Entwicklungspädiatrie in der Interdisziplinären Frühförderung - Andreas Seidel - E-Book

Entwicklungspädiatrie in der Interdisziplinären Frühförderung E-Book

Andreas Seidel

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Beschreibung

In der Interdisziplinären Frühförderung ist das Thema Kindesentwicklung (Entwicklungspädiatrie) ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt für die kinderärztlichen und therapeutischen Fachkräfte. Deren diagnostische und therapeutische Einschätzung ist ein wichtiger Baustein für die Entwicklungsbeurteilung sowie die individuellen Förder- und Therapiepläne. Aus entwicklungspädiatrischer Sicht werden Anamnese, Untersuchung (Diagnostik) und Beurteilung der kognitiven, motorischen, sozial-emotionalen und sprachlichen Entwicklung des Kindes dargestellt. Besonders häufige Entwicklungsstörungen von Kindern werden erläutert, Möglichkeiten für Förderansätze und therapeutische Optionen beschrieben. Anhand von Praxisbeispielen wird das Vorgehen aus ergo-, physio- und sprachtherapeutischer Perspektive ausführlich dargelegt.

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Interdisziplinäre Frühförderung

Herausgegeben von

Hans Weiß und Andreas Seidel

Andreas Seidel

Entwicklungspädiatrie in der Interdisziplinären Frühförderung

Medizinische und therapeutische Grundlagen

Mit Beiträgen von Andrea Espei, Karoline Munsch und Christina Rieckmann

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031731-4

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-031732-1

epub:     ISBN 978-3-17-031733-8

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Einleitung

 

1             Kinder in der Frühförderung

 

2             Entwicklung und Entwicklungsstörungen

 

2.1         Entwicklungspädiatrie und Entwicklungsneurologie

2.2         Kindesentwicklung und mögliche Störungen der Entwicklung

2.3         Risikofaktoren und Schutzfaktoren in der Kindesentwicklung

2.4         Klassifikation von Gesundheitszuständen, Störungen und Krankheiten

3             Ärztliches Vorgehen und ärztliche Qualifikationen

 

3.1         Anamnese

3.2         Untersuchung des Kindes

3.3         Zusammenführen der ärztlichen Untersuchungsbefunde

3.4         Interdisziplinäre Diagnostik und Zusammenarbeit

3.5         Anforderungen an die ärztliche Fachkraft in der Frühförderung

4             Weitere ärztliche Diagnostik

 

4.1         Labordiagnostik

4.2         Sonographie/Ultraschalluntersuchung

4.3         Röntgen und Neuroradiologie

4.4         Elektroenzephalographie (EEG) und Neurophysiologie

4.5         Entwicklungstests

5             Häufige Störungsbilder und Diagnosen in der Frühförderung

 

5.1         Kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung

5.2         Koordinationsstörungen/Umschriebene Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen

5.3         Sprachentwicklungsstörungen

5.4         Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten

5.5         Besondere Aspekte frühgeborener Kinder

5.6         Zerebralparese

5.7         Intelligenzminderung

5.8         Alkoholspektrumstörung (FASD – fetale Alkoholspektrumstörungen)

5.9         Genetische Störungen und Syndrome

5.10       Epilepsie

5.11       Kindesmisshandlung und Vernachlässigung

5.12       Störungen der sozialen und emotionalen Entwicklung/psychische Störungen im Vorschulalter

5.13       Beziehungsstörungen nach DC:0-5

5.14       Fütter- und Essstörungen

5.15       Schlafstörungen

5.16       Persistierendes exzessives Schreien

5.17       Regulationsstörungen (der sensorischen Verarbeitung)

5.18       Ausscheidungsstörungen bei Vorschulkindern

5.19       Depressive Störungen

5.20       Angststörungen

5.21       Anpassungsstörungen

5.22       Posttraumatische Belastungsstörung

5.23       Bindungsstörungen

5.24       Aufmerksamkeitsdefizit- und hyperkinetische Störungen (ADS und ADHS)

5.25       Störungen des Sozialverhaltens

5.26       Autismus-Spektrum-Störungen

5.27       Elektiver Mutismus

6             Therapie

 

6.1         Ergotherapie in der Interdisziplinären Frühförderung (Andrea Espei)

6.2         Logopädie in der Interdisziplinären Frühförderung (Christina Rieckmann)

6.3         Physiotherapie in der Interdisziplinären Frühförderung (Karoline Munsch)

Schlusswort

 

Literatur- und Quellenverzeichnis

 

Der Autor, die Beiträgerinnen

 

 

Einleitung

 

 

