Entwicklungspsychologie der Kindheit - Gudrun Schwarzer - E-Book

Entwicklungspsychologie der Kindheit E-Book

Gudrun Schwarzer

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Beschreibung

Die Entwicklung in der Kindheit ist geprägt durch eine Fülle faszinierender Veränderungen. Wie Kinder die Welt wahrnehmen und mit ihr interagieren, wie sie über sie denken und welche Informationen sie sich merken können, befindet sich in ständigem Fluss. Das Verstehen von Sprache und der eigene Spracherwerb eröffnen Kindern darüber hinaus einen ganz neuen Blick auf die Welt. Sie können sich dadurch Wissen schneller aneignen, ihren Vorstellungsraum erweitern und lernen, mit anderen effizienter zu kommunizieren. Gerade durch die Kommunikation und Interaktion mit der Umwelt erfahren sie sich als soziales Wesen und gewinnen Erkenntnisse über sich selbst. Das Buch erläutert die typischen Veränderungen in der Kindheit aus einer grundlagenorientierten Forschungsperspektive. Jedes Kapitel schlägt eine Brücke zu untypischen Entwicklungsverläufen und diskutiert, wie Wissen aus der Grundlagenforschung praktisch genutzt werden kann.

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Seitenzahl: 752

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Kohlhammer Standards Psychologie

 

 

 

 

 

Begründet von

Theo W. Hermann (†)

Werner H. Track

Franz E. Weinert (†)

 

Weitergeführt von

Marcus Hasselhorn

Herbert Heuer

Frank Rösler

 

Herausgegeben von

Marcus Hasselhorn

Wilfried Kunde

Silvia Schneider

Gudrun SchwarzerBianca Jovanovic

Entwicklungspsychologie der Kindheit

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021693-8

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-029691-6

epub:    ISBN 978-3-17-029692-3

mobi:    ISBN 978-3-17-029693-0

 

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

 

