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Viele Gemeinplätze sind im Laufe der Jahre über das Kursbuch geschrieben worden: So habe Enzensberger 1968 den Tod der Literatur verkündet, und damit sei die Trennung der Zeitschrift vom Suhrkamp Verlag zu erklären. Henning Marmulla zeichnet nun anhand zahlreicher unveröffentlichter Quellen den Weg zur Gründung der Zeitschrift im Jahre 1965 nach, analysiert ihre Bedeutung für die internationalen 68er-Bewegungen und erklärt auch, warum es wirklich zur Trennung von Enzensbergers Zeitschrift und Siegfried Unselds Suhrkamp Verlag im Jahre 1970 kam und erzählt von der Politisierung der Literatur. Enzensbergers Kursbuch unterzieht die Gemeinplätze über diese turbulente Zeit einer Prüfung und erzählt die spannende Geschichte einer Zeitschrift, die ihren Beginn in einer Zeit nahm, als man Geschichte noch für machbar hielt - und die maßgeblich dazu beitrug, dass Menschen für ihre Geschichte kämpften.
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Seitenzahl: 584
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Henning Marmulla
Eine Zeitschrift um 1968
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Dieses Buch ist im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 584 Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte an der Universität Bielefeld entstanden.
Erste Auflage Berlin 2011
Copyright © 2011 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Göhrener Str. 7, 10437 Berlin, [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
eISBN: 978-3-88221-925-8
www.matthes-seitz-berlin.de
»die Revolution muß gleichzeitig eine Revolution der Wahrnehmung sein«.1
Herbert Marcuse
»Der Einfluß von Enzensberger auf die zehn bis zwölf Jahre jüngerenFührer der Revolte kann gar nicht überschätzt werden.«2
Peter Schneider
»Das Kursbuch ist längst Geschichte. Das Tröstliche daran:Es handelt sich um eine spannende Geschichte.«3
Richard Wagner
Anfang
Die Vorgeschichte.
Deutsches Feld, Revue Internationale, transnationaler Autor
Von Gedichten und Essays. Das literarische Feld in der Bundesrepublik bis 1965
Von Sprachen und Menschen. Kulturelles und soziales Kapital bei Enzensberger
Vom Comité d’action des intellectuels contre la poursuite de la guerre en Algérie zum Manifeste des 121. Die Vorgeschichte der Vorgeschichte
»Une possibilité nouvelle«. Die Struktur der Revue Internationale
Keine »namenlos verschworene Schriftstellergemeinschaft«. An dem »Lauf der Dinge« zerbricht die Gruppe
Die Geschichte.
Das Kursbuch
Die Vorbereitungen beginnen. Wie ein Projekt entsteht
Deutschland unter anderm. Transnationale Wahrnehmung und internationale Kommunikation
Manipulation und Emanzipation in einem. Die Bewusstseins-Industrie
Die Studenten und die Macht. Aufnahmen und Vermittlungen der internationalen Bewegungen
Die »nüchterne Vermittlung«. Die Dritte Welt und die Industriemetropolen
Die große Parallelaktion. Individuelle und gesellschaftliche Transformationsstrategien
Wo fängt Handeln an? Redefinitionen des Mandats des Intellektuellen
Wo hört Literatur auf? Zu Rolle und Funktion der Literatur und der Autoren
Ein langes Ende. Die Trennung des Kursbuchs vom Suhrkamp Verlag
Die Nachgeschichte.
Der Untergang der Utopien
Enzensberger auf Cuba. Das kurze Fest der Euphorie
Die Schweinebucht, der Negersklave und Durruti. Drei Dokumentationen von Geschichte
Cuba bei Enzensberger. Das diskrete Ende der Utopie
Ende
Anhang
Theoretische und methodische Nachbemerkungen
Forschungsstand und Quellenlage
Quellen- und Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Das Kursbuch erschien von Juni 1965 bis März 1970 im Suhrkamp Verlag.4 Als Herausgeber fungierte Hans Magnus Enzensberger, Chefredakteur war Karl Markus Michel. In den fast fünf Jahren, in denen die Zeitschrift im Suhrkamp Verlag erschien, begleitete sie die Formierung und Mobilisierung sowie den Zerfall der deutschen 68er Bewegung. Das Kursbuch war ihr Forum, der Herausgeber ein Vermittler zwischen den internationalen 68er Bewegungen und teilweise selbst Akteur, indem er issues setzte, die von Bedeutung für den globalen Protest waren. Enzensberger und Michel griffen Ideen und Vorstellungen, konkret: Texte wichtiger Vordenker und Ideengeber der internationalen 68er Bewegungen auf, rekonstruierten sie, spitzten sie zu und dynamisierten damit auch einen Prozess, den wir als Mobilisierungsprozess der 68er Bewegung beschreiben. Der italienische Verlag Mondadori identifizierte die Zeitschrift sogar mit der Bewegung und veröffentlichte 1969 eine über 270 Seiten umfassende Kursbuch-Anthologie unter dem Titel Kursbuch. Die AußerparlamentarischeOpposition.5
Der Verleger Siegfried Unseld, seit 1959 Nachfolger Peter Suhrkamps im Frankfurter Verlag, spielte schon seit einiger Zeit mit dem Gedanken, eine Literaturzeitschrift zu verlegen – nicht zuletzt, um die eigenen Autoren zu fördern. Darauf ließen sich weder Uwe Johnson, noch der Freund und Schachpartner Martin Walser ein. Hans Magnus Enzensberger nahm das Angebot an, hatte jedoch von Anfang an anderes im Sinn als sein Verleger. Im September 1964 schrieb Enzensberger an seinen Freund Alfred Andersch von der norwegischen Insel Tjøme, wo er mit seiner ersten Frau Dagrun und der gemeinsamen Tochter Tanaquil wohnte, über die Ziele, die er mit der geplanten Zeitschrift verband:
»über meine quasi-zeitschrift haben wir nun nicht reden können. das erste heft soll im märz erscheinen. ich hatte eine zeitschrift im sinn, darin schriftsteller über realitäten schreiben, also nicht bücher sondern wirklichkeit ›rezensieren‹; aber es wird wohl doch nur eine gute literarische zeitschrift daraus werden – denn die autoren interessieren sich kaum für die wirklichkeit, sondern nur für ihr ›oeuvre‹. das sind jedenfalls meine ersten eindrücke. ›von politik‹, antworten sie mir, ›verstehen wir nichts.‹ das schlimme ist, daß sie ganz recht haben: sie verstehen wirklich nichts davon.«6
Doch wie Enzensberger bereits im August des Jahres an Hans Paeschke, den Herausgeber des Merkur schrieb, war er »entschlossen, es notfalls ohne ja gegen die vielgefragten autoren zu machen. das bedeutet, daß ich selber schreiben muß.«7 Natürlich kam es nicht zu dieser one-man-show, wie wir heute wissen, auch wenn Enzensberger immer wieder selbst für seine Zeitschrift zur Feder griff. Die Autoren, die in den folgenden Jahren Beiträge für das Kursbuch schrieben, kamen – ganz im Gegensatz zu Enzensbergers pessimistischer Einschätzung aus dem Brief an Andersch – sehr wohl einer spezifischen Aufgabe des Schriftstellers nach: einer politischen. In einem performativen Akt arbeiteten die Autoren, die Texte für die Zeitschrift beisteuerten, damit – vielleicht ohne es zu wissen oder gar zu wollen – an einer Redefinition des Schriftstellers mit, die das politische Engagement zur conditio sine qua non des Schreibens in den Jahren um 1968 erklärte. Den Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Kursbuchs, seines Herausgebers, der 68er Bewegung und den Redefinitionen nicht nur der Rolle des Schriftstellers und der Funktion der Literatur, sondern auch der des Mandats des Intellektuellen zu erklären, ist das zentrale Erkenntnisinteresse dieses Buches.
Den Ausgangspunkt bilden das Zeitschriftenprojekt Kursbuch und sein Herausgeber. In einer sehr interessanten und zeitgenössischen Analyse von Kursbuch 11 verwies Karl Heinz Bohrer 1968 auf das Exzeptionelle an der Position Hans Magnus Enzensbergers im bundesrepublikanischen literarischen Feld der sechziger Jahre. Mit der öffentlichen Distanzierung Günter Grass’ von den »radikalen Studenten« sei deutlich geworden, was, so Bohrer,
»man seit dem 2. Juni 1967 spätestens schon wußte: Es gab außer moralischen Zusprüchen keine politische Resonanz bei Westdeutschlands Literaten. […]8Es gibt zu dieser Regel drei Ausnahmen: Hans Magnus Enzensberger, Reinhard Lettau und Peter Weiss.«9
Enzensberger war derjenige unter den drei von Bohrer Genannten, der, erstens, das Verhältnis von Literatur und Politik am stärksten von allen thematisierte, der, zweitens, als einziger der dominierenden Schriftsteller in den sechziger Jahren eine eigene Zeitschrift hatte, der damit, drittens, also nicht nur seine eigene Textproduktion, sondern eine Auswahl dessen, was er für wichtig hielt, verbreiten konnte, der, viertens, sein akkumuliertes international valides soziales Kapital genau für dieses Projekt einsetzen konnte, wenn es darum ging, Texte internationaler Autoren zu akquirieren, der, fünftens, ein hohes Maß symbolischen Kapitals akkumuliert hatte (durch sowohl Publikums- als auch Kritikererfolg, flankiert durch Auszeichnungen der maßgeblichen Konsekrationsinstanzen), und der, sechstens, auch durch die Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag, dem er als Autor seit 1957, zudem 1960 und 1961 als Lektor, danach als freier Berater verbunden war, über abgesichertes ökonomisches Kapital verfügen konnte, das man für ein Projekt wie das Kursbuch benötigte.
