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Stephan Lamby

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Beschreibung

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine steht die deutsche Regierung unter maximalem Druck. Falsche Entscheidungen können zu einer unkontrollierbaren Eskalation des Krieges führen, auch zu Not und Unruhen im eigenen Land. Der preisgekrönte Journalist Stephan Lamby hat Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner, Wolfgang Schmidt und andere in den dramatischen Monaten aus der Nähe beobachtet. Sein hochspannender Bericht liefert exklusive Einblicke in die Regierungszentrale während der schwersten internationalen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine müssen der Kanzler und seine Kabinettsmitglieder permanent Überzeugungen über Bord werfen: Waffen, Kohlekraft, Schulden. Wladimir Putin zwingt ihnen eine fremde, unbeabsichtigte Politik auf. Wie hält man so etwas aus? Was tut die Regierung, um den Krieg zu beenden? Wie kann Deutschland im globalen Kräftemessen bestehen? Von Beginn der Regierungszeit im Dezember 2021 war Stephan Lamby mit den wichtigsten Entscheidungsträgern unterwegs, in Washington, in den Hauptstädten Europas und asiatischen Mega-Cities, in der Sahelzone und am Arabischen Golf, auch in der deutschen Provinz. Und natürlich in Berlin. Er sah, wie Olaf Scholz und seine Regierung wegweisende Beschlüsse trafen und wie ihnen schwerwiegende Fehler unterliefen. Lambys investigative Reportage ist eine einzigartige Schilderung der weltgeschichtlichen Ereignisse – aus dem Inneren des deutschen Machtzentrums.

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Lamby, Stephan: Ernstfall

Stephan Lamby

ERNSTFALL

C.H. Beck

Über das Buch

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine steht die deutsche Regierung unter maximalem Druck. Falsche Entscheidungen können zu einer unkontrollierbaren Eskalation des Krieges führen, auch zu Not und Unruhen im eigenen Land. Der preisgekrönte Journalist Stephan Lamby hat Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und andere in den dramatischen Monaten aus der Nähe beobachtet. Sein hochspannender Bericht liefert exklusive Einblicke in die Regierungszentrale während der schwersten internationalen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.

Permanent müssen der Kanzler und seine Kabinettsmitglieder Überzeugungen über Bord werfen: Waffen, Kohlekraft, Schulden. Wladimir Putin zwingt ihnen eine fremde, unbeabsichtigte Politik auf. Wie hält man so etwas aus? Was tut die Regierung, um den Krieg zu beenden? Wie kann Deutschland im globalen Kräftemessen bestehen? Von Beginn der Regierungszeit im Dezember 2021 war Stephan Lamby mit den wichtigsten Entscheidungsträgern unterwegs, in Washington, in den Hauptstädten Europas und asiatischen Mega-Cities, in der Sahelzone und am Arabischen Golf, auch in der deutschen Provinz. Und natürlich in Berlin. Er sah, wie Olaf Scholz und seine Regierung wegweisende Beschlüsse trafen und wie ihnen schwerwiegende Fehler unterliefen. Lambys investigative Reportage ist eine einzigartige Schilderung der weltgeschichtlichen Ereignisse – aus dem Inneren des deutschen Machtzentrums

Über den Autor

Stephan Lamby ist Dokumentarfilmer und Buchautor. Seit vielen Jahren bildet er mit seinen ARD-Dokumentationen die deutsche und internationale Politik ab, darunter «Nervöse Republik», «Labyrinth der Macht» und «Im Wahn». Er wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Fernsehpreis, dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis, dem STERN-Preis und als Journalist des Jahres. Zuletzt erschienen von ihm bei C.H.Beck «Entscheidungstage. Hinter den Kulissen des Machtwechsels» (2021) und der Bestseller «Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe» (zus. mit Klaus Brinkbäumer, 2020).

INHALT

1: PROLOG

2: DER PLAN

Prinzip Hoffnung

Vorbereitungen

Bei Nacht und Nebel

Blick in den Abgrund

Pendeldiplomatie

Am langen Tisch

Festgeklebt

Viele Fronten

Der Tag davor

3: DER ANGRIFF

Der Bruch

Wende um 180 Grad

Keine falsche Bewegung

Wirtschaftskrieg

Durchhaltevermögen

An der PR-Front

Kriegskasse

Die Verbeugung

Poker

Blockbildung

Festgefahren

Das Massaker

Wettlauf

Nebenkriegsschauplätze

Tempo

Mali

Wahl der Waffen

Die Sphinx aus Hamburg

Niger

«Feinde»

Der Riss

Tanz den Frieden

Das Schweinswal-Dilemma

Nervöse Republik

Kampf gegen Wladimir Bonaparte

Unter Genossen

Blaue Augen

Bilder und Botschaften

Systemrelevanz

Sommerreisen

In der Zentrifuge

Das Versprechen

Rolle rückwärts

Das Taiwan-Problem

Der Geheimplan

House of Kahrs

Moskaus langer Arm

Von der Rolle

Im Kanzlerbüro

Gruppentherapie

Stress und Test

Gegenschläge

Führungsanspruch

Eskalation

Die Golfreise

Isolation und Blockade

Freidemokraten

Macht und Wort

Verbotene Stadt

Swinging Singapur

Der Einschlag

Rückschläge und Hoffnung

4: DIE SPIRALE

Neujahrsknaller

Rasende Krisen-Ministerin

Rücktritt und Antritt

Strategiewechsel

Baerbock vs. Scholz

Habeck vs. Lindner

Tauziehen bei den Vereinten Nationen

Kettenreaktionen

Das Leck

Schlaflos im Kanzleramt

«Mehr als schockierend»

Der Heizungsstreit

Die Evakuierung

Kipppunkte eines Ministers

Gegenbesuche

In der Küche

An der Grenze

Hammer und Hämmerchen

Ernüchterung

Der Gipfel

EPILOG

DANK

REGISTER

1

PROLOG

Da unten funkeln ein paar Lichter. Es ist nicht auszumachen, ob es sich um ein Ölfeld handelt oder um eine Militäranlage. Vielleicht ist es auch nur ein Dorf, in dem sich die Menschen gerade für die Nacht fertig machen. Einzelheiten sind nicht zu erkennen, wir fliegen zu hoch, mehr als 12.000 Meter.

Wie denken wohl die Menschen auf der Arabischen Halbinsel über uns, wenn sie den Kopf nach oben richten? Was vermuten sie, wer oder was sich hinter dem hellen, sich bewegenden Punkt am sternenklaren Himmel verbirgt? Halten sie uns für ein Flugzeug oder für einen Satelliten, vielleicht sogar für einen Spionagesatelliten?

Die Lichter in der Wüste werden kleiner, irgendwann verschwinden sie.

Zwei Tage lang ist Olaf Scholz durch drei Golfstaaten gehetzt, rastlos von einem Ort zum anderen. Er war in prachtvollen Palästen, hat die Hände mächtiger Regenten geschüttelt und fast nichts von den Ländern gesehen. Für mehr fehlte die Zeit.

Jetzt ist er auf dem Rückweg nach Berlin und sitzt in dem geräumigen Besprechungsraum des Regierungsfliegers «Konrad Adenauer». Die Anspannung fällt allmählich von ihm ab, es gibt hier oben keine Anschlusstermine, keine Mitarbeiterin schaut mahnend auf die Uhr, keine Videoschalte, kein Anruf von Emmanuel Macron, Joe Biden oder Saskia Esken.

Scholz ist todmüde, drei Tage zuvor war er noch in New York, acht Zeitzonen weiter westlich. Vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen hielt er eine Rede gegen den russischen Angriffskrieg. Gegen den neuen Imperialismus. Gegen Diktaturen. Mit ungewohntem Pathos sprach er in den Saal, er stehe in der Pflicht, «die Menschenrechte überall und zu jeder Zeit zu achten und zu verteidigen». Dabei hielt er die UN-Charta in die Höhe.

Er will sich nicht schlafen legen, sondern erst noch eine Weile sprechen. Zu viel hat sich ereignet. Während wir durch die Golfregion reisten, ließ der russische Präsident in vier von seinen Soldaten besetzten Regionen der Ukraine Scheinabstimmungen durchführen, um diese Gebiete Russland einzuverleiben. Ein ungeheurer Vorgang. Dann drohte er mit dem Einsatz von Atomwaffen. Zur Verteidigung der territorialen Integrität Russlands würde er «von allen uns zur Verfügung stehenden Waffensystemen Gebrauch machen.» Geht es klarer?

Das ist nichts, was ein Bundeskanzler leicht als Finte abtun kann. Ob Putin blufft, will ich von ihm wissen. Er weiß es nicht, er kann es nicht wissen. Aber er muss die Drohung ernst nehmen.

Der Krieg führt Olaf Scholz in geografische und gedankliche Regionen, in die er sich sonst vermutlich nicht begeben würde. Alles steht Kopf. Gerade war er zu Besuch bei Mohammed bin Salman. Nach allem, was man weiß, gab der saudische Kronprinz vor vier Jahren persönlich die Ermordung eines Gegners in Auftrag. Der Journalist Jamal Khashoggi hatte wiederholt seine Regierung kritisiert, worauf er von einem Killerkommando getötet und zersägt worden war.

Olaf Scholz kennt diese Geschichte. Dennoch reist er zu dem brutalen Herrscher, voller Respekt und diplomatischer Hochachtung. Trotz seiner engagierten Ansprache in New York, die Menschenrechte überall zu achten. Der Konflikt mit dem Despoten in Russland treibt den Kanzler in die Arme anderer Despoten.

Dass die Herrscher vom Golf den politischen Handelsreisenden aus Berlin spüren lassen, dass sie ihn nur für einen unter Druck geratenen Bittsteller halten, macht die Sache nicht leichter. Ganz falsch liegen sie mit ihrer Einschätzung nicht: Deutschland steckt in der Klemme. In diese Lage hat sich das Land seit vielen Jahren hineinmanövriert. Die Begegnung zwischen Scholz und bin Salman ist in mehrfacher Hinsicht verstörend. Mehr dazu später.

Putins Krieg ist nicht nur ein Angriff auf die Ukraine und die Friedensordnung Europas. Der Krieg ist auch ein Angriff auf die Selbstsicherheit, mit der wir Deutsche uns seit langem unser Leben eingerichtet haben. Das ist in vielen Gesprächen zu spüren, nicht nur im Berliner Regierungsviertel, sondern überall im Land.