1 Kernthemen und Anwendungsfelder der Entwicklungspsychologie der Kindheit

Gudrun Schwarzer

1.1 Historische Perspektive

1.2 Entwicklungsbegriff

1.2.1 Stufenbegriff

1.2.2 Moderner Entwicklungsbegriff

1.3 Einflüsse auf die kindliche Entwicklung

1.3.1 Bedeutung von Genetik und Epigenetik

1.3.2 Bedeutung der Umwelt

1.4 Anwendungsfelder und translationale Forschung der Entwicklungspsychologie des Kindesalters

1.4.1 Anwendungsfelder

1.4.1.1 Kindliche Entwicklung in verschiedenen pädagogischen Kontexten

1.4.1.2 Entwicklungsstörungen

1.4.2 Translationale Forschung

1.4.3 Beispiel für translationale Forschung

1.5 Ausblick auf die folgenden Kapitel

2 Theorien der Entwicklungspsychologie der Kindheit

Gudrun Schwarzer

2.1 Interaktion von Anlage und Umwelt

2.1.1 Piagets Theorie

2.1.2 Wygotskys Theorie

2.2 Bedeutung der Umwelt

2.2.1 Lerntheorien

2.2.2 Ökologische Theorien

2.2.3 Kulturelle Theorien

2.3 Bedeutung der Anlage

2.3.1 Evolutionäre Ansätze

2.3.2 Kernwissenstheorien

2.4 Bedeutung des Individuums

2.5 Theorien untypischer Entwicklung

3 Methodische Verfahren und Untersuchungsdesigns

Gudrun Schwarzer

3.1 Datengewinnung

3.1.1 Neugeborenen- und Säuglingsalter

3.1.2 Kleinkindalter

3.1.3 Vorschul- und Kindesalter

3.2 Untersuchungsdesigns

3.2.1 Korrelationsstudien

3.2.2 Experimentelle Studien

3.2.3 Längsschnittliche Verfahren

3.2.4 Querschnittliche Verfahren

3.2.5 Sequentielle Studien

3.2.6 Die Rolle von Kultur und Spezies

3.3 Methodische Verfahren in den Anwendungsfeldern

3.3.1 Entwicklungsdiagnostik

3.3.2 Prävention und Intervention

3.3.3 Evaluation

3.3.4 Translation

4 Biologische Grundlagen der Entwicklung

Bianca Jovanovic

4.1 Die Anlage-Umwelt Debatte: Vom Einfluss der Gene auf das Verhalten

4.1.1 Das Genom

4.1.2 Erblichkeit

4.1.3 Einfluss von Umwelt und Interaktion: Epigenese

4.2 Die Entwicklung des Gehirns

4.2.1 Pränatale Entwicklung

4.2.1.1 Proliferation (4. bis 10. Woche)

4.2.1.2 Migration (7. bis 20. Woche)

4.2.1.3 Differenzierung/Spezialisierung

4.2.2 Postnatale Entwicklung

4.2.2.1 Axonales und dendritisches Wachstum und Verschaltung

4.2.2.2 Synapsenbildung und -eliminierung

4.2.2.3 Myelinisierung

4.2.3 Basale Plastizität und funktionale Spezifikation des Cortex

4.2.3.1 Sensible Perioden

4.2.3.2 Lebenslange Plastizität

4.3 Entwicklungsstörungen

4.3.1 Das Williams-Syndrom

4.3.2 Phenylketonurie

4.3.3 Das fetale Alkoholsyndrom

4.3.4 Translation

5 Körperwachstum und Motorik

Gudrun Schwarzer

5.1 Entwicklung des Körpers

5.1.1 Körpergröße, Gewicht und Proportionen

5.1.2 Einflüsse auf körperliche Veränderungen

5.2 Entwicklung der Motorik

5.2.1 Neugeborenenreflexe

5.2.2 Aufrechte Körperhaltung und Fortbewegung

5.2.3 Greifen und Explorieren

5.2.4 Zusammenhang zwischen Motorik und anderen Entwicklungsbereichen

5.3 Untypische Verläufe der motorischen Entwicklung

5.3.1 Umschriebene motorische Entwicklungsstörung

5.3.2 Motorische Störungen und andere Entwicklungsbereiche

5.3.3 Translation

6 Wahrnehmung

Gudrun Schwarzer

6.1 Theoretische Perspektiven auf die Wahrnehmungsentwicklung

6.2 Methodische Verfahren

6.3 Wahrnehmungsentwicklung in verschiedenen Sinnesbereichen

6.3.1 Entwicklung der Haptik, des Geschmacks- und Geruchsinnes

6.3.2 Auditive Wahrnehmung

6.3.3 Visuelle Wahrnehmung

6.3.4 Intermodale Wahrnehmung

6.4 Wahrnehmungsentwicklung in der Kindheit

6.5 Untypische Verläufe der Wahrnehmungsentwicklung

6.5.1 Visuelle Störungen und andere Entwicklungsbereiche

6.5.2 Translation

7 Kognitive Entwicklung

Bianca Jovanovic

7.1 Die Theorie von Piaget

7.1.1 Stadien

7.1.1.1 Das sensumotorische Stadium (0 bis 2 Jahre)

7.1.1.2 Das präoperationale Stadium (2 bis 7 Jahre)

7.1.1.3 Das konkret-operationale Stadium (7 bis 11 Jahre)

7.1.1.4 Das formal-operationale Stadium (ab ca. 12 Jahren)

7.1.2 Kritik an der Theorie von Piaget

7.2 Domänenspezifische Ansätze

7.2.1 Naive Physik

7.2.2 Numerisches Wissen

7.3 Entwicklung der Informationsverarbeitung

7.3.1 Aufmerksamkeit

7.3.1.1 Wachheit, fokussierte Aufmerksamkeit und Reizverarbeitung

7.3.1.2 Orientierung und Aufmerksamkeit

7.3.2 Gedächtnisentwicklung

7.3.2.1 Neuronale Grundlagen verschiedener Gedächtnissysteme

7.3.2.2 Entwicklung des deklarativen Gedächtnisses im Säuglings- und frühen Kleinkindalter

7.3.2.2.1 Methoden zur Erfassung von Gedächtnisleistungen im Säuglingsalter

7.3.2.2.2 Grundlagen der frühen Gedächtnisentwicklung

7.3.2.3 Entwicklung des deklarativen Gedächtnisses und Arbeitsgedächtnisses in der Kindheit

7.3.2.3.1 Einfluss von Wissen

7.3.2.3.2 Einfluss von Strategien und Metakognition

7.3.2.3.3 Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses

7.3.2.4 Entwicklung des nichtdeklarativen Gedächtnisses

7.3.3 Exekutive Funktionen

7.3.3.1 Inhibitorische Kontrolle

7.3.3.2 Kognitive Flexibilität

7.3.4 Problemlösen und Planen

7.4 Untypische Verläufe und Anwendungsbereiche der kognitiven Entwicklung

7.4.1 Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen

7.4.1.1 Ätiologie

7.4.1.2 Die Rolle genetischer Dispositionen und ihr Zusammenhang mit kognitiven Prozessen

7.4.1.3 ADHS und exekutive Funktionen

7.4.1.4 Therapieansätze

7.4.2 Kindliches Augenzeugengedächtnis

7.4.3 Translation

8 Sprache

Gudrun Schwarzer

8.1 Erwerb der Phonologie

8.1.1 Wahrnehmen und Erkennen von Phonemen

8.1.2 Die Rolle der Prosodie bei der Wahrnehmung von Phonemen und Worten

8.1.3 Artikulation von Phonemen und Wörtern

8.2 Erwerb des Lexikons (Semantik)

8.2.1 Erste Worte

8.2.2 Erwerb von Substantiven

8.2.3 Erwerb von Verben und Adjektiven

8.3 Erwerb der Grammatik

8.4 Erwerb der Pragmatik

8.5 Erklärungen für die Entwicklung von Sprache

8.5.1 Angeborene Voreinstellungen des Spracherwerbs – Biologie

8.5.2 Erworbene Bereiche des Spracherwerbs – Lernen und Kognition

8.5.3 Erworbene Bereiche des Spracherwerbs – soziokulturelle Einflüsse

8.6 Untypische Verläufe der Sprachentwicklung

8.6.1 Spezifische Sprachentwicklungsstörung

8.6.2 Ursachen und Interventionen

8.6.3 Translation

9 Emotionale Entwicklung und Entwicklung des Selbst

Bianca Jovanovic

9.1 Entwicklung der Emotionen

9.1.1 Theorien der Emotionsentwicklung

9.1.1.1 Differenzierungtheorien

9.1.1.2 Theorie der differentiellen Emotionen

9.1.1.3 Funktionalistischer Ansatz

9.1.2 Entwicklung des Emotionsausdrucks

9.1.2.1 Entwicklung basaler Emotionen

9.1.2.2 Entwicklung sekundärer Emotionen

9.1.3 Entwicklung des Emotionsverständnisses

9.1.3.1 Emotionswahrnehmung

9.1.3.2 Emotionale Kommunikation

9.1.3.3 Emotionswissen

9.1.4 Emotionsregulation

9.1.5 Temperament

9.2 Die Entwicklung des Selbst

9.2.1 Erste Schritte zur Testung des Selbst: Der klassische Spiegeltest und ähnliche Paradigmen

9.2.2 Das zeitlich ausgedehnte Selbst

9.2.3 Das Selbst im ersten Lebensjahr

9.3 Untypische Verläufe der Emotionsentwicklung

9.3.1 Regulationsstörung im Säuglingsalter: Exzessives Schreien

9.3.2 Die Münchner Sprechstunde: Ein Interventionsprogramm für schreiende Säuglinge

9.3.3 Translation

10 Soziale Entwicklung

Bianca Jovanovic

10.1 Entwicklung der Bindung

10.1.1 Bindungstypen

10.1.2 Stabilität und Folgen der Bindung

10.2 Entwicklung der sozialen Interaktion

10.2.1 Präferenz für soziale Stimuli

10.2.2 Dyadische Interaktion

10.2.3 Triadische Interaktion

10.2.3.1 Die Aufmerksamkeit teilen und ihr folgen

10.2.3.2 Die Aufmerksamkeit lenken

10.3 Die Entwicklung sozialer Kognition

10.3.1 Entwicklung der Theory of Mind – das Verständnis falscher Überzeugungen

10.3.2 Vorläufer des Verständnisses falscher Überzeugungen: Soziales Verständnis im Säuglings- und Kleinkindalter

10.3.3 Verstehen bereits Säuglinge falsche Überzeugungen?

10.3.4 Erklärungsansätze der ToM-Entwicklung

10.3.5 Weitere Faktoren, die die Entwicklung der ToM beeinflussen

10.4 Kooperation und hilfreiches Verhalten

10.4.1 Kooperation

10.4.2 Hilfreiches Verhalten

10.5 Untypische Verläufe der sozialen Entwicklung

10.5.1 Desorganisierte Bindung und reaktive Bindungsstörung

10.5.2 Autismus

10.5.3 Translation

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis der Abbildungen

Stichwortverzeichnis

1          Kernthemen und Anwendungsfelder der Entwicklungspsychologie der Kindheit

Gudrun Schwarzer

 

Orientierungsfragen:

 

•  Wie kam es historisch zu der wissenschaftlichen Betrachtung der kindlichen Entwicklung?

•  Was versteht man unter dem modernen Entwicklungsbegriff?

•  Welche Faktoren wirken auf die kindliche Entwicklung?

•  Welche Anwendungsfelder gibt es in der Entwicklungspsychologie?

•  Was ist das Ziel der translationalen Forschung?

Die Entwicklungspsychologie der Kindheit befasst sich mit Veränderungen und Stabilitäten des kindlichen Verhaltens und Erlebens im Laufe der ersten 10 bis 12 Jahre. Dieser Zeitraum ist weit mehr durch Veränderungen als durch Stabilitäten geprägt. Allein im ersten Lebensjahr verändert sich so viel wie in keinem anderen Lebensjahr. Während ein neugeborenes Kind körperlich, motorisch und geistig noch sehr stark von Bezugspersonen abhängig ist, kann sich ein einjähriges Kind meist schon allein fortbewegen und die ersten Worte sprechen. Aber auch in den sich anschließenden Lebensjahren findet in den verschiedenen Inhalts- und Funktionsbereichen des kindlichen Verhaltens und Erlebens noch eine beeindruckende Fülle von Veränderungen statt. Diese führen dazu, dass mit 10 Jahren dann die Motorik der Kinder, ihre Wahrnehmung, ihr Gedächtnis und ihre Sprache voll entwickelt sind. Auch ihr Denken, ihre sozial-emotionale Entwicklung und ihr Selbstkonzept haben wesentliche Etappen in Richtung der Erwachsenenwelt genommen.

Gegenwärtig ist es selbstverständlich, dass wir in der Kommunikation mit Kindern und in den an das Kind gestellten Aufgaben und Erwartungen ihr jeweiliges Entwicklungsgeschehen mitberücksichtigen. Es wird versucht, die verschiedenen Bildungsprogramme genau auf die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Kinder abzustimmen. Betrachtet man jedoch historisch früher vertretene Auffassungen über die Kindheit, so wurde der kindlichen Entwicklung zum Teil keine größere Bedeutung beigemessen. Erst seit dem 17./18. Jahrhundert wurde ihr besondere Aufmerksamkeit geschenkt und in diesem Zuge etablierte sich vor ungefähr 100 Jahren auch eine wissenschaftliche Betrachtung der kindlichen Entwicklung, die insbesondere auf die Kindheit fokussierte.

Auf diese historische Perspektive wird im vorliegenden Kapitel zunächst näher eingegangen. Darauf aufbauend wird erläutert, welche aktuellen Auffassungen über Entwicklung der Entwicklungsbegriff beinhaltet und worin derzeit Konsens besteht. Anschließend wird dargestellt, welche Faktoren die kindliche Entwicklung beeinflussen. Hierbei wird ausführlich beleuchtet, welche Bedeutung der Genetik und der Umwelt eines Kindes zukommt. Des Weiteren wird beschrieben, welche Anwendungsfelder in der Entwicklungspsychologie der Kindheit existieren. Hier werden sowohl die kindliche Entwicklung in verschiedenen pädagogischen Kontexten erläutert, als auch dargelegt, von welchen psychischen Störungen die Kindheit betroffen sein kann. Daran anknüpfend wird der sogenannte translationale Ansatz der Entwicklungspsychologie vorgestellt. Dieser Ansatz soll als übergeordneter Bezugsrahmen des gesamten Buches gelten.

Definition: Translationaler Ansatz

Der translationale Ansatz zielt darauf ab, die grundlagenorientierte Entwicklungspsychologie, die vor allem auf die typische Entwicklung fokussiert, für das Verstehen der untypischen kindlichen Entwicklung und die Beantwortung entwicklungsbezogener Anwendungsfragen nutzbar zu machen.

1.1        Historische Perspektive

Zwar faszinierte schon die Philosophen der Antike die Entwicklung des Menschen, jedoch gab es Zeiträume wie das Mittelalter, in denen die Entwicklung des Menschen kaum eine besondere Rolle zu spielen schien. So herrschte z. B. in der europäischen Gesellschaft des Mittelalters die Vorstellung vor, dass Kinder ab ungefähr dem Alter von 7 Jahren durchaus in die Arbeitswelt der Erwachsenen integriert werden sollten. Kinder verrichteten Feldarbeit oder erlernten ein Handwerk. So früh wie möglich trugen sie Erwachsenenkleider und nahmen an damals typischen, erwachsenen Freizeitbeschäftigungen teil (Aries, 1962). Nur ganz spezifische Bedürfnisse der Kinder wurden in dieser Zeit berücksichtigt. Es wurde erkannt, dass spezielle Kinderkrankheiten existieren (Kroll, 1977) und dass Eltern sowohl für das finanzielle wie seelische Wohl ihrer Kinder Verantwortung tragen (Pollock, 1983).

Erst danach, im 17. und 18. Jahrhundert zur Zeit der Aufklärung, betonten insbesondere zwei Philosophen, der englische Philosoph John Locke und der französische Philosoph Jean Jacques Rousseau, die explizite Besonderheit der Kindheit. Locke beschrieb das neugeborene Kind als sogenannte tabula rasa (Locke, 1961). Er vertrat die Auffassung, dass ausschließlich die Umwelterfahrungen die Gesamtheit des kindlichen Daseins prägen würden. Somit unterstrich er die entscheidende Bedeutung früher kindlicher Erfahrungen und damit die wichtige Rolle von Erziehung. Rousseau (1895) dagegen ging davon aus, dass Kinder sich aufgrund natürlicher Instinkte im Einklang mit einer menschlichen sozialen Ordnung entwickeln würden. Er stellte besonders die aktive Rolle des Kindes im Entwicklungsprozess heraus. Kinder würden durch ihre natürliche Neugier die Welt entdecken. Sowohl Locke als auch Rousseau forderten, die Kindheit als Zeitraum anzuerkennen, der einer besonderen Berücksichtigung bedarf, womit sie den Weg für eine wissenschaftliche Betrachtung der Kindheit ebneten.

Für den ontogenetischen Ursprung der menschlichen Entwicklung interessierten sich Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst Biologen. Der Biologe Charles Darwin (1877) wollte den Ursprung der menschlichen Spezies ergründen und beobachtete zu diesem Zweck seinen Sohn über die ersten 3 Lebensjahre hinweg ähnlich wie auch der Biologe Wilhelm Preyer (1882/1888–1889) ausführlich das Verhalten innerhalb der ersten 3 Lebensjahre seines Sohnes beschrieb.

Der Beginn einer eigentlichen wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie kann ungefähr um die Jahrhundertwende angesiedelt werden. Der amerikanische Psychologe G. Stanley Hall (1891) gehörte zu den ersten Forschern, die nicht nur die Entwicklung eines einzelnen Kindes betrachteten, sondern größere Gruppen von Kindern hinsichtlich verschiedener Inhaltsbereiche befragten und diese dann entlang verschiedener Variablen wie dem Geschlecht oder der Herkunft der Kinder verglichen.

Der französische Psychologe Alfred Binet beobachtete die unterschiedliche Entwicklung des Denkens seiner beiden Töchter und rückte die individuellen Unterschiede in der Entwicklung geistiger Fähigkeiten in den Mittelpunkt seines Forschungsinteresses. Zusammen mit Theodore Simon (Binet & Simon, 1905) stellte er eine Sammlung von Aufgaben zusammen, die diese Unterschiedlichkeit mentaler Fähigkeiten messen konnten. Beide Forscher gelten heute als Begründer des Intelligenztests.

Die entwicklungspsychologischen Überlegungen des beginnenden 20. Jahrhunderts wurden auch durch den Kanadier James Mark Baldwin (1930) geprägt, der damals schon die heute so bedeutsame Sicht vertrat, dass sich die kindliche Entwicklung stets aus einer reziproken Interaktion mit der Umwelt ergibt. Er befasste sich vor allem mit der sozialen Entwicklung des Kindes und der Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit. Auch Sigmund Freud (1933) leistete in dieser Zeit einen wichtigen Beitrag dazu, die kindliche Entwicklung und die frühen Kindheitserfahrungen als bedeutsam für die Gesamtentwicklung des Menschen zu verstehen. Er fokussierte sich nahezu ausschließlich auf die psychosexuelle Entwicklung des Kindes, für die er sowohl die Reifung des Kindes als auch seine Umwelterfahrungen verantwortlich machte. Freud wurde insbesondere dafür kritisiert, dass er Kinder nicht selbst beobachtete, sondern seine Erkenntnisse aus Berichten von Erwachsenen gewann, die über ihre Kindheit reflektierten.

Bis ungefähr zur Mitte des 20. Jahrhunderts interessierten sich die ersten wissenschaftlichen Entwicklungspsychologen wie Karl und Charlotte Bühler (1918, 1933) vor allem dafür, was sich genau entwickelt und beschrieben die Entwicklung von Kindern in verschiedenen Bereichen ( Abb. 1.1). Man erstellte z. B. Normen für die motorischen Etappen, die ein Kind durchläuft, fragte nach der kindlichen Entwicklung von sprachlichen Fähigkeiten und interessierte sich dafür, wie sich Emotionen entwickeln und wann Kinder spezifische Wertvorstellungen erwerben.