Den Autor dieser Zeilen hat stets der verengte Blick gestört, den einige Zeitzeugen, aber auch die Nachgeborenen auf dieses Kapitel deutscher Zeitschriften- und Intellektuellengeschichte hatten. Die Trennung des Kursbuchs vom Suhrkamp Verlag wurde entweder mit Heft 15 begründet, das – angeblich10 – den Tod der Literatur verkündet habe, was wiederum Siegfried Unseld so gestört habe, dass er diese Zeitschrift nicht länger in seinem Haus habe dulden wollen; oder aber die Ankündigung von Kursbuch 21 über Kapitalismus in der Bundesrepublik wurde verantwortlich gemacht für den Bruch zwischen Verleger und Herausgeber, nicht selten verknüpft mit der – teilweise verschwörungstheoretischen – Pointe, die Schweizer Anteilseigner, die Gebrüder Reinhart, hätten Unseld zu einer Trennung gedrängt. Beide Erklärungen sind in dieser Ausschließlichkeit und Zuspitzung falsch. Der Blick in die Quellen verrät, dass schon vor Kursbuch 15 die ersten Ausgründungspläne geschmiedet wurden, und zwar schon 1967. Er verrät aber auch, dass noch bis 1970 von beiden Seiten ernsthaft eine weitere Zusammenarbeit erwogen und auch erhofft wurde. Eine Analyse, die den komplexen Verläufen der Auseinandersetzungen zwischen Verleger und Herausgeber gerecht werden will, muss mindestens vier Problemdimensionen akzentuieren: Erstens, wie stand die Entwicklung der Zeitschrift mit der Entwicklung der 68er Bewegung in Verbindung, zweitens, wie verknüpfte sich dieses Bedingungsgeflecht mit den Debatten über eine Redefinition von Literatur, drittens, wie hing dieses Problembündel zusammen mit der Neukonzeption des Mandats des Intellektuellen, und schließlich viertens, was folgte aus diesen Entwicklungen und Debatten für eine Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Politik in den sechziger Jahren.
Dass Schriftsteller sich eingemischt haben in Dinge, die sie nichts angehen, dass sie Petitionen geschrieben, Politiker kritisiert und sich mit sozialen Bewegungen verbündet haben, können wir seit der Geburt des Intellektuellen im achtzehnten Jahrhundert beobachten. Zu Beginn der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts aber kam mit bestimmten Ereignissen und, so die These, dem letzten Aufbäumen der Moderne, eine neue Qualität in diesen Prozess. Der Algerienkrieg steht am Anfang der Geschichte, die hier erzählt werden soll. Französische Schriftsteller und Intellektuelle11 begehrten auf und kritisierten den Krieg. Sie riefen mit einem Manifest zur Desertion auf. Dieser Aufruf veranlasste den Staat zu harten Restriktionen gegen die Unterzeichner. Dies wiederum hatte eine internationale Solidarisierung zur Folge, die mit Solidaritätsmanifesten begann und hinführte zur Idee und Planung einer internationalen Zeitschrift, zeitweilig Revue Internationale genannt, in der Franzosen, Italiener und Deutsche gemeinsam versuchten, eine neue Art der Literatur und eine neue Art der Kritik zu etablieren, die der wahrgenommenen Realität in ihren Augen adäquat erschien: eine Literatur und eine Kritik mithin, die sich Phänomenen wie Krieg und Repression in spezifischer Art und Weise zu nähern erlaubte. Dieses Projekt, das scheiterte, soll im Zentrum des zweiten Kapitels stehen.
Nach dem Scheitern der Revue Internationale bemühte sich Enzensberger darum, in der Bundesrepublik ein Forum für eine Öffentlichkeit zu etablieren, die, in den Augen der Kursbuch-Macher, sich als Gegenöffentlichkeit zu einer dominierenden manipulierten Öffentlichkeit und der herrschenden veröffentlichten Meinung verstand. Noch im Jahr 1970 war das Konzept der Gegenöffentlichkeit die leitende Idee für das Kursbuch. In einem Brief an einen Autor, der ein Manuskript eingesandt hatte, antwortete der Redakteur auf die vom Autor formulierte Gegenüberstellung von Kursbuch und Öffentlichkeit, dass diese Gegenüberstellung sehr fragwürdig sei, »denn das Kursbuch ist so gut und so schlecht wie die Leute die darin schreiben, und diese Leute sind ein Teil der Öffentlichkeit, jedenfalls jener Öffentlichkeit, für die das Kursbuch ›veröffentlicht‹ wird«.12 Im dritten Kapitel wird analysiert, für welche Art von Öffentlichkeit diese Zeitschrift gemacht wurde, was ihre Ziele waren, wie eine neue Literatur und Kritik hier konzeptionalisiert und realisiert wurde, welche Themen und Debatten im Kursbuch verhandelt wurden und welche Einflusspotenziale auf die 68er Bewegung in ihm steckten.
Mit dem Zerfall der Bewegung und der Trennung des Kursbuchs vom Suhrkamp Verlag sowie dem Aufkommen der Postmoderne als der zentralen Leitidee der siebziger Jahre änderten sich die dominierenden Ansichten über das Politische und die Literatur: so auch bei Enzensberger. Ausgehend von seinem ›Experiment Cuba‹ wird die Selbstkritik seiner Positionen der sechziger Jahre im vierten Kapitel dieser Arbeit entfaltet. Seine Stellungnahmen bis zum Erscheinen der großen Zeitgeist-Reflexion über den Untergang der Titanic geraten an dieser Stelle in den Blick. Hier wird gegen gängige literaturhistorische Periodisierungen argumentiert und behauptet, dass eine neue Qualität der Politisierung Ende der siebziger Jahre erreicht wurde.
Deutsches Feld, Revue Internationale, transnationaler Autor
»was sich in den letzten zwei monaten in der deutschen literaturkritik abspielt, reflektiert diese lage. unsere bücher sind nur noch anlässe zur abreaktion politischer ressentiments, gleichgültig wie gut oder schlecht unsere arbeiten sind. damit erklärt sich das kesseltreiben gegen walser ebenso wie die kampagne gegen dein buch – was sage ich, gegen dich (und ich bin überzeugt davon, daß ›die krischen [sic] der freiheit‹ bei diesen leuten unvergessen sind!). von den differenzen zwischen einem grass und einem andersch, einem enzensberger und einem walser nehmen diese leute nicht mehr notiz; ja es genügt bereits der verdacht, ein autor stehe der gruppe 47 nahe, um ihm [sic] zu diffamieren. was diese wutausbrüche aber so bodenlos macht, ist das gefühl der ohnmacht, von dem jene leute […] beherrscht sind. sie verfügen zwar über die deutsche presse, aber sie sind selber literarisch impotent; und sie wissen ganz genau, daß keiner von uns ihre chateaubriands und ihre neuen wirklichkeiten auch nur angelesen hat. sie aber müssen uns lesen, weil da außer ›uns‹ (im weitesten sinn) nichts ist. außerdem wissen sie: wir werden sie überleben.«13
Als Hans Magnus Enzensberger diese Zeilen im November 1960 an seinen Freund Alfred Andersch schreibt, ist es bereits drei Jahre her, dass Andersch ihn als Redakteur zum Süddeutschen Rundfunk geholt hat, bei dem Enzensberger seitdem viele Radiofeatures schrieb, die für nicht unerhebliches Aufsehen in der Bundesrepublik sorgten. Drei Jahre zuvor war außerdem sein erster Gedichtband bei Suhrkamp erschienen, sein zweiter ist gerade frisch herausgekommen. Aus den Zeilen geht hervor, dass eine Gruppe von Schriftstellern gerade von Seiten der konservativen Literaturkritik als Einheit betrachtet und kritisiert worden ist. Enzensberger nennt als einen ihrer Protagonisten Günter Blöcker, der sich insbesondere auf Uwe Johnson eingeschossen hatte.14 Ein anderer ist FriedrichSieburg, der die Gruppe 47 von ihren Anfängen bis zu seinem Tod im Jahre 1964 kritisch und polemisch begleitete.15 Die von Blöcker, Sieburg und Co. Kritisierten gingen unter dem Namen Gruppe 47 in die Literaturgeschichte ein. 1947 aber waren sie noch eine marginale Randerscheinung im literarischen Feld.
Kurz nach Kriegsende ging ein verzweifelter Hilfeschrei über Funk und Theaterbühne: »Gibt denn keiner, keiner Antwort???«16 So endete ein beliebtes Rundfunk- und Theaterstück, im Spätherbst 1946 geschrieben, im Februar 1947 als Hörspiel gesendet, im November 1947 als Theaterstück uraufgeführt: Draußen vor der Tür von Wolfgang Borchert. Es avancierte rasch zu einem der erfolgreichsten Stücke der unmittelbaren Nachkriegszeit. Der Kriegsheimkehrer Beckmann, der alles verloren hat, der als Opfer und nicht als Täter gezeichnet ist, bot sich als Identifikationsfigur für die Deutschen nach 1945 genauso an wie sein Autor Borchert,17 der an den Folgen seiner Kriegsverletzungen einen Tag vor der Uraufführung seines einzigen Theaterstückes starb. Borchert suchte die Realität und wollte diese abbilden.18 Mit dem Erfolg seiner Darstellungsweise, dem was Kahlschlag- und Trümmerliteratur genannt wurde, blieb er in der unmittelbaren Nachkriegszeit weitgehend allein. Die ersten Erfolge im literarischen Feld nach 1945 kamen Akteuren mit anderen Darstellungsformen zu.
