Entstehung und Grundlagen der Aktivierungstherapie - Zentrum für medizinische Bildung - E-Book

Entstehung und Grundlagen der Aktivierungstherapie E-Book

Zentrum für medizinische Bildung

0,0

Beschreibung

Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Aktivierungstherapie ist eine verhältnismässig junge Disziplin. Dementsprechend ist ihre fachliche Entwicklung sehr dynamisch. Der erste Band der neuen Themenheftreihe «Aktivierungstherapie» des Zentrum für medizinische Bildung, Bildungsgang Aktivierung HF, fasst den Diskussionsstand über die Entstehung und die Grundlagen des Berufsfeldes zusammen. Mehrere Autorinnen beleuchten verschiedene Aspekte und Grundfragen der Aktivierungstherapie: - die Geschichte der Aktivierungstherapie in der Schweiz, - Aktivierung, Aktivierungstherapie, aktivierende Alltagsgestaltung – Grundlagen, Entwicklungen, Begriffsklärungen, - die therapeutische Beziehung als Kernelement der Aktivierungstherapie, - die Bedeutung der Aktivierungstherapie im interdisziplinären Team.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 75

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Zentrum für medizinische Bildung Bern,

Bildungsgang Aktivierung HF (Hrsg.)

Entstehung und Grundlagen der Aktivierungstherapie

ISBN 978-3-0355-1986-0

1. Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 hep verlag ag, Bern

hep verlag ag

Brunngasse 36

CH-3011 Bern

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Judith Giovannelli-Blocher

Editorial

Christine Hefti Kraus

Einleitung

Hedy Holliger, Hildegard Lichtin

Geschichte der Aktivierungstherapie in der Schweiz

Rita Dilitz, Mirjam Müller

Aktivierung, Aktivierungstherapie, Aktivierende Alltagsgestaltung – Grundlagen, Entwicklungen und Begriffsklärungen

Christine Hefti Kraus

Die therapeutische Beziehung als Kernelement der Aktivierungstherapie

Regula Schmitt

Die Bedeutung der Aktivierungstherapie im interdisziplinären Team

Editorial

Eigentlich hätte ich ganz gerne ein wenig den Mahnfinger gehoben dem heute auf allen Stufen des Lebens grassierenden Machbarkeitswahn gegenüber, dem Aktivierungs-Trend überall.

Ich stehe selbst im fragilen Alter und weiss, was Müdigkeit, Verlust von Kräften und Fähigkeiten, Einengung des Lebenshorizontes und gelegentlicher Lebensüberdruss bedeuten. Manchmal wünsche ich mir etwas mehr Respekt und Mitgefühl gegenüber der unaufhebbaren Schwächung von Altgewordenen.

Und trotzdem schreibe ich dieses Editorial gerne, besonders auch, nachdem ich in den nachfolgenden Darlegungen gesehen habe, mit welcher Sorgfalt das Thema «Aktivierung» behandelt wird. Zur Sorgfalt gehört ja auch, dass man die heute übliche Ignoranz und Verachtung gegenüber allem, was mit Leiden zu tun hat, nicht mitmacht, sondern mit Zärtlichkeit für alles Gebrechliche die Bemühung um Aktivierung angeht. Das ist für mich die Grundlage.

Wir leben heute mehr als ein Jahrzehnt länger als die Menschen vor hundert Jahren. Das noch immer vorhandene Defizit-Modell des Alters ist unzeitgemäss geworden, besonders die Lebensphase zwischen ca. 60 bis 75 Jahren verdient eine gründliche Aufwertung und verlangt nach neuen Modellen für diesen Lebensabschnitt (siehe mein Buch: Das Glück der späten Jahre – Mein Plädoyer für das Alter, Pendo-Verlag, 2005).

Wenn aber dann «die Wahrheit an den Tag kommt», die alten Tage dem entsprechen, was man als Schreckgespenst immer von sich weggeschoben hat: lebensmüde, inaktiv, behindert, verwirrt, oft schwierig und abweisend im Umgang, unselbstständig und abhängig von Hilfe, dann weiss der moderne Mensch nicht mehr was anfangen mit so einer Person.

«Entsetzlich, diese Gestalten, wie sie in den Pflegeheimen herumhocken!»

Solche Einschätzungen höre ich bei meinen Lesungen noch und noch. «Nume das nid», denkt jeder und jede. Die Aktivierende Alltagsgestaltung und die Aktivierungstherapie gehen von einem anderen Menschenbild aus. Basierend auf einem Ressourcenmodell versuchen die Therapeutinnen und Therapeuten Zeichen des inneren Lebens ihrer Klientinnen und Klienten zu erkennen und durch geeignete Aktivitäten zu entfalten.

