Erben der Macht - Dämonenerbe 3 - Mara Laue - E-Book

Erben der Macht - Dämonenerbe 3 E-Book

Mara Laue

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Beschreibung

Die Wintersonnenwende steht bevor, an der Devlin und Bronwyn mit ihrer rituellen Bluthochzeit das Eine Tor öffnen sollen, das allen Dämonen ungehinderten Zutritt zur Menschenwelt verschafft. Zwar hat die Vajramani- Prophezeiung ihnen einen Weg gezeigt, das zu ver- hindern, aber der Schlüssel dazu liegt 3000 Jahre in der Vergangenheit. Um ihn zu finden, müssen beide nicht nur eine lebensgefährliche Zeitreise unternehmen. Sie müssen auch ihre Feinde davon überzeugen, dass sie auf deren Seite stehen. Diese haben sich jedoch verbündet und blasen zur finalen Jagd auf die beiden Halbdämonen – die einzigen, die das 'Eine Tor' für alle Zeiten versiegeln können. Doch der Preis dafür ist hoch. Werden Bronwyn und Devlin bereit sein, ihn zum Wohle der Menschen zu bezahlen oder sich für die Macht entscheiden, deren Erben sie sind, und die Herrschaft über Dämonen und Menschen antreten? "ÜBERARBEITETE NEUAUFLAGE" Erben der Macht ist der dritte Band der Dark-Romance-Trilogie Dämonenerbe. Ebenfalls erschienen: Band 1 – Erweckung Band 2 – Prophezeiung

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Seitenzahl: 475

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Dämonenerbe 3

Erben der Macht

Mara Laue

Impressum

Erben der Macht

Dämonenerbe 3

Mara Laue

© 2018 vss-verlag, 60389 Frankfurt

Covergestaltung: Sabrina Gleichmann

Korrektorat: Hermann Schladt

www.vss-verlag.de

Kapitel 1

New Orleans, 15. November 2012

Die Knochen klapperten leise wie ein hölzernes Windspiel, als Gus Bellamy sie auf das dunkle Tuch warf, das er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Er wartete eine Weile, nachdem sie gefallen waren, ehe er sich über sie beugte und ihre Lage studierte. Sie sagten ihm nichts Neues. Die dunklen Kräfte hatten in den letzten Jahren an Macht gewonnen. Das überraschte ihn nicht. Die Wintersonnenwende rückte näher, an der wieder einmal entschieden wurde, ob die Menschheit langfristig eine Zukunft hatte, oder ob sie von den Dämonen zerstört werden würde.

Gus beobachtete die Entwicklung bereits seit einem Jahr, indem er täglich das Knochenorakel befragte. Er gehörte zu den wenigen Wissenden weltweit, die die wahren Zusammenhänge kannten; der nicht nur darüber Bescheid wusste, dass das Eine Tor zur Wintersonnenwende geöffnet werden konnte, durch das fast jeder Dämon der Hölle in diese Welt gelangen könnte. Er wusste auch darüber Bescheid, dass in diesem Jahr die Große Entscheidung gefallen war, bei der die Mächte des Lichts und der Finsternis durch auserwählte Champions ausfochten, wer von ihnen für die nächsten ungefähr tausend Jahre in der Menschenwelt die Vorherrschaft bekommen würde.

Beide Ereignisse hingen zwar nicht direkt zusammen, aber sie beeinflussten einander. Diejenige Macht, die durch die Große Entscheidung gestärkt wurde, erhielt dadurch in dieser Welt bessere Möglichkeiten zu erreichen, dass das Eine Tor geöffnet werden konnte oder nicht. Wenn die Finsternis an Macht gewann, gab ihr das unter anderem auch die Möglichkeit, Menschen zu korrumpieren, die durchschnittlich oder sogar überdurchschnittlich „gut“ waren. Dafür waren magische Strömungen verantwortlich, die die Sphären durchdrangen. Die meisten Menschen bemerkten von diesen Strömungen nichts. Nichtsdestotrotz existierten sie und taten ihr subtiles Werk.