Ich spüre diese Verunsicherung genauso. Bei mir hat sie eine besondere Ausprägung. Daher möchte ich an den Anfang dieses Buches eine kurze biografische Notiz stellen.

Von Kindesbeinen an bin ich mit Politik in Berührung gekommen, ich bin in Bonn, der alten Hauptstadt, aufgewachsen. Inmitten von Ministerien und Behörden, umgeben von Debatten. Politik gab es gleich vor der Haustür. Mehr bundesrepublikanische Prägung ist kaum möglich.

In diesem Zentrum westdeutscher Macht, im Herzen des rheinischen Kapitalismus, waren die Gewissheiten nur scheinbar festgefügt. Die Glaubensgrundsätze der Parteien, von Regierung und Parlament wurden in den 1970er und 1980er Jahren lautstark in Frage gestellt. Die Hofgartenwiese war oft Schauplatz von Massendemonstrationen. Man ging gegen Atomkraft auf die Straße, gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen, gegen die eigene Regierung sowieso.

Auf einer dieser Demonstrationen war auch ein junger Mann namens Olaf Scholz. Er protestierte gegen die Nato und vertrat die Ansicht, «dass Aufrüstung und Kriegsgefahr notwendige Begleiterscheinungen des Imperialismus sind und dass deshalb eine dauerhafte Friedenssicherung nur möglich ist, wenn das kapitalistische Gesellschaftssystem vom Sozialismus abgelöst wird». Das war auch die offizielle Position der Jungsozialisten, deren stellvertretender Vorsitzender Scholz damals war.

In meiner Heimatstadt prallten zwei gegensätzliche Politikentwürfe aufeinander. Nach langen, hochemotionalen Diskussionen in Familie, Schule und Freundeskreis festigten sich Standpunkte: für oder gegen Nachrüstung, für oder gegen Wehrdienst, für oder gegen Atomkraft.

In diesem Spannungsfeld sortierten sich die Menschen meiner Generation ein. Das weltanschauliche Fundament, auch meines, hat sich seitdem kaum verändert.

Der russische Krieg ist der größtmögliche Schock. Er katapultiert unser Denken weit in die Vergangenheit zurück. Dummerweise ist noch nicht klar, ob wir in die Zeit des Kalten Krieges oder noch weiter in die Zeit des Ersten Weltkrieges geschleudert werden. Sicher ist, dass das Freund-Feind-Denken, von dem wir glaubten, es längst überwunden zu haben, zurück ist. Auch die Bereitschaft, militärische Gewalt als Mittel der Politik zu akzeptieren, ist wieder da, und sei es als Gegen-Gewalt. Das ganze Land macht im Schnelldurchgang einen Selbsterfahrungskurs durch.

Am sichtbarsten und folgenschwersten wird die weltanschauliche Verankerung der Regierungsmitglieder in Berlin erschüttert. Ein Beispiel: Als Olaf Scholz nach dem russischen Überfall seine Zeitenwende-Rede hielt, gab es in seinem Kabinett nur einen einzigen Mann, der in seiner Jugend den Wehrdienst geleistet hat; ein zweiter Minister holte ihn Jahre später nach. Die anderen, darunter der Kanzler und sein Vizekanzler, haben verweigert oder wurden vom Wehrdienst befreit. Auch der Parteichef und der Fraktionschef der SPD haben sich der Bundeswehr entzogen.

Ich kenne ihre Situation, wohl auch ihre Beweggründe. Mit 19 Jahren war ich zunächst Bundeswehrsoldat, ein Kanonier, nach ein paar Wochen habe ich ebenfalls verweigert. «Aus Gewissensgründen». Seitdem hat mich dieses Gewissen in Ruhe gelassen, aber wegen des russischen Angriffskrieges meldet es sich auf höchst unbequeme Art wieder.

Noch ärger muss es den Regierungsmitgliedern gehen. Sie haben sich für den größten verteidigungspolitischen Kursschwenk seit Gründung der Bundeswehr entschieden, sie rüsten massiv auf und liefern viele todbringende Waffen in ein Kriegsgebiet.

Dieses Kabinett ist mit guten Absichten gestartet. Die 17 Männer und Frauen haben ihr politisches Leben lang darauf hingearbeitet, an die Macht zu kommen und Entscheidungen gemäß ihren Überzeugungen zu treffen. Ihnen blieben jedoch nur ein paar Wochen. Dann mussten sie innerhalb kürzester Zeit umdenken. Und zwar gewaltig.

Ist ihnen das Umdenken zu verübeln? Sind sie ihrer großen Aufgabe gewachsen? Wohin lenken sie das Land? Mehren sie den «Nutzen des deutschen Volkes» und wenden «Schaden von ihm» ab, wie es ihr Amtseid verlangt? Nutzen sie das Potential, das in einer Dreierkoalition steckt, oder blockieren sie sich gegenseitig? Ergreifen sie die wenigen Chancen, die auch dieser Großkrise innewohnen?

Das sind Fragen, denen ich nachgehe. Man kann sie nur beantworten, wenn man sich die Bedingungen im Inneren wie im Äußeren ansieht, unter denen die Bundesregierung agiert.

Dieses Buch handelt von einer kleinen Gruppe deutscher Politikerinnen und Politiker unter maximalem Druck. Einer Regierung, die immer tiefer in diesen Krieg hineingezogen wurde. Es handelt außerdem von der Verschiebung globaler Einflusssphären, die weit über die Ukraine hinausweisen.

Ein wenig handelt dieses Buch auch von uns selbst. Die Rollen sind ungleich verteilt. Während die einen in ihrer Regierungszentrale entscheiden, welche Waffen sie liefern, welches klimaschädliche Kraftwerk weiterlaufen soll und vor welchem autokratischen Herrscher sie sich krumm machen, müssen wir anderen entscheiden, ob wir kälter duschen, auf den nächsten Urlaubsflug verzichten und Flüchtlinge aufnehmen.

Und wir müssen eine Haltung zu Themen einnehmen, um die wir bislang einen Bogen gemacht haben. Deutschland war intellektuell nicht vorbereitet auf diesen Krieg. Jetzt hat das Land Probleme, auf die geopolitischen Veränderungen zu reagieren und seine Energieversorgung umzustellen. Die Folgen dieses Politikwechsels werden wir noch viel stärker als bislang zu spüren bekommen.

Der russische Überfall offenbart auch einige Lebenslügen der deutschen Politik der letzten Jahre. Auch um sie wird es gehen. Angela Merkel war über die zerstörerischen Absichten Wladimir Putins gegen die Europäische Union im Bilde. Das hat sie selbst berichtet. Olaf Scholz, fast vier Jahre lang ihr Vize, hat sich ähnlich geäußert. Dennoch haben Merkel, Scholz und andere Regierungsmitglieder Deutschland in eine hochriskante Abhängigkeit von Russland gelotst. Dass der russische Präsident Gaslieferungen einmal als Waffe gegen seine besten Kunden einsetzen könnte, darauf wurde seit langem hingewiesen. Die Warnungen wurden in den Berliner Wind geschlagen.

Putin konnte die milliardenschweren Überweisungen aus Deutschland dazu nutzen, die russische Armee hochzurüsten. Er hat sie auch dazu genutzt, sich selbst und seine Freunde zu bereichern und seine Macht zu festigen. Das alles haben deutsche Regierungen sicher nicht gewollt. Aber sie haben es zugelassen.

Und noch schlimmer: Angela Merkel war während ihrer gesamten Amtszeit die Beschleunigung des Klimawandels bewusst. In einem Gespräch mit der ZEIT sagte sie Ende 2022: «Mit jedem Bericht des internationalen Weltklimarates IPCC wurde es alarmierender, so dass sich die Frage stellt, ob wir überhaupt noch die Zeit haben, angemessen zu reagieren.»

Was für ein unglaublicher Satz! Man muss wissen, dass der Weltklimarat die Zusammenfassung der Analysen von Tausenden Wissenschaftlern seit 30 Jahren veröffentlicht, also auch während der gesamten Amtszeit von Angela Merkel. Seine Warnungen wurden Jahr für Jahr eindringlicher.

Die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel, der nachgesagt wird, stets vom Ende her zu denken, hat die dramatischen Veränderungen offenkundig nicht von ihrem Ende her gedacht, sondern sie überwiegend als Zuschauerin verfolgt. Man kann nicht nur in einen Krieg, sondern auch in eine Klimakatastrophe schlafwandeln.

Es wäre zu einfach, die Schuld für die Versäumnisse allein der Dauerkanzlerin aufzuladen. Die Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen in der Energie- und Klimapolitik offenbaren ein Staatsversagen, an dem viele ihren Anteil haben: Politik, Wirtschaft, auch wir Journalistinnen und Journalisten.

Sich die Konstruktionsfehler unserer Wohlstandsgesellschaft einzugestehen, ist schmerzhaft. Diese Fehler zu korrigieren, ist noch schmerzhafter. Die Korrekturen erfolgen unter ungeheurem Zeitdruck. Handwerkliche Fehler sind kaum vermeidbar, Beschwerden von Opposition und der Presse die Folge. Auch darum wird es in diesem Buch gehen.

In den letzten zwei Jahren habe ich an einer ARD-Dokumentation über die Bundesregierung gearbeitet. So hatte ich, wie nur wenige Außenstehende, Zugang zu den wichtigsten Entscheidungsträgern. Ich bin mit ihnen kreuz und quer durch die Welt gereist, nach Washington, in die Sahelzone, nach Äthiopien, nach Moldau, an den Arabischen Golf, nach Paris, Vilnius und Genf, in die Mega-Cities im fernen Asien, auch nach Leuna und Nünchritz. Die meisten Interviews und Hintergrundgespräche fanden in Berlin statt, natürlich.

So konnte ich die Akteure der Koalition während der größten internationalen Krise nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Nähe beobachten. Ich sprach mit radikalen Klimaaktivisten ebenso wie mit Gegnern von Windkraftanlagen. Auch sie setzen die Regierung unter Druck. Ich konnte erleben, wie die Personen in der Machtzentrale richtige, wegweisende Entscheidungen trafen, aber auch, wie ihnen schwerwiegende Fehler unterliefen. Ich sah, wie sich die Regierungsmitglieder während des Krieges veränderten, wie sie alte Überzeugungen über Bord warfen und sich umso fester und verzweifelter an neue Überzeugungen klammerten.