Da sind einmal die Erinnerungen, dieser tiefe Brunnen des inneren Reichtums, wo Leben heraufgeholt und aktiviert werden kann, oft angestossen durch Musik, Lieder, Gerüche, Namen und Beziehungen aus der Kindheit. Sie schaffen es immer wieder, dass ein ansonsten ganz apathischer Mensch für Momente wieder ganz da ist, sich seiner Fähigkeiten, die erloschen zu sein scheinen, erinnert, weiss, womit er im aktiven Leben «punkten» konnte – und sei es nur in der Vorstellung, wie es gewesen sein mag.

Jemand sein: Nie wird dieses Bedürfnis eindrücklicher, als wenn Alte in der Abhängigkeit einer stationären Unterbringung sich vergegenwärtigen, wer sie waren oder sein wollten, an einem Kostümball oder in einer Theateraufführung, präsentiert in einer Fotogalerie, vielleicht auch in einem Buch über Zeitgenossen oder Angehörige des früheren Berufes.

Das bringt müde gewordene Augen zum Leuchten, schafft Glücksgefühle, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für Angehörige, Personal und nicht zuletzt für all die, die nachkommen werden, weil es eine Präsentation der menschlichen Möglichkeiten bis zuletzt ist, die Mut macht.

Braucht es nun aber eine Ausbildung, um müde gewordene Betagte zu aktivieren? Ich würde mal sagen, dass die therapeutische Aktivierung, die mit dem Widerstand umgeht, weiter da zu sein, noch mitzumachen, sich nochmals ein «Schüpfli» zu geben, die in sich vorhandenen Kräfte nochmals zu wecken, professionelle Kenntnisse klar voraussetzt.

Es braucht enormes Wissen und Können, nebst einer grossen Portion Empathie, um behutsam abzuklären, ob es sich um eine Persönlichkeit handelt, die von einer inneren Ruhe und persönlichen Unabhängigkeit lebt und deshalb nichts von «Hüpfen in der Gruppe» hält und darum auch in Ruhe gelassen werden muss, oder ob es sich um einen Menschen handelt, der aus Hilflosigkeit gegenüber seiner jetzigen Lebenssituation verstummt ist.

Es folgen die vielen zaghaften, von mannigfachen Enttäuschungen durchzogenen Versuche, nochmals etwas aufzunehmen, was man früher gekonnt hat, auch wenn es unvollkommen ist. All das braucht therapeutische Begleitung, die fachmännisch im richtigen Mass einerseits fördert und andererseits akzeptieren hilft, was ist.

Aktivierungstherapie ist nur wirksam in einem pflegerischen Umfeld, in dem Alltagsaktivierung praktiziert wird. Wenn Ärztinnen und Ärzte, Pflegefachleute, Angehörige und Freiwillige aufhören, ermunternd zu aktivieren, hat auch die «Spezialistin» kein Brot. Sie ist aber auch nicht einfach «ergänzend», wie oft gesagt wird, sondern Aktivierungstherapie ist ein zentraler Bestandteil aller Bemühungen um hochaltrige und demente Persönlichkeiten – und dies nicht, weil Ärzte und Pflegepersonen «zu wenig Zeit» dafür haben, sondern weil es besondere Kenntnisse für diese Tätigkeit braucht.

Aktivierungstherapeutinnen und -therapeuten leiden darunter, zu wenig anerkannt zu werden und schnell dem Rotstift des Sparens zum Opfer zu fallen. «Unser Wirken ist eben mit den üblichen Messinstrumenten unserer Gesellschaft nicht messbar!», klagen sie. Das sollte sie aber nicht entmutigen, weiterhin für ihre Aufgabe zu kämpfen. Alles Wesentliche des Lebens lässt sich nämlich nicht berechnen, obwohl wir spüren, dass es unverzichtbar, real und für den Erfolg eines erfüllten Lebens zentral ist.

Ich hoffe, dass es der vorliegenden Publikation gelingt, die Achtung vor dem wichtigen Berufszweig Aktivierungstherapie zu stärken, und wünsche allen, die damit in Berührung kommen, ansteckende Begeisterung und Bereitschaft zur Kooperation.

Judith Giovannelli-Blocher

Autorin

Judith Giovannelli-Blocher

Sozialarbeiterin, Organisationsberaterin und Schriftstellerin, geb. 1932

Einleitung

Das folgende Themenheft fasst den gegenwärtigen Diskussionsstand über das Berufsfeld der Aktivierungstherapie aus Sicht verschiedener Autorinnen der «Berner Schule» zusammen.

In einem ersten Beitrag von Hedi Holliger und Hildegard Lichtin wird die Geschichte der Aktivierungstherapie zusammengefasst – ausgehend von der Gründung der «Zürcher Schule», als Abspaltung der Ergotherapie in Zürich, über die Gründung der «Berner Schule» in Bärau, bis zur heutigen Situation, gemäss dem für die ganze Schweiz gültigen Rahmenlehrplan Aktivierung HF.

