als sei das für ihn ein normaler und alltäglicher Anblick! Ein ganz natürlicher Auftakt zu einer neuen Bekanntschaft. Ich selbst sah das ganz anders. Ich fand den Zwischenfall äußerst peinlich. Und ich ging davon aus, daß er einer ganzen Heerschar von wildfremden Menschen davon erzählt hatte. Nie im Leben hätte ich deshalb seinen Gruß erwidert. Und wenn er hier tausendmal Nachtwache hatte! Mein Vertrauen würde er nicht bekommen. Andererseits mußte ich mir leicht widerwillig eingestehen, daß ich es gut fand, daß er hier war. Falls es Ärger mit Kjell Bjarne geben sollte. Ich war mir ziemlich sicher, daß Berg dann Ordnung schaffen konnte.

Ich lief weiter im Aufenthaltsraum hin und her. Wußte nicht, was ich machen sollte. Berg und drei andere spielten Karten. Ihr Tonfall sagte einiges über gegenseitiges Vertrauen und warme Freundschaft. Der alte Mann mit den fiesen Fingernägeln saß vor dem Fernseher. Irgendein Ami-Film. Ab und zu blieb ich stehen, aber ich war zu nervös, um etwas von der Handlung mitzubekommen. Meine Hände schwitzten, das Butterbrotpapier weichte auf. Kjell Bjarne blätterte in einer alten Zeitung. Ab und zu warf er einen langen, sehnsüchtigen Blick auf mein Brotpaket – oder auf meinen Körper.

»Spielst du Karten, Elling?« Das war Berg. Aus irgendeinem Grund erschien es mir unpassend, daß er meinen Namen auf diese Weise benutzte. Als ob wir gute Bekannte wären oder so.

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann mußt du es lernen. Hier im Haus spielen alle Karten. Nicht wahr, Kjell Bjarne?«

Jemand kicherte.

»FRESSE HALTEN!« brüllte Kjell Bjarne. Sein Gesicht war jetzt knallrot, und seine Pranken zerknüllten die Zeitung.

»Reg dich ab«, sagte Berg. »War bloß ein Scherz.«

Kjell Bjarne schmiß die Zeitung hin und ging. Wir hörten ihn über den Flur schlurfen. Dann knallte eine Tür. Leider handelte, es sich dabei zweifellos um die Tür zu unserem Doppelzimmer.

»Er verliert nicht gern im Whist«, erklärte Berg. »Ansonsten ist er in Ordnung.« Er teilte neue Karten aus.

Ich wußte nicht so recht, was ich glauben sollte. Hatte der Mann denn vollständig den Verstand verloren? Der saß doch tatsächlich hier und zog Kjell Bjarne schlimmer auf, als der es ertragen konnte! Brachte ihn aus purem Jux zum Hochgehen! Einen Mann, mit dem ich das Zimmer teilen mußte. Das Wort »Kartenspiel« konnte doch durchaus ein Psychose-erweckendes Zauberwort sein, das in Kjell Bjarne den Mörder erwachen ließ! Berg konnte das egal sein. Der hatte einen Körper wie eine Felswand. Auf den würde Kjell Bjarne wohl kaum losgehen. Nein, da war es schon eher vorstellbar, daß ein gewisser Elling darunter zu leiden haben würde. Ein unerwünschter Zimmergenosse, der sich frech und dreist Petters Bett unter den Nagel reißen wollte.

Ich mußte etwas sagen. Ich mußte Berg auf irgendeine Weise klarmachen, daß ich diese Nacht auf keinen Fall in einem gewissen Zimmer verbringen würde. Daß mir das blanke Linoleum des Flurs als Lager dienen würde. Mit keiner anderen Decke als dem harten gelbweißen Licht. Ich schauderte. Das heißt, das tat ich nicht – ich zitterte. Stand da und zitterte unkontrolliert. Ich brachte kein Wort heraus.

Berg legte die Karten hin und erhob sich. Sein gewaltiger Körper kam auf mich zu. »Komm mal kurz mit mir ins Büro, Elling«, sagte er. »Ich glaube, wir müssen da was besprechen.«

Und dann legte er mir den Arm um die Schulter. Er legte mir seinen riesigen Eichenast von Arm um die Schulter. Und ich brach in Tränen aus, denn ich mußte an Vater denken, den ich niemals kennengelernt hatte. Alles war einfach vollkommen hoffnungslos. Willenlos ließ ich mich ins Büro führen.

Berg schloß die Tür hinter uns. »Das war blöd von mir, Junge. Möchtest du eine Tasse Kaffee?« Er schnappte sich eine Thermoskanne.