Die Große Entscheidung war vor zwei Tagen gefallen, in dem Moment, als es auf der Erde eine totale Sonnenfinsternis gegeben hatte. Soweit verrieten die Knochen Gus Altbekanntes; bis auf ein Detail, das zwar klein, aber ungeheuer wichtig war und etwas Außergewöhnliches darstellte. Wenn er sich nicht absolut sicher gewesen wäre, dass er ihren Offenbarungen vollkommen vertrauen konnte, hätte er das, was sie verkündeten, für unmöglich gehalten. Doch er hatte das Ergebnis etliche Male überprüft und immer wieder dieselbe Antwort erhalten. Also musste wahr sein, dass weder Licht noch Finsternis gesiegt hatte, sondern beide gemeinsam; oder der Kampf war unentschieden ausgegangen. Was auch immer. Jedenfalls hätte es das eigentlich nicht geben können, weil die Regeln des Kampfes am Ende ein Opfer forderten: das Leben des Verlierers. Gus konnte sich nicht vorstellen, dass beide Champions ihr Leben geopfert hatten. Aber diese Details würden Menschen sowieso niemals erfahren.

Die Loas hatten Gus bestätigt, dass die Entscheidung zugunsten beider Mächte gleichermaßen gefallen war. Das bedeutete, dass Licht und Finsternis sich in absehbarer Zeit in einem Gleichgewicht einpendeln würden, was ihren Einfluss auf die Menschen und ihre Welt betraf. Das wiederum bedeutete, dass seit vorgestern der Einfluss der Mächte des Lichts gestärkt wurde, da die Finsternis in der letzten großen Entscheidung vor tausend Jahren den Sieg für sich hatte verbuchen können. Und wenn das Licht gestärkt wurde, würde das Eine Tor durch diesen Einfluss vielleicht auch diesmal verschlossen bleiben, weil nicht nur die Diener des Lichts darauf hinarbeiteten, sondern auch solche Menschen und andere Wesen sich dazu berufen fühlten, die diesen Dingen eher gleichgültig gegenüber gestanden hatte. Sofern sie überhaupt davon wussten.

Aber es gab noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Faktor. Die Loas munkelten, dass die Unterwelt seit vorgestern eine Königin hatte, die den Thron an Luzifers Seite beanspruchen konnte. Angeblich war sie keine reinblütige Dämonin und besaß Macht über Leben und Tod in einer Weise, die normalerweise den Göttern vorbehalten war. Ob das gut oder schlecht für die Menschheit war, blieb abzuwarten.

Gus hatte schon vor sehr langer Zeit gelernt, dass nichts und niemand nur „schwarz“ oder „weiß“ war. Selbst in einem guten Menschen steckte etwas Böses und selbst im schlimmsten Geschöpf steckte etwas Gutes; und sei es nur insofern, dass eine beabsichtigte böse Tat ungewollt etwas Gutes bewirkte. Oder umgekehrt. Schließlich war schon, wie ein Sprichwort besagte, so mancher Weg ins Verderben mit guten Absichten gepflastert, die dann das Gegenteil bewirkt hatten.

Er betrachtete wieder die Knochen. Für die bevorstehende Wintersonnenwende in sechsunddreißig Tagen sagten sie ihm nichts, was ihm oder anderen hätte helfen können. Genau genommen teilte ihm das Orakel nur mit, dass noch alles offen war.

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als das Glockenspiel an der Eingangstür einen Kunden ankündigte. Er fegte die Knochen mit einer Hand zusammen und legte sie in ihren Beutel, ehe er durch den Perlenvorhang vor dem Hinterzimmer den Laden betrat.

Die Afroamerikanerin, die vor dem Tresen stand und die Auslagen betrachtet hatte, lächelte, als sie ihn sah.

„Hallo Gus. Immer wenn ich dich besuche, bist du wieder mal jünger geworden.“ Sie streckte ihm die Hände entgegen. „Wie machst du das nur?“

Er zog sie an sich und umarmte sie herzlich. „Das Kompliment sollte ich eher dir machen, Sheeba. Du bist wie immer wunderschön.“

Sheeba Salazar war Mitte fünfzig, aber das sah man ihr tatsächlich nicht an. Ihr schwarzes Haar zeigte keine einzige graue Strähne – und Gus wusste, dass sie es nicht färbte – und ihr Gesicht wirkte wie das einer um zwanzig Jahre jüngeren Frau. Gus sah man sein dagegen an, dass er über achtzig war. Das teilte ihm sein Spiegel jeden Morgen erbarmungslos mit. Was ihn aber nicht störte, denn das Alter gehörte nun mal zum Leben.