Jedes Kind ist individuell und auf seine Weise einmalig. Die Kindesentwicklung ist ebenso individuell und dabei abhängig von biologischen (»entwickeln«) und Umweltfaktoren (»entwickeln lassen und helfen«), die in Wechselwirkung zueinanderstehen. Dabei stellt die frühe Kindheit eine hochsensible Phase in der Entwicklung dar. Insbesondere die Entwicklungs- und Lebensbedingungen in der Ursprungsfamilie, aber auch im gesamtgesellschaftlichen Kontext (z. B. Kita und gesellschaftliche Faktoren im Allgemeinen) spielen eine bedeutende Rolle für die Entwicklung und die Gesundheit eines Kindes. Für die Eltern und Personensorgeberechtigten heißt dies, dass sie auf die individuellen Bedürfnisse ihres Kindes eingehen müssen; insbesondere auch auf die emotionalen und sozialen Bedürfnisse. Forschungsbefunde zeigen, dass Bindungsunsicherheiten beim Kind und Beeinträchtigungen der Eltern-Kind-Interaktion zu späteren Verhaltensproblemen und chronischen Gesundheitsstörungen führen können.

Deshalb sind Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation für (junge) Kinder so bedeutsam. Die Frühförderung ist ein bedeutendes niedrigschwelliges Förderangebot für Kinder mit (drohender) Behinderung, aber auch vorbeugende Unterstützung für Kinder mit Entwicklungsbeeinträchtigungen und ihre Familien. Sie richtet sich als gesetzlich angebotene spezielle Hilfeform an Kinder im Vorschulalter (ab dem ersten Lebensjahr) und bezieht die Familien in die individuelle Frühförderung des jeweiligen Kindes ein. »Mit den Eltern für das Kind …« beinhaltet das familienorientierte Arbeiten in der Frühförderung.

Die Kindesentwicklung ist ein wesentlicher Bestandteil der kinderärztlichen Arbeit sowie von Fachkräften der therapeutischen Disziplinen. Sofern bei einer Vorsorgeuntersuchung ein auffälliger Befund erhoben wird, ein Entwicklungsrückstand von Eltern oder externen Fachleuten angenommen wird oder Risikofaktoren bestanden haben (zum Beispiel in der Schwangerschaft) oder bestehen, dann sind für die Eltern wichtige Fragen zu klären und möglichst eindeutige Antworten zu finden:

  Besteht eine Störung der Entwicklung?

  Sind weitere Untersuchungen notwendig?

  Sind Förder- oder Therapiemaßnahmen einzuleiten?

  Droht gar eine Behinderung oder liegt eine solche bereits vor?

Die kinderärztliche Beratung erfordert eine umfassende Kenntnis der Variabilität der Entwicklung von Kindern sowie von Störungsbildern und Erkrankungen. Gleiches gilt für die Fachkräfte in den therapeutischen Berufen (Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie). Sofern die Diagnose einer Entwicklungsstörung oder chronischen Erkrankung gestellt wird oder eine Behinderung vorliegt, bedeutet dies für die Eltern zuerst vor allem enttäuschte Hoffnungen und Erwartungen sowie möglicherweise eine veränderte Lebensplanung.

Bei komplexen Störungsbildern ist meist eine interdisziplinäre Abstimmung mit anderen Fachleuten notwendig; in der Frühförderung ist interdisziplinäres Handeln obligat. Eine solche interdisziplinäre Zusammenarbeit findet in Deutschland dann oft in Frühförderstellen oder Sozialpädiatrischen Zentren statt. Alternativ, insbesondere wenn solche Strukturen wohnortnah nicht zur Verfügung stehen, können verschiedene Fachleute in den jeweiligen Sozialräumen auf eine andere Weise kooperieren.

Dieses Buch gibt eine Einführung in die kinderärztliche und therapeutische Perspektive in der Frühförderung; es richtet sich dabei im Wesentlichen an Fachkräfte, die mit (entwicklungsauffälligen oder entwicklungsgestörten) Vorschulkindern arbeiten.

 

 

 

1

Kinder in der Frühförderung

 

Nach den Erhebungen des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik ISG erhalten in Deutschland ca. 2,3 % der Vorschulkinder Frühförderung, dies entspricht einer Gesamtzahl von rund 112.000 Kindern (Stand: 2010; ISG, 2012). Diese Versorgungsquote von bundesweit 2,3 % weicht regional zum Teil erheblich vom bundesdeutschen Durchschnittswert ab.

Im Schulkindalter wird aktuell im Bundesdurchschnitt bei 6,6 % aller Kinder ein sonderpädagogischer Förderbedarf festgestellt (Bertelsmannstudie, 2015). Insofern erscheint bei der Frühförderung in Deutschland eine aktuelle Versorgungsquote von 2,3 % im gesamten Vorschulalter eher niedrig.

