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Stephan Lamby

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Beschreibung

Deutschland erlebt dramatische politische Veränderungen. Nach einem Wahljahr mit zahlreichen Richtungswechseln wird die Parteienlandschaft durch die Bundestagswahl kräftig umgepflügt. Es gibt überraschende Aufstiege und schmerzhafte Abstürze. Aber es geht um weit mehr als um einzelne Karrieren. Die künftige Regierung steht vor immensen Herausforderungen – wegen des Klimawandels, der Pandemie, des gewaltigen Reformstaus, auch wegen des Auseinanderdriftens der Gesellschaft. Stephan Lamby untersucht das politische Leben in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert. Seine Langzeitbeobachtungen dauern monate-, manchmal jahrelang. Seit Dezember 2020 hat er sich auf die Spuren der drei Kanzlerkandidat:innen begeben. Er konnte hinter die Kulissen der Kampagnen von SPD, Union und Grünen blicken, mit Olaf Scholz, Armin Laschet, Annalena Baerbock, Robert Habeck und ihren Wahlkampfmanagern viele exklusive Gespräche führen und sie aus der Nähe beobachten. Auch mit Christian Lindner, Markus Söder und vielen anderen sprach er ausführlich. Lamby erlebte hautnah mit, wie das Momentum beim Kampf ums Kanzleramt schlagartig hin und her wechselte – und lernte das Personal verstehen, das Deutschland in den nächsten Jahren führen wird. Sein Buch erklärt, wie es zu diesem ungewöhnlichen Bundestagswahlergebnis kommen konnte. Lamby blickt dabei auch auf frühere Kampagnen und Wahlkämpfer zurück, die er ebenfalls aus der Nähe beobachtete: von Kohl über Merkel bis Steinbrück und Schulz. Seine investigative Reportage ist nicht nur die fällige Chronik einer epischen Entscheidungsschlacht, sondern auch eine zeitlose Anatomie von Machtmenschen unter äußerster Anspannung.

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Stephan Lamby

ENTSCHEIDUNGS-TAGE

Hinter den Kulissen des Machtwechsels

C.H.Beck

ZUM BUCH

Deutschland erlebt dramatische politische Veränderungen. Nach einem Wahljahr mit zahlreichen Richtungswechseln wird die Parteienlandschaft durch die Bundestagswahl kräftig umgepflügt. Es gibt überraschende Aufstiege und schmerzhafte Abstürze. Aber es geht um weit mehr als um einzelne Karrieren. Die künftige Regierung steht vor immensen Herausforderungen – wegen des Klimawandels, der Pandemie, des gewaltigen Reformstaus, auch wegen des Auseinanderdriftens der Gesellschaft. Stephan Lamby untersucht das politische Leben in Deutschland seit einem Vierteljahrhundert. Seine Langzeitbeobachtungen dauern monate-, manchmal jahrelang. Seit Dezember 2020 hat er sich auf die Spuren der drei Kanzlerkandi-dat:innen begeben. Er konnte hinter die Kulissen der Kampagnen von SPD, Union und Grünen blicken, mit Olaf Scholz, Armin Laschet, Annalena Baerbock, Robert Habeck und ihren Wahlkampfmanagern viele exklusive Gespräche führen und sie aus der Nähe beobachten. Auch mit Christian Lindner, Markus Söder und vielen anderen sprach er ausführlich. Lamby erlebte hautnah mit, wie das Momentum beim Kampf ums Kanzleramt schlagartig hin und her wechselte – und lernte das Personal verstehen, das Deutschland in den nächsten Jahren führen wird. Sein Buch erklärt, wie es zu diesem ungewöhnlichen Bundestagswahlergebnis kommen konnte. Lamby blickt dabei auch auf frühere Kampagnen und Wahlkämpfer zurück, die er ebenfalls aus der Nähe beobachtete: von Kohl über Merkel bis Steinbrück und Schulz. Seine investigative Reportage ist nicht nur die fällige Chronik einer epischen Entscheidungs-schlacht, sondern auch eine zeitlose Anatomie von Machtmenschen unter äußerster Anspannung.

ÜBER DEN AUTOR

Stephan Lamby ist Dokumentarfilmer und Produzent sowie Buchautor. Er hat mit zahlreichen ARD-Dokumentationen das politische Deutschland abgebildet, darunter «Nervöse Republik», «Im Labyrinth der Macht», «Die Notregierung» und «Wege zur Macht». Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, der Goldenen Kamera und als Journalist des Jahres 2018. Von ihm erschien bei C.H.Beck zuletzt der SPIEGEL-Bestseller «Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe» (mit Klaus Brinkbäumer, 2020).

INHALT

TAFELTEIL

PROLOG: LAUFEN LERNEN

AUFBRUCH ODER WEITER SO

DREI MÄNNER AUS NORDRHEIN-WESTFALEN

DER JUNGE GENERAL

BLAME GAME

HARMONIE AUF DEM BALKON

DER VERWANDELTE SCHOLZOMAT

ABSCHIEDSREDEN

STARRSINN UND SCHWARZE KASSEN

SIEG MIT SCHRAMMEN

GRIFF NACH DEN STERNEN

PROBLEME MIT DEM GENOSSEN

AUSSER KONTROLLE

ALTLASTEN

DER AUFREGER

DU ODER ICH

FÜHRUNGSANSPRUCH

FLIEHKRÄFTE

SPRENGSTOFF

AMPELTRÄUME

AUF DER KIPPE

NEGATIVE CAMPAIGNING UND MERKELS VERWANDLUNG

OSTERUNRUHE

DAS REZO-TRAUMA

KARWOCHE DER ENTTÄUSCHUNGEN

ZANKENDE URGESTEINE

DER LOW-BOB-VEREIN

«OHNE GROLL»

SCHLAMM ODER SAND

KLEINE FEHLER, GROSSE FEHLER

KRIEG UND FRIEDEN

IN DER MANGEL

IM LABYRINTH DER MACHT

INNERE WIDERSPRÜCHE

DICKE BRETTER

SIGNALE AUS DEM OSTEN

DER AUSSTIEG

«SCHEISSE»

BILDSPRACHE

IM SCHÜTZENGRABEN

STIMMUNGSWECHSEL

TRÜGERISCHE ATEMPAUSE

GUMMISTIEFEL-TAGE

SIEG ODER NIEDERLAGE

HEISSE PHASE

RÜCKENWIND

DER BAERBOCK-ZUG

DEBAKEL, DESASTER, KATASTROPHE

SCHUBUMKEHR

MERKEL-LOOK-A-LIKES

AUTOPILOT

DIE LETZTEN METER

DAS ZIEL VOR AUGEN

TAG DER WAHRHEIT

MACHTGEWINN UND MACHTVERLUST

EPILOG: DER AUFTRAG

DANK

REGISTER

BIBLIOGRAPHIE (AUSWAHL)

«Wahlen allein machen noch keine Demokratie»

Barack Obama, 2009

TAFELTEIL

Helmut Kohl bei seinem letzten Wahlkampf, 1998. In den Jahren zuvor hatte er Wolfgang Schäuble die Kanzlerkandidatur in Aussicht gestellt, war dann aber doch selber angetreten. Bei seiner Bädertour durch Norddeutschland wurde er von zahlreichen Journalistinnen und Journalisten in Helikoptern begleitet.