Erst später wurde die Frage, warum Kinder sich auf eine spezifische Weise entwickeln, immer bedeutender und es wurde

Abb. 1.1: Karl und Charlotte Bühler

erkannt, dass die Gründe für Entwicklung in vielfältigen eng miteinander verschränkten Faktoren zu suchen sind. Dies führte dazu, dass die heutige Entwicklungspsychologie immer interdisziplinärer geworden ist.

Gegenwärtig werden nicht nur Sichtweisen verschiedener Fächer der Psychologie (Neuropsychologie, klinische Psychologie oder vergleichende Psychologie) in entwicklungspsychologische Betrachtungen einbezogen, sondern auch Erkenntnisse aus anderen Disziplinen wie Anthropologie, Medizin oder Biologie gewonnen und berücksichtigt. Hiermit geht einher, dass in der entwicklungspsychologischen Forschung eine große Vielfalt an methodischen Verfahren verwendet wird. Die pure Beobachtung spielt eine weit geringere Rolle als früher. Stattdessen wird vielfach experimentalpsychologisch geforscht, wobei je nach Alter der Kinder Blickzeiten, Reaktionszeiten, elektrophysiologische oder andere neurophysiologische Maße und auch verbale Urteile erhoben werden. Je nach Fragestellungen kommen auch verschiedene Testverfahren oder Trainingsstudien zum Einsatz ( Kap. 3).

Die Interdisziplinarität entwicklungspsychologischer Forschung und ihre Methodenvielfalt hat die heutige Erkenntnis erbracht, dass die kindliche Entwicklung keinem gleichförmigen Prinzip zu folgen scheint. Vielmehr macht neuere Forschung deutlich, wie außerordentlich variabel die kindliche Entwicklung sein kann: in verschiedenen Inhaltsbereichen, in verschiedenen Kulturen und Kontexten und abhängig von spezifischen Erfahrungen in bestimmten Zeitfenstern. Aktuelle Ansätze versuchen aber auch zu zeigen, dass das komplexe Entwicklungsgeschehen systemischen und dynamischen Regeln folgt, bei denen verschiedene Entwicklungsverläufe nicht unabhängig, sondern in enger Abstimmung miteinander existieren und aufeinander reagieren. Ein weiterer aktueller Trend neuerer Forschung ist darin zu sehen, dass man versucht, systematisch zu erarbeiten, wie sich die grundlagenbezogenen Forschungserkenntnisse über die kindliche Entwicklung in die Anwendung übertragen lassen. In der Entwicklungspsychologie hat man sich zwar schon früher intensiv mit schwierigen Entwicklungsverläufen und auch der Kompensation von benachteiligten Kindern befasst, eine systematische Translation von Grundlagenerkenntnissen in Anwendungsfragen der Entwicklungspsychologie wird jedoch erst in jüngster Zeit angestrebt ( Kap. 1.4).

1.2        Entwicklungsbegriff

Die Geschichte der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie hat es mit sich gebracht, dass sich auch der Begriff der Entwicklung im Laufe der vergangenen 100 Jahre gewandelt hat. Im Folgenden wird zuerst auf die historisch ältere Sichtweise im Sinne eines Stufenbegriffs und anschließend auf die aktuelle Vorstellung über den Entwicklungsbegriff eingegangen.

1.2.1      Stufenbegriff

Im Zuge der Forschungsabsicht z. B. von Karl und Charlotte Bühler (1918, 1933), Entwicklung in erster Linie beschreiben zu wollen, entstand die Vorstellung, dass die kindliche Entwicklung sich in einer Abfolge von Stufen vollziehe. Hauptanliegen war, jede Stufe genau darzustellen und ihre Funktion zu verstehen. Der Stufenbegriff war durch folgende Charakteristiken gekennzeichnet (s. Montada, Lindenberger & Schneider, 2012). Man ging davon aus, dass in einem Fähigkeitsbereich wie beispielsweise der Entwicklung des Sprechen-Lernens, eine Veränderungsreihe vorlag, in der mehrere Schritte durchlaufen wurden. Diese Abfolge von Schritten sollte unumkehrbar sein, was bedeutet, dass keine Stufe übersprungen werden konnte. Jede frühere Stufe stellte die Voraussetzung für die nachfolgende dar und war an ein bestimmtes Lebensalter gebunden. Die verschiedenen Stufen wurden als qualitativ voneinander verschieden verstanden, im Gegensatz zu einer bloßen quantitativen Unterscheidung der Stufen, z. B. einer bloßen Zu- oder Abnahme einer Fähigkeit. Es herrschte die Vorstellung vor, dass die Stufenabfolge auf einen höheren Reife- oder Endzustand zusteuerte, die sich wie nach einem inneren Bauplan entfaltete, der universell, also kulturübergreifend wirkte. Als Beispiel für eine solche Stufenabfolge wurde oft die motorische Entwicklung insbesondere innerhalb des ersten Lebensjahres gesehen. Aktuelle Arbeiten zeigen zwar, dass die Motorik im ersten Lebensjahr tatsächlich einer typischen Abfolge von Veränderungen folgt, jedoch finden diese z. B. in verschiedenen Kulturen nicht im gleichen Lebensalter statt. Während Säuglinge, die in einer westlichen Kultur aufwachsen, in der Regel mit 6 Monaten sitzen können, sind Säuglinge aus einer kamerunischen, ländlichen Kultur dazu schon mit 3 Monaten in der Lage (Vierhaus et al., 2011). Generell ist man zu der Ansicht gelangt, dass alle Charakteristiken des Stufenbegriffs relativiert werden müssen, woraus dann der moderne Entwicklungsbegriff entstanden ist.

1.2.2      Moderner Entwicklungsbegriff

Der moderne Entwicklungsbegriff bezeichnet Entwicklung als geordnete Veränderung (Pinquart, 2011). Hiermit ist gemeint, dass man Veränderungen dann als Entwicklung bezeichnet, wenn eine aktuelle Entwicklung von der vorherigen abhängt. Zufällige oder passagere Veränderungen zählen nicht dazu. Zeigt ein Kind z. B. aufgrund einer Erkältung eine geringere Leistungsfähigkeit, so markiert diese Veränderung keine Entwicklung. Ist die Erkältung nämlich abgeklungen, wird die Leistungsfähigkeit wieder ansteigen. Man interessiert sich also nur für nachhaltige Veränderungen.

Auch wird heute nicht davon ausgegangen, dass Entwicklungsveränderungen immer qualitative Veränderungen sein müssen. Veränderungen, die quantitativen Charakter haben, werden ebenso als Entwicklung aufgefasst. Vergrößert sich z. B. die Menge an Information, die Kinder im Arbeitsgedächtnis aufrecht halten können, so drückt dieses einen mengenmäßigen Zuwachs aus, der eine Entwicklungsveränderung darstellt.

Auch die Vorstellung, dass die Entwicklung des Kindes immer auf einen höheren Zustand hinsteuert, wird heute relativiert. Diese Entwicklungsrichtung existiert zwar durchaus, aber es bestehen zudem auch Entwicklungsveränderungen, in denen Rückwärtsbewegungen erfolgen, z. B. durch Verluste, Abbau oder Umstrukturierungen. Insbesondere im Kindesalter können immer wieder Rückwärtsschritte beobachtet werden, die sogenannte u-förmige Entwicklungsverläufe zur Folge haben. U-förmige Entwicklungsverläufe sind dadurch charakterisiert, dass eine bestehende Fähigkeit abnimmt, und im weiteren Verlauf dann wieder ansteigt, also ein U beschreibt. Es wird diskutiert, inwieweit solche möglicherweise nur vermeintlichen Rückwärtsschritte notwendig sind, um größere Entwicklungsfortschritte zu erzielen. Ein solcher Rückschritt einer Fähigkeit lässt sich häufig beim Übergang zwischen Säuglings- und Kleinkindalter feststellen. Frühe Säuglingskompetenzen setzen sich nicht einfach ins Kleinkindalter hin fort. Während Säuglinge in ihrem Blickverhalten beispielsweise ausdrücken, dass sie wissen, wann Objekte eine stabile Lage haben (Baillargeon, 2002), zeigen Kleinkinder dieses Verständnis nicht mehr (Krist, 2010). Es kann angenommen werden, dass Kleinkinder im Zuge ihres Spracherwerbs ihr Wissen in eine neue, eher sprachgebundene interne Repräsentationsform umstrukturieren. Dies hat dann kurzfristig zur Folge, dass relevante Leistungen abfallen, um sich dann langfristig so aufbauen können, dass sie ein Niveau erreichen, das weit über dem von Säuglingen liegt.

Die Einschränkung des Stufenbegriffs, nur auf universelle Veränderungen zu fokussieren, muss ebenfalls relativiert werden. Diese werden auch beim modernen Entwicklungsbegriff zwar weiterhin thematisiert, jedoch werden in den Entwicklungsbegriff auch differenzielle Veränderungen eingeschlossen. Hierbei geht es darum zu ermitteln, inwieweit es für einen Entwicklungsbereich interindividuelle Verläufe gibt. Selbst in einem so grundlegenden Entwicklungsbereich wie der Motorik existieren diese differenziellen Entwicklungsverläufe.

Definition: Moderner Entwicklungsbegriff

Der moderne Entwicklungsbegriff bezeichnet die Entwicklung des Kindes als geordnete und nachhaltige Veränderung, die vorwärts- und rückwärts gerichtet, qualitativ und quantitativ, universell und interindividuell unterschiedlich sein kann.

Während innerhalb des ersten Lebensjahres ca. zwei Drittel der Kinder das Laufen vom Sitzen über das Krabbeln und Stehen erlernt, erlernt ein Drittel der Kinder das Laufen ohne den Zwischenschritt des Krabbelns. Diese Kinder erreichen das Laufen direkt vom Sitzen und Stehen (Largo, Weber, Comenale-Pinto & Duc, 1985; Pikler, 1988). Für solche individuell unterschiedlichen Entwicklungsverläufe werden sowohl genetische Unterschiede aber auch unterschiedliche Umwelterfahrungen verantwortlich gemacht.

1.3        Einflüsse auf die kindliche Entwicklung

Eine Kernfrage der Entwicklungspsychologie befasst sich damit, welche Faktoren die kindliche Entwicklung beeinflussen. Diese Frage ist deshalb von so immenser Wichtigkeit, weil ihre Beantwortung besagen kann, ob und inwiefern in eine Entwicklung von außen, beispielsweise durch gezielte Maßnahmen, eingegriffen werden kann. Es wird schon seit langem diskutiert, auf welche Weise sowohl das kindliche Erbe durch die Eltern als auch spezifische Umwelterfahrungen zur Entstehung psychologischer Merkmale beitragen, z. B. dazu, dass ein Kind eine hohe Intelligenz, Sportlichkeit oder Musikalität entwickelt. Zudem steht außer Frage, dass der allgemeine soziale und kulturelle Kontext, in dem Kinder aufwachsen, entscheidend für ihre Entwicklung ist. Man geht generell davon aus, dass diese verschiedenen Faktoren vielfältig und kontinuierlich miteinander interagieren und dass sich erst aus dieser Interaktion heraus die Entwicklung eines Kindes ergibt. Dieses verschränkte Bedingungsgefüge aufzudecken, stellt eine große methodische Herausforderung dar. Es ist prinzipiell nicht möglich, dieses Gefüge für einen einzelnen Menschen zu erklären. Aber es ist möglich, den relativen Anteil genetischer Einflüsse auf Unterschiede in relevanten Verhaltensweisen innerhalb einer Population zu bestimmen. So könnte man z. B. untersuchen, wie hoch der genetische Anteil der beobachteten Unterschiede in der Intelligenz einer Gruppe von 6-jährigen Kindern ist.