„Es ist schön, dass du mich besuchst, Sheeba. Ich habe frischen Kaffee aufgesetzt. Du trinkst doch eine Tasse mit mir? Und nebenbei kannst du mir erzählen, was dich aus dem fernen New York nach New Orleans führt.“ Er sah sie nachdenklich an. „Es ist diese besondere Wintersonnenwende, nicht wahr?“

Sie lächelte und folgte ihm ins Hinterzimmer. „Warum fragst du noch, wenn du es schon weißt?“

Er bot ihr mit einer Handbewegung Platz in einem alten Ohrensessel an.

Sie setzte sich und deutete auf den Beutel mit den Orakelknochen. „Was sagen die Knochen?“

Er lächelte und stellte einen Kaffeebecher vor sie hin. „Wer fragt jetzt nach etwas, das sie selbst schon weiß?“ Er holte den Kaffee und schenkte ein. „Immer noch schwarz?“, vergewisserte er sich.

Sie nickte und zwinkerte ihm zu. „Falls die Qualität deines Kaffees seit meinem letzten Besuch nicht schlechter geworden ist und ich ihn mit Milch und Zucker verschandeln muss, damit er genießbar wird.“

Gus lachte. „Nein, Kaffeekochen habe ich nicht verlernt.“ Er nahm ihr gegenüber Platz, nahm seinen Becher in die Hand und blickte Sheeba über dem daraus aufsteigenden Dampf an. „Ich habe dich erwartet.“

Sie war nicht überrascht. „Dann weißt du, weshalb ich gekommen bin. Abgesehen davon, dass es mit der Sonnenwende zu tun hat.“

Er schüttelte den Kopf. „Das haben mir die Loas nicht verraten. Aber genießen wir erst mal den Kaffee. Erzähle: Was gibt es Neues in New York? Das Geschäft brummt, nehme ich an.“

Sheeba betrieb ebenso wie Gus einen Devotionalienladen, Sheeba für Pagans und Esoterikfans, Gus für Voodooisants. Hin und wieder gab es Überschneidungen in den Bedürfnissen ihrer jeweiligen Kunden, weshalb sie sich gegenseitig mit entsprechenden Waren aushalfen. Darüber hinaus respektierten sie einander als Praktizierende der Magie, Gus als Houngan – Hohepriester – des Voodoo, Sheeba als Hexe des Wiccakultes, obwohl ihre Vorfahren aus der Karibik stammten.

„Ja, die Geschäfte gehen gut“, bestätigte sie. „Ich kann nicht klagen. Profane Neuigkeiten gibt es keine. Zumindest keine, die wichtig wären.“ Sie trank einen Schluck Kaffee und seufzte lächelnd. „Gut wie immer. Ich sollte öfter zum Kaffee vorbeikommen.“ Sie wurde ernst. „Ich weiß nicht, was die Loas dir alles erzählt haben, vielmehr was du sie konkret gefragt hast. Deshalb sage ich dir am besten, wie die Dinge bei uns stehen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es sieht nicht gut aus. Die Hüter der Waage haben die beiden Halbdämonen gefunden, die das Tor öffnen können.“

„Oder es versiegeln.“

Sie nickte. „Aber danach sieht es nicht aus. Als die Hüter die Frau in Gewahrsam nehmen konnten ...“

„Wie heißt sie?“, wollte Gus wissen. „Oder fürchtest du sie so sehr, dass du sie nicht beim Namen nennen willst?“

„Ich fürchte sie nicht.“ Das klang empört.