© Jan Kerhart/ECO Media

Helmut Kohl beim Interview, 2003. Das Gespräch fand im Wohnzimmer seines Privathauses in Ludwigshafen-Oggersheim statt und dauerte insgesamt vier Tage. Kohl sprach über sein gesamtes Leben, auch über den Freitod seiner ersten Frau Hannelore und die Spendenaffäre.

© Jan Kerhart/ECO Media

Das Interview mit Angela Merkel fand wenigen Wochen vor der Bundestagswahl 2013 im Kanzleramt statt. Merkels Satz «In der Frage der Eurokrise ist die Sozialdemokratie total unzuverlässig» sorgte bei der SPD für große Empörung.

© Knut Muhsik/ECO Media

Als SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück von Merkels Satz über die angeblich unzuverlässigen Sozialdemokraten hörte, war er entsetzt: «Ich habe Mühe, mich höflich auszudrücken.» Nach einer kleinen Pause schob er nach: «Man begegnet sich immer zwei Mal im Leben, erst recht im politischen Leben.»

© Axel Thiede/ECO Media

Peer und Gertrud Steinbrück am Rheinufer in Bonn während des Bundestagswahlkampfes 2013. Beide ärgerten sich über die klischeehafte Darstellung des Kandidaten in der Presse. Peer Steinbrücks Urteil über einige Artikel war deutlich: «Schrott!»

© Patrick Brandt/ECO Media

Als Bundeskanzlerin konzentrierte sich Angela Merkel darauf, ihren Gegnern in Wahlkämpfen keine Angriffsfläche zu bieten. In den letzten Jahren ihrer Amtszeit entzog sie sich dem Parteienstreit immer mehr. Nach der Bundestagswahl 2017 schaffte sie es nur mit Mühe, eine neue Regierungskoalition zu schmieden.

© Knut Muhsik/ECO Media

Martin Schulz auf dem Parteitag der SPD im März 2017. Bei der Wahl zum Parteivorsitzenden erhielt er 100 Prozent der Stimmen. Der sogenannte «Schulz-Zug» nahm Fahrt auf – aber nur für ein paar Wochen.

© Knut Muhsik/ECO Media

Im Willy-Brandt-Haus im Juni 2017. Kanzlerkandidat Schulz bespricht mit seinem Wahlkampfteam die nächsten Schritte der Kampagne. Zu diesem Zeitpunkt war die SPD in Meinungsumfragen deutlich zurückgefallen.

© Knut Muhsik/ECO Media

Horst Seehofer, CSU, auf dem Weg zu einer Konferenz in Helsinki. Als bayerischer Ministerpräsident und später als Bundesinnenminister lieferte er sich erbitterte Kämpfe mit Kanzlerin Merkel zur Flüchtlingspolitik. Im Sommer 2018 kam es beinahe zum Bruch zwischen CDU und CSU.

© Paul Kraneis/ECO Media

Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrem Büro im Konrad-Adenauerhaus, 2019. Die CDU-Vorsitzende litt unter innerparteilichen Auseinandersetzungen und schweren Wahlniederlagen. Wenige Monate später kündigte sie ihren Rücktritt an. Bei ihrer Abschiedsrede klagte sie: «Ich habe gespürt, dass ich als Parteivorsitzende nicht mehr genügend Autorität und Unterstützung hatte.»

© Peter Petridis/ECO Media

Der Webvideoproduzent Rezo in Aachen. Sein Video «Die Zerstörung der CDU» hat Union und SPD kurz vor der Europawahl 2019 schwer getroffen. Nicht nur gegen die Regierungsparteien teilte er aus. Rezo warf der Presse vor, nicht angemessen über die Klimakatastrophe zu berichten.

© Patrick Brandt/ECO Media

Olaf Scholz im Bundesfinanzministerium. Im Herbst 2019 erlitt er eine seiner schwersten politischen Niederlagen. Die SPD wählte nicht ihn, sondern Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu neuen Parteivorsitzenden. Scholz blieb dennoch Minister.

© Knut Muhsik/ECO Media

Im Frühjahr 2021 hatte sich Olaf Scholz von seiner Niederlage beim Kampf um den Parteivorsitz erholt. Die SPD-Führung hatte ihn zum Kanzlerkandidaten nominiert. Mitte März 2021 besprach er das Ergebnis der Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg in einer Schaltkonferenz mit dem Präsidium seiner Partei.

© Knut Muhsik/ECO Media

Wegen der Ansteckungsgefahr während der Corona-Pandemie hatten Journalistinnen und Journalisten auf dem CDU-Parteitag im Januar 2021 keinen Zutritt. Die Mannschaft des Redaktionsschiffes «The Pioneer» verfolgte die Wahl von Armin Laschet zum neuen Parteivorsitzenden daher am Bildschirm.

© Knut Muhsik/ECO Media

Annalena Baerbock und Robert Habeck zu Beginn des Superwahljahres im Januar 2021. Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, wer von den beiden die Nummer eins im Bundestagswahlkampf sein würde. Beide erhoben Anspruch auf die Kandidatur.

© Knut Muhsik/ECO Media

Beim Fotoshooting am Rande des Grünen-Parteitages im Juni 2021. Die Kampagne war wegen zahlreicher Vorwürfe gegen Annalena Baerbock in schwere Turbulenzen geraten. Kurz zuvor hatte die Kanzlerkandidatin bei eine Rede erklärt, Fehler gemacht zu haben, über die sie sich «tierisch geärgert» habe.

© Knut Muhsik/ECO Media

Annalena Baerbock nach einer Fernsehsendung mit Olaf Scholz auf dem Dach des RBB in Berlin, Mai 2021. Zu diesem Zeitpunkt musste sie sich gegen erste Vorwürfe zur Wehr setzen, ihren Lebenslauf geschönt zu haben.

© Knut Muhsik/ECO Media

Die Virologin Melanie Brinkmann ist Professorin an der Technischen Universität Braunschweig. Seit 2020 beriet sie unter anderem die Bundesregierung bei Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Ihre Unzufriedenheit mit dem Krisenmanagement hat sie auch öffentlich geäußert.

© Knut Muhsik/ECO Media

Selina Fullert war ein führender Kopf der «Querdenker»-Bewegung in Hamburg. Sie organisierte Demonstrationen gegen die Corona-Politik. Als einzelne Mitglieder der «Querdenker» ins Visier des Verfassungsschutzes gerieten, stieg sie aus.