1.3.1      Bedeutung von Genetik und Epigenetik

Alle Menschen stimmen darin überein, dass sie über 23 Paare von Chromosomen verfügen. Auf den Chromosomen befinden sich die Gene, die sich dadurch spezifizieren, wo sie sich auf der DNA Doppelhelix befinden und welche Funktion sie im Stoffwechsel des Menschen besitzen (Asendorpf, 2012,  Kap. 4). Durch dieses für den Menschen typische Genom lassen sich sämtliche für den Menschen spezifische Gemeinsamkeiten erklären (Herrmann, 1991). Jeder einzelne Mensch, mit Ausnahme eineiiger Zwillinge, ist jedoch genetisch einzigartig, da bei der Zeugung die Gene von Mutter und Vater gemischt werden und damit die individuelle Genetik eines Menschen entsteht.

Die Bedeutung genetischer Einflüsse auf die Entwicklung von Kindern kann anhand von Zwillingsstudien untersucht werden. Hierbei macht man sich die Tatsache zunutze, dass eineiige Zwillinge 100% ihrer Gene teilen. Wenn man z. B. bei einer Gruppe 6-jähriger eineiiger Zwillingspaare die Intelligenz untersucht, berechnet man die Korrelation der gemessenen Intelligenz zwischen den Zwillingen. Würden die Werte innerhalb aller Paare identisch sein, so gäbe es gar keine Varianz, und die Korrelation würde 1 betragen. Diese Korrelation der Intelligenz wird dann mit der einer Gruppe 6-jähriger zweieiiger Zwillinge verglichen. Zweieiige Zwillinge teilen nur 50% ihrer Gene. Wenn die Korrelation der Intelligenz der eineiigen Zwillinge größer ausfällt als die der zweieiigen Zwillinge, kann man auf das Wirken genetischer Faktoren schließen. Die doppelte Differenz dieser Korrelationskoeffizienten stellt eine angemessene statistische Schätzung der Erblichkeit dar.

Die Erblichkeit der Intelligenz 6-jähriger Kinder kann auch geschätzt werden, indem man 6-jährige leibliche Geschwister, die – wie zweieiige Zwillinge – 50% gemeinsame Gene teilen, mit 6-jährigen Adoptivgeschwistern vergleicht, die auf keine gemeinsamen Gene zugreifen, aber – wie leibliche Geschwister – eine gemeinsame Umwelt

Fokus: Über- und Unterschätzung genetischer Faktoren

Bei Studien mit eineiigen und zweieiigen Zwillingen geht man davon aus, dass die Umwelterfahrungen der Zwillinge, wenn sie gemeinsam aufwachsen, ähnlich sind. In der Realität ist dies aber häufig nicht der Fall. Da eineiige Zwillinge oft zum Verwechseln ähnlich sind, werden sie von ihrer Umwelt, wie Eltern oder Lehrern, oft sehr viel ähnlicher behandelt als zweieiige Zwillinge, die von der Umwelt viel eindeutiger unterschieden werden und durchaus auch anders behandelt werden können. Die Umwelten eines eineiigen Zwillingspaares sind also meist sehr viel ähnlicher als die eines zweieiigen Zwillingspaares. Dies kann dazu führen, dass der Einfluss genetischer Faktoren überschätzt bzw. der der Umwelt unterschätzt wird. Diese Verzerrungen können kompensiert werden, wenn man in solche Studien auch Gruppen von Zwillingspaaren, am besten sowohl eineiige als auch zweieiige, aufnimmt, die schon früh nach der Geburt voneinander getrennt wurden. Hierbei ist es dann wahrscheinlich, dass jeder Zwilling eines Paares eine unterschiedliche Umwelt erfahren kann.

teilen. Fällt die Korrelation der Intelligenz bei leiblichen Geschwistern höher aus als die bei Adoptivgeschwistern, so spricht dieses für die Erblichkeit der Intelligenz. Wiederum wird die Erblichkeit geschätzt aus der doppelten Differenz beider Korrelationskoeffizienten.

Bezogen auf die genetische Verankerung psychologischer Merkmale kann davon ausgegangen werden, dass diese für die Intelligenz bei ungefähr 50% liegt. Jedoch ist unklar, welche Gene diesen genetischen Anteil genau ausmachen. Es wird angenommen, dass viele verschiedene Gene an diesem hoch komplexen Merkmal der Intelligenz mitwirken und dass durch diese sogenannte polygene Steuerung das Auffinden der einzelnen Gene erschwert ist. Bei einem anderen Persönlichkeitsmerkmal wie Pessimismus – Optimismus dagegen konnten Caspi et al. (2003) einen Zusammenhang zu einem spezifischen Gen, dem Serotonin-Transporter-Gen 5-HTTLPR feststellen. Es bleibt weiterhin Forschungsaufgabe, diese genetischen Zusammenhänge zwischen psychologischen Merkmalen und ihrer genetischen Verankerung auszumachen.

Gene wirken jedoch nicht direkt auf die Entwicklung, sondern zeigen ihre Wirkung immer nur in Wechselwirkung mit der Umwelt. Nach Scarr (1992) kann hierbei zwischen verschiedenen Anlagewirkungen unterschieden werden ( Kap. 4). Bei der passiven Anlagewirkung geht es darum, dass Kinder allein aufgrund der Tatsache, dass sie einen Teil ihrer Gene mit ihren Eltern teilen, in eine Umwelt geboren werden, die auch zumindest teilweise zu ihren Genen passt. So kann es z. B. sein, dass die Sportlichkeit eines Elternteils an das Kind vererbt wurde. Dadurch, dass der sportliche Elternteil sich eine Umwelt geschaffen hat, in die sportliche Aktivitäten einbezogen sind, erfährt das sportlich begabte Kind somit auch eine sportbetonende Umwelt. Mit einer evozierenden Anlagewirkung ist gemeint, dass ein Kind selbst durch sein Verhalten eine spezifische Umwelt hervorruft, die zu ihm passt. Zeigt ein Kind z. B. viel sportliches Verhalten und begeistert sich generell für Sport, so ist anzunehmen, dass Eltern dieses Verhalten bemerken und das Kind beim Sportverein anmelden, damit es seiner Sportlichkeit weiter nachgehen kann. Bei einer aktiven Anlagewirkung geht es darum, dass Kinder ihre Umwelt gemäß ihrer Anlage selbst gestalten. Ein sportliches Kind würde auch im Alltag viele Gelegenheiten nutzen wollen, sich sportlich zu betätigen und seine Eltern bitten, beim Sportunterricht angemeldet zu werden. Man geht davon aus, dass Kinder mit zunehmendem Alter immer aktiver an der Gestaltung ihrer Umwelt mitwirken. Bei jungen Kindern dominieren dagegen vor allem passive und evozierende Anlagewirkungen.

Nach Asendorpf (2012) folgen genetische Wirkungen generell einem kumulativen Prinzip. Hiermit meint er, dass genetische Wirkungen aus früheren Entwicklungsphasen durchaus weiter wirken können, auch wenn die betreffenden Gene nicht mehr aktiv sind. Gene können demnach z. B. im Säuglingsalter einen bestimmten Prozess in Gang setzen, der dann in den weiteren Lebensjahren weiter wirkt.

Gene wirken aber nicht nur auf die Umwelt, sondern neue Erkenntnisse zur sogenannten Epigenetik besagen, dass auch die Umwelt Einfluss auf die Gene nimmt ( Kap. 4). Dieser Einfluss sieht aber nicht so aus, dass sich tatsächlich das Genom eines Menschen ändert. Es handelt sich vielmehr darum, dass die Umwelt Einfluss auf die Genaktivität von Zellen nehmen kann, indem sie bestimmte Gene an- und abschalten kann. Diese Art von Programmierung kann dann bei Zellteilung an Tochterzellen weiter gegeben und sogar an Nachkommen vererbt werden. Viele Beispiele dieses epigenetischen Wirkprinzips stammen aus der Tierwelt. Müller und Bale (2008) setzten in ihren Experimenten z. B. weibliche schwangere Mäuse Stress aus und beobachteten, dass die männlichen Nachkommen auch noch in ausgewachsenem Alter eine größere Stressanfälligkeit zeigten. Aber auch im Humanbereich existiert Forschung zur Epigenetik, wobei besonders eindrücklich die Studie von Fraga et al. (2005) an eineiigen Zwillingspaaren im Alter zwischen 3 und 74 Jahren ist. Die Autoren werteten Gewebeproben im Hinblick auf verschiedene epigenetische Codes aus. Zum einen stellten sie dabei fest, dass jüngere Zwillingspaare (unter 28 Jahren) sich epigenetisch ähnlicher waren als ältere (über 28 Jahren). Zum anderen waren die epigenetischen Unterschiede größer bei Zwillingspaaren, die länger getrennt voneinander gelebt hatten, also unterschiedlichen Umwelteinflüssen ausgesetzt waren, als bei Zwillingspaaren, die länger zusammen gelebt hatten. Durch solche Änderungen in der Genaktivität kann es also trotz des genannten kumulativen Prinzips genetischer Wirkungen zu jedem Zeitpunkt der Entwicklung zu genetisch verursachten Entwicklungsveränderungen kommen.

1.3.2      Bedeutung der Umwelt

Die Umwelt ist für ein sich entwickelndes Kind lebensnotwendig. Sie ist außerordentlich komplex und lässt sich nach Bronfenbrenner (1994) in verschiedene Systeme unterteilen, die schon ab Beginn der Entwicklung auf ein Kind wirken ( Abb. 1.2). Nach der Geburt befindet sich das Kind zunächst vor allem in dem sogenannten Mikrosystem, das von dem Kind selbst zusammen mit seinen Bezugspersonen gebildet wird. Dies sind in der Regel die Eltern, aber möglicherweise recht bald auch Personen, die das Kind fremdbetreuen. Mikrosysteme sind alle Umwelten, in denen sich das Kind direkt mit anderen Personen, sozusagen im Face-to-Face-Kontakt befindet. Im Laufe der Entwicklung werden die Mikrosysteme immer vielfältiger. Das Kind befindet sich im Mikrosystem Kindertagesstätte, Großeltern, Gleichaltrige und in Mikrosystemen, die die Schule betreffen. Nach Bronfenbrenner bildet die Gesamtheit der kindlichen Mikrosysteme, das sogenannte Mesosystem. Hierin werden die Einflüsse der verschiedenen Mikrosysteme untereinander betrachtet. So ist es z. B. von großer Wichtigkeit festzustellen, inwieweit die Werte, die in den verschiedenen kindlichen Mikrosystemen vertreten werden, wie im Elternhaus, in der Schule und bei den Gleichaltrigen, konsistent sind oder einem Kind möglicherweise Widersprüchliches vermitteln, um zu vermeiden, dass Kinder dadurch in Konflikte geraten. Kinder werden aber auch durch Umwelten beeinflusst, mit denen sie sich nicht direkt im Face-to-Face-Kontakt befinden, sondern die nur indirekt auf sie einwirken, weil diese ihre Interaktionspartner beeinflussen. Ein solches System wird von Bronfenbrenner als Exosystem bezeichnet. Beispiele hierfür sind das Klima am Arbeitsplatz der Eltern, Erfahrungen, die Geschwister in der Schule machen oder Lebensereignisse, die auf Freunde der Kinder einwirken, wie Scheidung der Eltern dieser Kinder. Alle diese Systeme werden nach Bronfenbrenner von einem System, dem Makrosystem umfasst. Dieses System umfasst die gesamte Kultur, in der ein Kind aufwächst. Sie hat Einfluss auf alle genannten Systeme, die Mikrosysteme, das Mesosystem und die Exosysteme eines Kindes. Solche kulturellen Vorgaben, die z. B. die Entwicklungsziele und Entwicklungsaufgaben des Kindes oder die kulturellen Modelle elterlicher Strategien formen (s. u.), sind den Beteiligten der Systeme oft nicht explizit bewusst, sondern existieren meist nur unausgesprochen. Sie haben aber eine enorme Wirkung, die insbesondere beim Vergleich unterschiedlicher Kulturen offenbar wird.