„Dann sprichst du ihren Namen nicht aus, weil ihr sie töten wollt“, brachte Gus es auf den Punkt. „Aber auch seinem Feind schuldet man Respekt. Und ich bin mir noch nicht sicher, ob diese beiden wirklich Feinde sind.“

Sheeba verbarg ihre Verlegenheit, indem sie einen weiteren Schluck trank. „Bronwyn. Sie heißt Bronwyn Kelley. Und der Mann heißt Devlin Blake. Und ja, wir werden einen von ihnen töten müssen. Idealerweise die ... Bronwyn Kelley, denn sie ist die Letzte der Ke’tarr’ha-Dynastie. Wenn sie stirbt, ist die Blutlinie damit erloschen und das Tor kann nie wieder geöffnet werden.“

Gus nickte bedächtig. Das ergab Sinn. Wenn die Überlieferungen stimmten – wovon er ausging, weil die Loas sie ihm bestätigt hatten, die über diese Dinge schließlich besser Bescheid wussten als selbst der hochrangigste Voodoopriester –, dann war für das Öffnen des Tores das Blut zweier Halbdämonen erforderlich, die direkt von den beiden Herrschern der Dynastien abstammten, mit deren Blut es vor 3330 Jahren geöffnet worden war. Inzwischen waren sämtliche Ke’tarr’ha-Dämonen tot, ebenso jeder Mensch, der auch nur einen Tropfen Ke’tarr’ha-Blut in sich gehabt hatte – bis auf Bronwyn Kelley, die rechtmäßige Königin ihrer Dynastie. Wenn sie starb, ohne einen Nachkommen zu hinterlassen, der das Blut weitergab, wäre die Gefahr für alle Ewigkeit gebannt und das Eine Tor konnte nie mehr geöffnet werden.

Die Hüter der Waage, ein Geheimbund, zu dem Sheeba zwar nicht gehörte, mit dem sie aber sympathisierte, hatten es sich schon vor drei Jahrtausenden zur Aufgabe gemacht zu verhindern, dass das Tor jemals wieder geöffnet wurde. Meistens hatten sie das getan, indem sie einen der beiden Halbdämonen schon als Kind entführt, versteckt und so dafür gesorgt hatten, dass die beiden Auserwählten einander niemals begegneten und sich deshalb auch nicht in „Körper, Geist, Seele und Blut“ vereinigen konnten, wie es für das Ritual zum Öffnen des Tores erforderlich war.

Hatten sie einen oder beide aber erst gefunden, nachdem sie einander schon begegnet waren, hatten sie einen von ihnen getötet. Denn sobald sie miteinander zum ersten Mal eine körperliche Vereinigung vollzogen, entstand dadurch ein Band, das es ihnen ermöglichte, einander überall auf der Welt zu finden. Selbst dann, wenn man einen von ihnen ständig magisch gegen den anderen abschirmte.

„Die Hüter hatten Bronwyn Kelley schon in Gewahrsam“, fuhr Sheeba fort. „Zunächst schien es, als hätten sie sie noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht. Sie behauptete jedenfalls, Devlin Blake noch nicht begegnet zu sein. Aber das entpuppte als Lüge. Die beiden waren längst ein Paar, und er hat sie aus der Enklave der Hüter zurückgeholt.“

„Hm.“ Gus grunzte und schlürfte von seinem Kaffee.

Sheeba nickte. „Du sagst es. Da die Hüter bei dieser Gelegenheit auf die beiden geschossen und mindestens einen verletzt haben, hatte das zur Folge, dass die Dämonen einen Rachfeldzug gegen die Enklaven gestartet haben. Keine Ahnung, wie sie das angestellt haben, aber sie haben drei Enklaven gefunden und zerstört. Die Hüter haben die restlichen Zufluchtsstätten evakuiert. Seitdem gab es keine weiteren Angriffe auf Enklaven oder einzelne Hüter mehr; zumindest haben wir von keinem gehört. Dafür ist ein anderes Problem aufgetaucht.“

Gus konnte sich nicht vorstellen, dass ein Problem noch schlimmer sein könnte als eine Horde wütender Dämonen, die auf Rache aus waren und jeden Hüter der Waage vierteilen oder Schlimmeres mit ihm tun wollten.

„Eine Sondereinheit des FBI ist nicht nur auf die Hüter aufmerksam geworden. Sie haben das Kloster des Ordens der Heiligen Flamme Gottes gestürmt und alle Mönche verhaftet.“

„Ah.“ Das war, wie Gus fand, eine gute Nachricht.