Das Gesamtsystem der Frühförderung war und ist auch aktuell deutschlandweit immer noch sehr unterschiedlich entwickelt. Neben den (heilpädagogischen und interdisziplinären) Frühförderstellen sowie Sozialpädiatrischen Zentren sind in Deutschland an vielen Orten auch niedergelassene Praxen als Leistungserbringer und/oder Kooperationspartner für Frühförderstellen tätig. Spezielle Frühförderstellen für Kinder mit Sinnesbeeinträchtigungen erbringen überwiegend mobile heilpädagogische Leistungen als Einzelförderung. Der Anspruch auf Frühförderung ist im § 46 Sozialgesetzbuch IX verankert. Als Interdisziplinäre Frühförderung erfolgt eine gemeinsame Finanzierung der beteiligten Rehabilitationsträger (Krankenkasse und Träger der Eingliederungshilfe). Umfasst die Leistung ausschließlich heilpädagogische Leistungen, so werden diese im Rahmen der Eingliederungshilfe finanziert. Auch die Träger der öffentlichen Jugendhilfe können als Rehabilitationsträger solche Leistungen erbringen. Werden ausschließlich medizinisch-therapeutische Leistungen im SPZ erbracht, werden diese nur von der Krankenkasse finanziert.

Durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) ist ein komplexer Umgestaltungsprozess des SGB IX und der Frühförderungsverordnung in Gang gesetzt worden. In den kommenden Jahren ist deshalb ein Wandel in der Versorgungs- und Organisationsstruktur zu erwarten, damit die Zielsetzungen des BTHG aus der Perspektive der Interdisziplinären Frühförderung erreicht werden können (Krinninger, 2020).

Tab. 1: Altersverteilung von Kindern in der Frühförderung. N = 904, davon Jungen 580 (64,2 %) und Mädchen 324 (35,8 %) (ISG 2008)

Anteil in %

Im Rahmen der Datenerhebung zu den Leistungs- und Vergütungsstrukturen in der Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder durch das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG 2008) wurden auch soziodemographische Merkmale von Kindern in der Frühförderung erhoben (Tabelle 1). Dabei zeigte sich deutlich, dass die meisten Kinder im Frühfördersystem 3 Jahre und älter sind; fast die Hälfte der Kinder sind über 5 Jahre alt. Die in der Tabelle 1 genannten Anteile unterschieden sich zwischen den Frühförderstellen und Sozialpädiatrischen Zentren nur geringfügig. Die Altersmerkmale werden durch die Daten der Sozialhilfestatistik im Verlauf bestätigt: Bei Kindern von 0 bis 7 Jahren werden ca. 11 % der Leistungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen für unter 3-Jährige aufgewendet, während für Kinder von 3 bis 7 Jahren 89 % der Aufwendungen genutzt werden (Statistisches Bundesamt 2015). Der Anteil der einzelnen Altersgruppen der Frühförderkinder unterscheidet sich regional zum Teil deutlich. Beispielsweise werden in Bayern (FranzL-Studie 2011) im Vergleich zur Altersschichtung, die die ISG-Studie ermittelt hat, anteilsmäßig mehr Säuglinge und deutlich weniger ältere Kindergartenkinder im Frühfördersystem betreut. Gerade im Hinblick auf die niedrig erscheinende Versorgungsquote von bundesweit 2,3 % und die Altersstruktur der Frühförderkinder stellt sich die Frage, warum insbesondere nicht mehr Säuglinge und jüngere Kleinkinder in Frühförderermaßnahmen einbezogen sind. Ein Erklärungsansatz wäre, dass die (drohende) Behinderung bei vielen Kindern im Vorschulalter erst im Entwicklungsverlauf entsteht und deshalb erst im späteren Kleinkindalter (vor der Einschulung) offensichtlich und diagnostizierbar wird. Eine andere Erklärung könnte sein, dass Säuglinge und junge Kleinkinder mit Entwicklungsrückständen und Teilhabebeeinträchtigungen nicht frühzeitig dem Frühfördersystem zugewiesen werden.

Die Störungsbilder und Diagnosen der Kinder, die Frühförderung erhalten, haben sich in den letzten dreißig Jahren deutlich verändert. Während noch in den 1980er Jahren die Kinder mit klassischen Störungsbildern und Diagnosen wie Störungen der Sinneswahrnehmung, Zerebralparese, Down-Syndrom oder sogenannten Mehrfachbehinderungen im Vordergrund standen, repräsentieren diese Störungsbilder heute weniger als 20 % der Diagnosen in der Frühförderung. Bei den weitaus meisten Kindern werden heute allgemeine Entwicklungsstörungen (der Kognition, der Sprache, der Motorik, der Wahrnehmung) sowie psychosoziale und emotionale Auffälligkeiten (als Störungen des Verhaltens oder der psychosozialen Entwicklung) als Indikation für eine solche Frühförderung beschrieben. Abbildung 1 zeigt die Verteilung und Häufigkeit der erfassten Diagnosen in Thüringer Frühförderstellen im Jahr 2010. Allgemeine Entwicklungsverzögerungen, Störungen der Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung, der Sprache sowie Auffälligkeiten der psychosozialen Entwicklung sind die am häufigsten genannten Diagnosen.