Generell kann man davon ausgehen, dass die Systeme, in denen Kinder aufwachsen, ihnen verschiedene Umwelterfahrungen vermitteln. Sie stellen ihnen eine materielle Grundlage zur Entwicklung bereit und schaffen auch die Kontexte, in denen sich ein Kind sozial und emotional entwickelt. Das Kind lernt zunehmend die Entwicklungsziele und

Abb. 1.2: Modell der Umweltsysteme nach Bronfenbrenner (1994)

-aufgaben dieser Kontexte kennen und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Im Folgenden wird auf diese Aspekte genauer eingegangen.

Materielle Umwelt. Die materielle Umwelt spielt bereits pränatal eine Rolle, wenn man mögliche schädigende Einflüsse auf den Embryo oder Fötus betrachtet, wie z.B. Strahlung oder Umweltverschmutzung. Auch der Konsum von Alkohol, Drogen und Rauchen sowie Stress, Infektionskrankheiten und psychische Erkrankungen der Mutter können negative Einflüsse auf die Gesundheit des Fötus ausüben. Diese können auch postnatal dauerhafte Schädigungen des Kindes hervorrufen. Eine weitere Voraussetzung der materiellen Umwelt des Kindes stellt die Ernährung dar. Kindliche Mangel- oder Unterernährung sind schreckliche Beispiel dafür, die zeigen, dass der Körper ernährt werden muss, um sich entwickeln zu können. Pränatale Mangelernährung kann erhebliche Schäden des Zentralnervensystems verursachen, insbesondere, wenn die mangelhafte Ernährung der Mutter im letzten Schwangerschaftsdrittel stattfindet. Besonders in dieser Zeit ist es notwendig, dass sich die Mutter mit allen grundlegenden Nährstoffen ernährt (Morgane et al., 1993). Kann eine solche Ernährung nicht erfolgen, wird u. a. die Entwicklung des kindlichen Immunsystems gehemmt, was eine hohe Krankheitsanfälligkeit des Kindes nach der Geburt zur Folge hat. Genauso wirkt sich eine Unterernährung nach der Geburt auf sämtliche Körperfunktionen aus und bewirkt u. a. eine Unterversorgung des Gehirns, wodurch dann psychologische Beeinträchtigungen sichtbar werden (Gale et al., 2009; Nyaradi, Li, Hickling, Foster & Oddy, 2013). Die Ernährung bildet auch deshalb einen wichtigen Umweltfaktor innerhalb der Kindheit, weil frühe Essgewohnheiten darüber, was gegessen wird, wann gegessen wird und inwieweit Essen auch als Verstärker für spezifisches Verhalten eingesetzt wird, weitreichende Auswirkungen für die spätere Gesundheit haben können (Lohaus & Glüer, 2014).

Ebenso besitzt die materielle Umwelt im Sinne des sozioökonomischen Status (SÖS) der Familie, in der ein Kind aufwächst, eine sehr große Bedeutung für die Entwicklung. Hiermit ist nämlich nicht nur bestimmt, inwieweit Kinder finanziell unterstützt werden können, sondern oft die Art und Weise verbunden, wie in einer Familie interagiert wird und wie Kinder erzogen werden.

Der sozioökonomische Status einer Familie wird in der Regel durch die Dauer und die Art der Ausbildung von Vater und Mutter und das Familieneinkommen definiert.

Sozial-emotionale Umwelt. Wie schon aus dem Blickwinkel des Modells von Bronfen

Fokus: Bedeutung des sozioökonomischen Status für die kindliche Entwicklung

Mit Kindern aus Familien mit hohem SÖS wird im Klein- und Vorschulalter generell mehr gesprochen, ihnen wird häufiger vorgelesen und sie erleben insgesamt ein anregendes Umfeld. Eltern geben ihren Kindern mehr Erklärungen, mehr Wärme und mehr Lob. Negatives Feedback und körperliche Strafen findet man häufiger in Familien mit niedrigem SÖS (Bradley & Corwyn, 2003). Kinder aus Familien mit hohem SÖS erfahren meist eine langjährige und gesellschaftlich angesehene Ausbildung. Sie werden von ihren Eltern darin unterstützt, über abstrakte und persönliche Ideen nachzudenken. Sie stärken ihre inneren Werte. Kinder aus Familien mit niedrigem SÖS erfahren dagegen mehr strenge disziplinarische Maßnahmen (Conger & Donnelan, 2007).

brenner erläutert, besteht die sozial-emotionale Umwelt eines Kindes nach der Geburt vor allem aus den unmittelbaren Bezugspersonen, die meistens die Eltern sind. Kinder sind vor allem nach der Geburt vollständig auf Unterstützung angewiesen. Nach Bowlby (1969,  Kap. 10) existiert evolutionär bedingt ein angeborenes Pflegeverhaltenssystem auf Seiten der Bezugspersonen und ein dazu komplementär ausgerichtetes Bindungssystem auf Seiten des Kindes. Das Zusammenspiel dieser Systeme gewährleistet, dass für die kindlichen sozial-emotionalen Grundbedürfnisse gesorgt wird. Damit ist auch gemeint, dass Kinder emotional stark von ihren Bezugspersonen abhängen, da sie sich oft nicht selbst beruhigen können, sondern hierzu die Unterstützung ihrer Bezugspersonen brauchen ( Abb. 1.3). Nach Erikson ( Kap. 2) führt eine einfühlsame Fürsorge der Bezugspersonen dazu, dass die Kinder ein sogenanntes Urvertrauen entwickeln. Die altersgerechte Anleitung mit entsprechendem Verhaltensspielraum führt dazu, dass Kinder im ersten Lebensjahr eine altersgemäße Autonomie entwickeln. Die Bezugspersonen dienen auch als Ausgangspunkt, um emotional oder sozial unsichere Umweltereignisse adäquat interpretieren zu lernen ( Kap. 10). Im Zuge dieses Austausches mit den Bezugspersonen entwickeln Kinder eine Bindung ( Kap. 10), deren Charakter ausdrückt, für wie verlässlich die Bezugspersonen erlebt werden. Werden Bezugspersonen als verlässlich erlebt, so stellt dies eine günstige Ausgangsbasis für die weitere kindliche soziale und auch kognitive Entwicklung dar.

In den sich anschließenden Lebensjahren werden die sozialen Beziehungen des Kindes immer vielfältiger. Es entstehen nicht nur Beziehungen zu erwachsenen Personen, sondern zunehmend auch zu Gleichaltrigen, die jedoch zunächst kaum in die eigenen Aktivitäten, wie das kindliche Spiel, integriert werden. Erst später, im weiteren Verlauf der Kindheit werden Gleichaltrige in das

Abb. 1.3: Bindung

eigene Tun integriert und es werden echte Freundschaften geschlossen. Diese spielen für das kindliche Erleben der Umwelt eine sehr wichtige Rolle.

In der späteren Kindheit verstehen Kinder auch zunehmend die moralischen Vorgaben einer Gesellschaft. Sie befolgen nicht nur das, was die Umwelt von ihnen fordert, sondern versuchen, auch den Sinn moralischer Regeln zu verstehen. Kinder investieren viel Kraft, um sich dementsprechend zu verhalten und von der Umwelt als beliebt und sozial kompetent wahrgenommen zu werden.

Ein wichtiger sozial-emotionaler Umweltfaktor stellt die Art und Weise dar, wie Kinder erzogen werden. Nach Baumrind (1971) unterscheidet sich ein wirkungsvoller Erziehungsstil in den folgenden drei Aspekten von einem weniger wirkungsvollen ( Abb. 1.4). Eltern, die einen wirkungsvollen Erziehungsstil umsetzen, sind engagiert, akzeptieren und kontrollieren ihr Kind. Sie gewähren ihm oder ihr Autonomie, sind liebevoll, aufmerksam und einfühlsam für die Bedürfnisse ihres Kindes. Dieser Erziehungsstil wird als autoritativ bezeichnet. Er ist deswegen wirkungsvoll, weil er mit einer Vielzahl positiver Entwicklungsergebnisse verbunden ist, wie z. B. positiver Emotionalität, Selbstkontrolle, Ausdauer, Kooperationsbereitschaft, sozialer und moralische Reife sowie guten Schulleistungen der Kinder (Amato & Fowler, 2002; Aunola, Stattin & Nurmi, 2000; Gonzalez & Wolters, 2006; Mackey, Arnold & Pratt, 2001; Steinberg, Darling & Fletcher, 1995). Autoritäre Eltern sind dagegen ihrem Kind gegenüber wenig engagiert, akzeptieren es kaum, gewähren wenig Selbstständigkeit und ordnen dem Kind Anweisungen an. Sie machen den Gehorsam ihres Kindes zur Bedingung für ihre Zuneigung. Kinder, die eine solche Erziehung erfahren, sind meist ängstlich, haben ein geringes Selbstwertgefühl und erbringen meist nur geringe Schulleistungen. Eltern, die einen permissiven Erziehungsstil ausüben, sind zwar liebevoll und das Kind akzeptierend, aber sie sind unbeteiligt und setzen ihren Kindern keine Grenzen. Ihre Kinder sind meist impulsiv, sehr fordernd, wenig ausdauernd und zeigen schlechte Schulleistungen. Eltern zeigen nach Baumrind einen vernachlässigenden Erziehungsstil, wenn sie sich generell wenig mit ihrem Kind beschäftigen, sich kaum mit Erziehungsfragen auseinandersetzen, ihrem Kind keine Grenzen setzen und ihnen die Selbstständigkeit ihres Kindes gleichgültig ist. Kinder mit solchen Erziehungserfahrungen erleben meist eine gestörte Entwicklung. Sie entwickeln nur eine schwache Selbstkontrolle, oft antisoziales Verhalten und zeigen schwache Schulleistungen (Aunola et al., 2000; Kurdek & Fine, 1994).