Der Orden der Heiligen Flamme Gottes hatte sich vor ungefähr tausend Jahren von den nichtchristlich orientierten Hütern der Waage abgespalten. Nachdem etliche Mitglieder der Hüter sich intensiv dem Christentum zugewandt hatten, war es hinsichtlich der Ziele des Geheimbundes zu einem heftigen Disput gekommen. Die Hüter, von denen etliche selbst über magische Kräfte verfügten, hatten magisch begabte Kinder in ihre Obhut genommen, um sie davor zu bewahren, von Christen ermordet zu werden, die die Bibelstelle dass man „Hexen“ nicht am Leben lassen sollte, allzu wörtlich nahmen. Die Hüter hatten die Kinder im Gebrauch ihrer Magie unterwiesen und ihnen beigebracht, unauffällig zu leben, ohne ihre Gaben jemals preiszugeben.

Die sich zum Christentum bekennende Gegenfraktion hatte diese Menschen gemäß dem Auftrag der Bibel ausnahmslos töten wollen. In der Chronik der Hüter, die Gus aus Berichten seines längst verstorbenen Freundes Ambalo Moses kannte, der Mitglied der Hüter gewesen war, hatten die Abtrünnigen damals sogar ihre bisherigen Kameraden ermordet versucht, sofern diese magisch begabt waren. Seitdem gingen die Hüter der Waage und die Mönche der Heiligen Flamme Gottes getrennte Wege. Und das war gut so.

„Sie haben wohl nicht alle Mönche erwischt“, schränkte Sheeba ein. „Nach meinen Informationen sind zwölf von ihnen entkommen.“ Sie sah Gus ernst in die Augen. „Diese zwölf haben sich mit den Hütern verbündet, um die beiden Halbdämonen zur Strecke zu bringen.“

Gus stieß einen überraschten Laut aus und lehnte sich im Sessel zurück. Das war eine unerwartete und höchst ungute Entwicklung. Er schüttelte den Kopf. „Sind die Hüter wahnsinnig? Sie haben dadurch einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Falls sie und auch nur ein einziger von den Mönchen dieses Unterfangen überleben sollte, wird der nicht zögern, jeden Hüter umzubringen, den er erwischen kann.“ Er schüttelte erneut den Kopf. „Die Mönche haben geschworen, keinen einzigen magisch begabten Menschen, kein Anderswesen und erst recht keinen Dämon am Leben zu lassen, sondern alle zu töten, die sie aufspüren können. Sobald sie ihr Ziel erreicht und das Öffnen des Tores verhindert haben, werden sie die Hüter jagen.“

Sheeba seufzte. „Ich glaube, das ist den Hütern bewusst. Aber sie sind verzweifelt. Nachdem das FBI hinter ihnen her ist, wissen sie nicht mal, ob es noch genug von ihnen geben wird, um den Plan durchzuziehen. Das FBI hat eine Methode gefunden, die Hüter aufzuspüren. Sie kassieren sie der Reihe nach ein. Selbst die, die sich in einem geheimen Versteck in Sicherheit gebracht haben. Da sie alle Amulette tragen, die verhindern, dass man sie magisch aufspüren kann, muss das FBI sie irgendwie ganz profan finden können. Das macht die Vorbereitungen für den Plan ja so unendlich schwierig.“

„Welchen Plan?“

„Die beiden Halbdämonen sind nicht mehr auffindbar. Das bedeutet, dass sie sich in einem ihrer magisch geschützten Verstecke aufhalten. Vermutlich in der Residenz von Devlin Blakes Py’ashk’hu-Dämonen, da Bronwyn Kelley als letzte Ke’tarr’ha wohl kaum allein mit ihm in ihrer Residenz hocken wird.“ Sie winkte ab. „Das ist egal. Die Hüter wollen mit allen Mitgliedern, die bis dahin noch nicht vom FBI einkassiert wurden, und mit den restlichen Mönchen den Ort angreifen, an dem die beiden das Ritual zum Öffnen des Tores durchführen werden, und zwar unmittelbar vor dem Ritual, weil die Dämonen und ihre Helfershelfer dann abgelenkt sein werden. Wahrscheinlich werden sie dabei alle ihr Leben verlieren, aber mit größter Wahrscheinlichkeit wird es ihnen gelingen, einen der beiden Halbdämonen zu töten. Dann hätte es sich gelohnt.“

Gus warf den Kopf zurück und lachte. „Das ist kein Plan, das ist der schiere Wahnsinn der Verzweiflung.“ Er schüttelte immer noch lachend den Kopf. „Mal ganz abgesehen davon, dass kein Mensch weiß, wo sich dieser Ort befindet, kann nach allem, was mir über diese Dinge bekannt ist, sowieso kein Mensch ihn betreten, weil er eben dagegen magisch geschützt ist. Oder er kann nur auf eine Weise betreten werden, zu der nur Dämonen fähig sind.“ Er kicherte und trank von seinem Kaffee, um sich wieder zu beruhigen.