© Axel Thiede/ECO Media

Der Pianist Igor Levit übertrug in den schlimmsten Phasen der Pandemie Hauskonzerte im Internet. Wie viele andere Kulturschaffende litt er schwer darunter, nicht öffentlich auftreten zu dürfen. 2020 nannte er «ein Scheißjahr». Auf Twitter äußert sich Levit oft zu politischen Themen.

© Knut Muhsik/ECO Media

Am 11. April 2021 erklärte CSU-Chef Markus Söder, sich für die Kanzlerkandidatur der Union zu bewerben. Solle sich die CDU gegen ihn entscheiden, würde er dies «ohne Groll» akzeptieren. Es war der Auftakt eines zehntägigen Machtkampfes mit CDU-Chef Armin Laschet.

© Knut Muhsik/ECO Media

Im Mai 2021 trat Franziska Giffey wegen der Plagiatsvorwürfe gegen ihre Doktorarbeit als Bundesfamilienministerin zurück. An ihrer Kandidatur für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin hielt sie fest. Wenige Tage nach ihrem Rücktritt nahm sie mit Olaf Scholz beim Ostkonvent der SPD in Halle, Sachsen-Anhalt, teil.

© Ralf Klingelhöfer/ECO Media

Olaf Scholz auf dem Flug zu einem Finanzministertreffen der G7 in London. Der deutsche Minister hatte sich seit Jahren für eine Mindeststeuer für international tätige Konzernen eingesetzt, um Steuerflucht bekämpfen zu können. Das Treffen wurde zu einem der größten politischen Erfolge von Olaf Scholz als Finanzminister.

© Knut Muhsik/ECO Media

Armin Laschet in seinem Büro in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei in Düsseldorf, Herbst 2019. Lange hatte Laschet gezögert, sich für das Amt des CDU-Bundesvorsitzenden zu bewerben. Erst nach der Rückzugsankündigung von Parteichefin Kramp-Karrenbauer im Februar 2020 entschied sich Laschet für eine Kandidatur.

© Patrick Brandt/ECO Media

Armin Laschet und Christian Lindner auf dem Flug von Berlin nach Köln/Bonn, Juni 2021. Der CDU-Chef und der FDP-Chef verstehen sich persönlich und politisch gut. Über den Wolken loteten sie die Chancen einer Koalition nach der Bundestagswahl aus.

© Paul Kraneis/ECO Media

Armin Laschet am Tag nach den Wahlniederlagen der CDU bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg im März 2021. In den virtuellen Sitzungen von Bundespräsidium und -vorstand musste sich der Parteichef gegen harte Kritik zur Wehr setzen.

© Knut Muhsik/ECO Media

PROLOG: LAUFEN LERNEN

Angela Merkel hat einen Plan. Es ist Montagfrüh, kurz vor halb neun, die ersten Präsidiumsmitglieder sind bereits im Konrad-Adenauer-Haus eingetroffen. Die Kanzlerin geht über den Flur im fünften Stock, dort, wo die überlebensgroßen Fotos früherer CDU-Vorsitzender an der Wand hängen. Vorbei an Adenauer, Erhard, Kiesinger, Barzel, Kohl, Schäuble. Dann betritt sie das Büro der Generalsekretärin. Ihre Vertraute soll die Nachricht als Erste erfahren, vor allen anderen.

Was Annegret Kramp-Karrenbauer da zu hören bekommt, verschlägt ihr die Sprache. Es kann ihr Leben verändern. Und auch die politische Landschaft in Deutschland. Merkel bittet sie, die Nachricht noch eine Weile für sich zu behalten. Sie will zunächst, ebenfalls vertraulich, die übrigen Präsidiumsmitglieder unterrichten, dann den Parteivorstand. Das, was Merkel zu verkünden hat, muss sorgsam erklärt werden.

Zu diesem Zeitpunkt sitze ich in meinem Büro in Hamburg und bereite meinen Arbeitstag vor. Es geht um Recherchen für einen Film, im Hauptberuf bin ich Dokumentarfilmer. Um 9:53 Uhr meldet der erste Tweet die Neuigkeiten aus der CDU, vorsichtig noch, wie ein Gerücht. Dann der nächste Tweet. Nachrichtenagenturen und Online-Medien ziehen nach.

Kaum etwas verachtet Angela Merkel mehr als Durchstechereien, die Indiskretionen des politischen Betriebs. Also wird sie diesen Montag hassen. Und ich muss mich schnell entscheiden: Was ist dran an den Gerüchten? Wenn ich jetzt zum Bahnhof eile und den nächsten Zug erwische, kann ich in zwei Stunden in Berlin sein, pünktlich zur Pressekonferenz in der CDU-Zentrale. Als ich schließlich im Zug sitze, verdichten sich die Gerüchte zu Fakten: Der frühere Unions-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz erklärt via BILD.de, dass er für die Nachfolge von Merkel bereitstehe, Kramp-Karrenbauer reagiert prompt und bekundet ebenfalls ihr Interesse, kurz darauf Jens Spahn. Es geht rasend schnell. Was ist da los in Berlin, an diesem 29. Oktober 2018?

Ich treffe einige Minuten zu spät ein. Ein paar dutzend Journalistinnen und Journalisten, dazu zahlreiche Kamerateams haben sich im Foyer der Parteizentrale versammelt. Es ist zu spüren, dass dieser Montag ein historischer Tag ist. Die seit vielen Jahren fein ausbalancierte Architektur der deutschen Politik gerät ins Wanken. Wird sie einstürzen?

Angela Merkel ist gerade auf die kleine Bühne gestiegen und verkündet nun das Ende einer Ära, ihrer Ära: «Ich habe mir immer gewünscht und vorgenommen, meine staatspolitischen und parteipolitischen Ämter in Würde zu tragen und sie eines Tages auch in Würde zu verlassen. Zugleich weiß ich, dass so etwas in einer politischen Ordnung nicht gleichsam am Reißbrett geplant werden kann.»

Dann wird Merkel konkret: «Auf dem nächsten Bundesparteitag der CDU im Dezember in Hamburg werde ich nicht wieder für das Amt der Vorsitzenden der CDU Deutschlands kandidieren. Diese vierte Amtszeit ist meine letzte als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Bei der Bundestagswahl 2021 werde ich nicht wieder als Kanzlerkandidatin der Union antreten […]. Für den Rest der Legislaturperiode bin ich bereit, weiter als Bundeskanzlerin zu arbeiten. Und, ja, damit weiche ich in einem ganz erheblichen Maße von meiner tiefen Überzeugung ab, dass Parteivorsitz und Kanzleramt in einer Hand sein sollten. Das ist ein Wagnis, keine Frage.»