Nein, ich wollte keinen Kaffee.

»Eine Solo vielleicht?« Schon war er unterwegs zum Kühlschrank.

»Ja, danke.« Mein Mund war wirklich wie ausgedörrt, und der Gedanke an ein eiskaltes Erfrischungsgetränk mit Apfelsinengeschmack kam mir verlockend vor.

Berg schlug an der Schreibtischkante den Kronkorken ab und reichte mir die Flasche. Ich trank. Es war wirklich erfrischend. Supererfrischend. Ich beschloß, eines Tages zu lernen, auf Bergsche Weise Limoflaschen zu öffnen. Wenn ich es richtig verstanden hatte, dann lag der Trick darin, daß man keine Sekunde zögerte. Daß man ganz einfach sämtliche Hemmungen fahrenließ, wenn die Hand sich dem Korken näherte.

»Hast du Angst vor Kjell Bjarne?« fragte Berg.

Ich gab keine Antwort. Saß nur da und starrte in meine Limoflasche.

Er wiederholte seine Frage.

»Ich will nach Hause«, sagte ich.

»Elling! Du mußt erst mal zur Ruhe kommen! Du wirst dich hier wohl fühlen, das verspreche ich dir. Am Anfang ist alles noch ungewohnt. Morgen kannst du einen Spaziergang machen. Dir die Beine vertreten.« Er senkte die Stimme und fügte hinzu: »Himmel, Elling, ich weiß ja, es ist nicht so leicht, mit einem Fremden das Zimmer teilen zu müssen. Aber das einzig Negative, was sich über Kjell Bjarne sagen läßt, ist, daß er schrecklich langsam und umständlich ist. Er ist so lieb, wie der Tag lang ist.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er ist jähzornig.«

»Nur wenn er beim Kartenspielen verliert«, sagte Berg. »Da hat er eine empfindliche Stelle, das gebe ich zu. Aber du spielst doch nicht Karten, also wirst du sicher noch als sein Busenfreund enden. Perfektere Zimmergenossen als euch kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«

Genau. Das perfekte Paar. Elling und Kjell Bjarne!

Ich sagte, daß ich in sexueller Hinsicht an Kjell Bjarne zweifelte.

Um es kurz zu machen: Berg hätte sich fast totgelacht. Der große Mann lachte Tränen. Erst nach einigen Minuten konnte er sich zusammenreißen. Er wischte sich die Tränen ab und reichte mir feierlich die nasse Hand.

»Nein, Elling«, sagte er. »Kjell Bjarne ist nicht homosexuell. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«

 

Ehrenwort hin, Ehrenwort her. Ich war so klein mit Hut, als ich mich gegen Mitternacht aufs Zimmer schlich. Ich hatte natürlich gehofft, Kjell Bjarne würde schon schlafen, aber nein! Er las. Seine engstehenden Augen starrten mich über den Rand der Illustrierten hinweg abschätzend an. Im Aufenthaltsraum hatte ich die beiden Brote mit Spießbraten vertilgt. Jetzt legte ich die beiden anderen auf den Schreibtisch. Ein Ereignis, das er durchaus nicht übersah. Er sagte nichts, aber er hätte gern etwas gesagt, das sah ich ihm an.

Gunn hatte meine grüne Zahnbürste in einem durchsichtigen Plastikbecher rechts auf das Regalbrett unter dem Spiegel gestellt. Kjell Bjarnes stand links; sie war rot und fast gänzlich borstenlos. Seine Sache. Das Problem war, daß hier nur eine Tube Zahnpasta lag. Gehörte die mir oder Kjell Bjarne? Sollten wir auch die teilen? Oder gehörte sie eigentlich Petter?

»Nicht vorn auf die Tube drücken«, sagte Kjell Bjarne.

Jetzt mochte ich ihn fast. Fast, wohlgemerkt. Denn erstens verbarg sich in seinen Worten die Zustimmung dazu, daß auch ich mir diese Zahnpastatube zunutze machte. Und zweitens zeugten sie von einem gewissen Ordnungssinn, den ich bei ihm gar nicht erwartet hätte. Wenn ich mir die sorgfältig aufgerollte Tube ansah, dann paßte dieses Bild einfach nicht zu den beiden Schweinepfoten, mit denen die Natur Kjell Bjarne ausgerüstet hatte. Früher am Abend hatte er noch Bandsalat aus seiner Kassette gemacht. Und nun war er zu solcher Ordnung imstande! Ein seltsamer Mann!