Im zweiten Beitrag Aktivierung, Aktivierungstherapie, Aktivierende Alltagsgestaltung – Grundlagen, Entwicklungen, Begriffsklärungen von Rita Dilitz und Mirjam Müller wird zuerst der übergeordnete Begriff «Aktivierung» hergeleitet; danach wird der Begriff «Aktivierungstherapie» näher untersucht und abschliessend der Zusammenhang der Begriffe gemäss Rahmenlehrplan – Aktivierung, Aktivierende Alltagsgestaltung und Aktivierungstherapie – hergestellt.

Im dritten Beitrag Die therapeutische Beziehung als Kernelement der Aktivierungstherapie von Christine Hefti Kraus – der davon ausgeht, dass diese Beziehung in der Praxis der wichtigste therapeutische Wirkungsfaktor ist – werden zuerst wichtige Voraussetzungen und anschliessend wirksame Elemente der therapeutischen Beziehung näher untersucht.

Im letzten Beitrag Die Bedeutung der Aktivierungstherapie im interdisziplinären Team von Regula Schmitt wird anhand eines eindrücklichen praktischen Beispiels aus einem Pflegeheim, die Bedeutung der Aktivierungstherapie in der Zusammenarbeit mit den anderen Disziplinen – Medizin, Pflege und Betreuung – herausgearbeitet.

Da die Aktivierungstherapie eine verhältnismässig junge Disziplin ist, ist auch ihre fachliche Entwicklung eine sehr dynamische; in diesem Sinn ist das vorliegende Themenheft erst ein Anfang: Bestimmte Schlussfolgerungen – wie zum Beispiel die Abgrenzung der Aktivierungstherapie von der Aktivierenden Alltagsgestaltung, der besondere Stellenwert der therapeutischen Beziehung oder die interdisziplinäre Zusammenarbeit – fliessen verstärkt in die Ausbildung ein. Jährlich ist ein weiteres Themenheft geplant, als nächstes zum Einbezug von spezifischen Methoden und Konzepten in der Aktivierungstherapie.

Christine Hefti Kraus

Autorin

Christine Hefti Kraus

Leiterin Bildungsgang Aktivierung HF, medi Bern

Geschichte der Aktivierungstherapie in der Schweiz

Historischer Hintergrund

Die Entstehung und Entwicklung des Berufsfeldes der Aktivierungstherapie kann im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Veränderungen in den 1960er und 1970er-Jahren, insbesondere mit dem auch in der Schweiz wachsenden Interesse für die Geriatrie (Altersmedizin) und die Gerontologie (Wissenschaft des Alterns) betrachtet werden. In der Schweiz gab es schon damals eine gut entwickelte Altersarbeit in der Praxis; die wissenschaftliche Forschung und die Ausbildung setzten aber verglichen mit anderen europäischen Ländern erst verhältnismässig spät ein (Höpflinger, 2008). Wahl & Heyl (2004, S. 107–114) bezeichnen die 1960er-Jahre als die «Konsolidierung der Gerontologie», sowohl im Ausbau der Forschung als auch in der zunehmenden Institutionalisierung. Auch in der Schweiz gewannen interdisziplinäre gerontologische Fragestellungen zunehmend an Bedeutung, dies nicht zuletzt im Zusammenhang mit den demografischen Veränderungen (z. B. zogen Junge aufs Land, während viele Alte in der Stadt zurückblieben).

Die Gruppe der Langzeitpatientinnen und -patienten nahm zu; gleichzeitig war die Betreuung in der Familie immer weniger möglich. Für Menschen mit chronischen Erkrankungen wurden spezialisierte Institutionen geschaffen. In der Betreuung von Langzeitpatientinnen und -patienten oder Chronischkranken (damaliger Begriff) fand langsam ein Paradigmawechsel statt: Defizitorientiertes Denken wurde durch eine aktivierende Grundhaltung und die damit verknüpfte Ressourcenorientierung abgelöst.

In diesen Langzeitinstitutionen (damals lebten auch viele erwachsene Menschen mit Behinderungen in Langzeit- und in Altersinstitutionen) mangelte es an ausgebildeten Ergotherapeutinnen und -therapeuten. 1968 wurde in der Geriatrie die Bezeichnung «ablenkende Ergotherapie» bei Chronischkranken durch den Begriff «aktivierende Ergotherapie» ersetzt. 1972 beschloss deshalb der ErgotherapeutInnen-Verband Schweiz (EVS), einen Weiterbildungskurs zu organisieren, um mit Aktivierungstherapeutinnen und -therapeuten dem Mangel an Fachleuten entgegenzuwirken (Kuster et al., 1982, S. 47). Auf die Bezeichnungen «Hilfs-Ergotherapeuten» und «Ergotherapiehelferinnen» wurde bewusst verzichtet, da man davon ausging, dass die neue Berufsgruppe nach der Ausbildung selbstständig arbeiten würde und deshalb eine eigenständige Berufsbezeichnung sinnvoll sei.