Kultur. Wie schon dargelegt, umfasst die Kultur, in der ein Kind aufwächst, sämtliche Umweltsysteme eines Kindes und ist deshalb für die Entwicklung von entscheidender Wichtigkeit. Es ist zu bedenken, dass die Entwicklung jedes Kindes immer in einem spezifischen kulturellen Kontext stattfindet. Die

Abb. 1.4: Erziehungsstile nach Baumrind (1971)

Bewältigung sogenannter Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsziele für spezifische Altersbereiche spiegelt die entwicklungspsychologischen Überzeugungen einer Kultur wider. Die Konzeption solcher Entwicklungsaufgaben geht auf Theoretiker wie Erikson ( Kap. 2) und Havighurst (1972) zurück, die die menschliche Entwicklung als eine Abfolge von Problemen strukturieren, die als Entwicklungsaufgaben bezeichnet werden und die von einer Kultur an ein Kind herangetragen werden. Betrachtet man z. B. die Theorie von Erikson, so bestehen die wesentlichen, sich aufeinander aufbauenden Entwicklungsaufgaben der Kindheit darin, Vertrauen aufzubauen, Autonomie zu gewinnen, Vertrauen in die eigene Initiative zu erleben und den eigenen Wert und Vertrauen in eigene Leistungen zu erfahren.

Keller (2007a) geht davon aus, dass sich die grundsätzliche Natur der Entwicklungsaufgaben aus der menschlichen Evolution ergibt, um spezifische adaptive Probleme zu lösen. Da deren Bewältigung an die Umwelt angepasst sein muss, muss die Lösung der Entwicklungsaufgaben konsequenterweise an die umgebende Kultur angepasst sein. Keller hat sich u. a. mit zwei verschiedenen Kontexten oder Kulturen befasst, in denen unterschiedliche Vorstellungen der Selbstkonstruktion vorherrschen und aus denen dementsprechend unterschiedliche Erziehungsmodelle resultieren. Kinder dieser verschiedenen Kulturen finden somit also sehr verschiedene Umwelten vor. Die Selbstkonstruktion der einen Kultur ist durch das Modell der Independenz geprägt, das sich durch persönliche Autonomie und Getrenntsein von Anderen kennzeichnen lässt. Es findet sich vor allem im städtischen Raum, weil es dort adaptiv ist. Das Modell der Interdependenz ist dagegen durch eine Selbstkonstruktion charakterisiert, die sich als Teil eines sozialen Systems versteht und dabei Hierarchie und Autorität akzeptiert. Es findet sich bei dörflichen Bauernfamilien, z. B. dem Stamm der Nso in Kamerun. Aus diesen Modellen folgen verschiedene elterliche Strategien, um die jeweiligen Ziele ihres Modells zu erreichen. So stimmt das independente Modell mit elterlichen Praktiken überein, wie sie oben als Erziehungsstile beschrieben wurden und hierbei der autoritative Stil als der wirkungsvollste bezeichnet wurde. Diese Ausführungen gelten aber nicht für das interdependente Modell. Hier würde ein autoritativer Erziehungsstil nicht passen, da er die Autonomie des Kindes hervorbringt, die nicht mit dem Modell der Interdependenz übereinstimmt. Kinder werden in Kulturen mit interdependentem Modell vor allem trainiert und kontrolliert und zwar nach den genauen Vorstellungen der Eltern. Es besteht keine Notwendigkeit für die Eltern, die kindlichen Bedürfnisse herauszufinden.

Letztlich kann festgehalten werden, dass die Umwelten, die Kinder vorfinden, wie ihre materielle, sozial-emotionale und kulturelle Umwelt, durchaus sehr verschieden sein können, da sie an die jeweils vorherrschenden kulturellen Selbstkonstruktionen angepasst sind.

1.4        Anwendungsfelder und translationale Forschung der Entwicklungspsychologie des Kindesalters

Traditionellerweise befasst sich die Erforschung der Entwicklungspsychologie des Kindesalters mit grundlagenbezogenen Fragen der Kindheit, die z. B. die Entwicklung von Wahrnehmung, Denken oder Sprache betreffen. Hierbei geht es darum herauszuarbeiten, wie die typische Entwicklung in diesen Bereichen erfolgt, wann Kinder z. B. Farben und Formen wahrnehmen, wann sie das Denken Anderer verstehen, wann und welche Worte sie verstehen und sprechen. Diese Grundlagenforschung über die Kindheit stellt seit den Anfängen der wissenschaftlichen Entwicklungspsychologie den größten Teil der Forschung dar. Aber es existieren auch Bereiche entwicklungspsychologischer Forschung, die sich mit Fragen der Anwendung befassen, bei denen es darum geht, wie Kinder gefördert werden können, wie Kinder mit speziellen Entwicklungsstörungen behandelt werden können oder welchen Einfluss spezifische Umweltbedingungen (Kindergarten, Schule, Medien) auf die kindliche Entwicklung nehmen können. Seit den letzten Jahren entstehen sogar zunehmend Forschungsprogramme, in denen Fragen der Grundlagenforschung gezielt in die Praxis überführt werden und die somit einen translationalen Ansatz verfolgen. Um einen Einblick darüber zu erhalten, welche Forschungsbereiche in den Anwendungsfeldern der Entwicklungspsychologie der Kindheit existieren, werden diese im Folgenden überblicksweise aufgeführt und danach der translationale Ansatz vorgestellt.

1.4.1      Anwendungsfelder

Die Anwendungsfelder der Entwicklungspsychologie der Kindheit lassen sich dahingehend untergliedern, welchen Altersbereich sie ansprechen, das Säuglings- und Kleinkindalter oder das Kindesalter (bis ca. 10–12 Jahre), und auf welchen Verhaltens- und Erlebensbereich sie fokussieren. Letztere lassen sich grob aufteilen in solche, die sich mit der kindlichen Entwicklung in verschiedenen pädagogischen Kontexten, wie z. B. Kindergarten und Schule, befassen. Hierbei geht es vor allem darum, das kindliche Lernen mit den damit verbundenen möglichen Problemen, Störungen und Präventions- oder Fördermöglichkeiten zu betrachten. Ein weiterer Verhaltens- und Erlebensbereich umfasst die psychischen Entwicklungsstörungen der Kindheit, die das kindliche Denken, ihre Emotionen und ihr Verhalten betreffen. Dieser Bereich wird auch als Entwicklungspsychopathologie beschrieben, die sich allgemein mit den Entwicklungsprozessen zur Entstehung und Vermeidung von psychischen Störungen beschäftigt (Heinrichs & Lohaus, 2011). Allgemeiner einzuordnen ist dieser Bereich in den der klinischen Entwicklungspsychologie, die sich nicht nur mit den Störungen als solche befasst, sondern auch mit ihrer Behandlung. Im Folgenden wird ein Überblick über diese Anwendungsfelder gegeben.

1.4.1.1    Kindliche Entwicklung in verschiedenen pädagogischen Kontexten

Kleinkindalter. Ein wesentlicher pädagogischer Kontext, in dem sich Kleinkinder (bis zu 3 Jahren) befinden können, ist die Betreuung außerhalb der Familie, die meist bei einer Tagesmutter oder in einer Kindertageseinrichtung stattfindet ( Abb. 1.5). Die noch recht wenigen Forschungsarbeiten über den Einfluss eines solchen Kontextes auf die kindliche Entwicklung fanden vornehmlich im US-amerikanischen Raum statt, werden aber in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum umgesetzt (s. Ahnert, 2010). Hier wurden insbesondere die Effekte einer solchen Fremdbetreuung auf die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung der Kinder analysiert. Übereinstimmung herrscht zwischen den Studienergebnissen dahingehend, dass Kinder aus Familien mit Risikofaktoren (z. B. geringer SÖS) von einer Fremdbetreuung profitieren, diese also kompensatorisch wirkt.

Abb. 1.5: Betreuung in einer Kindertagesstätte

Fokus: Fremdbetreuung bei Kindern aus Risikofamilien

In einer Studie von Loeb, Bridges, Bassok, Fuller und Rumberger (2007) konnte festgestellt werden, dass Kinder aus Familien mit niedrigem SÖS, die zwischen 2 und 3 Jahren begannen, ganztägig eine Kindertagesstätte zu besuchen, eine bessere Leseleistung in der Grundschule erbrachten als vergleichbare Kinder einer Kontrollgruppe. Eine Studie von Campbell, Ramey, Pungello, Sparling und Miller-Johnson (2002) belegt sogar anhaltende Effekte bis ins junge Erwachsenenalter. Kinder aus Familien mit Risikofaktoren, die in den ersten Lebensjahren in einer Ganztagsbetreuung verbrachten, zeigten mit 21 Jahren bessere Bildungserfolge als Kontrollpersonen.

Dass sich die Betreuung in einer Kindertagesstätte innerhalb der ersten 3 Lebensjahre aber auch positiv auf die kognitiven Fähigkeiten von Kindern aus Familien ohne Risikofaktoren auswirkt, konnte eine groß angelegte Studie aus den USA nachweisen (NICHD, 2004). Hier wurden Kinder innerhalb der ersten 3 Lebensjahre, die fremdbetreut wurden, mit Kindern verglichen, die ausschließlich zuhause erzogen wurden. Die zeitliche Menge an Fremdbetreuung hatte keine Effekte auf kognitive Variablen. Vielmehr war das Interaktionsverhalten der Betreuerinnen ein relevanter Faktor. Wenn die Kinder von Betreuerinnen erzogen wurden, die auf sensitive Weise mit den Kindern interagierten und sie sprachlich stimulierten, so war dies für die kognitive und sprachliche Entwicklung der Kinder förderlich. Dieser Zusammenhang war unabhängig davon, welchen familiären Hintergrund die Kinder mitbrachten.

In dieser Studie wurde auch die Bindungssicherheit der Kinder untersucht, die unabhängig von der Art der Betreuung vor allem von der Sensitivität der Mütter der Kinder abhing. Nur unter der Bedingung, dass die Mütter wenig sensitiv waren, die Kinder mehr als 20 Stunden fremdbetreut wurden und die Fremdbetreuung keine hohe Qualität aufwies, waren bedeutend mehr Kinder unsicher gebunden als in der Gruppe von Kindern, deren Mütter auch wenig sensitiv waren, die Kinder aber zuhause erzogen wurden. Wenn die Analysen auf einen längeren Zeitraum ausgeweitet wurden, bis zu einem Zeitraum von 4,5 Jahren, so ergab sich ein schwacher Effekt der Menge der Fremdbetreuung auf das Sozialverhalten der Kinder. Entgegen der Annahme, dass eine frühe Fremdbetreuung die Kinder zu einem fortgeschrittenen Sozialverhalten führt, stellte sich heraus, dass Kinder mit längerer Fremdbetreuung mehr aggressives Verhalten zeigten gegenüber Kindern ohne Fremdbetreuung.

Betrachtet man verschiedene Fördermaßnahmen für Kinder bis zu 3 Jahren in Kindertagesstätten, so stellt man fest, dass davon eine Vielzahl existiert, dass es aber kaum Studien gibt, die die Effekte dieser Maßnahmen untersuchen und belegen. So finden sich Förderprogramme zur Sprachentwicklung ( Kap. 8), zur sozialen Kompetenz oder zu sensomotorischen Fähigkeiten ( Kap. 5 und 6). Insgesamt kann jedoch geschlussfolgert werden, dass Kinder mit Entwicklungsverzögerungen generell von diesen Maßnahmen profitieren. So zeigte beispielsweise eine Metaanalyse von Manning, Homel und Smith (2010), dass Kinder aus Familien mit niedrigem SÖS, deren soziale Kompetenz trainiert wurde, bedeutsam ihr Sozialverhalten verbesserten. Nach Zmyj und Schölmerich (2012) kann aber davon ausgegangen werden, dass vereinzelte und zudem kurz andauernde Förderangebote für sich typisch entwickelnde Kinder keine wesentlich positiven Folgen haben.