Einer, der eine Position am dominierenden Pol des Feldes einnahm, war Gottfried Benn. Er forderte das »absolute Gedicht«, das aus jeder Verbindung zu gesellschaftlicher Realität zu lösen sei.19 Dichtung müsse allein, so Benn, in der künstlerischen Form bestehen, nicht im Inhalt, nicht in Aktualität und konkreter Wirksamkeit.20 In Probleme der Lyrik, als Vortrag gehalten 1951 an der Universität Marburg, definierte er Literatur nach dem Kriterium der Form. »Form ist der höchste Inhalt.«21 Dass Benn als literarische Leitfigur bis ungefähr 1960 anzusehen sei, also die legitime Definition von Literatur durchsetzten konnte, da er eine dominante Position im literarischen Feld innehatte, wird in Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1986 mit der Erfahrung des Nationalsozialismus und der literarischen Konsequenz aus ihm begründet, Geschichte Sinn abzusprechen, da Sinn »allein noch sich im Gelingen der künstlerischen Form manifestiere.«22 Benn sei zum »Phänotyp dieser Stunde« (Dieter Wellershoff) geworden, weil er »den Hang seiner Zeitgenossen zum Unpolitischen apodiktisch zur einzig möglichen und richtigen Haltung« erklärt habe.23 Losgelöst vom Gesellschaftlichen beschrieb auch Hans Egon Holthusen24 die Definition von Literatur für Hans Benders erstmals 1955 erschienenen Band Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten: »Einen Inhalt, der vor und außerhalb der Gestaltwerdung zu konstatieren wäre, gibt es ja gar nicht. Was da ist, ist ein Geheimnis, verlangt nach rhythmischem Ausdruck.«25 Das Thema stellte für Holthusen also nicht Anlass zur Form dar, sondern war bereits Formgewordenes. Eine zweite dominierende Schreibstrategie der Nachkriegszeit rekurrierte auf die Flucht vor der Realität. Diese Strategie wurde erfolgreich von Hermann Hesse vertreten, der zwar politische Stellungnahmen formulierte, jedoch keine Rückschlüsse auf die Frage nach der Art zu schreiben zog.26 Politik und Literatur waren für Hesse zwei gänzlich voneinander zu unterscheidende Bereiche. Ähnlich lässt sich auch die Literaturkonzeption von Thomas Mann fassen. »So verstärkt Thomas Mann, indem er die emphatisch betonte Einheit von Kunst und Politik in die postulierte Besonderheit von Literatur als Kunst hineinholt, die Grundlinie der Abtrennung künstlerischer von politischer Praxis«27, fasste der Literaturwissenschaftler Ludwig Fischer diese Schreibweise zusammen. Kennzeichnend für die dominante Literaturstrategie nach 1945, so pointierte Fischer, wurden eine prinzipielle Distanz des Schriftstellers von der gesellschaftlichen Praxis und eine Transformation »der Kritik in die ästhetische und allenfalls noch moralische Integrität des literarischen Werks«.28 Es waren diejenigen Akteure, die an bestimmte ästhetische Traditionen der Zeit von vor 1933 anknüpften, die an den dominanten Positionen des literarischen Feldes zu verorten sind: unter anderen Hans Carossa, Georg Britting, Stefan Andres, Ernst Penzoldt, Werner Bergengruen, Ernst Wiechert. Sie sind einander generationell ebenso verbunden wie durch ihre tendenziell mögliche Zuordnung zur Kategorie »innerer Emigration«. Das von ihnen vertretene Literaturkonzept orientierte sich, wie das von Benn, an einer »Poetik der Weltferne«.29 Eine »nonkonformistische« und dann »zunehmend direkter gesellschaftskritische Literatur«, so Ludwig Fischer, trete »erst gegen Ende der Adenauer-Ära auf den Schauplatz der literarischen und politischen Öffentlichkeit.«30 Indes, jüngere Autoren haben sich bereits früher aufgemacht31, in linksdemokratischen, kritischen Zeitschriften (etwa in Ende und Anfang, Ulenspiegel oder Der Ruf) einen »Neuanfang« zu fordern,32 nicht bloß auf politischer, sondern auch auf literarischer Ebene. Die Gruppe 47 trat am stärksten und kollektiv mit diesem Programm an, und setzte sich beharrlich durch im Kampf um die Definition dessen, was Literatur sein kann und soll. In ihren Anfängen jedoch war die Gruppe 47 nur eine kleine und öffentlich nicht besonders beachtete Gruppierung von Schriftstellern, die sich regelmäßig an abgelegenen Orten der Bundesrepublik trafen und von einer breiten Öffentlichkeit überhaupt nicht zur Kenntnis genommen wurden.33
Das literarische Feld setzte sich nach dem Krieg aus den drei Kategorien innere Emigration, Exil und junge Autoren zusammen. Die Schriftsteller der inneren Emigration dominierten das Feld. Ludwig Fischer bringt die Konkurrenzkämpfe der Zeit nach 1945 sehr prägnant auf den Punkt, wenn er schreibt:
»Das Postulat der ›jungen Generation‹ bald nach Kriegsende, mit den Erklärungs- und Ordnungsmustern der ›Älteren‹ sei radikal zu brechen und ein völliger Neuanfang müsse kommen, kann nicht unmittelbar für die literaturgeschichtliche Betrachtung den Phasenbeginn markieren. Denn das ›Nullpunkt-Bewußtsein‹ erweist sich ja nur als eines der Verarbeitungsmuster in der realgeschichtlichen Umbruchsituation. Es ist gegenüber Politik- und Literaturstrategien, die mit dem Rückgriff auf traditionelle Deutungsangebote und Verfahrensweisen operieren, sogar kraß im Hintertreffen, und es ist in sich selbst durchaus widersprüchlich. Aber in ihm drückt sich, wenn auch recht diffus und illusionär, das allgemeine bewußtseinsgeschichtliche Signum des Phaseneinschnitts doch sehr deutlich aus: im›Weiterleben‹ den katastrophalen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Staats- und Gemeinwesens zu verarbeiten, der eine tiefe gesellschaftliche Identitätskrise bewirkte.«34
Der Kampf jedoch, eine neue Sprache mit den Mitteln der Literatur zu finden, eine Sprache, die der Realität angemessen war, die gleichsam eine von den Vergiftungen der nationalsozialistischen Sprachen freie bzw. bereinigte Sprache war, dieser Suche verschrieb sich die Gruppe 47.
Ihre Kritik richtete sich von Anfang an, so Alfred Andersch, gegen »die ästhetizistischen, pseudoinnerlichen Elfenbeinturm-Bewohner, die esoterischen Rosenzüchter und Spitzenhäkler, die einen Bombentrichter betrachten, als wäre er ein Lilienkelch.«35 Neben der Absage an eine ästhetizistische Tradition stand jedoch gleichsam die Maxime im Vordergrund, Literatur als Vehikel politischer Ideen abzulehnen.36 Von einer unpolitischen oder eskapistischen Literatur kann hier allerdings mitnichten gesprochen werden. Das literarische Programm der Gruppe 47, so heterogen die verschiedenen Ansätze auch sein mochten, war ein dezidiert politisches. Dass die Strategien der Gruppe 47 häufig in eine literarischunpolitische (das Schreiben) und eine außerliterarisch-politische (Petitionen etc.) Sphäre differenziert werden, hängt wohl mit dem verkürzten Politikverständnis zusammen, das politische Literatur nur dort erkennt, wo explizite Gesellschaftskritik zum Gegenstand literarischer Produktion gemacht wird. Der politische Gehalt der literarischen Produktion der Gruppenteilnehmer lässt sich mit einer solchen Differenzierung nicht erfassen. Der Begriff der »Sprachpolitik« bringt am ehesten auf den Punkt, was die Gruppe 47 von den anderen Akteuren im literarischen Feld unterscheidet.
Ingrid Gilcher-Holtey hat darauf aufmerksam gemacht, dass es die Suche nach einer neuen Sprache war, die Teile der literarischen Intelligenz nach 1945 miteinander verband: zu einer zwar heterogenen, in dieser Suche aber geeinten Zusammenkunft, die sich Gruppe 47 nennen sollte. Der Ansicht folgend, dass der Nationalsozialismus und mit ihm die Sprache des »Dritten Reiches« – die LTI, wie Victor Klemperer die Lingua Tertii Imperii in Kurzform nannte – sowohl Worte als auch Werte zerstört haben, machten sich die Schriftsteller auf die Suche »nach einer neuen Sprache, neuen Ausdrucksweisen und stilistischen Formen«.37 Da sie davon ausgingen, dass Sprache Mentalitätsstrukturen beeinflusse, schien es den Akteuren notwendig, mit ihrem literarischen Programm langfristig einen Demokratisierungsschub auszulösen: Die autoritäre Charakterstruktur, so auch Adornos Gedanke, die als eine Bedingung zur »Herbeiführung des Faschismus« beigetragen hatte, sollte überwunden werden.38 Der Neubeginn durch eine neue Sprache war das, was die Schriftsteller der Gruppe 47 von denjenigen des Exils oder auch der inneren Emigration unterschied. Diese stritten um das »legitime Erbe der vom Nationalsozialismus zerschlagenen deutschen Literaturtradition«, während es die Maxime der Gruppe 47 war, gerade nicht an diese Tradition anzuknüpfen.39 Vier Merkmale kennzeichnen die Position der Gruppe 47 im literarischen Feld der Nachkriegszeit und ihre Opposition zu anderen Schriftstellern. Erstens hat sie einen radikalen Bruch mit der bildungsbürgerlichen literarischen Tradition von vor 1933 gefordert. Zweitens hat sie eine spezifische Neudefinition des Schriftstellers vorgenommen: jenseits des Postulats vom »Rückzug in den Elfenbeinturm« und jenseits einer Ausrichtung auf unbedingtes sozialistisches Engagement. Vielmehr hat sie Vertrauen in die utopische Kraft der Gesellschaftskritik gesetzt, die der Literatur insofern inhärent ist, als dass diese allein durch ihre Autonomie gegenüber der Politik kritisch sein kann. Drittens hat die Gruppe mit ihrer Praxis der regelmäßigen Gruppentagungen eine Art literarischer Öffentlichkeit geschaffen, die jenseits von etablierten Foren des literarischen Austausches gestanden hat. Viertens schließlich hat sie die Bereitschaft signalisiert und realisiert, auch DDR-Schriftsteller zu den Tagungen einzuladen.40
Besonders seit der Gruppentagung 1952 ist eine Heterogenisierung der Gruppe zu beobachten. Hier traten den Veristen, die Realität mit einer absoluten Kargheit der Form beschrieben, erstmals Schriftsteller wie Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger gegenüber, die die Möglichkeit aufgegeben hatten, Sinnhaftes hinter der Wirklichkeit zu suchen, und die Wirklichkeit stattdessen als bedrohlich und übermächtig ansahen.41 Beide Positionen mündeten Ende der fünfziger Jahre in einer Art »Synthese«, von der aus der Literatur zwar noch utopisches Potenzial zugeschrieben wurde, gleichsam aber ein Anderes zum Bestehenden für beinahe unmöglich gehalten wurde.42 »Rückzug der Kunst in die Abstraktion«, so Heinz Ludwig Arnold, »Besinnung auf den äußersten Ausdruck ihrer Autonomie war die extremste Verweigerung von Affirmation, die ihr in den fünfziger Jahren zur Verfügung stand. Die Form der Kunstwerke selbst wurde nun zu ihrem utopischen Gehalt.«43 Während Benns »absolutes Gedicht« dem Anspruch nach gänzlich die Verbindung zum Gesellschaftlichen kappte, kämpften die Schriftsteller der Gruppe 47 mit einer Literaturauffassung gegen Benns Position an, nach der sie, an Adorno orientiert, davon ausgingen, Literatur könne allein durch die Darstellung des Bestehenden in seiner Negativität, und nur so, Kritik äußern.44 Darüber hinaus wurde auf einer gesellschaftspolitischen Ebene über die Rolle des Schriftstellers diskutiert, die über ein Attestieren des Bestehenden weit hinausging (Petition, Manifest, Protest). Was aber folgte aus den Stellungnahmen der Schriftsteller der Gruppe bezüglich ihrer Position im literarischen Feld der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre?