Knapp zwei Jahre lang habe ich beobachtet, gestaunt – und geschrieben.

2

DER PLAN

Prinzip Hoffnung

Auf die Bilder kommt es an. Zunächst auf das Bild, das man an diesem 7. Dezember 2021 nicht sehen soll: neun Männer und acht Frauen in einem Hinterzimmer, Sekt trinkend. Durch einen Türspalt kann man erkennen, wie sie sich gegenseitig zuprosten. Es sieht nicht gut aus, unpassend, wenn sie feiern, während draußen im Land die Seuche wieder tobt und die Notaufnahmen der Krankenhäuser mit dem Schlimmsten rechnen. Fotografen sind hier unerwünscht.

Dann die Bilder, die man sehen soll. Kamerateams bauen sich auf vorgeschriebenen Positionen auf, sogar an der Decke hat jemand eine Kamera installiert, um die Unterschriften auf dem Vertrag aufnehmen zu können. Diese Bilder sind sehr erwünscht und werden live gesendet.

Dann gibt es die Bilder, die kein Mensch kontrollieren kann. Zum Beispiel der Gesichtsausdruck von Karl Lauterbach. Erst am Tag zuvor hat er erfahren, dass er Gesundheitsminister werden soll. Natürlich kursierte sein Name. Mit der Nennung wurden gleich Einwände laut, Lauterbach sei ein Solist, unfähig zur Teamarbeit. Andererseits stieg der Druck der Öffentlichkeit auf Olaf Scholz, wegen der nicht endenden Pandemie den fernsehbekannten Fachmann zum Chef des wichtigen Ressorts zu machen. So hat Karl Lauterbach sein Amt auch Anne Will und Markus Lanz zu verdanken.

Als ich ihn treffe, wirkt er überhaupt nicht, als wenn er gerade auf der obersten Sprosse seiner Karriereleiter angekommen wäre. Kein Stolz liegt in seiner Stimme. Er fürchtet sich vor neuen Mutationen: «Ich war selbst überrascht, dass ich die Freude nicht so intensiv empfunden habe, wie ich erhofft hatte. Ich will ehrlich zugeben: Es muss etwas gelingen.»

In den nächsten Monaten wird Karl Lauterbach nicht viel gelingen. Er wird als Minister in schwere Turbulenzen geraten. Nach wenigen Monaten werden die ersten Kritiker wegen der verbockten Impfpflicht-Initiative seinen Rücktritt fordern. Er klingt heute Morgen, als ob ihn eine dumpfe Vorahnung plagt, was auf ihn zukommt.

So wie Lauterbach geht es vielen in der neuen Regierungsmannschaft: Corona drückt mächtig auf die Stimmung. Die Kriegsgefahr ist höchstens ein Nebenthema.

Bei Annalena Baerbock liegen die Dinge etwas anders. Auch sie läuft heute mit angezogener Handbremse durch den Saal. Noch vor wenigen Wochen hatte sie den Ehrgeiz, selbst als Bundeskanzlerin das Kabinett vorzustellen. Nach einem verkorksten Wahlkampf musste sie ihrem Parteifreundrivalen Robert Habeck die Vizekanzlerschaft überlassen. Baerbock rettete sich als Ministerin ins Außenministerium, früher einmal ein prestigeträchtiges Amt.

Wir sprechen über einen Satz in dem Vertrag, den auch sie gerade unterschrieben hat und der ihr wichtig ist: «Unsere Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik werden wir wertebasiert und europäischer aufstellen.» Wertebasiert, dieses Wort wird uns noch länger beschäftigen. Was hat man sich darunter vorzustellen? Baerbock antwortet, Menschenrechte seien «auch ein Bestandteil einer erfolgreichen Industrienation». Klingt gut. Und sehr allgemein.

Der Begriff ist bedeutsam, er drängt die Verantwortlichen, Position zu beziehen. Aber er wird in den nächsten Monaten bis zur Unkenntlichkeit gedehnt werden. Und das liegt vor allem an dem gewaltigen Sturm, der am fernen Horizont über Osteuropa aufzieht. Noch ist unklar, ob er weiterzieht. Oder ob sich ein Unwetter von biblischer Stärke über dem Kontinent entlädt.

Das ist auch der Grund, warum die neue Außenministerin heute ebenfalls sorgenvoll wirkt. Die Hinweise auf russische Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze sind beängstigend. US-Geheimdienste melden, dass Moskau zu den bereits stationierten 50.000 Soldaten 50 weitere Bataillone mit jeweils 1000 Soldaten geordert habe. Eine riesige Streitmacht formiert sich.

Gerade erst hat die WASHINGTON POST berichtet, dass Wladimir Putin seine Truppen dort auf 175.000 Mann aufstocken will, außerdem wolle er Panzer und Artillerie schicken.

Den Aufmarsch versteht die Regierung in Kiew völlig richtig als Vorbereitung einer Invasion. Verteidigungsminister Resnikow hat vor drei Tagen sogar eine Prognose gewagt: «Der wahrscheinlichste Zeitpunkt zur Eskalationsbereitschaft ist Ende Januar.» Das wäre in sieben Wochen. Viel Zeit zur Einarbeitung wird Annalena Baerbock nicht haben.

Was will Wladimir Putin? Will er bei Verhandlungen die Ukraine erpressen, auch die Nato? Ist das alles nur ein gerissenes Spiel, oder plant er tatsächlich einen Angriff? Baerbock beschleicht eine Ahnung, was ihr bevorsteht: «Der Truppenaufzug von russischer Seite an der ukrainischen Grenze ist eine Situation, die so einen Regierungsstart für uns nicht einfach macht», erzählt sie. «Weil wir als Bundesrepublik Deutschland, aber gerade auch als Europäer, eine große Verantwortung gegenüber der Sicherheit der Ukraine haben.»

Eine Verantwortung für die Sicherheit der Ukraine – schon sehr bald wird sich zeigen, wie ernst die neue Regierung das meint. Und die ganze Welt wird auch auf Berlin schauen.

Sieben Monate vorher, im Mai 2021, war Robert Habeck in Kiew. Seine Chancen standen gut, wenige Monate später ein wichtiges Mitglied der neuen Bundesregierung zu werden, also wollte er sich vorbereiten, etwas lernen über den Konflikt in Osteuropa, der seit Jahren schwelt. Er traf sich auch mit dem ukrainischen Präsidenten, damals noch ein von anderen Regierungen belächelter Schauspielerpräsident.

Habeck tat zwei bemerkenswerte Dinge: In einem von prorussischen Separatisten zerstörten Dorf ließ er sich mit schusssicherer Weste und Stahlhelm fotografieren. Für viele seiner grünen Parteifreunde war das ein Kulturbruch. Als sich die Grünen vor über 40 Jahren gründeten, wurzelten sie tief in der Friedensbewegung. Ein Stahlhelm passt nicht in das Bild von der Sonnenblumen-Partei.

Anschließend gab Habeck dem DEUTSCHLANDFUNK ein Telefoninterview. Er wies zwar auf die pazifistische Tradition seiner Grünen hin, dann aber überraschte er mit dem Satz: «Waffen zur Verteidigung, zur Selbstverteidigung, Defensivwaffen kann man meiner Ansicht nach der Ukraine schwer verwehren.»

Es hagelte Kritik von allen Seiten, von der SPD, der Union, auch von den Linken. Damals waren es nur noch wenige Monate bis zur Bundestagswahl, Habecks Position war unpopulär.

Eine Auswahl der Reaktionen:

«Die Forderung, der Ukraine sogenannte Abwehrwaffen zu liefern, ist leichtfertig und unterstreicht erneut, wie wenig regierungsfähig und unaufrichtig die Grünen derzeit auftreten.» (SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich)

«Eine Aufrüstung der Ukraine würde Russland als Vorwand für eigene Truppen auf der Krim, in der Ostukraine sowie an der russisch-ukrainischen Grenze benutzen.» (CDU-Außenpolitiker Jürgen Hardt)

Auch innerhalb seiner eigenen Partei wurde Habeck zurechtgewiesen: «Waffenexporte in die Ukraine würden unserem Grundsatz widersprechen, dass wir keine Waffen in Kriegsgebiete exportieren.» (Jürgen Trittin)

Die auf ihn einprasselnde Kritik verunsicherte Habeck. Er ließ das Thema erst einmal fallen. Die Grünen hatten im Wahlkampfsommer andere Probleme.

Auch über ein halbes Jahr später, bei den Koalitionsverhandlungen, hielten die Ampelpartner eisern an dem Grundsatz fest: Keine Waffen in Kriegsgebiete! Die Ukraine durfte keine Waffen aus Deutschland erwarten, auch nicht Defensivwaffen. Im Koalitionsvertrag stand: «Die deutsch-russischen Beziehungen sind tief und vielfältig. Russland ist zudem ein wichtiger internationaler Akteur. Wir wissen um die Bedeutung von substantiellen und stabilen Beziehungen und streben diese weiterhin an.» Da marschierten Putins Truppen an der Grenze zur Ukraine auf.

Dass sich Russland längst zu einem militärisch hochgerüsteten Aggressor entwickelt hat, wissen die Außenpolitikexperten natürlich. Spätestens seit dem Tschetschenienkrieg in den Nullerjahren, seit dem Georgienkrieg 2008 und seit der Annexion der Krim 2014 ist das für jeden kundigen Beobachter offensichtlich. Aber die neue Regierung will nicht der Logik der Aufrüstung und des Krieges folgen, sondern setzt auf Abrüstung und Frieden. Sie lässt sich von Hoffnungen leiten.

So verläuft dieser Berliner Vormittag zwar nicht so überschwänglich wie das Spektakel von 1998, als Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Joschka Fischer das Ende der Kohl-Ära begossen. Aber der Vormittag verläuft harmonisch und angemessen ernsthaft.

Nachdem alle Verhandlungsführer der drei Parteien ihre Unterschriften unter den neuen Koalitionsvertrag gesetzt haben, ziehen sie sich erneut in den Nebenraum zurück. Wieder werden Sekt und Orangensaft gereicht. Die nächsten vier Jahre werden bestimmt gut. So steht es auch in ihrem Vertrag: Fortschritt. Und: Freiheit, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit. Lasst uns anstoßen!