Ein Wagnis, keine Frage. Aber auch eine Chance. Drei Jahre später, nach einem turbulenten Wahlkampf und einer für die Union desaströsen Bundestagswahl, gibt Angela Merkel auch die Kanzlerschaft, die Führung des Landes, in andere Hände. Ein tiefer Einschnitt. Deutschland wurde sechzehn Jahre lang von einer Frau regiert, die im Grunde nicht viel mehr wollte als regieren. Bei allen Verdiensten, die der pragmatischen Krisenkanzlerin zukommen: Merkel konnte sich vor allem durch fortgesetzte Ambitionsarmut vier Legislaturperioden lang an der Macht halten. Die Abwesenheit von Gestaltungswillen, von Reformehrgeiz kennzeichnete ihren reaktiven Regierungsstil, der im Nachhinein auch eine Bürde für die nächste Generation von Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitikern darstellt. Besonders in den beiden letzten Jahren ihrer Regierungszeit wurden Versäumnisse und Schwächen erkennbar. Spätestens das zeitliche Zusammentreffen der Pandemie mit Merkels zähem Abschied von der Macht offenbarte die Defizite ihres jahrelangen Auf-Sicht-Fahrens, ihrer Politik der kleinen Schritte. Merkel agierte in der Coronakrise unsicherer und erfolgloser als gewohnt. Und das Debakel beim dilettantisch geplanten Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan setzt – nach vielen Erfolgen – einen überaus hässlichen Schlusspunkt ans Ende von sechzehn Jahren Außenpolitik unter ihrer Führung.

Wenn im Frühjahr der Schnee schmilzt, kommt auch der liegengebliebene Müll zum Vorschein. Was sehen wir? Deutschland hat enormen Nachholbedarf bei der Digitalisierung. Der Kampf gegen die seit langem bekannte Klimakrise kommt nur schleppend in Gang, die Infrastruktur für E-Fahrzeuge sowie der Zustand des Schienennetzes sind unzureichend, teilweise erbärmlich. Die Ausstattung vieler Schulen ist miserabel. Die schlechte Kommunikation zwischen Bund und Ländern zeigt, dass das einstige Erfolgsmodell des deutschen Föderalismus schwere Funktionsmängel hat. Viele Behörden haben in der Pandemie ihre Rückständigkeit offenbart, etwa durch ihre schlechte Vernetzung mit kommunalen Gesundheitsämtern. Der Wirtschaftswissenschaftler Moritz Schularick schreibt mit Recht vom «entzauberten Staat». Und zu Beginn der 2020er Jahre ist nicht zu übersehen, dass viele Menschen in Deutschland immer noch an der Armutsgrenze leben, nämlich jeder sechste, Tendenz steigend, darunter Millionen Kinder.

Manches ist Angela Merkel anzulasten, gewiss nicht alles. In der Rückschau fällt auf, dass eine Bundeskanzlerin, die nie viel mehr wollte als regieren, von politischen Gegnern herausgefordert wurde, die ebenfalls nicht viel mehr wollten als: regieren. Mit welchen markanten Forderungen und programmatischen Ideen haben sich die Kanzlerkandidaten Steinmeier, Steinbrück und Schulz im kollektiven Gedächtnis der Deutschen festgesetzt? Hätte sich das Land unter ihnen wesentlich anders, besser entwickelt?

Die Wahlkämpferin Angela Merkel hat sich drei Mal – 2009, 2013 und 2017 – erfolgreich auf die gleiche Strategie verlassen: Sie hat politisch weitgehend inhaltsleere Wahlkämpfe geführt, um dem Gegner keine Angriffsflächen zu bieten. Bei einer Feier zum 80. Geburtstag von Hans-Dietrich Genscher im Jahr 2007 bekannte sie, wie die rhetorische Schwammigkeit des früheren Außenministers und Vizekanzlers sie geprägt hat: «Die aus meiner Sicht in seinen Äußerungen vorhandene Unbestimmtheit und die daraus gleichwohl resultierende Zufriedenheit der Journalisten haben auf meinem politischen Lernweg eine große Wirkung entfaltet.» Merkel hat die Methode Genscher zur Staatskunst veredelt. Martin Schulz machte das im Wahlkampfsommer 2017 derart rasend, dass er der Bundeskanzlerin vorwarf, ihr Politikstil sei ein «Anschlag auf die Demokratie». Aus den verzweifelten Worten des SPD-Kandidaten sprach allerdings auch das Eingeständnis, dass es ihm nicht gelang, die Kanzlerin in einen inhaltlichen Diskurs zu zwingen.

In diesem schläfrigen Zustand wurden die Bundeskanzlerin und die politische Klasse eiskalt erwischt, als das Land im Frühjahr 2020 mit ungeheurer Wucht von einer Seuche heimgesucht wurde. Seither muss politische Kommunikation völlig neu gedacht werden. Nicht zuletzt im Wahlkampf. Ohne Veranstaltungen in vollen Hallen, ohne spontane Begegnungen außerhalb der eigenen Blase. Das hautnahe Erleben von Politik wird zunehmend ersetzt durch virtuelle Formate im Internet. Die Entfremdung zwischen den politischen Entscheidungsträgern und dem Rest der Bevölkerung nimmt weiter zu.

Gleichzeitig verlieren politische Inhalte auf einmal ihre Abstraktheit, sie werden sehr handfest. Politikerinnen und Politiker werden plötzlich daran gemessen, wie schnell sie Masken, Wattestäbchen und Impfdosen organisieren können. Wie schnell sie Menschen aus Bürgerkriegsregionen evakuieren. Und sie werden auch danach beurteilt, ob sie bei Katastrophen die richtigen Worte finden und einen passenden Gesichtsausdruck. Ihr Ansehen schwankt innerhalb kurzer Zeit zwischen zwei Extremen: Held und Loser. Jens Spahn kann ein Lied davon singen.

Und wie schon während der Flüchtlingskrise wächst das Misstrauen gegenüber Politik und Presse. Bei Querdenker-Demonstrationen schlägt Kritik erschreckend oft in Hass und Gewalt um. Kurzum: Das Land verändert sich – und somit auch die Erwartungen, die an Spitzenpolitikerinnen und -politiker gestellt werden. Und auch an diejenigen, die über Politik berichten.

Als Dokumentarfilmer habe ich vielleicht einen etwas anderen Blick auf die Berliner Ereignisse als Hauptstadtjournalisten, die Tag für Tag über die und aus der Berliner Blase berichten. Ich muss nicht jeden Abend einen Beitrag senden, sondern konzentriere mich ausschließlich auf Langzeitbeobachtungen. Monatelang, manchmal jahrelang. Seit 1998 habe ich alle Bundestagswahlkämpfe als Filmemacher begleitet. Seit Helmut Kohls letztem Versuch, sich an die Macht zu klammern. Ich konnte mit den Amtsinhabern Interviews führen, auch mit Gegenkandidaten und anderen Spitzenpolitikern. Ich konnte hinter die Kulissen der Kampagnen blicken.

So war es auch diesmal. Ein knappes Jahr lang habe ich für eine ARD-Dokumentation und für dieses Buch die Parteien und Personen beobachtet, die den Ehrgeiz und die Chance hatten, das Kanzleramt zu erobern und die Zeit nach Angela Merkel zu prägen.