Besonders nach 1958 kam der Gruppe ein bedeutendes Maß an Anerkennung zu. So heterogen die von den Schriftstellern der Gruppe 47 produzierte Literatur auch war,45 so homogen war sowohl die Außenwahrnehmung als auch die Selbstwahrnehmung der beteiligten Akteure. Sie verstanden sich als »Repräsentanten einer spezifischen ›Mentalität‹« und bildeten mit der Zeit eine gemeinsame Gruppenhaltung aus.46 Nicht zuletzt mit der Besetzung wichtiger Multiplikatorenposten innerhalb der Rundfunkanstalten, mit ihrer spezifischen Preisverleihungsstrategie sowie der Einladung wichtiger Literaturkritiker und Verleger zu den Tagungen,47 akkumulierte die Gruppe ein hohes Maß sozialen Kapitals,48 das, mit steigender Popularität, in symbolisches und damit spezifisch literarisches Kapital umgewandelt werden konnte.
Die objektiven Kräfteverhältnisse in Feldern sind nicht rückführbar auf individuelle Intentionen oder direkte Interaktionen der Akteure; es sind die verschiedenen Kapitalsorten, die als Konstruktionsprinzipien des sozialen Raums fungieren, und die Position der Akteure im Feld bestimmen.49 Der französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu unterscheidet die drei Grundsorten – ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital – sowie das symbolische Kapital, in das sich eine andere Kapitalsorte wandelt, sobald sie »über Wahrnehmungskategorien wahrgenommen wird, die seine spezifische Logik anerkennen«.50 Die Akkumulation symbolischen Kapitals ist erstrebenswert, um Veränderungen oder das Aufrechterhalten der Feldstruktur zu erzielen. Symbolische Kräfteverhältnisse, so Bourdieu, reproduzieren und verstärken diejenigen Kräfteverhältnisse, »aus denen die Struktur des sozialen Raums besteht«.51
Kulturelles Kapital kann in drei Formen existieren: als inkorporiertes, objektiviertes oder institutionalisiertes Kapital. Inkorporiertes kulturelles Kapital meint Fähigkeiten und Kenntnisse, die verinnerlicht und also über einen längeren Zeitraum hin akkumuliert worden sind. Dazu zählen vor allem die durch Schule und Universität, aber auch durch Familie vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten (also nicht nur Wissen, sondern auch Fähigkeiten wie Geschmack). Das Besondere an dieser Kapitalsorte ist die Körpergebundenheit. Das Delegationsprinzip ist hierbei ausgeschlossen, inkorporiertes Kapital ist zum Habitus geworden. Folglich kann es nicht kurzfristig durch Schenkung, Tausch etc. weitergegeben werden.52 Objektiviertes kulturelles Kapital bezeichnet die materialisierten Träger kulturellen Wissens, also z.B. Bücher. Objektiviertes Kapital als juristisches Eigentum ist problemlos übertragbar. Kulturelle Aneignung ist jedoch nur durch den Besitz inkorporierten Kapitals möglich.53 Institutionalisiertes kulturelles Kapital bezeichnet Formen der Bezeichnung, der Auszeichnung, also beispielsweise bestimmte Titel der Gratifikation, die ihrem Inhaber den Besitz kulturellen Kapitals dauerhaft bescheinigen (im Gegensatz zum Autodidakten, der seine Fähigkeit permanent beweisen muss).54
Soziales Kapital bezeichnet das Ausmaß und die Intensität eines Netzes »von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens«.55 Dieses Netz besteht nicht von sich aus dauerhaft, sondern muss durch gegenseitige Anerkennung permanent neu bestätigt werden. Lohnenswert für den Kampf im Feld ist es also, soziale Beziehungen zu den einflussreichsten Akteuren im Feld herzustellen. Als ökonomisches Kapital bezeichnet Bourdieu alle Formen materiellen Reichtums.56
Das Jahr 1958 markierte insofern eine Zäsur, als es den großen Erfolg von Günter Grass und seiner Blechtrommel einleitet, der in jenem Jahr den Preis der Gruppe 47 und damit verbunden eine bis dahin nie ausgezahlte Preissumme von 5.000 DM zugesprochen bekam.57 An der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren haben die Schriftsteller der Gruppe 47 sich vom dominierten zum dominierenden Pol des literarischen Feldes entwickelt und lösen damit die an der Bennschen Literaturkonzeption orientierten Schriftsteller ab.58 Die sechziger Jahre werden zum Jahrzehnt der Gruppe 47. Das lässt sich nicht zuletzt ablesen an den immer stärker werdenden Gegenreaktionen ihrer Kritiker.
Dass überhaupt Akteure sich an Kämpfen in einem bestimmten Feld beteiligen, liegt daran, dass sie ein Interesse daran haben. Um den Vorwurf des Ökonomismus oder Reduktionismus zurückzuweisen, führte Bourdieu für dieses »Interesse am Spiel« die Kategorie illusio ein. Mit illusio meint er folglich, dass man dem Spiel, an dem man teilnimmt (als Schriftsteller also im literarischen Feld), einen Sinn zugesteht, und dass man das, was auf dem Spiel steht, für wichtig und erstrebenswert hält (im literarischen Feld also die »legitime« Definition von Literatur).59 Bedeutend ist die Loslösung jeglicher ökonomischen Interpretation von Interesse, da Bourdieu das ökonomische Interesse selbst als historisches und feldspezifisches Interesse begreift.60 Gerade der vom Ökonomischen gelöste Kapitalbegriff lässt den Kampf im Feld verstehen als Kampf um das jeweils »auf dem Spiel« stehende Kapital. Das spezifische symbolische Kapital, das die objektiven Positionen im literarischen Feld bestimmt, und um das und mit dem gekämpft wird, ist literarisches Kapital.
Zu den stärksten Gegnern der Gruppe 47 zählen neben Hans Egon Holthusen, Günter Blöcker und Friedrich Sieburg, dem Leiter des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und dem eigentlichen Hauptgegner der Gruppe61, auch Hermann Kesten, Günter Zehm oder auch Georg Ramseger, Feuilletonchef der Welt und der Welt der Literatur. Hätten politische Interventionen keine Aussicht auf Erfolg, und hätten Schriftsteller mit neu eingebrachten Literaturkonzepten keine Chance auf deren Durchsetzung als legitime Definition dessen, was Literatur ist, so hätten die Arrivierten die Gruppe 47 ja ohne weiteres ignorieren können. Bei steigendem Prestige eines Schriftstellers oder einer Autorengruppe entsteht aber ein Zwang zur Stellungnahme. Grad und Inhalt dieser Stellungnahmen wiederum lassen Aussagen zu über die Position der Angegriffenen. Je harscher die Kritik an der Gruppe 47 wurde, desto dominierender wurde sie im Feld.
Auf politischer Ebene kann man die Kritik an der Gruppe 47 insbesondere beobachten an den Reaktionen auf ihre politischen Interventionen und Stellungnahmen, die sie gemeinsam oder einzeln vornahmen:62 so beispielsweise die Intervention einzelner Mitglieder der Gruppe mit dem Manifest gegen die Verhaftung Rudolf Augsteins im Herbst 1962 und die darauf folgenden Reaktionen, die ihren Höhepunkt in der Bemerkung des geschäftsführenden Vorsitzenden der CDU, Josef Hermann Dufhues, fanden, der den Einfluss und damit das Monopol der Gruppe 47 auf die Radioprogramme kritisierte und sie als »geheime Reichsschrifttumskammer« bezeichnete.63 Auf literarischer Ebene kann man den Zwang zur Stellungnahme beispielsweise an der harten Kritik beobachten, die, ausgelöst durch Emil Staigers Rede über Literatur und Öffentlichkeit vom 17. Dezember 1966, unter dem Namen Zürcher Literaturstreit bekannt wurde. Zwar nannte der renommierte Schweizer Literaturwissenschaftler Staiger in seiner Kritik keinen Schriftsteller beim Namen, doch lässt sich die Kritik zumindest unter anderen gegen die Gruppe 47 lesen. Beim Schlagwort littérature engagée werde, so Staiger,
»niemand wohl, der die Dichtung wirklich als Dichtung liebt. Sie verliert ihre Freiheit, sie verliert die echte, überzeugende, den Wandel der Zeit überdauernde Sprache, wo sie allzu unmittelbar-beflissen zum Anwalt vorgegebener humanitärer, sozialer, politischer Ideen wird.«64
Hier klagte ein etablierter Literaturprofessor eine auf ewig festgesetzte, nicht als historisch gewachsen verstandene Bestimmung dessen ein, was unter Literatur verstanden werden sollte. Nur an einer Stelle, und das ist der zweite Grund, warum der Zürcher Literaturstreit hier interessant ist, griff Staiger direkt, also persönlich an. Im Zusammenhang mit den Themen der »neueren Romane und Bühnenstücke«, die »von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen« etc. wimmelten, sprach Staiger von einem »bekannte[n] Dramatiker, der Auschwitz auf die Bühne bringt« – von Peter Weiss.65 Symptomatisch erscheint diese Rede eines Angegriffenen im Feld, der »zurück-angreift« und die Magie des literarischen Feldes, so wie er sie versteht, »re-konstruieren« möchte: Literatur solle, so Staigers Forderung, das Bild des Lebens nicht aus der Wissenschaft oder aus den gesellschaftlichen »Zuständen« ableiten, sondern aus der »Machtvollkommenheit des Schöpferischen«.66 Das Pathos seiner Rede, der Zorn, und die heftigen Reaktionen, die in den darauffolgenden Wochen erschienen,67 sind Indikator dafür, dass in den sechziger Jahren nicht mehr die Literaturauffassung Staigers das literarische Feld dominierte, sondern eine andere, die unter anderen vertreten wurde von den Schriftstellern der Gruppe 47 – und mit ihnen von Hans Magnus Enzensberger.