Sheeba nickte. „Deshalb bin ich gekommen, Gus. Ich habe in einem alten Grimoire ein Voodooritual gefunden, mit dem man einen Dämon unter seinen Willen zwingen kann. Der Plan der Hüter sieht vor, einen der Py’ashk’hu-Dämonen anzulocken, gefügig zu machen und ihn dadurch zu zwingen, nicht nur diesen Ort preiszugeben, sondern die Streitmacht der Hüter und die Mönche dorthin zu bringen.“

„Hm.“ Gus nickte langsam. „Das könnte funktionieren – wenn es denn erstens gelänge, unter den Dämonen, die sich in dieser Welt aufhalten, ausgerechnet einen Py’ashk’hu zu finden und zweitens etwas von ihm in die Hand zu bekommen, mit dem nur dieser Eine gerufen und gebannt werden kann. Drittens gibt es bei diesem ‚Plan’ so viele unabwägbare Variablen, dass er schon allein deshalb zum Scheitern verurteilt ist.“

Sheeba seufzte und nickte. „Das ist leider sehr wahrscheinlich. Aber wenn wir nichts unternehmen, wird das Eine Tor in sechsunddreißig Tagen geöffnet werden. Und wer weiß, wie viele Dämonen auf der anderen Seite nur darauf warten, in diese Welt zu gelangen. Ich muss dir nicht sagen, was mit der Welt und vor allem mit uns Menschen passiert, wenn das geschieht.“

„Musst du nicht.“

Sie nahm einen großen Schluck Kaffee. „In Anbetracht dessen greifen wir alle nach jedem Strohhalm und gehen auf jede Kamikazemission, die auch nur den Hauch einer Chance in sich birgt, dass das Tor auch diesmal geschlossen bleibt.“

Gus nickte. „Wohl wahr. Und was willst du, vielmehr wollen die Hüter von mir?“

Er merkte Sheeba ihre Erleichterung an, dass er bereit war, sie und die Hüter zu unterstützen, denn sie atmete auf und blickte ihn dankbar an.

„Das Ritual erfordert einen aktiven und geweihten Poteau-mitan, durch den der Dämon in den Bannkreis gezogen wird.“

Gus schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall wird ein Houmfo des Voodoo dazu benutzt werden, um einen Dämonen zu bannen. Niemals! Der Houmfo würde dadurch entweiht. Das weißt du.“

Der Poteau-mitan bildete die Mittelsäule jedes Houmfo – des Voodootempels – und trug dessen Dach. Die Säule diente den während der Zeremonien beschworenen Geistern und Loas, den Gottheiten, den Houmfo zu betreten. Allein der Gedanke, durch die heilige Säule einen Dämon in einen geweihten Tempel zu holen, grenzte an Blasphemie.

Sheeba stellte ihren leeren Becher auf den Tisch. „Natürlich weiß ich das, Gus. Und niemand ist auf den Gedanken gekommen, dass dieses Ritual in einem Houmfo stattfinden soll. Ich bin gekommen, dich zu bitten, ob du einen Poteau-mitan zu diesem Zweck in einem Raum weihen würdest, der keinen Tempel darstellt.“

Gus schüttelte den Kopf und schenkte ihr Kaffee nach. „Sheeba, ich sehe dir dieses Ansinnen nur nach, weil du keine Voodooisantebist. Ein Raum, in dem ein Poteau-mitan geweiht wird, der wird durch diese Handlung zum Tempel. Den die Hüter durch die Beschwörung eines Dämons zu schänden gedenken.“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Nein.“

Sheeba blickte ihn flehentlich an. „Bitte, Gus. Wir waren uns doch darüber einig, dass diese verzweifelte Situation jede noch so verzweifelte Maßnahme erfordert, um die Katastrophe noch aufhalten zu können. Was wiegt deiner Meinung nach schwerer: ein entweihter Tempel, der nie für eine heilige Zeremonie benutzt wurde, oder die Vernichtung der Menschheit?“

Gus seufzte. Das war ein Argument, dem er sich nicht verschließen konnte. Er trank seinen Kaffee aus, stellte den Becher zur Seite und nahm den Beutel mit den Orakelknochen. Schüttelte ihn und warf die Knochen auf das Tuch auf dem Tisch. Sheeba beugte sich ebenso gespannt vor wie er. Da Knochen als Orakel aber nicht ihr Metier waren, konnte sie nicht erkennen, was sie ihm offenbarten. Er studierte ihre Botschaft eingehend.