Am nächsten Tag werden die Neuen im Deutschen Bundestag vereidigt. Angela Merkel und Gerhard Schröder verfolgen die Zeremonie von der Zuschauertribüne aus. Unten im Plenarsaal dürfen die Abgeordneten ausnahmsweise Selfies machen.

Irgendwann füllt sich das kleine Café im Reichstag, auch zwei frischgebackene Ministerinnen gönnen sich eine Pause. An einem Tisch in der Mitte sitzt Nancy Faeser, umringt von ihrer Familie nimmt sie Glückwünsche entgegen. Drei Tische von ihr entfernt, am Rande, sitzt Christine Lambrecht und beißt einsam in ein Brötchen. Sie sieht sauertöpfisch aus, niemand setzt sich zu ihr. Schon an diesem Tag erzählt man sich, dass Lambrecht über ihr neues Amt als Verteidigungsministerin nicht glücklich sei, eigentlich habe sie Innenministerin werden wollen. Aber das ist nun die Frau nebenan.

Die Deutschen brauchen ebenfalls eine Weile, um sich an die neuen Gesichter und ihre Ämter zu gewöhnen. Einige kennen sie immerhin schon. Im September haben sie nicht nur Veränderung gewählt, sondern auch Stabilität. Ein Paradox, das zu diesem ungewöhnlichen Regierungsbündnis geführt hat: junge, reformeifrige Kabinettsmitglieder unter dem Vorsitz eines vorsichtigen, Merkel-ähnlichen Bundeskanzlers.

Die Bürger und die Regierungsmitglieder erleben den Start ähnlich, einige mit Sorge und weichen Knien, viele aber voller Neugier und sogar Zuversicht.

Ihr Honeymoon wird nicht lange dauern. Alle werden von den kommenden Ereignissen überrascht, ja überwältigt.

Obwohl, muss man wirklich überrascht sein?

Vorbereitungen

Die Geschichte der Jahre, Monate und Wochen vor dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 ist voll von Warnhinweisen. Und voll von falsch gedeuteten Zeichen, von falschen Schlussfolgerungen und bestenfalls halbherzigen Entscheidungen.

Blicken wir zunächst noch einmal zurück, auf den Herbst 2021. Angela Merkel ist nur noch geschäftsführend im Amt. Die künftigen Regierungspartner entwerfen Pläne für Klima, Finanzen, Europa, Gesundheit und so weiter. Sie verhandeln in 22 Arbeitsgruppen. Eigentlich ist Olaf Scholz unabkömmlich, aber am Mittwoch, den 17. November, klinkt er sich aus den Verhandlungen aus und eilt in die amerikanische Botschaft.

Eine Kongressdelegation aus Washington will den Mann näher kennenlernen, der noch Finanzminister ist, aber bald Chancellor of Germany sein wird. Es ist verständlich, dass sich Olaf Scholz für die Besuchergruppe Zeit nimmt, immerhin wird sie von Chris Coons angeführt. Der demokratische Senator aus Delaware ist ein enger Freund von Joe Biden, unter Insidern in Washington gilt er als Schattenaußenminister.

Der Kontakt zu Coons wird für Scholz viele Monate später in einer kniffligen Angelegenheit noch einmal von Bedeutung sein.

Heute geht es den Amerikanern um mehr als einen Höflichkeitsbesuch. Sie sind besorgt und interessieren sich vor allem für die Arbeitsgruppe 20, in der die künftige deutsche Außen- und Sicherheitspolitik verabredet wird. Im Wahlprogramm der Grünen konnten sie lesen, dass die Partei das Nato-Ziel, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, ablehnt und «die Nato strategisch neu ausrichten» will. Außerdem haben die Amerikaner gehört, dass etwa ein Viertel der SPD-Bundestagsabgeordneten Jungsozialisten sind, die der Nato und den USA traditionell kritisch gegenüberstehen. Und da ist noch die Geschichte mit Gerhard Schröder, dem letzten sozialdemokratischen Kanzler, und Joschka Fischer, dem letzten grünen Außenminister. Beide haben sich im Jahr 2003 erfolgreich dagegengestemmt, die USA bei ihrem Irakkreuzzug zu unterstützen (Fischer: «I am not convinced»).

Dass die Senatoren beunruhigt sind, hat auch einen sehr aktuellen Grund. Chris Coons kommt in Begleitung von Militärexperten, die dem Kanzler in spe ihre Erkenntnisse über den Aufmarsch russischer Truppen mitteilen. Olaf Scholz erfährt die Anzahl der Panzer, auch ihre strategische Ausrichtung. Einer, der dabei war, erinnert sich, dass die Amerikaner gut Bescheid wussten, was da kommen würde.

Die große Frage, die die amerikanischen Politiker umtreibt, lautet also: Kann sich Washington im Ernstfall auf den Nato-Partner Deutschland verlassen?

Die Amerikaner wollen noch über ein anderes unangenehmes Thema sprechen, über die Achillesferse der deutschen Wirtschaft. Sie weisen Scholz erneut auf die gefährliche Abhängigkeit von russischen Gasimporten hin. Das Thema beschäftigt amerikanische Senatoren schon seit Jahren. Aber jetzt, in Verbindung mit dem Briefing der Militärs, ergibt sich eine neue beunruhigende Lage.

Scholz ist beeindruckt und bittet seine Mitarbeiter, in Erfahrung zu bringen, aus welchen anderen Ländern Gas besorgt werden kann. Aber er weiß auch, dass sich die Energie aus Russland nicht schnell ersetzen lässt. Dann kümmert er sich wieder um die Koalitionsverhandlungen. Das Problem mit dem Gas wird von anderen Themen verdrängt.

Schon ein paar Tage zuvor erreichte Fachleute ein beunruhigender Hinweis. Als die vom russischen Gazprom-Konzern in Deutschland betriebenen Speicher überprüft wurden, stellte sich heraus, dass sie nur zu 22 Prozent gefüllt waren. Und das kurz vor dem Winter!

Einen Monat später, am 8. Dezember, wird noch weniger gemessen: gerade mal 18 Prozent. Noch immer schrillen in Berlin keine Alarmglocken, was auch am Machtwechsel liegen mag. Die Mitglieder der neuen Bundesregierung haben anderes im Sinn, als sich um Gasliefermengen zu kümmern. An dem Tag, an dem der Tiefststand der Gasspeicher gemeldet wird, überreicht ihnen der Bundespräsident ihre Ernennungsurkunden. Wieder eine Feier. Wer achtet da schon auf Speicherstände?

Wem fällt auf, dass jemand weit weg in Moskau einen Plan verfolgt?

An diesem 8. Dezember geht im Kanzleramt eine Nachricht aus Moskau ein. Wladimir Putin gratuliert Olaf Scholz zum neuen Amt: «Ich hoffe auf gute Zusammenarbeit.»

Mitte Januar bin ich mit einem Vertrauten von Olaf Scholz verabredet. Wir sprechen über die Pläne der neuen Regierung, über neue Windkraftanlagen, neue Wohnungen, Digitalisierung, all die wichtigen Vorhaben für die nächsten Monate. Als sich das Gespräch dem Ende nähert, sagt der Regierungsbeamte zum Abschied: «Vielleicht kommt ja auch alles ganz anders und wir reden demnächst über …», er stockt, ist für einen kurzen Moment unsicher, ob er das Wort aussprechen soll und tut es dann doch: «Krieg».

Kurz darauf, am 20. Januar, erhält der Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter Nachrichten, die ihn erschrecken: In Russland werden 100.000 Blutkonserven an Feldlazarette im Rahmen einer als Übung deklarierten Truppenmassierung an der russisch-ukrainischen Grenze verteilt. Außerdem sind mobile Krematorien auf dem Weg dorthin, Lastwagen mit Verbrennungseinrichtungen. Kiesewetter hat eine lange Laufbahn in der Bundeswehr hinter sich, er kennt sich mit militärischer Planung und Strategie aus, seit 13 Jahren sitzt er für die CDU im Bundestag. Er weiß, was die Meldungen bedeuten: Moskau bereitet sich auf ein großes Blutvergießen vor.

In deutschen Geheimdienstkreisen kursieren noch weitere besorgniserregende Meldungen. Vor wenigen Wochen ließ die russische Militärführung eine Übung im Ostseeraum durchführen. Putins Streitkräfte spielten Nuklearangriffe durch, ein Zielland in dem Szenario war Deutschland.

In der Simulation klinkten Bomber Marschflugkörper aus. Die Auswertung der Flugbewegungen und Funksprüche ergab, dass die Raketen auf drei Ziele programmiert waren: auf das europäische Hauptquartier der US-Streitkräfte in Ramstein, auf den Fliegerhorst Büchel an der Mosel, wo die US-Luftwaffe Atomwaffen lagert, sowie auf das Berliner Regierungsviertel. Später heißt es, die Nuklearraketen seien auch auf den Hamburger Hafen gerichtet worden.

Es bleibt offen, ob die russischen Militärs verärgert oder erfreut darüber waren, dass die Ziele ihrer Nuklearübung in Berlin bekannt wurden. Womöglich legten sie es sogar darauf an, dass Olaf Scholz davon erfuhr, um ihn einzuschüchtern. Das Kanzleramt nahm die Berichte zwar zur Kenntnis, aber nicht besonders ernst. In der Umgebung von Olaf Scholz gehen ohnehin viele davon aus, dass eine Invasion der Ukraine eher unwahrscheinlich ist. Sie mache weder politisch noch militärisch Sinn. Die russische Streitmacht könne unmöglich ein Land mit über 40 Millionen Einwohnern beherrschen.

Bruno Kahl, der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, gibt dem Berliner REUTERS-Korrespondenten ein Interview: «Ich glaube, die Entscheidung zum Angriff ist noch nicht gefallen.»

In der Woche, in der die Verteilung von Blutkonserven ans russische Militär bekannt wird, geht beim Bundeskartellamt in Bonn ein Schreiben der Firma Rosneft Oil Company ein. Der Energiekonzern mit Sitz in Moskau meldet Interesse an, sein Engagement bei der PCK Raffinerie GmbH im brandenburgischen Schwedt auszubauen. Die Russen wollen von Shell 37,5 Prozent der Gesellschafteranteile erwerben und auf gut 91 Prozent aufstocken. Dass sie mehr im Sinn haben als ein lohnendes Investment, ist auf den ersten Blick nicht leicht erkennbar.