In Deutschlands Entscheidungsjahr konnte ich mit Armin Laschet und Paul Ziemiak, mit Annalena Baerbock, Robert Habeck und Michael Kellner, mit Olaf Scholz und Lars Klingbeil immer wieder exklusive Gespräche führen und sie oft aus der Nähe beobachten. Auch viele andere standen für lange Interviews zur Verfügung, etwa Markus Söder, Christian Lindner, ebenso Politikerinnen und Politiker der AfD und der Linken, außerdem zahlreiche Kolleginnen und Kollegen der Hauptstadtpresse.

So konnte ich den Kampf ums Kanzleramt miterleben – und auch das Personal verstehen lernen, das die Bundesrepublik in den nächsten Jahren führen wird. Daneben kommen in diesem Buch weitere Stimmen aus der deutschen Politik und Gesellschaft zu Wort, die eine wichtige Sicht auf den Übergang in die Post-Merkel-Ära haben. Sie stehen auch für die Bruchlinien im Land, die durch die Pandemie zu Tage getreten sind.

Außerdem blicke ich auf frühere Kampagnen und Machtkämpfer zurück, von Kohl über Schröder und Merkel bis Steinbrück und Schulz. Man kann, mit zeitlichem Abstand, allerhand von ihren Wahlkämpfen lernen.

Sobald sie gewählt sind, üben Politikerinnen und Politiker ihre Macht meistens in Büros und Konferenzräumen aus und lassen sich von unabhängigen Journalisten dabei höchst ungern über die Schulter blicken. In Wahlkampfzeiten verlassen sie dagegen ihre gesicherten Räume. Wenn man nah genug dran ist, erkennt man ihre innersten Überzeugungen, gelegentlich lassen sie zwischen all den Floskeln und Phrasen sogar in ihr Seelenleben blicken.

Zu Beginn einer Kampagne gehen die Kandidaten mit den allerbesten Vorsätzen ins Rennen, sie haben ein Bild von sich in der Öffentlichkeit im Kopf. Einige versuchen, dieses Bild zu korrigieren, sie verpassen sich einen neuen Haarschnitt, ein neues Brillengestell oder nehmen ein paar Kilo ab. Berater machen sich an die Arbeit. Aber je länger eine Kampagne dauert und je mehr Probleme auftreten, desto brüchiger werden die Fassaden.

Ich habe Redner gesehen, Helmut Kohl etwa und Joschka Fischer, die erst dann in Form kamen, wenn sie auf Marktplätzen von wütenden Demonstranten ausgepfiffen wurden. Für sie war Politik Kampfsport. Ich konnte beobachten, wie einem gestandenen Politiker vor hunderten Anhängern die Tränen in die Augen schossen, nicht vor Rührung, sondern weil er den Druck aus der eigenen Partei nicht mehr aushielt. Ich habe mit einem Kandidaten über seine Minderwertigkeitskomplexe und Alkoholprobleme in der Jugend gesprochen.

Und ich habe in mehreren Interviews eine Bundeskanzlerin erlebt, die jedes Wort abwägte und aus lauter Vorsicht viel sprach, aber kaum etwas sagte. Als ich mich einmal nach ihren Gefühlen erkundigte, nachdem auch sie bei einem Wahlkampfauftritt von Störern niedergebrüllt worden war, antwortete sie, dass sie solche Situationen gut aushalten könne: «Wir sind doch Profis.» Aber selbst der hochprofessionellen Wahlkämpferin Angela Merkel sind Fehler unterlaufen. Von einigen werde ich berichten. In einem Fall nahm ich sogar unfreiwillig eine Nebenrolle ein.

In diesen Wochen wird wieder das Bonmot von Joschka Fischer hervorgekramt, wonach das Kanzleramt «die Todeszone der Politik» sei. Und es stimmt ja: Wer da rein will, braucht nahezu unmenschlich viel Kraft und Ausdauer. Und Risikobereitschaft. Man kann aufsteigen oder abstürzen. Die meisten stürzen ab. Auch das wird Thema des Buches sein.

In Wahlkämpfen lässt sich aber nicht nur der Homo Politicus studieren. Man kann auch viel über das eigene Land erfahren. Die Themen, die Reden, die Plakate spiegeln die Befindlichkeiten der Bevölkerung wider. Wenn Konrad Adenauer 1957 mit dem Slogan «Keine Experimente» warb, die Grünen 1983 «Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt» plakatieren ließen und Guido Westerwelle 2002 mit seinem Guidomobil in den Spaßwahlkampf zog, dann offenbarten die Kampagnen immer auch Entwicklungsschübe der Republik.

Wo steht Deutschland heute?

Bei meinen Besuchen in den Parteizentralen in den letzten Monaten war auffällig oft zu hören, man müsse Politik weit über die nächste Legislaturperiode hinaus neu ausrichten; das Land, Europa und die Welt stünden vor Aufgaben von historischen Dimensionen. Noch vor vier Jahren hatten die Kampagnen einen anderen, dezenteren Zungenschlag. Was ist seitdem passiert? Wieso fällt Politikerinnen und Politikern erst jetzt der gewaltige Reformstau des Landes auf? Im Wahljahr 2021 geht nicht nur eine Ära zu Ende. Eine politische Kultur stößt an ihre Grenzen.

Im Winter 1999/2000, auf dem Höhepunkt des Parteispendenskandals, schrieb die damalige CDU-Generalsekretärin Angela Merkel in einem viel beachteten Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass ihre Partei «laufen lernen» müsse. Sie hatte die Emanzipation von der politischen Überfigur Helmut Kohl im Sinn, natürlich. Zwei Jahrzehnte später muss die CDU wieder laufen lernen. Aber auch die anderen Parteien müssen sich fragen, welchen Anteil sie an der Stagnation der letzten Jahre haben – und ob ihre politischen Geschäftsmodelle noch zeitgemäß sind.

Im Ausgang der Bundestagswahl stecken Chancen, wie sie Deutschland lange nicht mehr hatte: Angela Merkel wird künftig nicht mehr als Argument, auch nicht mehr als Ausrede herhalten. Fast alle im Bundestag vertretenen Parteien sprachen wegen der enormen politischen Herausforderungen von der Notwendigkeit eines Politikwechsels.

Olaf Scholz verkündete «Zukunftsmissionen» und nannte den notwendigen Ökoumbau der Wirtschaft eine «Jahrhundertaufgabe». Annalena Baerbock sprach von der «Aufgabe einer Generation», Armin Laschet verlangte einen «Kulturwandel». Christian Lindner warb mit dem Spruch: «Nie gab es mehr zu tun». Ralph Brinkhaus, der des radikalen Gedankenguts unverdächtige Unionsfraktionschef, hielt wegen des Reformstaus «vielleicht sogar eine Revolution» für unausweichlich. Das alles klang in Wahlkampfreden mutig und visionär. Sind die großen Worte ernst gemeint?