Am 11. November 1929 im Allgäuer Kaufbeuren, Regierungsbezirk Schwaben, geboren, wuchs Hans Magnus Enzensberger gemeinsam mit drei Brüdern68 in einem katholischen Elternhaus auf. Seine Mutter Lori und sein Vater Andreas, der als Fernmeldetechniker arbeitete, waren nicht nur der modernen Technik ihrer Zeit, sondern auch dem humanistischen Bildungsideal gegenüber aufgeschlossen (Enzensbergers Großvater war Lehrer). Der Beruf des Vaters ist hier nicht unbedeutend. Abgesehen von der Anekdote, dass er in seiner Freizeit an der Perfektionierung des Kursbuchs der Deutschen Reichsbahn gearbeitet hat,69 wirkte sich insbesondere der technische Beruf des Vaters auf den jungen Hans Magnus aus.70 Niederschlag fand dieser in einer Technikbegeisterung und später in der Konzeption der Bewusstseins-Industrie: Eroberung der manipulierenden Massenmedien wird von Enzensberger zum Ziel erhoben; Resignation vor ihnen und Technikangst als Kulturpessimismus diffamiert.71
Seine Schulausbildung erhielt Enzensberger zunächst auf der Volksschule, dann auf dem Gymnasium in Nürnberg, später auf der Oberschule in Öttingen. 1949 schließlich beendete er die Schule mit dem Abitur in Nördlingen. Zuvor schon hatte er sich, nicht einmal sechzehnjährig, einen wichtigen Posten bei den Alliierten gesichert: Zunächst für die Amerikaner, dann für die Engländer arbeitete er als Dolmetscher. Durch diese Kontakte wurden ihm schon 1949 Auslandsaufenthalte in England und Schweden ermöglicht. Hier kündigte sich bereits etwas an, was ihn sein Leben lang begleiten sollte: die internationale Orientierung, die sprachliche Kompetenz, die Einsicht in die Notwendigkeit, über den nationalen Tellerrand zu blicken, und, wichtiger noch, über ihn hinauszugehen. Das Studium führte ihn nach Erlangen, Hamburg und Freiburg und an die Pariser Sorbonne. Er studierte Literaturwissenschaften, Sprachen und Philosophie, und wurde schließlich mit einer Dissertation über Brentanos Poetik72 promoviert, nachdem sein ursprünglicher Wunsch, über Hitlers Rhetorik zu arbeiten, zurückgewiesen worden war.
Der bedeutenden Funktion der sich immer stärker etablierenden Massenmedien bewusst,73 richtete Enzensberger sich jedoch nicht im »akademischen Elfenbeinturm« ein. Noch vor Abschluss der Brentano-Dissertation, also vor 1955, begann er, Beiträge für den Rundfunk zu schreiben. Von 1955 bis 1957 war er als Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart beschäftigt: bei und vermittelt durch seinen Mentor Alfred Andersch.74 Diese Konstellation ermöglichte Enzensberger einen enormen Akkumulationsschub sowohl sozialen und kulturellen als auch ökonomischen Kapitals. 1972 stellte der Autorenreport fest, dass Schriftsteller in den fünfziger und sechziger Jahren hauptsächlich von der Arbeit für die technischen Medien lebten: also von der Arbeit bei Hörfunk, Fernsehen, Film und Presse.75 Das gab ihnen zum einen die Möglichkeit, als Produzenten für den autonomen Pol des literarischen Feldes, was wenig Geld einbrachte, zu fungieren und dennoch das zum Leben nötige Geld zu erwirtschaften. Zum anderen waren die Rundfunkanstalten ideale Multiplikationsräume, um die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums auf die literarische Produktion auch der »autonomen« Schriftsteller zu richten.76
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang Enzensbergers Essay über Die Sprache des ›Spiegel‹, der zunächst als Rundfunkbeitrag am 8. Februar 1957 im Süddeutschen Rundfunk gesendet wurde, und den, einen Monat später, der Spiegel selbst abdruckte.77 »Die Redaktion des Magazins«, schrieb Enzensberger anlässlich des Neuabdrucks in seinen 1962 publizierten Einzelheiten, »bat wenige Tage nach der Sendung um die Erlaubnis zum teilweisen Abdruck des Manuskripts in seinen Spalten. Sie wurde erteilt.«78 Die Entscheidung, die Kritik an einer Zeitschrift ausgerechnet der kritisierten Zeitschrift selbst zum Nachdruck freizugeben, fiel Enzensberger nicht leicht, aber, wie er an den Merkur-Herausgeber Joachim Moras schrieb: »Obwohl mir das nicht unbedingt behaglich war, sah ich keine Möglichkeit, ihn [den Nachdruck] auszuschlagen. Einerseits hätte man mir das recht übel auslegen können, andererseits mußte ich als Publizist daran interessiert sein, gerade die Leserschaft des Magazins mit meinen Argumenten zu erreichen«.79 In seinem Beitrag argumentiert Enzensberger, dass der Spiegel keineswegs, wie es das Selbstverständnis der Zeitschrift behauptet, ein Nachrichtenblatt sei. »Der redaktionelle Inhalt besteht vielmehr aus einer Sammlung von ›Stories‹, von Anekdoten, Briefen, Vermutungen, Interviews, Spekulationen, Klatschgeschichten und Bildern. […] Unter allen Mitteilungsformen kommt diejenige am seltensten vor, nach der das Magazin benannt ist: die schlichte Nachricht.«80
Der Raum der technischen Medien fungierte als Akkumulationsmöglichkeit sozialen und kulturellen Kapitals für die Schriftsteller der fünfziger und sechziger Jahre. Gerade in Bezug auf seine medientheoretischen Stellungnahmen war es unabdingbar für Enzensberger, Kenntnisse und auch Fähigkeiten im Bereich der von ihm so genannten »Bewusstseins-Industrie« zu akkumulieren. Dieses inkorporierte Kapital, Wissen und Fähigkeit im Umgang mit technischen Medien, machen ein Element seiner Rolle als Intellektueller aus. Spricht Enzensberger von den Medien, spricht er nicht als universeller Intellektueller, der inkompetente Kritik artikuliert. Es ist kompetente, weil auf Sachkenntnis bezogene Kritik, die dennoch der Einverleibung durch den Apparat entgeht.
Über die Akkumulation kulturellen Kapitals hinaus knüpfte Enzensberger, vermittelt nicht zuletzt über den Rundfunk, in den fünfziger Jahren »ein dauerhaftes Netz von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens«.81 Es entstanden enge Kontakte zu Alfred Andersch, dem Herausgeber von Texte und Zeichen und Walter Höllerer, der Sprache im technischen Zeitalter und gemeinsam mit Hans Bender Akzente herausgab. Hier veröffentlichte Enzensberger 1955 seine ersten Gedichte: lock lied, erinnerung an die schrecken der jugend und zikade. Sein lyrisches Debüt, angestoßen durch das Prestige und Konsekrationskapital Höllerers82, hob besonders fulminant an: »meine weisheit ist eine binse/ schneide dich in den finger damit«83. Im selben Jahr, also im Alter von nur 26 Jahren, erhielt er den Förderpreis der Hugo-Jacobi-Stiftung, eine Form institutionalisierten kulturellen Kapitals, das neben Abitur-, Studiums- und Promotionsgratifikation eine neue Ebene der Konsekration erzielte: die Auszeichnung einer Konsekrationsinstanz, die explizit den Anspruch erhebt, das zu gratifizieren, was Literatur ist, implizit damit also einen erheblichen Anteil am Kampf um die Definition dessen hat, was Literatur sein soll. Eine an Einfluss gewinnende Instanz war, wie bereits gezeigt wurde, die Gruppe 47. Diesmal vermittelt durch Andersch, der ab 1955 auch in seiner Zeitschrift Übersetzungen und Essays von Enzensberger veröffentlicht hatte, las Enzensberger erstmals auf der Gruppentagung in Bebenhausen im Oktober 1955.84 Hinzu kam 1956 auch noch eine Gastdozentur an der Ulmer Hochschule für Gestaltung, wo Max Bense lehrte, der wiederum mit Andersch befreundet war. So verdichteten und erhöhten sich zwischen 1955 – dem Jahr in dem Enzensberger seine Dissertation abschloss, als Rundfunkredakteur arbeitete und seine ersten lyrischen und essayistischen Texte publizierte – und 1957 – dem Jahr, in dem sein erster Gedichtband erschien – das soziale Netzwerk und das kulturelle Kapital. Schließlich gelang ihm die Publikation von verteidigung der wölfe, dem ersten Gedichtband, in dem Verlag, der, in enger Verbindung mit den Autoren der Gruppe 47, immer wichtiger für das literarische Feld der Bundesrepublik wurde: im Suhrkamp Verlag.
Vermittelt durch Peter Suhrkamp, der noch 1956, drei Jahre vor seinem Tod und der Übernahme des Verlags durch Siegfried Unseld, das Bundesverdienstkreuz und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt erhielt,85 bedeutete auch für Enzensberger die Publikation bei Suhrkamp einen entscheidenden Schritt. Mit der verteidigung der wölfe und dem seinem Band beigelegten Waschzettel, einer Art Gebrauchsanweisung für sein Buch, zeigte er bzw. sein Verlag, gegen wen sich der Kampf richtete.