Das Kartellamt kennt Rosneft gut. Der Konzern ist wesentlich im Besitz des russischen Staates, Geschäftsführer ist Igor Iwanowitsch Setchin, ein enger Vertrauter von Wladimir Putin. Den angestrebten Raffinerie-Deal in Ostdeutschland preist er als Ausdruck der Freundschaft: «Das Unternehmen setzt auf langfristige Beziehungen zu seinen deutschen Partnern.» Wie schön, wie friedlich.

Den Aufsichtsratsvorsitzenden von Rosneft kennen die Kartellwächter noch besser: Altkanzler Gerhard Schröder. Auch ihn kann man getrost einen engen Vertrauten von Wladimir Putin nennen. Für seine Tätigkeit im Dienste von Rosneft soll Schröder einer russischen Zeitung zufolge eine jährliche Vergütung von 600.000 Euro erhalten.

Den Freiberufler Schröder zeichnet aus, dass er nach seinem Ausscheiden aus der Politik weiter wertvolle Kontakte in höchste deutsche Regierungsstellen pflegt. Sein früherer Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier war acht Jahre lang Außenminister von Angela Merkel. Auch Schröders Drähte ins Bundeswirtschaftsministerium sind exzellent, besonders als seine Weggefährten Sigmar Gabriel und danach Brigitte Zypries dem Haus vorstanden.

Im Bundeskartellamt wird der Eingang des Schreibens von Rosneft ordnungsgemäß quittiert, der Vorgang bekommt ein Aktenzeichen: B8-26/22. Die Behörde, die formal dem Bundeswirtschaftsministerium zugeordnet ist, leitet ein Fusionskontrollverfahren ein. Was spricht für eine Aufstockung der Firmenanteile an Schwedt, was dagegen? Tagesgeschäft.

Dass sich russische Energiekonzerne in Deutschland breitmachen, daran haben sich die Bundesregierung und ihr untergeordnete Behörden längst gewöhnt. Sie haben es so gewollt. Deutschland profitierte von den Energielieferungen aus Russland, Öl und Gas kamen verlässlich und günstig. Warum sollten die Russen dann nicht auch an heimischen Raffinerien beteiligt sein? Politische Bedenken wurden ausgeblendet.

Bereits im Herbst 2015 verkaufte das deutsche Energieunternehmen Wintershall die größten deutschen Gasspeicher an Gazprom, den anderen mächtigen russischen Energiekonzern. Ein Tauschgeschäft. Im Gegenzug («Asset-Tausch») erwarb Wintershall Anteile an sibirischen Erdgasfeldern. Nur ein Jahr nach der russischen Annexion der Krim.

Die Abhängigkeit der deutschen Energieversorgung von Russland war ohnehin schon groß, mit dem Verkauf der Gasspeicher an einen russischen Staatskonzern würde sich Deutschland noch mehr in die Hände Moskaus begeben. Schon damals war das ein Thema. Aber nicht so sehr für die von Union und SPD geführte Bundesregierung, sondern für die oppositionellen Grünen. Sie wehrten sich laut und deutlich gegen das Geschäft.

Annalena Baerbock, damals einfache Bundestagsabgeordnete, und ihr Fraktionskollege Oliver Krischer stellten im Herbst 2015 im Bundestag eine Kleine Anfrage an die Bundesregierung: «Steht der Asset-Tausch nach Einschätzung der Bundesregierung im Einklang mit dem vereinbarten Ziel der EU zur Schaffung einer Energieunion, die die Versorgungssicherheit der EU und die Diversifizierung der Bezugsquellen von Energieimporten stärken soll, und, wenn ja, wie begründet sie dies?»

Für die Bundesregierung antwortete Rainer Baake. Er ist selber Mitglied der Grünen und war einst Staatssekretär im Bundesumweltministerium von Jürgen Trittin. Ein anerkannter Energiefachmann, der später von SPD-Chef Sigmar Gabriel in das von ihm geführte Wirtschaftsministerium erneut zum Staatssekretär berufen wurde. Der Grüne Baake antwortete im Herbst 2015 also im Namen der Großen Koalition den Grünen Baerbock und Krischer: «Der Asset-Tausch hat keinen Einfluss auf die Ziele der EU. Die Versorgungssicherheit und die Diversifizierung der Bezugsquellen von Erdgas werden durch den mit dem Asset-Tausch bewirkten Eigentumswechsel nicht beeinträchtigt.»

Baerbock und ihr Fraktionskollege waren mit der Antwort der Bundesregierung überhaupt nicht zufrieden. Sie fürchteten sich vor dem Expansionsdrang von Wladimir Putin. Krischer wurde in einem Interview mit dem DEUTSCHLANDFUNK vehement: «Ich gucke mir die Politik Putins an, und er setzt Gas als Waffe ein. Da ist es ja nur die Frage, wer ist gerade der Gegner? Wenn als Gegner irgendwann Westeuropa ausgemacht wird, dann wird er auch diese Infrastruktur einsetzen.»

Die damalige Bundesregierung von Angela Merkel und Sigmar Gabriel und auch das deutsche Kartellamt ließen sich von der Kritik nicht beeindrucken. Gazprom konnte die Gasspeicher übernehmen. Gegenüber dem HANDELSBLATT begründete Wintershall-Chef Mario Mehren den Verkauf mit windelweichen Floskeln: «Wir setzen ein Zeichen für Kontinuität in der Zusammenarbeit. Gerade in politisch schwierigen Zeiten müssen wir Brücken bauen – nicht noch mehr Brücken abreißen.»

«Kontinuität», «Zusammenarbeit», «Brücken bauen» – der Wintershall-Chef redete sich den Deal schön.

Bei Nacht und Nebel

Die Hamburger haben sich an den Anblick von Megayachten gewöhnt. Von der nördlichen Elbseite aus kann man sehen, wie bei Blohm & Voss und in anderen Werften an beeindruckenden Privatschiffen geschweißt wird. Einige werden umhüllt, um sie vor den Blicken Neugieriger zu schützen. Andere Schiffe liegen für jedermann einsehbar in den Docks.

Die «Eclipse» von Roman Abramowitsch lag hier gelegentlich oder die Luxusyacht von Muhammad bin Raschid Al Maktum, dem Herrscher des Emirats Dubai.

Die Megaschiffe regen die Fantasie der Yachtspotter an. Sie vergleichen dann: Anzahl der Stockwerke, Größe des Pools, der U-Boote. Nach ein paar Wochen verschwinden die Pötte wieder und machen Platz für die nächste Yacht.

Seit September 2021 liegt auch die «Graceful» zur Generalüberholung bei Blohm & Voss. Die Geschichte des Schiffes ist erzählenswert. Der 70 Meter lange Rumpf wurde elf Jahre zuvor in der russischen Sewmasch-Werft in Sewerodwinsk am Weißen Meer gebaut, einige 100 Kilometer östlich von Finnland. Auf dem Weg nach Hamburg musste der Rumpf um Norwegen herum geschleppt werden. Vor den Lofoten setzte er auf einen Felsen auf und wurde so stark beschädigt, dass er den Hamburger Hafen als Totalschaden erreichte.

Bei Blohm & Voss möbelte man den Koloss neu auf und verlängerte ihn um 12 Meter. Dann machten sich Spezialisten an die Innenausstattung. Auf Wunsch des Eigners wurde ein Indoor-Pool eingebaut, dessen Boden als Tanzfläche für Partys nach oben verschoben werden kann. Auch über einen Helikopterlandeplatz verfügt die Yacht.

Viel wurde über die Identität des Eigentümers getuschelt, alle Zeichen deuteten in Richtung Wladimir Putin. Ob er sich selbst als Besitzer in den Registern eintrug oder diese Aufgabe Strohmännern überließ, ist unerheblich. Das Ergebnis der Bauarbeiten schien ihm jedenfalls zu gefallen. Im Mai 2021, nach den Massenprotesten in Belarus, bewirtete Putin den in Bedrängnis geratenen belarussischen Diktator Alexander Lukaschenko vor Sotchi auf der «Graceful».

Jetzt, Anfang 2022, liegt das prunkvolle Schiff also in Hamburg. Gleich nebenan wird an der Korvette «Emden» der Deutschen Marine gearbeitet.

In der Nacht vom 6. auf den 7. Februar, von Sonntag auf Montag, gibt es plötzlich Bewegung in der Werft. Die «Graceful» wird flottgemacht. Noch in der Dämmerung, um 7:12 Uhr, verlässt das Schiff den Hamburger Hafen, «fluchtartig», wie Beobachter notieren.

Die Yacht fährt die Elbe abwärts, biegt steuerbord bei Brunsbüttel in die Schleuse, fährt dann durch den Nord-Ostsee-Kanal, passiert Rügen und dampft schließlich Richtung Russland. Im Hafen von Kaliningrad geht die «Graceful» wieder vor Anker. Bis zum Herbst wird sie sich nicht mehr von dort wegbewegen.

Blick in den Abgrund

In diesen Tagen, Anfang Februar, ist kaum noch zu übersehen, dass der Aufmarsch der russischen Truppen an der ukrainischen Grenze keiner bloßen militärischen Übung dient. Doch noch immer ist unklar, welche Absicht hinter dieser beängstigenden Konzentration von Soldaten und Kriegsmaterial steckt. Was will Putin?

In Deutschland fragen sich viele Bürger außerdem: Wo ist Scholz? Die kleine Aufbruchstimmung vom vergangenen Dezember ist verflogen. Längst sitzt dem Kanzler die Presse im Nacken. Zum Thema Ukraine-Krise äußert sich die Außenministerin, zur Corona-Krise der Gesundheitsminister. Wo aber steckt der Kanzler?

Die Zeitungen murren, in den sozialen Medien ergießt sich Spott über den Regierungschef. #WoIstScholz? trendet auf Twitter. Doch der lässt sich nicht irritieren: Verkündet wird dann etwas, wenn es etwas zu verkünden gibt. Olaf Scholz macht sich rar.

Natürlich nimmt er die Unruhe, die Unzufriedenheit in der Hauptstadtpresse und auch das Genörgel der Opposition wahr. Doch er hat sich fest vorgenommen, sich auf keinen Fall durch öffentliche Meinungsmache treiben zu lassen.