Abb. 1: Verteilung der in den Frühförderstellen erfassten Diagnosen (alle Angaben in %) in Thüringen im Jahr 2010; Anteil der Jungen: 65,1 %, Mädchen: 34,9 %. N = 2868, Mehrfachnennungen möglich (Sohns et al. 2015).

Diese Verteilung von Diagnosen und Störungsbildern wird durch andere Untersuchungen (z. B. ISG-Bericht oder die FranzL-Studie) bestätigt. In den Statistiken der Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) finden sich für Vorschulkinder ähnliche Häufigkeiten bei den Diagnosen nach der ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation) mit einer deutlichen Dominanz der sogenannten umschriebenen kombinierten Entwicklungsstörung. Die kombinierte umschriebene Entwicklungsstörung (mit dem ICD Code F83) hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ursprünglich als eine Restkategorie für Störungen, bei denen eine gewisse Mischung von umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, schulischer Fertigkeiten und motorischer Funktionen vorliegt, von denen jedoch keine dominiert, definiert. Meist sind die Störungen auch mit einem gewissen Grad an allgemeiner Beeinträchtigung kognitiver Funktionen verbunden. Andere häufige Diagnosen bei Vorschulkindern in den SPZ sind:

  Sprachentwicklungsstörungen (ICD-Code F80.-)

  Koordinationsstörungen (F82.-; hierunter werden auch sogenannte Wahrnehmungsstörungen oft kategorisiert) sowie

  Auffälligkeiten und Störungen im Bereich des Verhaltens und der sozial-emotionalen Entwicklung.

Diese Veränderungen im Auftreten der Störungsbilder in der Frühförderung bilden einen Trend bei der Beschreibung der Kindergesundheit in den letzten Jahrzehnten in Deutschland ab und werden als »neue Morbiditäten«, »new epidemics« oder »neue Kinderkrankheiten« bezeichnet. Damit ist allgemein eine Verschiebung der Störungsbilder von akuten zu chronischen Krankheitsbildern sowie von primär körperlich bedingten Krankheiten zu funktionellen und psychischen Entwicklungsstörungen gemeint (Schlack et al. 2008). »Neue Morbiditäten« beschreiben also die Zunahme chronischer Erkrankungen und die Zunahme verschiedener Formen von Verhaltens- und Entwicklungsstörungen im Kindesalter, wie motorische Entwicklungsstörungen (Koordinationsstörungen, umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen), verzögerte Sprachentwicklung (Sprachentwicklungsstörungen), Aufmerksamkeitsstörungen mit und ohne Hyperaktivität und weitere psychische Auffälligkeiten wie zum Beispiel Depressionen oder Aggressivität. Die Entstehung dieser »neuen Morbiditäten« ist fast immer multifaktoriell bedingt, bei denen genetische und verschiedene Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Die Zunahme dieser Störungsbilder und Diagnosen lassen sich vor diesem Hintergrund am ehesten durch veränderte Umweltfaktoren verstehen. Damit sind die veränderten und sich weiter rasch ändernden Lebenswelten von Kindern gemeint (Familie, Gesellschaft). Diese Umweltfaktoren stellen wahrscheinlich besondere Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit und die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben heranwachsender Kinder. Dabei ist anzunehmen, dass insbesondere soziale und einstellungsbezogene Faktoren bei den Kontextfaktoren in der Pathogenese der »neuen Morbiditäten« von Bedeutung sind. So treten diese Entwicklungsstörungen bei Kindern, die aus einer Familie mit einem niedrigen sozioökonomischen Status kommen, häufiger auf als bei Kindern, die aus Familien mit einem höheren sozioökonomischen Status stammen. Es wird deshalb auch einem sozialen Gradienten bei den »neuen Morbiditäten« gesprochen (Schlack et al. 2008).

Besonders gefährdet sind dabei die Kinder, die eingeschränkte kognitive Fähigkeiten haben und/oder weniger resilient sind. Resilient sein bedeutet dabei eine gewisse (psychische) Widerstandsfähigkeit zu haben, um besondere Anforderungen und Krisen durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern.