Kindesalter. In der Entwicklung ab 3 Jahren werden die Kinder mit zwei zentralen pädagogischen Kontexten konfrontiert, dem Kindergarten und der Schule. In diesen Kontexten werden die kindlichen sozial-emotionalen Verhaltensweisen weiterhin deutlich und ihre Lernleistungen, ihre Stärken und Schwächen, kommen klarer zum Vorschein. Hierauf versuchen vorschulische Maßnahmen insbesondere bei Kindern aus Risikofamilien kompensatorisch einzuwirken.

Wenn Kinder dann in die Schule kommen und mit ihren Schulleistungen konfrontiert werden, können gravierende Probleme insbesondere beim Lesen, Schreiben und Rechnen deutlich werden, die dann nach entsprechenden diagnostischen Prozessen als Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung klassifiziert werden ( Abb. 1.6).

Beispiele: Kompensatorische Programme

Klauer (1998) hat ein Training zum induktiven Denken von intellektuell verzögert entwickelten Kindern zwischen 5 bis 7 Jahren kreiert. Hierfür konnten Evaluationsstudien zeigen, dass Kinder ihre Denkleistungen durch dieses Training bedeutsam verbesserten (Klauer, 2004). Zudem gibt es Programme, die kompensatorisch wirken bei Kindern mit Risiken für den Erwerb von Schriftsprache und den Erwerb des Rechnens. Da der Erwerb der Schriftsprache entscheidend von der sogenannten phonologischen Bewusstheit abhängt, wurden Programme zur Steigerung der phonologischen Bewusstheit entwickelt, wie »Hören, lauschen lernen 1 und 2« (Küspert & Schneider, 2006; Plume & Schneider, 2004), die sich als wirksam erwiesen haben. Ein Rechentrainingsprogramm »Mengen, zählen, Zahlen« wurde von Krajewski, Nieding und Schneider (2007) erstellt und seine Wirksamkeit konnte ebenfalls belegt werden (Krajewski, Nieding & Schneider, 2008).

Abb. 1.6: Lese-/Rechtschreibstörung

Fokus: Wann spricht man von einer Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörung?

Die Diagnose dieser Störungen beruht im Regelfall auf der Einzeldiagnostik der betroffenen Bereiche des Lesens, Schreibens, Rechnens und der Diagnostik der allgemeinen Intelligenz. Nur wenn sich die Leistung im betroffenen Einzelbereich ein bis zwei Standardabweichungen unterhalb der Intelligenzleistung befindet, wird von einer entsprechenden Störung gesprochen.

Hinsichtlich entsprechender Förderungsmaßnahmen sind wirksame Trainingsprogramme, die schon im Vorschulalter ansetzen, zu empfehlen. Fördermaßnahmen, die erst im Schulalter beginnen, sollten gemäß Mähler und Grube (2012) verschiedene Aspekte berücksichtigen. Hierbei hat sich bewährt, das Lese-Rechtschreibproblem symptomatisch zu behandeln, indem die lautgetreue und später orthographische Schreibweise systematisch erarbeitet wird. Zudem gilt es aber auch, die Kinder und auch ihre Eltern psychologisch zu unterstützen. Über evaluierte Fördermaßnahmen zur Rechenstörung im Schulalter wird dagegen kaum berichtet. Ebenfalls fehlen bisher Fördermaßnahmen für Kinder, die eine kombinierte Störung, eine Lese-Rechtschreib- und Rechenstörung, aufweisen. In einer Studie von Schuchard und Mähler (2010) konnte herausgefunden werden, dass bei diesen Kindern das Arbeitsgedächtnis besonders umfangreich in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist. Hieran könnten Fördermaßnahmen anknüpfen.

Einfluss von Medien. Kinder sind schon ab den ersten Lebensjahren mit verschiedenen Medien, wie Fernsehen, Video, dem Computer oder Smartphone konfrontiert, wie aus der Kinder-Information-Medien-Studie (KIM-Studie, 2008) hervorgeht. Diese Kontexte können als Lernumwelten angesehen werden, die Auswirkungen auf das kindliche Sozialverhalten und ihre kognitiven Leistungen haben können. Je jünger die Kinder sind, desto eher muss man die Frage stellen, ob die Kinder tatsächlich verstehen, dass das auf einem Medium Dargestellte, die Realität repräsentieren soll. Für das Säuglingsalter ist bekannt, dass hierfür relevant ist, wie realitätsgetreu solche Darstellungen sind (Jowkar-Baniani & Schmuckler, 2011). Dennoch kann beobachtet werden, dass Kinder noch bis ins zweite Lebensjahr hinein Schwierigkeiten haben zu verstehen, dass verschiedene Repräsentationsformen dieselbe Realität darstellen sollen (DeLoache, Pierroutsakos, Uttal, Rosengren & Gottlieb, 1998). So wird auch noch bei etwas älteren Kindern im Vorschulalter von einem sogenannten Videodefizit berichtet, das besagt, dass Kinder Sachverhalte besser verstehen, wenn sie real dargestellt werden gegenüber einer Darstellung in einem Video. Bildungsprogramme im Fernsehen scheinen aber im Vorschulalter trotzdem für die Kinder oft bedeutsam und von großem Interesse zu sein. Vorschulkinder, die entsprechende Programme wie Sesamstraße im Fernsehen anschauten, zeigten nicht nur innerhalb des aktuellen Alters bessere kognitive Leistungen, sondern erzielten auch später noch bessere Schulleistungen (Fisch, 2004). Betrachtet man aber den Zusammenhang zwischen Fernsehkonsum und Leseleistung, so findet sich hierfür eher ein negativer Zusammenhang, der ausdrückt, dass viel Fernsehkonsum mit weniger Leseaktivität einhergeht (Ennemoser & Schneider, 2007). Dieser Zusammenhang zeigte sich insbesondere bei Kindern, die viel fernsahen und dabei vor allem Unterhaltungssendungen anschauten.

Der gezielte Einsatz von Computern kann vor allem für kognitives und kreatives Denken förderlich sein. Ohler und Nieding (2006) wiesen z. B. nach, dass Kinder durch Computerspiele besser dazu in der Lage waren, neue Lösungen von Problemstellungen zu entwickeln.

1.4.1.2    Entwicklungsstörungen

Entwicklungsstörungen stellen ein ausgesprochen großes und komplexes Anwendungsfeld der Entwicklungspsychologie des

Fokus: Gewalthaltige Medien

Inwieweit die Beschäftigung mit gewalthaltigen Computerspielen das Sozialverhalten von Kindern beeinträchtigt, wurde bereits in einigen Studien untersucht. Hierbei erwies sich in der Tat, dass solche Computerspiele die Aggressivität von Kindern steigerte, jedoch zeigte eine Metaanalyse von Bushmann und Huesmann (2006), dass die Effektstärken nur niedrig bis moderat waren. Huesmann, Moise-Titus, Podolski und Eron (2003) befassten sich auch mit der Wirkung von Gewalt in Filmen. In einer Längsschnittstudie mit Grundschülern ergab sich, dass Kinder, die in hohem Maße Gewaltfilme sahen, auch noch 15 Jahre später aggressiver waren als Kinder, die kaum Gewaltfilme sahen.

Kindesalters dar. Hierbei geht es zum einen darum, spezifische Entwicklungsstörungen zuverlässig zu diagnostizieren, wofür es etablierte Klassifikationssysteme gibt, wie die ICD-10, das DSM-IV oder speziell für Kinder von 0–3 Jahren das Klassifikationssystem Zero to Three. Zum anderen befasst man sich mit den Entstehungsbedingungen von Entwicklungsstörungen, analysiert Risiko- und Schutzfaktoren ihrer Entwicklung und ein Großteil dieses Gebietes beschäftigt sich mit den entsprechenden Interventionsverfahren zur Behandlung dieser Störungen. Im Folgenden wird ein kurzer Einblick darüber gegeben, welche Entwicklungsstörungen im Kindesalter vorzufinden sind (für einen Überblick s. Heinrichs & Lohaus, 2011 oder Blanz, Remschmidt, Schmidt & Warnke, 2006).

Säuglings- und Kleinkindalter. Die hauptsächlichen Störungen des Säuglings- und Kindesalters umfassen Regulationsstörungen, Bindungsstörungen, Enuresis/Enkopresis und den kindlichen Autismus.

Störungen des Säuglingsalters beziehen sich insbesondere auf die emotionale Befindlichkeit des Säuglings und werden als Regulationsstörungen bezeichnet. Hiermit ist gemeint, dass die Säuglinge Probleme haben, ihr Verhalten und ihre Emotionen angemessen zu regulieren (s. Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie- und psychotherapie, 2007). Regulationsstörungen sind im Wesentlichen dadurch charakterisiert, dass die Säuglinge sehr viel weinen, besonders in den ersten Lebensmonaten, dass sie Probleme zeigen, ein- und durchzuschlafen, und dass ihre Nahrungsaufnahme lange und häufig von den Eltern als belastend erlebt wird.

Ein weiteres Störungsbild des Säuglings- und auch Kleinkindalters, welches in den emotionalen Bereich fällt, ist die Bindungsstörung. Hiermit sind nicht die verschiedenen Typen gemeint, wie ein Kind an die Bezugspersonen gebunden ist ( Kap. 10), sondern es handelt sich um gestörte Interaktionen und Kontaktaufnahmen, die beim Kind zu beobachten sind. Gemäß ICD-10 wird die reaktive Bindungsstörung von der Bindungsstörung mit Enthemmung unterschieden. Die reaktive Bindungsstörung kann als Reaktion auf mangelnde Bindungserfahrung durch Deprivation oder Vernachlässigung verstanden werden. Die Kinder reagieren hierauf mit Rückzug oder ambivalentem Sozialverhalten. Bei der Bindungsstörung mit Enthemmung kommt es in Zusammenhang mit Heimunterbringung und vielen wechselnden Pflegepersonen zur oft wahllosen Suche nach Beziehungen, was sich in diffusem, aufmerksamkeitssuchendem Verhalten niederschlägt.

Im Zusammenhang mit der kindlichen Sauberkeitserziehung stehen zwei weitere Entwicklungsstörungen der Kindheit, das Einnässen, Enuresis ( Abb. 1.7), und das Einkoten, Enkopresis. Beides wird jedoch erst dann als Störung bezeichnet, wenn Einnässen und Einkoten noch im Alter von 4 bis 5 Jahren und danach auftritt und dies nicht nur wenige Male zu beobachten ist, sondern für einen festgelegten, längeren Zeitraum.