»Hans Magnus Enzensberger will seine Gedichte verstanden wissen als Inschriften, Plakate, Flugblätter, in eine Mauer geritzt, auf eine Mauer geklebt, vor einer Mauer verteilt; nicht im Raum sollen sie verklingen, in den Ohren des einen, geduldigen Lesers, sondern vor den Augen vieler, und gerade der Ungeduldigen, sollen sie stehen und leben, sollen sie wirken wie das Inserat in der Zeitung, das Plakat auf der Litfaßsäule, die Schrift am Himmel. Sie sollen Mitteilungen sein, hier und jetzt, an uns alle.«86
Die Stoßrichtung ist klar: mit Brecht gegen Benn könnte man diese Form der Funktionsbestimmung von Lyrik auf eine Formel bringen. Nicht die Form, sondern der Gebrauchswert des Gedichts wird hier apostrophiert. »Aber eine neue Kunst«, so schrieb Brecht, »wird endlich ihren Gebrauchswert nennen und angeben müssen, wozu sie gebraucht werden will.«87 Schon zwei Jahre vor seinem ersten Lyrikband, 1955 in Hans Benders Anthologie Mein Gedicht ist mein Messer, kritisierte Enzensberger Benns Auffassung, der Kunstträger lebe nur mit seinem inneren Material, mit der Rettung des Inhalts vor der reinen Formkonzentration: »Ich kann, wenn ich einen Vers mache, nicht reden, ohne von etwas zu reden.«88 Die Schöpferidee abwerfend, betrachtet Enzensberger in diesem Text das Gedicht als ein für den Leser und weniger von dem Autor geschaffenes Produkt. »Gedichte«, so Enzensberger, »sind also nicht Konsumgüter, sondern Produktionsmittel, mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, Wahrheit zu produzieren.« Der junge, bisher nur wenigen bekannte Schriftsteller Enzensberger greift den arrivierten alten Dichter an. Er macht auf sich aufmerksam. In den kommenden drei Jahren gerät er zunehmend in die Wahrnehmung wichtiger Akteure des Literaturbetriebs. Und so sind es nicht nur seine eigenen Publikationen, sondern zudem die Rezensionen, die ihn popularisieren. Wer schreibt Rezensionen? Wo werden sie abgedruckt? Und wie und was wird geschrieben? In den Frankfurter Heften liest man 1958:
»Endlich, endlich ist unter uns der zornige junge Mann erschienen, der junge Mann, der seine Worte nicht auf die Waagschale legt, es sei denn auf die der poetischen Qualität. Es gibt glückliche Länder,in denen er in Rudeln auftritt, in England vor allem gibt eine ganze Equipe denkbar schlecht aufgelegter junger Herren denkbar gut abgefaßte ›declarations‹ ab. Bei uns gibt es nur einen. Immerhin: dieser eine hat geschrieben, was es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben hat: das große politische Gedicht. […] – mit diesen 18 Gedichten hat er einer Generation Sprache verliehen, die, sprachlos vor Zorn, unter uns lebt.«89
Derjenige, der hier so emphatisch auf die verteidigung der wölfe reagiert, ist Enzensbergers Mentor und Vermittler: Alfred Andersch.90 Und Joachim Kaiser, einer der bedeutendsten Literaturkritiker der Bundesrepublik, schrieb im Dezember 1957 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in der Zeitung also, die Enzensberger fünf Jahre später aufs Schärfste kritisieren sollte: »Der Autor hat die erste Schlacht gewonnen.«91
Neben dem Ausbau eines international angelegten sozialen Netzwerks, das Enzensberger durch viele Reisen und Umzüge aufzubauen verstand92, und das sich nicht zuletzt in Übersetzungen und Vermittlungen ausländischer Schriftsteller nach Deutschland objektivierte, sowie in seiner Lektorentätigkeit beim Suhrkamp Verlag 1960/61 institutionalisierte, schaffte er es, mit der Publikation dreier Lyrikbände zwischen 1957 und 196493 sowie zahlreichen Essays, die 1962 erstmals gebündelt unter dem Titel Einzelheiten erschienen, sein symbolisches Kapital immer weiter auszubauen. Einen vorläufigen Höhepunkt bildete die Ehrung mit dem bedeutendsten Literaturpreis der Bundesrepublik: Der Georg-Büchner-Preis 1963 wurde für Enzensberger zu institutionalisiertem kulturellen Kapital.
»Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung«, so die ihm gewidmete Urkunde, »verleiht am 150. Geburtstag des Dichters den Georg-Büchner-Preis 1963 an Hans Magnus Enzensberger für seine Lyrik und Essayistik und die in der einen wie der anderen mit bedeutender Kunst und Kraft verwirklichte Gesellschaftskritik.«94 In seiner Laudatio machte Hanns W. Eppelsheimer darauf aufmerksam, dass in der Produktion Enzensbergers realisiert sei, was »bei uns die Demokratie« als »eine ihrer vordringlichen, auf die Dauer lebensnotwendigen Aufgaben« nicht erkannt habe: »den Dichter in eine vertretbare Mitverantwortung am Staat hineinwachsen zu lassen«.95 Gratifiziert von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung wird also eine Literatur, die den Anspruch erhebt, gesellschaftskritisch zu sein: Der Terminus »verwirklichte Gesellschaftskritik« erscheint in der Verleihungsurkunde. Damit hat sich 1963 – zum symbolträchtigen Datum des 150. Geburtstages Georg Büchners – eine Definition von Literatur wenn nicht durchgesetzt, so doch als legitime Sicht auf Literatur im Kampf um deren Definition etabliert, die, so erscheint es vielen Zeitgenossen, von keinem so massiv vertreten wird wie von Hans Magnus Enzensberger. Andersch zog schon 1958 die Bilanz, dass Enzensberger der einzige »angry young man« in Deutschland sei. Er erhöhte diese Zuschreibung 1960 anlässlich der Publikation von landessprache noch durch den direkten Vergleich mit Heinrich Heine, dem »ersten Intellektuellen Deutschlands«96. Es gebe, so Andersch, für den Auftritt Enzensbergers »auf der Bühne des deutschen Geistes keinen anderen Vergleich als die Erinnerung an das Erscheinen von Heinrich Heine.« Das Programm sei »Dichtung aus Kritik«.97 Diese Zuschreibung politischer Intention in der Realisierung von Dichtung manifestiert Enzensberger selbst mit seiner Rede, die er am 19. Oktober 1963 anlässlich der Verleihung des Büchnerpreises hält. Identitätstheoretisch fundiert fragt er nach der inhaltlichen Bestimmung dessen, was die Wir-Identität eines Deutschen ausmache, der im Jahre 1963 spricht. »Wir«, so Enzensberger, »gehören zwei Teilen eines Ganzen an, das nicht existiert; zwei Teilen, von denen jeder leugnet, Teil zu sein, und jeder auftritt im Namen des Ganzen und als wäre er ganz.«98 Er zog in seiner 1963 gehaltenen Rede, die im selben Jahr noch als Flugblatt bei Suhrkamp erschien, die Schlussfolgerung, es gebe kein nationales Identitätsangebot mehr für die Deutschen. Von einer nationalistischen Wende kann hier freilich nicht die Rede sein,99 obgleich einige Kritiker, allen voran Hermann Kesten, Enzensberger dies zum Vorwurf gemacht haben.100 Es ist eine auf das nationale Problem Deutschlands fokussierte Rede, die Identitätsfragen in Anbetracht der gerade zwei Jahre existierenden Berliner Mauer stellt. Diese Mauer, so Enzensberger, stelle nach dem, was viele sagten, »nicht unsern Zustand, sondern den der ganzen Welt dar. Das glaube ich eigentlich nicht.«101 Skepsis gegenüber der Politik artikulierend, verlangt er in der Rede eine Politik der Anstrengung, nicht der Entspannung. Undenkbar sei die Realisierung dessen, was einzig helfen könnte: Politik. Den Anspruch nach dem Schriftsteller als »Gewissen der Nation« weist er zurück und nimmt – und das ist die Pointe – gerade eine dezidiert politische Definition des Schriftstellers vor: Er, der soeben den wichtigsten Literaturpreis der Bundesrepublik erhalten hat, bittet abschließend um die Erlaubnis, »an alle zu denken, die vor diesem Haus geblieben sind und denen es vielleicht ganz gleichgültig ist, was hier verhandelt wird, davon sie nichts wissen. In ihrem Namen setze ich meine Worte.«102 Letztlich war es eine Doppelstrategie, die Enzensberger verfolgte: Die gesellschaftspolitische Rolle des Schriftstellers ablehnend, forderte er sie gerade durch diese Ablehnung ein, sie ablehnend und dann gleichsam einfordernd, verschaffte er sich eine unüberhörbare Stimme. Mittlerweile war er in der Position, die Legitimität seiner Definition vorauszusetzen, hatte ausreichend literarisches und damit auch Konsekrationskapital akkumuliert, das er auf sich selbst anwenden konnte.