Bei allen Untersuchungen zur Gesundheit und zur Entwicklung von Kindern wird der Stellenwert sozioökonomischer und sozialer Daten deutlich. Kinder mit Frühförderbedarf sind sehr viel häufiger durch soziale und familiäre Problemlagen multifaktoriell belastet. Die Häufigkeiten für das Auftreten von Entwicklungsauffälligkeiten im Kindesalter folgen deutlich erkennbar einem sozialen Gradienten. Dies zeigt sich bei den Ergebnissen der KiGGS-Studie sowie durch ein schlechteres Abschneiden bei den Befunden in den Schuleingangsuntersuchungen, z. B. bei den schulrelevanten Fertigkeiten und den Befunden zur Sprachentwicklung (Langenbruch, 2014; Kuntz et al. 2018).

Die Gesundheit, und damit auch die Entwicklung der Kinder, variiert auch z. B. mit der Familienform, in der sie aufwachsen. So hat die Reduktion der Familie auf eine Eltern-Kind-Dyade Auswirkungen auf das psychosoziale Wohlbefinden von Kindern (Klocke, 2012). Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status, deren Eltern niedrigere Bildungsabschlüsse haben und/oder die in benachteiligten Sozialräumen heranwachsen, erzielen im Altersvergleich deutlich schlechtere Ergebnisse im Bereich der Gesundheit, Entwicklung oder Bildung (Gross & Jehles, 2015). Ähnliche Ergebnisse zeigen sich für Kinder aus Migrantenfamilien sowie für Kinder mit anderen Risikofaktoren, zum Beispiel Frühgeborene. Bei Kindern aus Migrantenfamilien ist zu berücksichtigen, dass diese häufiger mit einem niedrigeren Sozialstatus korrelieren. Dies gilt besonders für Kinder, die einen beidseitigen Migrationshintergrund haben. Nach der KiGGS-Definition verfügen über einen beidseitigen Migrationshintergrund solche Kinder, die selbst aus einem anderen Land zugewandert sind und von denen mindestens ein Elternteil nicht in Deutschland geboren ist oder von denen beide Eltern zugewandert und/oder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit sind. Dies ist aktuell bei etwa 17 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland der Fall. Etwas mehr als 8 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland haben einen einseitigen Migrationshintergrund, d. h. sie sind in Deutschland geboren und ein Elternteil ist aus einem anderen Land zugewandert und/oder nichtdeutscher Staatangehörigkeit. Insgesamt weisen also derzeit mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen in Deutschland einen ein- oder beidseitigen Migrationshintergrund auf. Kinder und Jugendliche mit beidseitigem Migrationshintergrund leben nach den KiGGS-Untersuchungen zu einem beträchtlich höheren Ausmaß in sozial benachteiligter Lage, verglichen mit Kindern und Jugendlichen ohne bzw. mit einseitigem Migrationshintergrund (RKI, 2008; Santos-Hövener et al. 2019).

Aus den oben genannten Inhalten leitet sich ab, dass Umweltbedingungen, also Kontextfaktoren, das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern entscheidend beeinflussen. Damit wird auch deutlich, dass eine kontextorientierte resp. familien- und sozialraumorientierte Betrachtung bei der Diagnostik und der Umsetzung von Inhalten aus Förder- und Therapieplänen für entwicklungsgestörte Kinder notwendig ist.

In allen Untersuchungen von Frühförderkindern in den letzten zwanzig Jahren zeigt sich, dass Jungen insgesamt häufiger von Entwicklungsverzögerungen und betroffen sind; diese Jungenwendigkeit liegt bei ungefähr 2/3 zu 1/3 (Tab. 1 und Abb. 1). Eine ebensolche Geschlechtsverteilung im Vorschulalter zeigen Analysen der Inanspruchnahme von Leistungen des medizinischen Systems (zum Beispiel in der Sozialpädiatrie oder Kinder- und Jugendpsychiatrie), der Jugendhilfe sowie die Ergebnisse von Schuleingangsuntersuchungen in den verschiedenen Bundesländern (Langenbruch, 2014; Rommel et al., 2018).

Ein weiteres Beispiel für die oben beschriebenen Phänomene sind die Ergebnisse bei den psychischen Auffälligkeiten in der KiGGS-Studie (Tab. 2). Als Untersuchungsinstrument für diese Untersuchungen wurde der SDQ (Strenghts and Difficulties Questionaire)-Fragebogen eingesetzt. Der SDQ-Fragebogen zur Erhebung von Verhaltensauffälligkeiten und -stärken von Kindern wird international genutzt und ist in verschiedenen Sprachen kostenlos im Internet verfügbar (https://www.sdqinfo.com/).