Abb. 1.7: Enuresis

Im Kleinkindalter wird ein umfassender und mittlerweile recht gut erforschter Störungsbereich von der sogenannten tiefgreifenden Entwicklungsstörung des Autismus gebildet ( Kap. 10). Sehr grob betrachtet unterscheidet man den frühkindlichen und den Asperger Autismus. Der frühkindliche Autismus kann durch drei Merkmale charakterisiert werden: durch qualitativ beeinträchtigte soziale Interaktionen, durch qualitativ beeinträchtigte Kommunikation und durch beschränkte, z. T. repetitive und stereotype Verhaltensweisen und Interessen. Das Asperger Syndrom wird meist später deutlich als der frühkindliche Autismus. Kinder mit Asperger Syndrom zeigen ebenfalls qualitative Beeinträchtigungen sozialer Interaktionen und ungewöhnliche Interessen, ihre Sprachentwicklung ist jedoch ungestört und sie zeigen meist durchschnittliche bis überdurchschnittlich gute kognitive Leistungen (genauere Beschreibungen s. Bölte, 2009).

Kindesalter. Betrachtet man Überblickswerke zu psychischen Störungen des Kindes- und Jugendalters (z. B. Blanz et al., 2006) so wird zunächst eine enorme Vielfalt deutlich, die sich reduziert, wenn man sich auf die Störungen beschränkt, die vor allem im Kindesalter beginnen (s. Heinrichs & Lohaus, 2011). Diese betreffen größtenteils den Bereich der Emotionsregulation, ähnlich wie im Säuglings- und Kleinkindalter, und umfassen vor allem Angststörungen, die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Störungen des Sozialverhaltens, Zwangsstörungen, Ticstörungen und umschriebene Entwicklungsstörungen.

Die Angststörungen des Kindesalters umspannen verschiedenste Facetten: Kinder können verstärkt unter Trennungsangst leiden, machen sich extrem viele Sorgen über Zukünftiges oder haben eine spezifische Furcht vor etwas. Diese Beeinträchtigungen gehen über normale Ängste hinaus und sind hinderlich für die typische Entwicklung von Kindern. Ein weiteres Störungsbild, das typischerweise in der Kindheit eintreten kann, ist die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Sie besteht aus einer Störung der Aufmerksamkeit ( Kap. 7), insbesondere der Fähigkeit zur selektiven Aufmerksamkeit, einer für das Alter übermäßigen motorischen Aktivität und Unruhe sowie einer starken Impulsivität, d. h. einer fehlenden oder nur geringen Fähigkeit zur Unterdrückung vordergründiger Impulse. Ein anderer großer Bereich von Störungen des Kindesalters sind solche, die das Sozialverhalten und eine fehlende oder gestörte Selbstregulation der Kinder betreffen. Diese Kinder haben große Probleme, Regeln zu befolgen. Zentrale Auffälligkeiten dieser Störung sind aggressives, feindseliges und ablehnendes Verhalten. Zwangsstörung und Ticstörung haben ihren Beginn ebenfalls meist im Kindesalter. Bei der Zwangsstörung geht es darum, dass Kinder spezifische Situationen als bedrohlich erleben, wodurch Zwangsgedanken ausgelöst werden. Diese Gedanken treten spontan auf, werden als sehr unangenehm erlebt und können vom Kind nicht kontrolliert werden. Kinder versuchen, diese Gedanken zu unterdrücken. Sie finden meist für sich heraus, dass sie ihre Zwangsgedanken lindern können, indem sie bestimmte Handlungen ausführen, z. B. Dinge immer auf die gleiche Weise anordnen. Bei einer Ticstörung handelt es sich um plötzlich auftretende, sich wiederholende motorische Bewegungen oder vokale Äußerungen. Im Gegensatz zu Zwangshandlungen dienen sie keinem Zweck und werden in der Regel als sinnlos erlebt. Für Kinder sind die Tics nur kaum unterdrückbar.

Einen anderen großen Teil psychischer im Kindesalter beginnender Störungen bilden die sogenannten umschriebenen Entwicklungsstörungen. In diese sind die schon oben erläuterten Lese-, Rechtschreib- und Rechenstörung subsumiert, aber auch allgemeine Störungen des Sprechens und der Sprache, sowie Störungen motorischer Funktionen. Bei den Sprachstörungen sind sowohl deutliche Probleme der Artikulation und des Sprachverstehens zu verzeichnen. Störungen motorischer Funktionen werden darin sichtbar, dass Kinder Schwierigkeiten haben, ihre Motorik anzusteuern und sie typische motorische Aktivitäten wie Fahrradfahren erst sehr spät erwerben. Beide Störungsfelder werden in den entsprechenden Kapiteln ( Kap. 5 und 8) genauer erläutert. Die Auflistung der verschiedenen Entwicklungsstörungen soll als Anhaltspunkt dafür dienen, welche untypischen Formen die Entwicklung der Kindheit zeigen kann.

1.4.2      Translationale Forschung

Die verschiedenen Blickwinkel, aus denen heraus die kindliche Entwicklung studiert wird, stehen bisher nahezu isoliert nebeneinander. Wie in den obigen Abschnitten dargestellt, existiert eine Vielzahl an Arbeiten zu grundlagenbezogenen Fragestellungen, die die typische Entwicklung der Kindheit in verschiedenen Bereichen untersuchen und die sich mit allgemeinen Fragen zu den Einflüssen auf die typische Kindheitsentwicklung befassen. Zudem werden Forschungsfragen zur kindlichen Entwicklung aus der Perspektive verschiedener pädagogischer Einrichtungen wie Kindergarten und Schule thematisiert. Hier steht im Vordergrund, das soziale sowie kognitive Lernverhalten der Kinder zu ermitteln und möglichen Beeinträchtigungen sowie untypischem Verhalten vorzubeugen. Beeinträchtigungen sollen, wenn möglich, kompensiert werden und Kinder sollen gezielt gefördert werden. Kindliche Entwicklung wird des Weiteren aus der klinischen Sicht analysiert. Diese versucht, psychische Störungen des Kindesalters zu ermitteln, sie zu verstehen und zu behandeln. Jeder einzelne dieser Bereiche stellt ein in sich umschriebenes Forschungsfeld dar, welches mit den anderen kaum in Berührung tritt. Fachzeitschriften, Ausbildungen und Lehrbücher markieren ebenfalls diese Abgrenzungen und sind entsprechend abgestimmt auf die Einzelbereiche konzipiert.

In den letzten Jahren sind jedoch vor allem im US-amerikanischen Raum Bemühungen entstanden, die verschiedenen Forschungsfelder der Entwicklungspsychologie der Kindheit miteinander in Beziehung zu setzen und es ergaben sich erste Bestrebungen nach einer translationalen Forschung der Entwicklungspsychologie.

Der translationale Ansatz der Entwicklungspsychologie weist Gemeinsamkeiten zum Ansatz der differentiellen Entwicklungspsychologie auf, beinhaltet aber auch wesentliche Unterschiede, weshalb er einen eigenständigen Ansatz darstellt. Die differentielle Entwicklungspsychologie befasst sich vornehmlich mit der Beschreibung und Erklärung der Altersabhängigkeit interindividueller Differenzen und mit interindividuellen Differenzen verschiedener Aspekte intraindividueller Veränderungen (vgl. Hasselhorn & Schneider, 1998). Auch der translationale Ansatz beschäftigt sich in gewisser Weise mit altersbezogenen interindividuellen Differenzen, da er sich mit zwei verschiedenen Kategorien von

Fokus: Ziel der Translationalen Forschung

Cicchetti und Gunnar (2009) sehen das Ziel einer translationalen Forschungsrichtung darin, Grundlagenergebnisse zur kindlichen Entwicklung so in die Anwendung zu übertragen, dass sie für die Prävention und Behandlung von Entwicklungsbeeinträchtigungen und Entwicklungsstörungen nutzbar gemacht werden können. Informationen, die durch diese sogenannte Pipeline zwischen Grundlagen- und Anwendungsforschung fließen, sollen dabei beständig in beide Richtungen fließen.

Entwicklungsverläufen befasst, nämlich der typischen Entwicklung, die vornehmlich durch die Grundlagenforschung analysiert wird, und der untypischen Entwicklung, die vor allem in Form anwendungsorientierter Forschung untersucht wird. Auch interessiert man sich innerhalb beider Bereiche für intraindividuelle Veränderungen und ihre Beeinflussbarkeit in spezifischen Zeitfenstern.

Unterschiede zwischen den Ansätzen bestehen aber darin, dass sich die differentielle Entwicklungspsychologie mit den Unterschieden von Entwicklungsverläufen zwischen verschiedenen Individuen befasst, während der translationale Ansatz die Gesamtheit von Individuen in zwei Gruppen zusammenfasst: in die Gruppe der Individuen, die der typischen Entwicklung folgen, und in die Gruppe der Individuen, bei denen sich eine untypische Entwicklung zeigt. Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Ansätzen ist darin zu sehen, dass die differentielle Entwicklungspsychologie insbesondere die Unterschiedlichkeit zwischen verschiedenen Entwicklungsverläufen beschreiben und erklären möchte. Der translationale Ansatz hingegen möchte das Wissen über typische und untypische Entwicklungsverläufe für das gegenseitige Verstehen der Verläufe nutzbar machen ( Fokus). Wissen über Entstehungsbedingungen einer typischen Fähigkeit soll z. B. helfen zu erklären und zu verstehen, warum die entsprechende Fähigkeit möglicherweise nicht auftritt. Umgekehrt kann die Beobachtung des Nicht-Auftretens einer typischen Fähigkeit dazu führen, die genauen Bedingungen ihres Auftretens verstehen und untersuchen zu wollen.

Gründe dafür, warum translationale Forschung der kindlichen Entwicklung erst allmählich in Gang kommt, können darin gesehen werden, dass für eine solche translationale Forschung gemeinsame theoretische Konzepte aus der Grundlagen- und Anwendungsforschung geschaffen werden müssen und dass sich Grundlagen- und Anwendungsforscher auf gemeinsame Forschungsziele einigen müssen. Hierzu müssen Barrieren zwischen Grundlagenforschung und Anwendungsforschung abgebaut werden. Die unterschiedlichen methodischen Zugänge von experimenteller zu eher korrelativer und qualitativer Forschung müssen integriert werden. Beide Seiten müssen die Ansprüche an die Zusammensetzung und Größe der Untersuchungsgruppen akzeptieren. Die Eleganz und Einfachheit der Grundlagenforschung muss sich mit der komplexen, mit Sachzwängen versehenen Anwendungsforschung verbinden. Die wissenschaftliche Skepsis und Zurückhaltung der Grundlagenforschung muss Entschlusskraft für eine Anwendungsperspektive entwickeln. Insgesamt müssen alle Beteiligten aus Grundlagen- und Anwendungsforschung bereit sein, die Perspektive des anderen Forschungsbereichs einzunehmen und sich gegenseitig belehren zu lassen.

Bezogen auf die Entwicklungspsychologie der Kindheit bedeutet der translationale Ansatz, dass eine Brücke zwischen der Grundlagenforschung und der Anwendungsforschung geschlagen wird, wofür es bisher erst recht wenige Beispiele gibt. Im Folgenden wird über ein Beispiel translationaler Forschung berichtet, das zum Ausdruck bringt, wie gut beforschte Fragestellungen der Grundlagenforschung für die Anwendung nutzbar gemacht werden können.

1.4.3      Beispiel für translationale Forschung