Während die konservative Presse versuchte, Enzensbergers Position und Stellungnahme zu verharmlosen, indem sie beispielsweise konstatierte, sein »Nonkonformismus stellt im Wesen nichts anderes dar als einen kitschigen Abklatsch des bürgerlichen Nihilismus vor der Jahrhundertwende«103 oder Hans Schwab-Felisch schlicht von »sublimierte[r] bayerische[r] Rauflust«104 sprach, kann man Enzensbergers Distinktionsstrategie auch, mit Marcus Joch gesprochen, weniger wertend und analytisch als »sense of ones place« bezeichnen: Sinn für die eigene Position im Feld als auch Sinn für die Position des Feldes insgesamt im sozialen Raum.105
Eine typische Distinktionsstrategie im literarischen Feld ist die, gewisse Regeln des Spiels demonstrativ zu brechen. Ein Akteur, der über ausreichend ökonomisches Kapital verfügt, kann beispielsweise Literaturpreise instrumentell zur Erhöhung symbolischen Kapitals einsetzen, indem er sie zurückweist. Folgt man der Annahme Bourdieus, dass am autonomen Pol die anti-ökonomische Ökonomie vorherrscht, die basiert auf der »obligaten Anerkennung der Werte der Uneigennützigkeit und Interesselosigkeit sowie der Verleugnung der Ökonomie«, lässt sich die Strategie der Preisverweigerung oder Preisgeldabgabe interpretieren als Waffe im Kampf um Akkumulation symbolischen Kapitals. In diesem Sinn kann man Enzensbergers Preisgeldabgaben beim Nürnberger Kulturpreis im Jahr 1967106 interpretieren oder auch noch 2002 diejenige beim Ludwig-Börne-Preises.107 Eine der spektakulärsten symbolischen Aktionen nahm Enzensberger 1968/69 vor. Die Utopie, die viele bedichteten oder über die sie berichteten, sah er sich aus der Nähe an: Cuba. Ein Stipendium der Wesleyan University, das er im Wintersemester 1967 angenommen hatte, gab er Anfang 1968 zurück. Am 31. Januar schrieb Enzensberger einen öffentlichen Brief an Edwin D. Etherington, den Direktor der Universität, der am 29. Februar in der New York Review of Books veröffentlicht wurde.108 Die Vietnampolitik der USA sei für ihn nicht hinzunehmen, und er sei zu der Einsicht gekommen, »daß die Vergünstigungen, die Sie mir hier eingeräumt haben, darauf hinausliefen, mich zu entwaffnen«109. Verknüpft mit der Entscheidung, statt eines USA-Stipendiums den Aufenthalt auf Cuba vorzuziehen,110 entledigte Enzensberger sich einmal mehr eines potenziellen Vorwurfes, Worten keine Taten folgen zu lassen. Die Aktion jedoch bloß als Strategie im Kampf um symbolisches Kapital und als Mittel zur Distinktion zu interpretieren, greift zu kurz. Zuvor ist viel geschrieben und debattiert worden über die Rolle des Intellektuellen und die Definition von Literatur. Enzensberger hat eine Zeitschrift gegründet, die mit dem Wunsch Unselds im Rücken angetreten ist, eine literarische zu sein, die aber viel mehr war als nur das. Und, last but not least, hatte die Formierung und Mobilisierung der internationalen 68er Bewegung stattgefunden. Dieses Spannungsfeld von Praxis und Diskussion gilt es zunächst zu erfassen, bevor Enzensbergers Cuba-Entscheidung hinreichend erklärt werden kann. Leitend für seine Stellungnahmen und damit auch seine Positionierung im Feld ist eine Art roter Faden, der, zu Anfang der sechziger Jahre expliziert, als Grundannahme seiner Stellungnahmen in den sechziger Jahren gelesen werden kann: die Bewusstseins-Industrie. Von Adorno kommend und dessen Grundannahmen zur Kulturindustrie teilend, lehnt Enzensberger indes den pessimistischen Impetus der bedingungslosen Manipulation ab. Vielmehr analysiert er in seinen Essays Funktionsmechanismen der Bewusstseins-Industrie, um diese für sich selbst nutzbar zu machen. Selbst als Protagonist und nicht als kleines Rad in der Bewusstseins-Industrie mitspielen zu können, bedeutet aber, über einen entsprechenden Apparat zu verfügen. Enzensberger schafft sich solch einen Apparat nicht erst 1965 mit dem Kursbuch. Seine Tätigkeiten im Hinblick auf eine Zeitschrift nehmen ihren Anfang vielmehr 1961 in einem Briefwechsel, der durch Dionys Mascolo, Lektor bei Gallimard, angestoßen wird. Mascolo ist es, der Enzensberger zu einer Teilnahme an einer internationalen Zeitschrift überredet. Doch auch dieser Brief hat eine Vorgeschichte. Dass Mascolo überhaupt seine Briefe am 23. und 24. Februar 1961 in die USA und nach Frankfurt schickt, um Schriftsteller für dieses internationale Projekt zu gewinnen, liegt begründet in den Entwicklungen, die in der französischen Geschichte an der Wende der IV. zur V. Republik stattfinden. Es geht um den Algerienkrieg und den Protest gegen ihn. Das Entscheidende ist, dass der Protest gegen den Krieg sich im Spätsommer und Herbst 1960 so rasch internationalisiert, dass auch in Deutschland im November 1960 die konservative Tagespresse zum Gegenangriff aufruft.
»Wie soll ein Staat sich erhalten, wenn ein erheblicher Teil seiner geistigen Elite mitten im Kriege die an der Front kämpfenden Soldaten auffordert, den Gehorsam zu verweigern und die Waffe fortzuwerfen, damit der Krieg – ein hoffnungsloser und unmenschlicher Krieg – ein schnelleres Ende finde? Dies Ende könnte dann natürlich nur zugunsten des Feindes ausfallen, der seine Waffe fest in der Hand behält und entschlossen ist, zu siegen oder zu sterben. Ja, was soll dieser Staat tun?«111
Diese Frage richtete Friedrich Sieburg an seine Leser am 15. November 1960 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.112 Ja, was sollte dieser Staat denn tun? Sieburg113, 1893 in einer kleinen Stadt im Sauerland geboren, hatte vor und während des Zweiten Weltkrieges in Frankreich gelebt, von Paris aus für die Frankfurter Zeitung geschrieben und war 1941 zum wichtigsten deutschen Ansprechpartner für die Collaboration geworden, nachdem er im April jenes Jahres auch in die NSDAP eingetreten war. Seine engen Verbindungen zum Nachbarland rissen auch in der jungen Bundesrepublik nicht ab, in der er 1956 Leiter des wöchentlich erscheinenden Literaturblattes der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurde. So blickte er immer wieder nach Frankreich und berichtete über die dortigen literarischen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Nicht minder stark richtete sich sein Interesse auf die junge Literatur der Bundesrepublik. So begleitete er von Anfang an die Entwicklung der Gruppe 47 mit kritischen Blicken und spitzer Feder.114 »Ja, was soll dieser Staat tun?«, fragt er also im November 1960. Der Staat, dem Sieburgs Verteidigung zukommt, ist Frankreich. Die Kritik aber, die auf der ersten Seite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu lesen ist, hat ihren Adressaten im Inland. Es ist – mal wieder – die Gruppe 47. Doch zunächst richtet sich der Blick nach Frankreich. Was war dort geschehen? Was ließ den französischen Staat in Sieburgs Augen so handeln wie er handelte?
Dass im Frankreich jener Tage Häuser durchsucht, Beamte und Akademiker entlassen, Schriftsteller und Künstler boykottiert, TV- und Radiojournalisten angeklagt und viele Kulturschaffende verurteilt wurden, mit der Begründung, dass – zunächst 121, später etwa 500 – Intellektuelle ein Manifest unterzeichnet hatten, das zum Widerstand im Algerienkrieg aufrief, erwähnt Sieburg in seinem Artikel nicht. Auch verschweigt er, dass mit Erlass vom 29. September 1960 die französische Regierung ermächtigt war, jeden Beamten provisorisch zu suspendieren, »der eine Verweigerung oder Fahnenflucht rechtfertigt oder die Soldaten zum Ungehorsam auffordert.«115 Ein Text geht um in Frankreich. Das erwähnt Sieburg. Und dieser Text, bekannt geworden unter dem Namen Manifeste des 121, flankiert im Spätsommer 1960 einen Prozess, der am 5. September in Paris eröffnet wird.
Vor Gericht stehen Mitglieder des Réseau Jeanson. Das Netzwerk hatte sich die Unterstützung der algerischen Befreiungsbewegung, der Front de Libération Nationale (FLN) zur Aufgabe gemacht, die seit 1954 gegen Frankreich im Algerienkrieg kämpfte. Die Unterstützung des Netzwerkes und vieler anderer »Kofferträger« für die FLN umfasste ein breites Spektrum; angefangen von finanzieller Hilfe über die Beschaffung von Unterkünften oder Transportmitteln bis hin zum vielleicht wichtigsten Baustein: der Publikation von Büchern und Zeitungsartikeln, in denen einer breiten Öffentlichkeit die Realität des Krieges, seine Illegitimität und die in ihm zur Anwendung kommenden Foltermethoden vor Augen geführt werden sollten. Es ging den »Kofferträgern« darum, die FLN zu unterstützen, deren Ziel die Unabhängigkeit Algeriens war. Francis Jeanson, nach dem das vor Gericht stehende Netzwerk benannt war und der als Sekretär für Jean-Paul Sartre gearbeitet hatte, befand sich allerdings nicht vor Gericht. Im Gegensatz zu seiner Lebensgefährtin, Hélène Cuénat, konnte er sich rechtzeitig in die Schweiz absetzen. Seit 1957 bereits befand er sich im Untergrund, um die FLN zu unterstützen. 1955 hatte er mitseiner Frau Colette bei Seuil das Buch L’Algérie hors la loi herausgebracht, das zu einem der wichtigsten Bücher für die algerische Befreiungsbewegung und ihre Unterstützer werden sollte116: In diesem Buch wurde der vollständige »Bankrott der Kolonialpolitik einer Pseudointegration«117 deutlich gemacht.