Die psychischen Auffälligkeiten sind bei den Jungen deutlich stärker ausgeprägt als bei den Mädchen. Dies gilt für das erfasste Vorschulalter der 3–6-Jährigen, aber auch für die gesamte in der Studie erfasste Kinder- und Jugendzeit (3–17 Jahre). Je niedriger der soziale Status der Herkunftsfamilie, desto höher ist der Anteil der Kinder mit psychischen Auffälligkeiten (Klipker et al., 2018). Dabei ist das Risiko für solche Auffälligkeiten und Störungen bei Kindern aus Familien mit einem niedrigen Sozialstatus mehr als dreimal so hoch als bei Kindern, deren Familien einen hohen Sozialstatus aufweisen. Diese Zusammenhänge zwischen Sozialstatus und Entwicklungsauffälligkeiten gelten sowohl für Mädchen als auch für Jungen (Tab. 2).

Tab. 2: Bedeutung des Geschlechts sowie des Sozialstatus: Anteil der 3–6 Jahre alten Kinder und der Gesamtgruppe (3–17 Jahre) mit psychischen Auffälligkeiten (SDQ-Gesamtproblemwert, Elterneinschätzung; weitere Informationen zum Fragebogen unter http://www.sdqinfo.com/) in Abhängigkeit vom Sozialstatus. Der Sozialstatus bezieht sich auf die Gesamtgruppe der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3–17 Jahren (Quelle: KiGGS, 2014).

SDQ-Gesamtproblemwert in % (95 % Konfidenzintervall)MädchenJungen

 

 

 

2

Entwicklung und Entwicklungsstörungen

 

2.1       Entwicklungspädiatrie und Entwicklungsneurologie

In der kinderärztlichen Praxis ist das Thema Kindesentwicklung (Entwicklungspädiatrie) ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt. Dies gilt umso mehr für pädiatrische Tätigkeiten in Frühförderstellen oder in Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ). Die Neuropädiatrie (Kinderneurologie) befasst sich mit Krankheiten und Störungen des zentralen (ZNS: Gehirn und Rückenmark) und peripheren Nervensystems sowie der Muskulatur bei Kindern und Jugendlichen. Schwerpunkt der Entwicklungsneurologie ist die Untersuchung der geistigen, sprachlichen, sozialen und motorischen Entwicklung des Kindes.

Die Sozialpädiatrie beschäftigt sich mit den äußeren Einwirkungen auf Entwicklung und Gesundheit im Kindes- und Jugendalter und versteht sich als Querschnittswissenschaft, zu deren Aufgaben und Themen die Prävention, Behandlung und Rehabilitation unter besonderer Berücksichtigung von Lebensbewältigung und Teilhabe gehören. Im anglo-amerikanischen Sprachraum wird das ärztliche Tätigkeitsfeld der Sozialpädiatrie meist als »Developmental and Behavioral Pediatrics« bezeichnet, also dort oft mit Entwicklungspädiatrie gleichgesetzt (Forsyth & Newton, 2012).

2.2       Kindesentwicklung und mögliche Störungen der Entwicklung

Die Entwicklung des Kindes wird in verschiedene Altersstufen eingeteilt:

  Neugeborenes (erste 28 Lebenstage)

  Säugling (1. Lebensjahr)

  Kleinkind (2. bis 5. Lebensjahr)

  Schulkind (6. bis 12. Lebensjahr)

  Jugendliche (ab dem 13. Lebensjahr).

Die Kindesentwicklung wird von (intrinsischen) genetischen und (extrinsischen) Umweltfaktoren beeinflusst. Lange Zeit wurde darüber diskutiert, ob Entwicklung primär von genetischen oder Umwelteinflüssen geprägt ist.

Das heutige Verständnis von Kindesentwicklung ist geprägt von der Auffassung, dass beide Einflüsse, also Genetik und Umwelt, bedeutsam sind und nicht bei jedem Kind und zu jeder Zeit (und in jeder Altersstufe) anteilsmäßig festzulegen sind. Eine relevante Bedeutung genetischer Einflüsse auf die Kindesentwicklung konnte

Tab. 3: Gegenüberstellung einer biologischen und Umwelttheorie der Kindesentwicklung

Biologische Theorie der EntwicklungUmwelttheorie der Entwicklung

durch Zwillings- und Adoptionsstudien belegt werden. Dabei wurde offensichtlich, dass die Ausprägung von körperlichen Merkmalen (z. B. Körpergröße oder Kopfumfang) und von psychischen Merkmalen (z. B. Temperament, Auftretenswahrscheinlichkeit von hyperkinetischen und Aufmerksamkeitsstörungen, Teilleistungsstörungen, Intelligenz) genetisch wesentlich mitbestimmt wird. Die Genetik beeinflusst die Entwicklung eines Menschen lebenslang, nicht nur in der Kindheit. Die Entwicklung des Kindes unterliegt dabei biologischen Einflüssen und Abfolgen. Diese sind aber durch Umweltfaktoren (in einem unterschiedlichen Grad) veränderbar und somit beeinflussbar. Beim Betrachten der motorischen Entwicklung wird das beispielsweise deutlich. So können sich 95 % aller Kinder am Ende des ersten Lebensjahres, die Schwerkraft überwindend, auf irgendeine Weise fortbewegen (Baumann, 2015). Dabei folgen nicht alle Kinder einer einheitlichen Abfolge von Entwicklungsstufen. Entwicklung wird von Michaelis und Niemann (2017) als adaptive (lebenslange und interindividuell unterschiedliche) Antwort durch Erfahrung und Lernen auf bestimmte, vorgegebene ökologische und soziale Lebensbedingungen verstanden.