Vor einigen Monaten, im Bundestagswahlkampf, hatte er mir einmal seine Überzeugung anvertraut: «Wer die Nerven verliert, weil ihn ein paar politische Wettbewerber angreifen, der hat wahrscheinlich auch nicht die Nerven dafür, Bundeskanzler zu sein. Ich bin ziemlich sicher, dass ich diese Nerven habe.» Mit dieser eisernen Ruhe war Scholz unbeschadet durch den Bundestagswahlkampf gesurft.

Jetzt aber ist der Druck, zu handeln und sich zu erklären, von ganz anderer Natur. Ein drohender Krieg in Europa erfordert nicht nur einen standfesten, sondern auch einen sichtbaren Regierungschef. Die Bevölkerung ist besorgt. Die Social-Media-Beträge unter #WoIstScholz? kann man als Geschrei abtun. Aber sie senden Warnzeichen in die Regierungszentrale.

Folglich beschließen der Kanzler und sein Regierungssprecher Steffen Hebestreit eine erste Kurskorrektur ihrer bisher so zurückhaltenden Kommunikation. Am Sonntag, den 6. Februar, Stunden bevor die «Graceful» den Hamburger Hafen in Richtung Osten verlässt, bricht Scholz zu einer Reise nach Washington auf.

Auf dem Gelände des Berliner Flughafens «Willy Brandt» gibt es einen Regierungsterminal. Dort, im ersten Stock, hat sich heute ein Fernsehteam aufgebaut, um den Kanzler noch schnell zu interviewen. Tina Hassel hat für ihren «Bericht aus Berlin» sogar ein kleines Studio eingerichtet. Im Hintergrund ist der Kanzler-Airbus zu sehen, ein Machtsymbol. In früheren Jahrhunderten ließen sich Könige mit Rüstung und scharfem Schwert malen. Olaf Scholz ist weder König, noch regiert er mit einem Schwert. Aber mit politischer Kommunikation kennen sich seine Leute aus. Also lässt sich der Bundeskanzler vor der 63 Meter langen A340-300 mit der Aufschrift «Bundesrepublik Deutschland» ablichten.

Amerikanische Präsidenten setzen sich gerne vor ihrer Airforce One in Szene. Aber Olaf Scholz? Sein ungewohnt breitbeiniger Auftritt soll vor allem eines sagen: Ich bin hier!

Vom Terminal zum Regierungsjet sind es gerade mal 30 Meter. Doch an diesem Sonntagnachmittag stürmt und regnet es so heftig, dass sich der Bundeskanzler von seiner gepanzerten Limousine die paar Schritte bis kurz vor die Gangway fahren lässt. Den Kragen des Wintermantels hochgeklappt, eilt er die Treppe hinauf. Wenige Minuten später ist das Flugzeug im Abendhimmel.

Nach etwa zwei Stunden Flug hat die Maschine gerade Großbritannien überflogen. Olaf Scholz kommt aus dem vorderen Bereich der Maschine, wo es Arbeitsräume und auch eine Schlafgelegenheit gibt, nach hinten, dorthin, wo die Journalisten eng zusammensitzen. Er hat seinen dunklen Kanzleranzug und auch die Krawatte ausgezogen und steht nun, mit Jeans und einem etwas schlabbrigen Pullover bekleidet, breit grinsend im Gang.

Was will er uns mit diesem Kleidungswechsel sagen? Dass er seine Juso-Zeiten nicht vergessen hat? Dass er an Helmut Kohl in Strickjacke mit Michail Gorbatschow an einem kaukasischen Wildbach denkt? Will er in Zeiten der militärischen Eskalation einen stilistischen Kontrapunkt zu den ordengeschmückten Uniformen der Generäle setzen?

Die mitreisenden Journalistinnen und Journalisten dürfen gerne Fotos machen und später nach Hause twittern. Erst das Bild vor dem Flugzeug, jetzt das Bild mit dem Pullover – soll daheim niemand mehr behaupten, der Kanzler würde sich verstecken.

Scholz beginnt ein vertrauliches Gespräch, aus dem wie üblich nicht zitiert werden darf. Eine gute Stunde lang spricht er, und er spricht ganz anders als bei seinen öffentlichen Auftritten, anders als bei Interviews und Reden. Scholz ist schlagfertig, er nimmt Kraftausdrücke in den Mund und bemüht sich, seine Zuhörer zu überzeugen, ja zu beeindrucken. So sah und hörte man ihn selten.

Aber die Journalisten lassen sich nicht leicht beeindrucken. Seit Tagen löchern sie ihn: Warum spricht Scholz den Namen Nord Stream 2 nicht aus? Um die Gas-Ostseepipeline zwischen Russland und Deutschland tobt auf beiden Seiten des Atlantiks ein Streit.

Die Pipeline ist in osteuropäischen Ländern äußerst unbeliebt, und in den USA wurden sowohl unter Barack Obama wie unter Donald Trump Sanktionsgesetze gegen den Bau beschlossen. Die Amerikaner sorgten sich nicht nur um die Abhängigkeit Europas. Einige Senatoren machten keinen Hehl daraus, dass sie von nationalen Interessen getrieben waren: Die Deutschen sollten gefälligst Flüssiggas aus den USA kaufen! Trotz dieser Querelen wurde die Pipeline weitergebaut und ist inzwischen nahezu fertiggestellt. Die Betreiber warten auf die offizielle Zertifizierung der Bundesnetzagentur.

Angesichts des Truppenaufmarschs werden die Rufe aus der Opposition und auch aus den Reihen der Grünen immer lauter, Russland mit einem Aus der Pipeline zu drohen. Manche fordern sogar, sofort aus dem gemeinsamen Pipeline-Projekt auszusteigen.

Olaf Scholz hört die Forderungen, sie dringen ja aus allen Richtungen an seine Ohren. Wieder will sich der Kanzler nicht treiben lassen. In den ersten Wochen seiner Regierungszeit versuchte er, sich ein wenig Luft zu verschaffen, indem er so tat, als ginge ihn die Ostsee-Röhre nichts an. Nord Stream 2 sei «ein privatwirtschaftliches Projekt», behauptete er eine Weile lang.

Als er merkte, dass ihm diese Geschichte niemand glaubte, nahm er den Namen Nord Stream 2 gar nicht mehr in den Mund. Doch seine rhetorischen Verrenkungen machten die Zuhörer stutzig. Die im Regierungsflugzeug mitreisenden Journalisten wollen wissen, was hinter dieser Sprachakrobatik steckt. Aber Scholz blockt weiter. Auf der gesamten Reise ist er nicht zu klaren Aussagen zu Nord Stream 2 zu bewegen.

Prompt beginnen die Spekulationen: Fährt der deutsche Kanzler eine Doppelstrategie gegenüber Russland? Will er Putin trotz der allgemeinen Kriegs- und Sanktionsrhetorik die Hand ausstrecken? Ein Spiel mit verteilten Rollen, die Amerikaner als bad cops, die Deutschen als good cops?

Oder steckt hinter der Formulierung «privatwirtschaftliches Projekt» und seinen umständlichen Sätzen etwas anderes? Befürchtet der Jurist Olaf Scholz Schadensersatzforderungen gegen den deutschen Staat, wenn er die Inbetriebnahme der Pipeline untersagt? Allein der Bau der Röhre hat über sieben Milliarden Euro gekostet. Ein paar maulende Journalisten sind mir lieber als ein paar Milliarden Euro Schadensersatz, mag Scholz denken.

Ein enger Mitarbeiter des Kanzlers weist auf ein anderes Motiv hin: Als Scholz nach Washington reist, plant er bereits, wenige Tage später nach Moskau zu fliegen. In dem Gespräch mit Putin will er Nord Stream 2 als Verhandlungsmasse nutzen. «Strategische Ambiguität» nennen sie das im Kanzleramt. Eine klare Aussage würde seine Gesprächsposition schwächen. Also mauert der Kanzler. Aber er registriert, dass nicht nur in der Heimat, sondern auch in Washington über seine Motive gerätselt wird.

Und es gibt noch ein Problem: die hartnäckige Weigerung der Bundesregierung, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Noch kurz vor dem Abflug nach Washington hat Olaf Scholz Tina Hassel im Interview unbeirrt angesehen und erklärt: «Die Bundesregierung hat seit vielen Jahren einen klaren Kurs. Dass wir nicht in Krisengebiete liefern und dass wir auch keine letalen Waffen in die Ukraine liefern. Das hat schon meine Vorgängerin so gehalten. Und das war richtig. Und das bleibt auch richtig.»

Da hat Scholz ein wenig geflunkert. Deutsche Waffen wurden an Länder geliefert, die am Jemen-Krieg beteiligt sind, etwa an Ägypten und Saudi-Arabien. Und 2015 genehmigte die damalige Bundesregierung die Lieferung von Milan-Raketen und Sturmgewehren an die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, damit diese den terroristischen IS im Irak bekämpfen konnten.

Dass die Bundesregierung angesichts der Bedrohung der Ukraine nicht wieder eine Ausnahme machen will, stößt bei vielen Politikern und Journalisten auf Unverständnis. Olaf Scholz und vor allem Annalena Baerbock verweisen stets auf die Verantwortung, die Deutschland aus der Geschichte erwachse. Sie erwähnen die vielen Millionen Opfer, die der von Nazideutschland angezettelte Angriffskrieg in Russland, Belarus und der Ukraine gekostet hat. Waffenlieferungen in diese Region? Kommen nicht in Frage.

Wenige Tage zuvor hatte die Regierung beschlossen, 5000 Schutzhelme an die Ukraine zu liefern. Eine Geste. Doch angesichts des gewaltigen russischen Truppenaufmarschs wirkt die Lieferung lächerlich. Kommentatoren in den USA beginnen, über den Nato-Partner Deutschland zu lästern.

Scholz und seine Berater haben das immer lauter werdende Gegrummel gehört, all die Fragen nach der Bündnistreue der Deutschen, und sich vorgenommen, auf der Reise nach Washington diese Zweifel zu zerstreuen. Regierungssprecher Hebestreit hat vor dem Abflug mit der WASHINGTON POST ein telefonisches Interview mit dem Kanzler verabredet und CNN-Starmoderator Jake Tapper ein Live-Gespräch für den nächsten Nachmittag zugesagt. Olaf Scholz fliegt mit einer einfachen Botschaft in die USA: Ihr könnt Euch auf uns verlassen.

Aber reichen ein paar warme Worte? Die Reise wird zum Eiertanz.