Ich habe immer schon eine Schwäche für Ordnung gehabt. Und auch wenn ich Kjell Bjarne jetzt keine Antwort gab, nicht einmal in Form eines Nickens, so wäre ich doch nie auf die Idee gekommen, vorn auf die Tube zu drücken. Unter dieser Unsitte hatte ich nie gelitten, und ich hatte auch andere nicht darunter leiden lassen.

Ich putzte mir gründlich die Zähne. Die ganze Zeit über seinen intensiven Blick im Rücken. Ich konnte im Spiegel sein Gesicht nicht sehen, aber ich sah, daß er nicht las; er hatte die Zeitschrift sinken lassen. Und die ganze Zeit über wirbelte mir eine teuflische Frage durch den Kopf: Wie sollte ich mich ungesehen ausziehen? Ohne daß Kjell Bjarne meinen Körper anglotzte? Sollte ich mich einfach angezogen ins Bett legen? Mich unter der Decke ausziehen? Nein. Das wäre denn doch übertrieben gewesen, und Übertreibung ist mir nun einmal wesensfremd. Wenn ich es nüchtern betrachtete, und das wollte ich ja, obwohl es mir nicht gelang, dann war die Sache alles andere als gefährlich. Ich hatte keinen Schlafanzug bekommen und mußte also in der Unterhose schlafen. Und doch – mir grauste!

Schließlich löste Kjell Bjarne selbst das Problem. Nur gut, denn inzwischen hatte ich schon Zahnfleischbluten.

»Laß mich mal beißen, Elling!«

Die Brote! Die hatte ich total vergessen.

»Nein!« sagte ich. Ich spülte mir gründlich den Mund aus. Gurgelte. Jetzt hatte ich ihn.

»Sei nicht gemein!«

Ich spuckte aus. »Ich wüßte ja gern, warum ich nicht gemein zu dir sein sollte«, sagte ich. »Oder fandst du es so toll, wie du mich heute begrüßt hast? War es vielleicht nicht gemein zu sagen, daß hier kein Platz für mich ist? Du hast doch bloß Petter im Kopf gehabt. Einen Mann mit eigener Wohnung in Tøyen. Du hast ja gehört, was Gunn gesagt hat!«

Jetzt erwiderte ich seinen Blick. Hart gegen hart.

»Verzeihung«, sagte Kjell Bjarne.

Hart gegen hart – ja. Ich weiß, wann ich im Recht bin. Aber ich bin kein harter Mann. Ich lasse einen Mitmenschen, der um Verzeihung für sein unbedachtes Benehmen bittet, nicht fallen. Vor allem nicht, wenn sich dieser Mensch auf einen kleinen Kuhhandel einlassen könnte. Deshalb machte ich Kjell Bjarne klar, daß ich sogar bereit wäre, ihm zwei Scheiben Brot zu schenken, wenn er seine Zeitung weglegte und sich beim Essen zur Wand drehte.

Damit war er sofort einverstanden. Stellte keine einzige Frage. Er riß das Papier von den Broten, als komme er direkt vom Horn Afrikas, und drehte sich, die Brote in der Hand, zur Wand hin. Er fraß wie ein Schwein, ebenso schnell und eifrig, aber ich war schneller. Ich riß mir die Kleider vom Leibe und schlüpfte unter die Decke. Die Leselampe über meinem Kopf ließ ich dunkel.

Als er fertig war, griff er wieder zu seiner Zeitschrift. »Aktueller Report«. Zweifelhaft, aber nicht direkt pornographisch. Bilder von nackten Frauen mit hervorlugenden Zungenspitzen und verschleiertem Blick. Kaum das Richtige für einen Homosexuellen. So ganz beruhigt war ich allerdings noch immer nicht. Bergs Lachen hallte noch in meinen Ohren wider. War dieser unkontrollierte Heiterkeitsausbruch erfolgt, weil Kjell Bjarne alles andere als schwul war, das erklärte Heteroschwein der Station nämlich? Und wenn ja: Was verbarg sich dann hinter Bergs Äußerung, daß wir beide, Kjell Bjarne und ich, praktisch als die perfekten Zimmergenossen gelten konnten? Hatten sie meine Schubladen durchsucht, zu Hause, in meiner Wohnung? Das konnte nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein!

»Hast du von Joe Cardiff gehört?« fragte Kjell Bjarne.

Ich ließ ein kurzes und bündiges »Nein« hören. Eine Antwort, die jedenfalls nicht mißverstanden werden konnte. Ich hatte den Namen Joe Cardiff in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.