Die motorische Entwicklung kann durch Stimulation (und Therapie) gefördert werden; unzureichende Förderung oder ungünstige Entwicklungsbedingungen (im Extremfall: Verwahrlosung) können die Entwicklung beeinträchtigen oder hemmen. Gleiches kann auf andere Entwicklungsbereiche, z. B. die Sprache, das Spielen oder die soziale Entwicklung eines Kindes, übertragen werden. Reifungsprozesse hingegen sind genetisch determiniert und im zeitlichen und funktionellen Verlauf weitgehend festgelegt.

In der Entwicklungspsychologie wird Entwicklung als überdauernde Veränderungen des Erlebens und Verhaltens definiert. Dabei hängt die Entwicklung von den Veränderungen der Auseinandersetzungen mit den jeweiligen Entwicklungsaufgaben ab. Ein erfolgreiches Bewältigen von Entwicklungsaufgaben führt zur Kompetenzerweiterung des Kindes und dazu, dass zukünftige Probleme und Entwicklungsaufgaben wiederum besser bewältigt werden können. Entwicklungsdefizite können jedoch entstehen, wenn es einem Kind nicht gelingt, seine altersentsprechenden Entwicklungsaufgaben erfolgreich zu bewältigen (Übersicht in Siegler et al., 2016).

Dass eine vereinfachte Zweiteilung von Genetik und Umwelt unzureichend ist, zeigt sich beim Thema der Epigenetik. Die Epigenetik beschreibt (Umwelt-) Faktoren, die die Aktivität eines Gens und damit die Entwicklung der Zelle (zeitweilig) festlegen. Dabei kann das Erbgut auf Umwelteinflüsse reagieren und abhängig davon regulieren, wann und in welchem Ausmaß welche Gene ein- und ausgeschaltet werden. Eine solche »Steuerung der Gene durch Umweltfaktoren« kann beispielsweise durch Hungerphasen erfolgen. Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass epigenetische Phänomene sogar generationsübergreifend, zum Beispiel durch die Einflüsse des heranreifenden Kindes im Mutterleib, relevant sein können. Durch Epigenetik kann sozusagen Erfahrung vererbt werden. Ein anderes Beispiel für eine Relevanz von epigenetischen Veränderungen sind traumatische Erfahrungen (von Kindern), die auch noch nach Jahrzehnten den Zustand von Körperzellen und damit den Gesundheitszustand von Menschen beeinflussen können. Chronische Gesundheitsstörungen und Erkrankungen sind bei Menschen (Kindern) mit traumatischen Erfahrungen häufiger, z. B. unterschiedliche psychosomatische Beschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder depressive Störungen (O’Donnel & Meaney, 2020).

Schon zum Zeitpunkt der Geburt hat das Gehirn des Neugeborenen eine Neuronenzahl, die in etwa derjenigen von Erwachsenen entspricht. Es werden viele Synapsenverbindungen zwischen den Neuronen (Nervenzellen) gebildet, die im weiteren Verlauf (entwicklungs- und umweltabhängig) verändert und teilweise auch wieder eliminiert werden. Diese Umbauprozesse mit Bildung und Abbau von Synapsen erreichen ihr Maximum in unterschiedlichen Hirnarealen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Eine solche Fähigkeit, Synapsen bilden und eliminieren zu können, ist die Grundlage für eine Plastizität des Gehirns, das sich so auf veränderte Umweltbedingungen einstellen kann. Lohaus und Glüer (2014) unterscheiden dabei zwischen einer erfahrungsabhängigen und einer erfahrungserwartenden Plastizität. Erfahrungsabhängig bedeutet dabei, dass in Abhängigkeit von Umwelterfahrungen des Kindes und den erforderlichen Informationsverarbeitungen im Gehirn Synapsen entstehen oder eliminiert werden können. Erfahrungserwartende Plastizität meint hingegen, dass das Nervensystem in bestimmten Entwicklungsphasen einen spezifischen Reiz benötigt, um sich entsprechend entwickeln zu können.