Die neue Regierung wird sich von Merkels Politik der kleinen Schritte verabschieden müssen. Sie muss anders laufen lernen. Sie muss große Schritte gehen.

Eine Bundestagswahl kann weit mehr bewirken als einen Personalaustausch an den Schaltstellen der Macht. Eine Bundestagswahl kann ein Land in Bewegung setzen.

AUFBRUCH ODER WEITER SO

DREI MÄNNER AUS NORDRHEIN-WESTFALEN

Es fängt mit den Fäusten an. Wenn sich Politikerinnen und Politiker zur Wahl stellen, ballen sie gerne ihre Hände zu Fäusten, wie Boxer. Sie glauben dann, entschlossen und tatkräftig zu wirken. Nach den Fäusten kommen die Hände, die sanft ein Halbrund bilden. Eine Geste, die Gestaltungswillen zeigen soll und an Töpfer erinnert, wenn sie eine Vase formen. In den letzten Wochen vor dem Superwahljahr beginnt also die Zeit der Boxer-Fäuste und der Töpfer-Hände.

An diesem Montag Mitte Dezember sind es noch zehn Tage bis Weihnachten, noch zwei Tage bis zum harten Lockdown. Deutschland und die Hauptstadt Berlin sind tief verunsichert. Die Gefühle der Bürgerinnen und Bürger bewegen sich irgendwo zwischen der Vorfreude auf das Fest und der Angst, sich am Glühweinstand den Tod zu holen. Die Fernsehsender zeigen unentwegt Aufnahmen von überfüllten Intensivstationen in den Krankenhäusern, von Patienten an Beatmungsgeräten.

Auch die CDU, die Deutschland seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten regiert, ist in einem beängstigenden Zustand. Noch immer hat sie keinen neuen Parteivorsitzenden. Und der Parteitag wurde schon zwei Mal verschoben. Ab heute gibt es immerhin einen neuen Termin, Mitte Januar 2021 soll die Führungsfrage geklärt werden. Endlich. Für heute Abend hat die Übergangsführung der Partei eine Kandidatenrunde organisiert, die drei Bewerber um die Nachfolge Annegret Kramp-Karrenbauers – Friedrich Merz, Armin Laschet und Norbert Röttgen – sollen sich in einer Diskussion den Parteimitgliedern und darüber hinaus dem Land vorstellen. Aber das Land will sich während der Pandemie nicht so recht für das Gerangel in der CDU interessieren. Nur ein paar tausend Menschen klicken die Kandidatenrunde auf der Website der Partei an, die außerdem noch von dem Spartensender Phoenix im Fernsehen übertragen wird.

Die Partei führt die Runde als physische Präsenzveranstaltung der drei Kandidaten im Konrad-Adenauer-Haus durch. Und das ist nicht leicht. Überall auf dem Boden sind mit rot-weißen Klebebändern die Positionen der Kameraleute markiert. Die CDU gibt sich viel Mühe, die Abstands- und Hygieneregeln einwandfrei durchzusetzen. «Wir wollen nicht, dass uns die BILD-Zeitung anschwärzt, wir würden Corona nicht ernst nehmen. Wir sind schließlich Regierungspartei, da müssen wir die Maßnahmen besonders ernst nehmen», flüstert mir ein Parteisprecher zu.

Der Zugang zur Veranstaltung ist auf die drei Kandidaten, ihre Presseleute, zwei Maskenbildnerinnen und die Personenschützer beschränkt, darüber hinaus sind noch ein paar Fotografen und Kameraleute anwesend. Die allermeisten Journalistinnen und Journalisten bleiben außen vor. Einige von ihnen sind dennoch hergekommen. Sie können sich aber nur an den großen, bodentiefen Außenfenstern an der Klingelhöferstraße 8 im Berliner Ortsteil Tiergarten die Nasen plattdrücken.

Nach und nach kommen die Kandidaten durch die Schiebetür am Haupteingang der CDU-Bundesgeschäftsstelle, in schwere Wintermäntel gehüllt, vorschriftsmäßig mit Mund-Nasen-Bedeckungen. Einer kommt nicht: Jens Spahn. Der Gesundheitsminister ist gerade der Star der Partei, der politische Gewinner der Pandemie. Seine Umfragewerte sind ausgezeichnet, er ist beliebter als Angela Merkel. Ein Umfrageinstitut ermittelt, dass sich 52 Prozent der Befragten «eine möglichst große Wirkung» von ihm im kommenden Jahr wünschen. Parteifreunde fordern offen, dass Jens Spahn ins Rennen um den Parteivorsitz einsteigt. Auch als Kanzlerkandidat kommt er in Frage. Er selbst sondiert in vertraulichen Gesprächen seine Chancen. Doch Spahn zögert – und erscheint nicht zur Kandidatenrunde.

So sind es nur Merz, Laschet und Röttgen. Im Eingangsbereich treffen sie auf andere Maskenträger. Eine Atmosphäre wie aus einem schlecht ausgestatteten Katastrophenfilm. Voller diffuser Angst.

Aber wofür der Aufwand? Die Diskussion der drei Politiker erinnert mehr an Schattenboxen als an einen echten Kampf. Keiner wagt sich aus der Deckung, die Wortbeiträge sind glattgeschliffen, in tausenden Reden und Interviews erprobt, variiert, weiterentwickelt. Alle drei haben dasselbe Ziel: Sie wollen Parteichef werden, Kanzlerkandidat und dann, natürlich, Bundeskanzler. Es geht nicht nur um die Macht in der Partei, sondern auch um die Macht im Land. Aber dazu müssen sie erst diese Runde hier bestehen.

Die drei kennen sich seit Urzeiten. Sie sind verbunden durch unzählige Geschichten von Freundschaft, Verletzungen, Versöhnung, Misstrauen. Armin Laschet und Norbert Röttgen standen sich früher sehr nahe, auch ihre Familien. Vor über zehn Jahren kandidierten sie schon einmal gegeneinander, es ging um den Landesvorsitz in Nordrhein-Westfalen. Damals setzte sich Röttgen durch. Die Freundschaft der beiden zerbrach. Aber sie konnten sich fortan nicht mehr aus dem Weg gehen, beide blieben wichtige Figuren in derselben Partei.

Auch Merz und Laschet kennen sich seit Jahrzehnten, beide stiegen im Landesverband auf und machten in der Bundes-CDU Karriere. Als sich Friedrich Merz mit Parteichefin Merkel heillos überwarf, nachdem diese ihm 2002 den Fraktionsvorsitz der Union im Bundestag streitig gemacht hatte, und später für viele Jahre aus der Politik ausschied, blieben Laschet und er dennoch in Kontakt. Laschet, seit seinem überraschenden Sieg bei der Landtagswahl 2017 über SPD-Amtsinhaberin Hannelore Kraft Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, bedachte den Aussteiger mit Ämtern, die zwar gut klingen, aber ohne viel Macht ausgestattet sind. So ernannte er Merz zum Aufsichtsratsvorsitzenden des Köln Bonn Airport und zum «Beauftragten für die Folgen des Brexits und die transatlantischen Beziehungen». Auf lange Sicht ließ sich der ehrgeizige Merz, der seit seinem vorübergehenden Ausscheiden aus der Politik in der Wirtschaft reich geworden war und zwischen 2016 und 2020 für die deutsche Dependance des weltgrößten Vermögensverwalters BlackRock arbeitete, damit nicht abspeisen.