Zwei Tage vor Beginn des Besuchs in Washington werden in Peking die Olympischen Winterspiele eröffnet. Weder der Kanzler noch Außenministerin Baerbock noch andere hochrangige Vertreter der Bundesregierung wollen nach China reisen. Ein stiller Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen an den überwiegend muslimischen Uiguren. Auch ein Protest gegen den rüden Umgang der chinesischen Führung mit Demonstranten in Hongkong. Wertebasierte Außenpolitik. Dennoch vermeiden Scholz und Baerbock scharfe Worte, China ist als Handelspartner für die deutsche Wirtschaft unverzichtbar.

Wladimir Putin schert sich nicht um die Menschenrechtsverletzungen, er nutzt die Gelegenheit und reist wie selbstverständlich zur Eröffnungsfeier. Er ist Stargast von Xi Jinping und wird mit viel Pomp hofiert. Der Tisch, an dem sie sitzen, ist beinahe so groß wie die Fläche eines Eishockeyspiels. Xi Jinping und Wladimir Putin umschmeicheln sich gegenseitig. Putin spricht von der «jahrhundertelangen Tradition der Freundschaft und des Vertrauens» und nimmt so die politische Liebeserklärung von Xi auf, der immer gerne von der «ewigen Freundschaft» zwischen China und Russland spricht.

Der Russe findet keine kritischen Worte über die Behandlung der Uiguren. Und die chinesische Führung schweigt zur militärischen Hilfe der Russen bei der Niederschlagung der Proteste in Weißrussland und in Kasachstan. Auch zum Aufmarsch an der ukrainischen Grenze hält sich Xi zurück.

Der russische und der chinesische Präsident stecken ihre Interessensgebiete auf der Weltkarte ab: Jeder darf in seiner Einflusssphäre agieren, ohne eine Reaktion des anderen fürchten zu müssen. Putin kann zufrieden sein. Wenn noch ein kleiner Baustein in seinem Ukraine-Plan gefehlt hat – jetzt hat er ihn erhalten. Was immer Du vorhast, signalisiert ihm Xi Jinping, wir halten uns raus.

Die NEW YORK TIMES legt später Details des Besuchs offen. Chinesische Regierungsvertreter sollen ihre russischen Amtskollegen gebeten haben, mit einem Angriff auf die Ukraine bis zum Ende der Olympischen Spiele zu warten. Es liegt nahe, dass Xi Jinping und Wladimir Putin persönlich diesen Plan besiegelt haben.

Längst ist der Wettbewerb zwischen Kapitalismus und Kommunismus vom Konflikt zwischen demokratischen und autoritären Staatsformen abgelöst. Und die Machtverhältnisse verschieben sich spürbar. Verspottete US-Präsident Obama Russland noch im Jahr 2014 als «Regionalmacht», hat das Land in den vergangenen Jahren große Kraftanstrengungen unternommen, um sein Militär aufzurüsten. Die wachsende wirtschaftliche Dominanz Chinas ist erdrückend und wird die Bundesregierung in den kommenden Monaten und Jahren sehr beschäftigen. Deutschland und anderen europäischen Staaten fällt es immer schwerer, sich im Wettbewerb der Wirtschaftsräume zu behaupten.

Es liegt am Zufall der internationalen politischen Kalender, dass das Treffen von Xi und Putin fast zeitgleich mit dem Treffen von Biden und Scholz zusammenfällt, 11.000 Kilometer voneinander getrennt. So werden die beiden Begegnungen miteinander verglichen. Was können Biden und Scholz den Protzbildern aus Peking entgegensetzen? Das übliche Händeschütteln im Oval Office wirkt gegen sie wie ein kraftloses Ritual.

Dazu kommt, dass die politischen Führer der USA und Deutschlands erst seit kurzem im Amt sind, sich mit großen Problemen im Innern ihrer Länder herumplagen und auf internationalem Parkett noch etwas unsicher vortasten. Xi Jinping ist seit knapp einem Jahrzehnt der starke Mann Chinas, Putin ist in unterschiedlichen Rollen seit über 20 Jahren der starke Mann Russlands.

Der Antrittsbesuch des deutschen Kanzlers beim amerikanischen Präsidenten, dem Führer der westlichen Welt, ist für Olaf Scholz, den Arbeitsrechtler aus Hamburg-Altona, der sich bis nach ganz oben hochgerackert hat, ein überaus feierlicher Moment. Als das Regierungsflugzeug um 21 Uhr auf dem Flughafen Washington-Dulles aufsetzt, meldet sich die Chefstewardess über Bordlautsprecher: «Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Aufenthalt in Washington.» Ein erfolgreicher Aufenthalt? Für Olaf Scholz mag sich trotz aller Probleme kurz ein Hochgefühl einstellen. Wie selten zuvor kann er jetzt die eigene Bedeutung spüren.

Auf dem Rollfeld warten unzählige tiefschwarze Limousinen und Mini-Vans mit nervös blinkenden Warnleuchten, ebenso laut brummende Polizeimotorräder. Obwohl es sich nur um einen Arbeitsbesuch handelt, haben die Amerikaner die ganz große Show aufgefahren. Das können sie hier gut: Tschingderassabum made in America. Als der Bundeskanzler in die kalte Februarluft tritt, wird er von den vielen Warnlichtern und den Scheinwerfern der Kamerateams geblendet. Scholz blinzelt sein Scholz-Blinzeln und schreitet die Treppe hinab. Er ist angekommen.

Am nächsten Morgen bemüht sich der Kanzler um ein wenig Normalität. Lange kann er wegen der Zeitverschiebung ohnehin nicht schlafen, also joggt er am Ufer des Potomac entlang.

Bevor es sich Biden und Scholz kurz darauf auf den Sofas des Oval Office bequem machen, hat jemand im Kamin dieses so geschichtsträchtigen Raumes ein Feuer entzündet. Noch draußen, am Eingang des West Wings, steigt einem der Geruch in die Nase.

Olaf Scholz hat mir einmal erzählt, wie sehr er Joe Biden schätzt. Er nahm das Wort «Bewunderung» nicht in den Mund, aber er klang so, als wenn er zu Biden aufschaute. Über viele Jahre hat er beobachtet, wie sehr sich der Senator, der Vizepräsident und später der demokratische Präsident für die Belange einfacher Amerikaner stark machte. Jedenfalls erweckte Biden diesen Eindruck. Nie wirkte er abgehoben, erst recht nicht angeberisch wie sein rüder Gegner Donald Trump. In den USA nennen ihn seine Anhänger «Middle Class Joe». Das gefällt Scholz. Und daher fragte ich ihn, ob er sich denn als «Middle Class Olaf» verstünde. Er begriff das Sprachspiel und wollte vor lauter Vorsicht, etwas Falsches zu sagen, nicht darauf einsteigen. Aber er widersprach auch nicht.

Jetzt also sitzen Middle Class Joe und Middle Class Olaf am offenen Kaminfeuer und sprechen über die Gefahren eines neuen europäischen Krieges und darüber, wie sie im Ernstfall reagieren sollen. Sie tauschen sich über die neue Weltordnung aus, deren Umrisse noch sehr unscharf sind. In Moskau sitzt ein Player, den Biden und Scholz nicht richtig durchschauen.

Als beide im East Room zur Pressekonferenz erscheinen, bemühen sie sich, Harmonie und Geschlossenheit auszustrahlen. Dem 79-jährigen Amerikaner sind die Strapazen des Alters und des Amtes anzumerken. Schleppend müht er sich durch sein Eingangsstatement, von einem Zettel liest er die Komplimente für seinen Gast ab. Gelegentlich schließt er die Augen. Wann wird er sie wieder öffnen? Dem Beobachter aus Deutschland kommt noch ein weiterer Spitzname für Biden in den Sinn: «Sleepy Joe». So hänselt Donald Trump seinen Rivalen.

Ein einziges Mal schrecken die Zuhörer auf, als nicht Olaf Scholz, sondern Joe Biden mit der Frage nach Nord Stream 2 konfrontiert wird. Biden braucht diesmal nicht viel Zeit zum Nachdenken: «Wenn Russland einmarschiert, wenn Panzer oder Truppen wieder die Grenze zur Ukraine überqueren, dann wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden dem ein Ende setzen.» Eine Journalistin will wissen, wie er das denn anstelle wolle. Schließlich handele es sich um ein deutsches Projekt. Darauf Biden: «Ich verspreche Ihnen, wir werden dazu in der Lage sein.»

Viele Monate später wird dieser Satz noch einmal eine Rolle spielen, so als habe Biden an diesem Tag einen geheimen Plan verraten.

Als der Kanzler an der Reihe ist, antwortet er mit antrainierten, vagen Floskeln. Nord Stream 2? Kommt in Scholz’ Wortschatz weiter nicht vor. Die amerikanischen Journalisten lernen, dass «Scholzomat» die deutsche Version von «Sleepy Joe» ist.

Direkt nach der Pressekonferenz eilt Scholz ein, zwei Straßenblocks weiter hinüber ins CNN-Studio. Dort wartet Jake Tapper an einem Bistrotisch. Der Gast aus Deutschland soll auf einem Barhocker Platz nehmen.

Bevor sich Scholz in der neuen Umgebung ein wenig orientiert hat, schießt Tapper schon los: «Jemand, der der ukrainischen Regierung nahesteht, hat mir gesagt: Deutschland wird in Osteuropa und Kiew zunehmend als Verbündeter Russlands statt des Westens gesehen. Was sagen Sie dazu?»

Peng, ein Volltreffer. Mit nur einer Frage, in der ein harter Vorwurf versteckt ist, zielt Tapper auf die mangelnde Zuverlässigkeit und Bündnistreue der Deutschen. Ein ganzes Bündel voller Ressentiments und Misstrauen in nur wenigen Worten. Einen derartigen Angriff kann der Kanzler unmöglich auf sich sitzen lassen. Also schießt er ungewohnt undiplomatisch zurück: «That’s absolutely nonsense», Blödsinn! So leicht will er Tapper nicht in die Falle gehen.

Im Hotel, in dem wir Journalisten untergebracht sind, begegne ich im Fahrstuhl einer etwa 40-jährigen Amerikanerin. Sie fragt, woher ich komme. «Ah, Germany, okay», nickt sie. Dann will sie wissen, was mich nach Washington führt. Ich antworte, dass wir den deutschen Kanzler bei seinem Besuch im Weißen Haus begleiten. «Oh», erwidert sie, «that’s big fun!»