Findet zum Beispiel in den ersten Lebensjahren kein Kontakt mit Sprache statt, so ist ein vollständiges Erlernen von Sprache anschließend nicht mehr möglich, das Zeitfenster für diesen Bereich der Entwicklung ist dann für immer verschlossen. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist die Sehentwicklung. Die Fähigkeit der Sehrinde (visueller Kortex) wird irreversibel beeinträchtigt, wenn in den ersten Lebensmonaten keine entsprechende Stimulierung erfolgt. Eine ähnliche Bedeutung erfährt das Thema des Schielens im (frühen) Kindesalter. Auch hier kann es zu bleibenden Sehstörungen (Amblyopie) bei intakten anatomischen Strukturen kommen, wenn eine notwendige Therapie (z. B. Brillenversorgung und/oder Okklusionsbehandlung) unterbleibt (Forsyth & Newton, 2012; Michaelis & Niemann, 2017).

Die Plastizität des Gehirns ist bei jungen Kindern besonders ausgeprägt, weshalb Hirnschädigungen im Vergleich zu Älteren deutlich besser kompensiert werden können. Neuronen (Nervenzellen) haben im Nervensystem verschiedene Funktionen und unterscheiden sich auch strukturell. Besonderes Interesse haben in den letzten Jahren die sogenannten Spiegelneurone erlangt. Dies sind Nervenzellen, die zunächst im Gehirn von Affen beschrieben und beim Betrachten eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster zeigten wie bei dessen eigener Ausführung. Auch beim Menschen gibt es mittlerweile Hinweise auf die Existenz dieser Neurone, die möglicherweise für bestimmte Verhaltensmuster, Imitation oder Empathiefähigkeit bedeutsam sein können. Zusammengenommen gibt es also vielfältige Belege, die auf eine Relevanz der genetischen, epigenetischen und neurobiologischen Befunde für die Hirnfunktion und Kindesentwicklung hinweisen (Redcay & Warnell, 2018; Niemann, 2019).

Kommt es zu Beeinträchtigungen der genetischen Regulationen oder biologischen Abfolgen vor der Geburt (also beim Heranreifen während der Schwangerschaft), können daraus angeborene Störungen der Körperfunktionen oder -strukturen resultieren. Zu solchen angeborenen Störungen gehören beispielsweise Fehlbildungen des Gehirns oder genetische Störungen, die meistens mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen einhergehen (zum Beispiel Down-Syndrom oder Fragiles-X Syndrom). Aber auch angeborene Fehlbildungen (zum Beispiel Fehlbildungen der Extremitäten) oder Störungen anderer Organsysteme (zum Beispiel schwere Herzfehler oder Stoffwechselstörungen) können Entwicklungsstörungen verursachen (Michaelis & Neumann, 2017; Niemann, 2019).

Bei den exogenen oder Umweltfaktoren kann zwischen sozialen und materiellen Einflüssen auf die Entwicklung unterschieden werden. Kommt es durch Umwelteinflüsse zu Entwicklungsstörungen, können diese erworbenen Störungen in prä-, peri- und postnatale Ursachen unterteilt werden.

Tab. 4: Mögliche Ursachen für Störungen der Entwicklung

Bei den sozialen Umweltfaktoren sind zunächst die Eltern die wichtigsten Bezugspersonen. Der Säugling (und in einem geringeren Ausmaß das junge Kleinkind) ist unselbständig und dadurch von seinen Bezugspersonen vollständig abhängig. Dies ist für mehrere Aspekte der Entwicklung bedeutsam. Zum einen müssen diese Bezugspersonen die Grundbedürfnisse des Kindes befriedigen und in der Lage sein, Bedürfnisse des Kindes zu erkennen sowie in einer angemessenen Weise darauf zu reagieren. Gelingt dies, erlebt ein Kind die Bezugspersonen als zuverlässig. Ein solches Fürsorgeverhalten der Eltern resp. Bezugspersonen scheint evolutionsbiologisch geprägt zu sein. In der Bindungstheorie wird dabei von einem Fürsorgesystem gesprochen, das jedoch gestört sein kann. Diese frühen Interaktionserfahrungen haben Konsequenzen für die Bindungsentstehung. Erleben Kinder die soziale Umwelt als verlässlich, so empfinden sie emotionale Sicherheit. Erleben die Kinder die soziale Umwelt als nicht verlässlich, so wird eine solche emotionale Sicherheit nicht empfunden, was das Bindungsverhalten des Kindes negativ beeinflussen kann. Neben den Bindungs- und Interaktionserfahrungen ist für das heranwachsende Kind das Erziehungsverhalten der Eltern und Bezugspersonen für die weitere Entwicklung von großer Bedeutung. Dabei sind eine angemessene Lenkung, Empathie, emotionale Wärme und Responsivität im elterlichen Erziehungsverhalten für eine positive Kindesentwicklung förderlich (Übersicht in Siegler et al., 2016; Niemann 2019). Tab. 5