Aus gegenseitigen Unterstützern wurden im parteiinternen Machtvakuum nach Merkel Rivalen. Kurz vor der Kandidatenrunde warf Merz Laschet sogar ein falsches Spiel vor. Dieser habe die Pandemie vorgeschoben, um aus taktischen Gründen eine Verschiebung das Parteitages zu erzwingen: «Ich habe ganz klare, eindeutige Hinweise darauf, dass Armin Laschet die Devise ausgegeben hat: Er brauche mehr Zeit, um seine Performance zu verbessern», wütete Merz. Das «Parteiestablishment» wolle ihn, den Liebling der CDU-Basis, verhindern.

Merz, Laschet und Röttgen bewegen sich in einem dicht geknüpften Netz aus Beziehungen, Abhängigkeiten und Rivalitäten. Sie sind geübt darin, sich miteinander zu messen, notfalls auch mit harten Bandagen. Aber der Versuch, hier und heute einen Parteifreund auf die Bretter zu schicken? Ein solches Egospiel könnte bei den Delegierten einer auf demonstrative Harmonie ausgerichteten Partei, die in wenigen Wochen per Stimmabgabe über den Sieger entscheiden, ins Leere laufen. Daher verfolgen alle drei die gleiche Strategie: keine Provokation riskieren, auf Fehler der anderen lauern. Niemand gibt sich eine Blöße. Die Hände werden zu Fäusten geballt, nur zuschlagen dürfen sie nicht.

Armin Laschet spielt seine Angriffe subtil aus, über Bande. In der Vorstellungsrunde sagt er: «Beruflich bin ich Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. […] Da leisten wir konkrete Politik jeden Tag für die Menschen.» Das ist sowohl gegen Norbert Röttgen als auch gegen Friedrich Merz gerichtet. Röttgen war als Spitzenkandidat der CDU bei der Landtagswahl 2012 noch krachend an Hannelore Kraft gescheitert. Und Friedrich Merz, was macht der eigentlich beruflich? Ach ja, er ist Wirtschaftsanwalt und kümmert sich ums Geldverdienen. Das ist jedenfalls das Klischee, das Laschet jetzt indirekt bedient. Dann setzt er nach: «Ich bin Teamplayer.» Das richtet sich erneut gegen Merz, der eher als arroganter Einzelkämpfer gilt.

Die kleinen, subtilen Angriffe in dieser Runde verletzen niemanden. Sie sind harmlos. Sie sind nichts gegen die Gemeinheiten, die sich Markus Söder und Armin Laschet Monate später an den Kopf werfen werden. Am heutigen Abend fällt eher der Gleichklang des Trios in politischen Fragen auf. Obwohl doch alle drei Konkurrenten sind – und sich früher schon so viele Verwundungen zugefügt haben.

Als die Moderatorin Tanja Samrotzki, die einzige Frau am Tisch, die Sprache auf den geringen Frauenanteil in der Union bringt, sind sich die drei Bewerber schnell einig. Ja, es müssten mehr Frauen in Führungspositionen der CDU vorrücken. Alle nicken. Es stand Frauen selbstverständlich frei, sich ebenfalls um den Parteivorsitz zu bewerben. Und es wäre spannend gewesen herauszufinden, warum die Partei auch nach zwei Jahrzehnten unter weiblicher Führung immer noch so unattraktiv für viele Frauen ist. In der laufenden Legislaturperiode sind nur 51 von 246 Abgeordneten der CDU/CSU-Bundestagsfraktion weiblich, was einem Anteil von knapp 21 Prozent entspricht. Zum Vergleich: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag hat eine Frauenquote von immerhin ca. 44 Prozent, bei Linken und Grünen sind sogar mehr als die Hälfte der Abgeordneten Frauen, und selbst die FDP schneidet mit ca. 24 Prozent Frauenanteil etwas besser ab als die Union (nur die AfD liegt mit knapp 10 Prozent noch dahinter). Doch die drei Kandidaten um den Parteivorsitz werden heute Abend mal wieder nicht konkret, wie sie dieses Ungleichgewicht künftig beheben wollen. Es bleibt eine Männerrunde einer Männerpartei.

Nach zwei Stunden verlassen Merz, Laschet und Röttgen mit ihrer jeweiligen Entourage die Parteizentrale. Die Delegierten werden nach einer zweiten Kandidatenrunde im Januar auf dem virtuellen Parteitag abstimmen. Aber haben sie eine richtige Auswahl? Alle drei kommen aus Nordrhein-Westfalen, alle drei sind katholisch, der eine wird mehr dem Wirtschaftsflügel seiner Partei zugeordnet, der andere versucht, als Außenpolitiker zu punkten, der dritte spricht viel von «Maß und Mitte». Die dringend notwendige programmatische Erneuerung schiebt die Partei seit langem vor sich her. Wohin will die CDU nach achtzehn Jahren Merkel und zwei Jahren Kramp-Karrenbauer? Welche Rezepte haben die drei Kandidaten zur Bewältigung der großen Herausforderungen? Wie wollen sie den Klimawandel stoppen, die Pandemie überwinden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt wieder stärken? Heute Abend will oder kann sich niemand mit mutigen Vorschlägen profilieren. Ein echter Favorit bei der bevorstehenden Wahl zum Parteichef ist nicht auszumachen. Ein kühler Abend.

DER JUNGE GENERAL

Vier Tage später hat ein mächtiger Hebekran die Kulisse der Kandidatenrunde in der Lobby des Konrad-Adenauer-Hauses demontiert, hier steht jetzt ein Weihnachtsbaum. Paul Ziemiak, der Generalsekretär der CDU, kommt ein paar Minuten zu spät zum vereinbarten Interview, er blickt unentwegt auf sein Handy. Noch ein Anruf, noch eine Mail. Dann: «Was wollen Sie denn wissen?» Ziemiak ist nicht zu beneiden in diesen Wochen, er muss wegen der Pandemie einen Parteitag ohne Publikum organisieren, mit vielen technischen und juristischen Unsicherheiten. Er gibt sich keine Mühe, seine Probleme kleinzureden: «Alles sehr ungewöhnlich».