Bereits im Herbst 1955 hatten André Mandouze, Edgar Morin, Robert Antelme und Dionys Mascolo118 das »Comité d’action des intellectuels contre la poursuite de la guerre en Algérie« gegründet (sehr rasch stießen noch Roger Martin du Gard, François Mauriac und Jean-Paul Sartre hinzu).119 Das Gründungscommuniqué, das federführend von Mascolo verfasst wurde, lässt keinen Zweifel an der absoluten Verurteilung des Algerienkrieges durch das Comité, eines Krieges, der als ungerecht und sinnlos bezeichnet wird.120
Auf einem Kongress, den das Comité im Januar 1956 veranstaltete, hielt auch Jean-Paul Sartre einen Vortrag, in der er feststellte: »Denn es ist nicht wahr, daß es gute Kolonialherren gäbe und andere, die böse sind: es gibt Kolonialherren, das ist alles.«121 Auch Sartres Zeitung Les Temps Modernes bezog seit 1955 dezidiert Stellung gegen den Algerienkrieg. Vermittelt über Francis Jeanson »wurden Sartre und Les Temps Modernes fast täglich über den Gang der Ereignisse, über den politischen Bewußtseinsprozeß des algerischen Volkes auf dem laufenden gehalten.«122 Sartre, der sich während des Prozesses in Brasilien aufhielt, wurde über einen Brief in den Prozess gegen das Réseau Jeanson als Zeuge eingebracht. In diesem Brief orakelte er, dass die Angeklagten die Zukunft Frankreichs repräsentierten, »während die kurzlebige Macht, die sich anschickt, sie abzuurteilen, schon nichts mehr repräsentiert«.123 Sartres Unterschrift auf dem Manifest und eine Passage des im Prozess verlesenen Briefes waren von enormer symbolischer Bedeutung für das Réseau: »Wenn Jeanson mich gebeten hätte, als Kofferträger zu fungieren oder algerische Militante unterzubringen und ich das ohne Risiko für sie hätte machen können, hätte ich es ohne darüber nachzudenken getan.«124
Einen Tag nach Prozessbeginn meldete Le Monde, dass 121 Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler eine Petition über das Recht auf Ungehorsam im Algerienkrieg unterzeichnet hätten.125 Das Manifest, über das im Spätsommer 1960 die gesamte V. Republik sprach, war mit einem Schlag berühmt geworden, wenngleich die wenigsten es zum Prozessauftakt im September gelesen haben dürften. Seit Juli zirkulierte der Text des Manifests als Flugblatt mit dem Ziel, möglichst viele Schriftsteller, Professoren und Künstler zur Unterzeichnung zu bewegen.126 Bis zu seiner endgültigen Version wurden etwa 15 verschiedene Versionen geschrieben. Schließlich fand das Manifest unter dem von Maurice Blanchot gewählten Namen Déclaration sur le droit à l’insoumission dans la guerre d’Algérie seinen Weg – wenn auch nur bis zur nächsten Beschlagnahmung – in einige Zeitungen.127 Dennoch, die Meldung in Le Monde, in der auch die letzten drei Sätze des Manifests abgedruckt wurden, trug das Manifest in eine breite Öffentlichkeit. Les Temps Modernes veröffentlichten im Oktober »zwei provokatorische, freche, leere weiße Seiten« anstelle des Manifesttextes.128 Was stand in diesem Text, der solch eine immense Angst und also Zensurwelle in Frankreich auslöste? Dieser Text, der den Algerienkrieg als rassistisch-ideologisch motiviertes Verbrechen interpretiert, erklärt die Solidarität der Unterzeichner mit der algerischen Befreiungsbewegung, rechtfertigt die Desertion französischer Soldaten und universalisiert die Sache des algerischen Volkes zur Sache aller freien Menschen, nämlich die Beendigung des Kolonialsystems. Die Unterzeichner erklären in den drei auch in Le Monde abgedruckten Abschlussforderungen:
»Wir respektieren und rechtfertigen die Weigerung, die Waffen gegen das algerische Volk zu erheben. Wir respektieren und rechtfertigen das Verhalten der Franzosen, die es als ihre Pflicht betrachten, den unterdrückten Algeriern im Namen des französischen Volkes Hilfe und Schutz zukommen zu lassen. Die Sache des algerischen Volkes, die entschieden dazu beiträgt, das koloniale System zu zerstören, ist die Sache aller freien Menschen.«129
Die Debatten, die das Manifest in Frankreich anstieß, betrafen natürlich nicht nur die Franzosen. Die Problematisierung des kolonialen Systems, die Beschneidungen von Meinungs- und Pressefreiheit sowie die Gängelung der sich einmischenden Intellektuellen waren Themen universeller Sprengkraft. So blieb es freilich auch nicht aus, dass deutsche Schriftsteller die französische Situation thematisierten. Dabei blieb es nicht. In gleich zwei Texten deutscher Sprache erklärten Schweizer, österreichische und westdeutsche Schriftsteller ihre Solidarität mit den französischen Intellektuellen. Auch und vor allem gegen diese Solidarisierung richtete sich der Angriff Friedrich Sieburgs von Mitte November. Seine Stellungnahme erschöpfte sich nicht in der Frage, was ein Staat wie Frankreich in solch einer Situation tun solle, er ging mit innenpolitischer Brisanz über die französische Situation hinaus:
»Dürfen wir, dürfen die deutschen oder englischen oder patagonischen Intellektuellen sich da einmischen und diesen schrecklichen Konflikt zu ihrer Sache machen? Dürfen wir, mit deutlichen Worten, ebenfalls zur Unterzeichnung eines Aufrufes auffordern, der der besagten französischen Gruppe recht gibt?«130
Was war geschehen? Inwiefern hatten sich deutsche Intellektuelle eingemischt? In welcher Form und mit welchem Argument? Nachdem die Strafen – teilweise bis zu zehn Jahre Haft – im Prozess gegen das Réseau gesprochen waren, schrieb Wolfgang Hildesheimer an Hans Werner Richter, er halte es »für unbedingt nötig«, »dass die ›deutschen Intellektuellen!‹ gegen die Urteile im Jeanson-prozess protestieren.«131 Richter war einverstanden und antwortete, er zweifle zwar am Erfolg dieses Protestes, er sei aber notwendig, »da die Gefahr besteht, daß sich der Kampf gegen die ›Intellektuellen‹ auf ganz Europa ausdehnen wird«.132 Richter schlug vor, Hildesheimer solle einen Entwurf vorbereiten, den Enzensberger im Anschluss überarbeiten und fertigstellen sollte. Besonders wichtig waren Richter hierbei die Unterschriften von Alfred Andersch und Max Frisch. Diese bereiteten zu der Zeit jedoch schon etwas Eigenes vor gegen die Intellektuellenverfolgung im Nachbarland.
Andersch und Frisch entwarfen eine eigene Petition.133 Enzensberger, der an der Überarbeitung des Hildesheimerschen Entwurfs arbeitete, sah in dem Protest aus der Schweiz kein Problem und erst recht keine Konkurrenz. Er begrüße die Co-Existenz der Petitionen ausdrücklich, nicht zuletzt, da die von Richter angestoßene auch einen Schwerpunkt auf die deutsche Innenpolitik legte,134 während die Schweizer Resolution eher globalen Charakter hatte. So sah auch Enzensberger den Hauptunterschied und schrieb diesbezüglich Ende Oktober an Andersch, dass sein und Frischs offener Brief an Malraux »den unterzeichnern des französischen manifestes jedenfalls mehr nützen« werde »als die von richter und mir ausgearbeitete erklärung, die eher im hinblick auf innerpolitische dinge abgefaßt ist.«135 Ein weiterer Unterschied bestand in der Schärfe des Tons, denn der Offene Brief von Frisch und Andersch an Malraux war eher moderat formuliert im Gegensatz zu Enzensbergers Offensive.136
Der Richter/Enzensberger-Text137 erklärte die Solidarität der Unterzeichner mit dem Manifeste des 121. »Wir erheben Einspruch gegen die Maßnahmen der französischen wie jeder anderen Regierung, die darauf abzielen, die freie Meinungsäußerung zu unterbinden.« Begründet wird diese Solidarisierung mit der »Pflicht, mit derselben Rückhaltlosigkeit wie unsere französischen Kollegen politisch Stellung zu nehmen, wann immer es uns nötig scheint. Wir werden kein Gesetz anerkennen, das uns dieses Recht abspricht.«
Der Andersch/Frisch-Text138, formuliert als offener Brief, richtete sich an eine bestimmte Person: und zwar an André Malraux, der seine literarischen längst zugunsten seiner politischen Ambitionen zurückgestellt hatte und seit 1959 Kultusminister unter Charles de Gaulle war. Im Brief wird deutlich gemacht, dass er keine Beurteilung des Manifests enthalte. Die Kritik richte sich gegen die Verfolgung derjenigen, die das Manifest unterzeichnet haben. »Wir müssen gestehen, daß es uns überrascht hat, zu sehen, daß in Frankreich Menschen verfolgt werden, weil sie eine Meinung geäußert haben […], in Frankreich, einem Land, von dem wir gewohnt sind, es als Vormacht der Geistesfreiheit zu betrachten«.139 Frankreich wird in diesem Brief als Argument gegen die staatlichen Repressionen stark gemacht. Es wird argumentiert, dass Frankreich das Land sei, das das »Maß der Freiheit«, zumindest in Europa, vorgebe. Die Freiheit aber, gegen die der französische Staat verstoße, gelte es zu beschützen. Darum zu bitten und die Solidarität mit den französischen Unterzeichnern zum Ausdruck zu bringen, ist das Anliegen der Unterzeichner dieses Textes. Der Text von Richter und Enzensberger wird von 38 weiteren Personen unterschrieben. Frisch und Andersch haben 46 Personen angeschrieben, 26 davon haben den Brief unterschrieben.140
Die Absagen wurden unterschiedlich begründet. »Es macht einen Unterschied«, begründete etwa Dolf Sternberger seine Absage, »ob eine Regierung ihre Beamten suspendiert, wenn sie sich an einer solchen Aktion beteiligt haben, oder ob sie freie Schriftsteller von den Programmen der Theater und Rundfunkanstalten ausschließt, die ihrer Aufsicht unterstehen.«141 Karl Jaspers hingegen schreckte, so zumindest sein Argument, vor der kollektiven Dimension des Protestes zurück. Der Grund für seine Absage, so schrieb er, ist,
»dass nach meiner Erfahrung, die bis 1916 zurückreicht, als ich noch zum Mitunterschreiben enthusiastisch bereit war, solche Erklärungen faktisch keine Wirkung haben. Dazu kommt, dass ›Intellektuelle‹, die ihrerseits corporativ auftreten, vielleicht immer einen etwas wunderlichen Ausblick bieten. Wenn überhaupt, vermute ich in der öffentlichen Kundgabe Einzelner die grössere Kraft.«142
Rudolf Pechel bezweifelte – wie Jaspers – die Wirkung der Petition und kritisierte zudem, dass Malraux nicht der richtige Ansprechpartner sei. Wenn schon, dann müsste man sich an De Gaulle wenden.143