Bei weiteren Gesprächen mit Amerikanern kann man den Eindruck gewinnen, dass sich die USA gerade weniger für die Probleme in Europa interessieren als für den bevorstehenden Super Bowl zwischen den Cincinnati Bengals und den Los Angeles Rams.

Am Abend sitzt Olaf Scholz wieder im Flugzeug und hebt in Richtung Europa ab. Als die Maschine über dem Atlantik ist, werde ich in den vorderen Teil gebeten, dort wo die Aufenthaltsräume des Bundeskanzlers sind.

Wir kommen sofort auf die Kriegsgefahr in der Ukraine zu sprechen. Der Austausch mit Joe Biden hat dem Kanzler offenbar keine Hoffnung auf eine baldige Entspannung in Osteuropa gemacht. So besorgt habe ich Olaf Scholz noch nie erlebt: «Die Truppen, die da aufmarschiert sind, sowohl was die Soldaten als auch was das Material betrifft, sind dazu geeignet, eine Invasion der Ukraine durchzuführen.»

Er macht sich keine Illusionen: «Das muss man ernst nehmen. Selbst wenn wir keine Anhaltspunkte haben, herauszufinden, was denn nun die Motivationen der russischen Führung sind und ob es zu einer Invasion kommen wird oder nicht. Aber gerade deshalb ist es wichtig, dass wir klarmachen: Wenn es so ist, wird es harte Konsequenzen geben.»

Der Kanzler würde sich wohler fühlen, wenn er Putin denn besser verstehen würde. Pokert der Kreml-Herrscher nur, um Zugeständnisse vom Westen zu erpressen, oder plant er wirklich eine Invasion? Olaf Scholz hat sich unendlich viele Gedanken über den russischen Präsidenten gemacht. Er telefoniert mit Angela Merkel, die kennt Putin lange und gut. Er liest sogar Bücher über ihn. «In Putins Kopf» las er bereits vor sechs Jahren. Darin schreibt der französische Autor Michel Eltchaninoff etwa: «Immer deutlicher verkörpert Putin die Vergeltung derer, die den Untergang der UdSSR und ihre Umwandlung in eine Demokratie nicht ertragen haben. Der russische Präsident möchte seine Spuren in der Geschichte hinterlassen.»

Ist Putin auf einem Rachefeldzug, getragen von einem Volk, das dem großrussischen Reich hinterhertrauert?

Olaf Scholz liest auch die Aufsätze und Reden, die Wladimir Putin zur Ukraine verfasst hat. Im Jahr 2013, vor der Annexion der Krim, erklärte er: «Die Ukraine ist ein Teil unserer großen russischen oder russisch-ukrainischen Welt.» Im Juli 2021 dann: «Ich bin zuversichtlich, dass eine wahre Souveränität der Ukraine nur in Partnerschaft mit Russland möglich ist […]. Denn wir sind ein Volk.» Seit vielen Jahren ist Putin von dem Thema wie besessen.

Ist der Mann mit den Mitteln der Diplomatie zu beschwichtigen, wenn er sich tatsächlich auf einer historischen Mission wähnt?

Die Ungewissheit ist quälend. Noch haben Olaf Scholz und Joe Biden nur im Konjunktiv gesprochen: Wie würden wir reagieren, sollte Russland die Ukraine tatsächlich überfallen? Die Szenarien werden schon in wenigen Tagen niederschmetternd real sein. Biden und Scholz haben einen Fahrplan verabredet. Sie werden ihn brauchen.

Der Besuch in Washington war für Scholz noch aus einem anderen Grund wichtig. Er wird in den nächsten Monaten sein Denken und sein Handeln eng am amerikanischen Präsidenten ausrichten. Das Weiße Haus wird eine Art Tankstelle für ihn sein. Joe Biden gibt dem Kanzler Kraft und Sicherheit.

Pendeldiplomatie

Nach seiner Rückkehr aus Washington hat Olaf Scholz höchstens vier Stunden Zeit zum Schlafen, er eilt gleich wieder ins Kanzleramt. Die Krisendiplomatie geht weiter. Am Abend kommen Emmanuel Macron und der polnische Präsident Andrzej Duda zu ihm. Macron will von seinem Gespräch mit Putin berichten, das er am Abend zuvor in Moskau geführt hat, Scholz will von seinem Treffen mit Joe Biden erzählen.

Strenggenommen führt Russland schon seit acht Jahren Krieg gegen die Ukraine. Die Kämpfe russischer Einheiten und von Moskau unterstützter Milizen gegen ukrainische Truppen im Donbass haben nach Angaben der OSZE bislang 3404 Zivilisten das Leben gekostet. Doch die jetzt drohende Invasion mit zigtausend Soldaten auf breiter Front hätte eine völlig neue Qualität.

Von dem Treffen in Berlin soll ein Signal in Richtung Moskau ausgehen, dass die drei Nato-Partner Frankreich, Deutschland und Polen genauso eng zusammenstehen wie die übrigen Partner der Allianz. Ob das Wladimir Putin beeindruckt?

Scholz verbringt in diesen Tagen viele Stunden in Telefonschalten. Die Katastrophe muss verhindert werden. Er, Macron und Biden stimmen sich innerhalb der Nato ab und sprechen abwechselnd mit Putin und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Auch die Außenminister und Außenministerinnen, Staatssekretäre und Berater telefonieren pausenlos. Kurz kommt Hoffnung auf. Schaffen es die Diplomaten, den Russen die Invasion in letzter Minute auszureden?

Die Hoffnung hält nicht lange. Am Freitagabend deutscher Zeit schlagen die Amerikaner Alarm. Joe Biden trommelt sehr kurzfristig die Regierungschefs der wichtigsten Nato-Partner sowie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu einem Krisenschaltgespräch zusammen. Der US-Präsident lässt seine Verbündeten wissen, was ihm seine Geheimdienste über die Pläne Moskaus vorgelegt haben. Ein Angriff Russlands steht kurz bevor.

Der Nationale Sicherheitsberater von Präsident Biden, Jake Sullivan, wird sehr deutlich: «Wir befinden uns in einer Phase, in der eine Invasion jederzeit beginnen könnte, sollte sich Wladimir Putin dazu entschließen, sie anzuordnen.»

Die Amerikaner informieren die Geheimdienste und Verteidigungsministerien der wichtigsten Nato-Partner, dass sie einen russischen Angriff auf die Ukraine am nächsten Mittwoch erwarten, mitten während der Olympischen Spiele. Die Warnungen sind ungewöhnlich konkret. Sind sie ernst zu nehmen? Oder versuchen die CIA und das Pentagon, durch gezielte Desinformation die politische Stimmung anzuheizen? In den Hauptstädten der Alliierten wird nicht nur über die Strategie Moskaus gerätselt, sondern auch über die Washingtoner Tricksereien.

Die Lage wirkt noch dramatischer, als die USA ihre Staatsangehörigen auffordern, innerhalb der nächsten 48 Stunden die Ukraine zu verlassen. Das ist ein untrügliches Zeichen, dass die Geheimdienste des Landes mit dem Beginn eines Krieges rechnen.

Joe Biden erklärt gegenüber dem Fernsehsender NBC, dass amerikanische Truppen amerikanische Bürger im Kriegsfall nicht aus der Ukraine evakuieren würden. Eine klare Ansage an die Landsleute: Haut ab, solange Ihr könnt! Biden spricht davon, bei der russischen Armee handele es sich schließlich nicht um eine Terrororganisation, sondern um eine der größten Armeen der Welt: «Das ist eine ganz andere Situation. Die Dinge können schnell außer Kontrolle geraten.» Und dann: «Das ist ein Weltkrieg, wenn Amerikaner und Russen beginnen, aufeinander zu schießen.» Biden nimmt tatsächlich das Wort «Weltkrieg» in den Mund.

Jetzt ist auch den Letzten der Ernst der Lage klar. Vermutlich wird sogar die Amerikanerin, die vor wenigen Tagen den Besuch von Scholz bei Biden «big fun» nannte, unruhig schlafen.

Am Tag darauf, am Samstag, ringt sich auch Annalena Baerbock zu einer eindringlichen Warnung durch: Die Deutschen, die sich noch in der Ukraine aufhalten, sollen sofort das Land verlassen. Nur eine Rumpfmannschaft in der Botschaft in Kiew verbleiben.

Schließlich kündigt das US-Verteidigungsministerium an, in Polen weitere 3000 Soldaten zu stationieren. Die Soldaten einer Luftlandedivision aus North Carolina hätten einen Marschbefehl erhalten. Seit Jahrzehnten hat es keine derart große Kriegsgefahr in Europa mehr gegeben.

Am folgenden Sonntag, dem 13. Februar, werden die Hauptstadtkorrespondenten der wichtigsten deutschen Medien kurzfristig zu einem virtuellen Briefing geladen. Ein hochrangiger Vertreter der Bundesregierung will die Presse mit Einschätzungen und Hintergrundinformationen versorgen.

Es geht um die an den beiden folgenden Tagen bevorstehende Reise des Bundeskanzlers nach Kiew und Moskau. Alles dreht sich um die Kriegsgefahr und die Frage, ob es Olaf Scholz gelingen kann, die russische Invasion doch noch abzuwenden.

In dem Briefing wird klar, wie hilflos die deutsche Regierung ist. Alle Argumente wurden zwischen den westlichen Regierungschefs und Diplomaten und ihren Gegenspielern in Moskau ausgetauscht, die Warnungen und Drohungen beider Seiten sind bekannt. Was kann Olaf Scholz da noch ausrichten? Der hochrangige Regierungsvertreter spricht von einer «extrem gefährlichen» Lage.

In dem Gespräch wird außerdem spürbar, dass der Bundeskanzler mit der deutschen Geschichte im Gepäck nach Kiew und Moskau reisen wird. Die Verbrechen, die im vergangenen Jahrhundert von Deutschen und im Namen von Deutschen gegen die Bevölkerung der damaligen Sowjetunion, besonders der Ukraine und Russlands, begangen wurden, sind tief in der deutschen Erinnerungskultur verankert.

Daher will Olaf Scholz in Moskau am Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz niederlegen. Ein Zeichen soll das sein: Deutschland hat aus der Geschichte gelernt. Nie wieder Krieg! Wer will, kann das auch als subtile Frage an die russische Regierung verstehen: Habt ihr ebenfalls aus der Geschichte gelernt?

Am langen Tisch