Immerhin weiß er seit ein paar Stunden, dass er Generalsekretär bleiben soll. Die beiden Bewerber um das Amt des Parteivorsitzenden Armin Laschet und Norbert Röttgen haben diese Entscheidung für den Fall ihrer Wahl bestätigt. Auch Friedrich Merz hat der Deutschen Presse-Agentur gesteckt, dass er an Ziemiak festhalten würde. Noch ist die Meldung nicht öffentlich, Merz will sich erst am Abend offiziell dazu äußern. Aber was ist die Personalie wert? Was passiert, sollte CSU-Chef Markus Söder Kanzlerkandidat werden und nicht der neue CDU-Chef? Würde der Franke seine eigenen Leute mitbringen und einen Vertrauten mit der Organisation des Wahlkampfs beauftragen? Was will Söder?

«Wir wissen heute noch nicht, wo wir im Januar stehen werden», sagt Ziemiak. «So etwas hat es noch nie gegeben. Wir haben so viele Neuerungen in diesem Superwahljahr 2021. Das erste Mal sind nicht mehr die Sozialdemokraten der Hauptkonkurrent im politischen Wettbewerb mit der Union. Das erste Mal kommen wir aus einer Bundesregierung mit einer amtierenden Bundeskanzlerin, die aber nicht mehr antritt, mit einem neuen Kandidaten. Das erste Mal sind wir vor Weihnachten vor einem Bundestagswahlkampf und wir wissen nicht, wer Parteivorsitzender sein wird. Dieser Wahlkampf ist jetzt schon geprägt von vielen Unbekannten.»

Im vergangenen Februar hatte Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug als Parteivorsitzende angekündigt. Zehn unendlich lange Monate wartet Ziemiak schon auf deren Nachfolger, auf jemanden, der für das wichtige Wahljahr 2021 den Kurs vorgibt. «Das ist eine ganz schwierige Situation. Irgendwann läuft Ihnen die Zeit davon, und dann brauchen Sie Entscheidungen. Ich treffe die Entscheidungen, die man hier zu treffen hat. Aber ich kann natürlich Entscheidungen nicht treffen, die am Ende dazu führen würden, dass derjenige, der es wird, damit überhaupt nicht leben könnte.»

Ziemiak muss eine Kampagne mit vielen Fragezeichen vorbereiten. Alles wird heute, kurz vor Weihnachten, von der Pandemie überlagert, auch von der eigenen Angst vor einer Ansteckung: «Es ist eine große Belastung. Alle haben die Sorge: Was passiert eigentlich, wenn die Zahlen weiter steigen? Wie und wann werden die ersten Mitarbeiter hier im Haus betroffen sein?»

Wenn man Paul Ziemiak reden hört, könnte man denken, dass der Mann vor einem qualvollen Jahr steht. Aber nein, dieser Eindruck sei falsch, wendet er ein, Ziemiak will ihn gleich korrigieren. Er freue sich ja auf den Wahlkampf, der «die Königsklasse der Kommunikation» sei. Sein nächster Satz klingt wie aus einem Handbuch für Wahlkampfmanager: «Es geht um ganz konkretes Vertrauen von Menschen für die Zukunft. Mehr Vertrauen kann man ja gar nicht gewinnen. Es geht hier nicht um irgendein Produkt. Sondern es geht darum, dass die Menschen einer Partei anvertrauen, dieses Land zu führen und damit ihr eigenes Leben zum Teil mitbestimmen zu lassen.»

Den Enthusiasmus kann man Paul Ziemiak an diesem Tag durchaus abnehmen. Für einen Politikjunkie mit Mitte 30 muss es elektrisierend sein, einen Bundestagswahlkampf für die Partei mit den augenblicklich besten Siegchancen zu führen.

Nach dem Interview stehen wir eine Weile am Fahrstuhl, plaudern über den bevorstehenden Parteitag, als Ziemiaks Handy plötzlich brummt. Er wird still, strafft seinen Körper, zeigt das Display einem Mitarbeiter und geht dann ein paar Schritte weiter, so dass wir das Gespräch nicht mithören können. Markus Söder ist am Apparat, so viel erfahren wir. Nach wenigen Minuten kommt Ziemiak zurück, angespannter noch als vorher, aber lächelnd. Er, der in dieser Übergangssituation das Machtvakuum in der CDU füllen muss, ja füllen will, fühlt sich sichtlich aufgewertet. Noch vor drei Jahren war er ein etwas unsicherer, hyperaktiver Vorsitzender der Jungen Union. Jetzt ist er der Mann, den die Mächtigen anrufen, der Mann, der sich darauf vorbereitet, den Wahlkampf der Union zu organisieren. Auf ihn sind viele Blicke gerichtet.

Paul Ziemiak hat einen außergewöhnlichen Weg in ein Spitzenamt der deutschen Politik hinter sich. Als Dreijähriger – damals hieß er noch Pawel – siedelte er mit seinen polnischen Eltern von Stettin nach Iserlohn. Dort lebte die Familie zunächst in einer Notwohnung. «Als ich in den Kindergarten kam, konnte ich kein Wort Deutsch», erzählte er einmal. Als Schüler trat er in die Junge Union ein, engagierte sich im Kinder- und Jugendparlament seiner neuen Heimatstadt. Nach dem Abitur begann er ein Studium der Rechtswissenschaft, scheiterte aber am ersten Staatsexamen. Anschließend studierte er Unternehmenskommunikation und beendete auch dieses Studium ohne Abschluss. Nebenher arbeitete er für eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Dann begann seine politische Laufbahn. Ziemiak wurde Bundesvorsitzender der Jungen Union und 2017 für die CDU ins deutsche Parlament gewählt. Ein Bundestagsabgeordneter mit Anfang 30. Der Aussiedler war zum Aufsteiger geworden. Als Annegret Kramp-Karrenbauer im Jahr darauf zur CDU-Chefin gewählt wurde, ernannte sie Ziemiak zu ihrem Generalsekretär. Und er blieb es auch nach ihrer Ankündigung, den Parteivorsitz niederzulegen.

Sein Büro hat sich der junge Generalsekretär ganz oben eingerichtet, im sechsten Stock des Konrad-Adenauer-Hauses. Dort, wo viele Jahre lang Angela Merkel ihr Büro als Parteichefin hatte und bis vor wenigen Monaten noch Annegret Kramp-Karrenbauer. Die Noch-Parteichefin AKK, so ihr berühmtes Kürzel, ist seit anderthalb Jahren auch noch Ministerin und hat den Schwerpunkt ihrer Arbeit ins Verteidigungsministerium verlagert. Im Konrad-Adenauer-Haus wird sie immer seltener gesehen. Jetzt residiert also ihr General Ziemiak in der Chefetage. Sein Schreibtisch sieht kaum nach Arbeit aus. Auf der Arbeitsplatte von Kramp-Karrenbauer befanden sich eine Unterschriftenmappe, Briefe, ein Kalender, eine Vase mit frischen Blumen. All das fehlt bei Ziemiak. Sein Arbeitsplatz ist: leer. Ein großer Computer-Bildschirm, ein Telefon, ein eingerahmtes Bild, mehr nicht.