Schließlich nickte er Sheeba zu. „Befrage dein eigenes Orakel, ob es wirklich notwendig ist, Bronwyn Kelley oder Devlin Blake zu töten, um das Öffnen des Tores zu verhindern.“

Sie zögerte, zog aber ein Päckchen Tarotkarten aus ihrer Tasche, mischte sie und legte sieben Karten auf dem Tuch aus, nachdem Gus die Knochen eingesammelt hatte. Sie betrachtete die Karten und runzelte die Stirn.

„Nun, was sagen sie dir?“ Gus blickte sie auffordernd an.

Sie schüttelte den Kopf, schob die Karten zusammen, mischte sie erneut und deckte wieder sieben Karten auf. Es waren dieselben wie vorher: die Liebenden, der Turm, der Gehenkte, der Teufel, der Magier, die Mäßigkeit und die Sonne.

„Die Liebenden, das sind zweifellos Bronwyn Kelley und Devlin Blake. Der Turm sagt, dass etwas zerstört werden wird. Der Gehenkte bedeutet eine Prüfung. Der Teufel steht für starke, auch zerstörerische Kräfte, die, wenn sie in die richtigen Bahnen gelenkt werden, zum Erfolg führen. Der Magier steht für die Kraft des Geistes und natürlich der Magie. Die Mäßigkeit symbolisiert Gleichgewicht. Aber die Sonne ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Licht und positiver Erfolg. Das verstehe ich nicht.“ Sie blickte Gus an.

„Weil du nicht verstehen willst, Sheeba. Du hörst nicht auf das, was das Orakel dir sagt, sondern siehst nur das, was du glaubst, dass es dir sagen müsste. Stelle dir vor, dass du die Frage nicht kennst, auf das die Karten dir antworten. Dass du sie für jemand anderen deutest. Was sagen sie dir dann?“

Sheeba studierte die Karten erneut. „Die Liebenden stehen vor einer schweren Prüfung, deren Ziel die Zerstörung ist. Diese werden sie mithilfe magischer Kräfte erreichen, wobei aber etwas anderes ebenfalls zerstört wird. Der Turm ist das Eine Tor. Was der Teufel zerstört ...“ Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. „Das sagen mir die Karten nicht. Aber das Ergebnis wird ein Gleichgewicht sein. Und die Sonne bedeutet, dass sich alles zum Guten wenden wird.“ Sie schüttelte wieder den Kopf. „Aber ...“

Sie sammelte die Karten ein, mischte sie und legte sie ein drittes Mal aus. Das Ergebnis blieb dasselbe. Sie blickte Gus an.

Er nickte. „Welche Frage hast du dem Orakel gestellt?“

„Ob es notwendig ist, die beiden Auserwählten oder einen von ihnen zu töten.“

Gus machte eine ausholende Handbewegung über die Karten hinweg. „Ich sehe den Tod nirgends. Die Knochen haben mir in etwa das gleiche gesagt wie dir die Karten. Diese beiden – Bronwyn Kelley und Devlin Blake – sind nicht die Feinde, die ihr töten müsst. Das“, er pochte auf die Mäßigung und die Sonnenkarte, „ist das Ergebnis, wenn ihr sie leben lasst.“ Er beugte sich vor und sah Sheeba eindringlich in die Augen. „Verstehst du nicht?“

Sheeba schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich.“

Er seufzte. Sheeba konnte manchmal verdammt stur sein und tat dann so, als wäre sie außerdem noch dumm. Wie jetzt. „Sheeba, diese beiden sind nur zur Hälfte Dämonen. Die andere Hälfte ist menschlich. Die Prüfung, der sie sich unterziehen müssen, vielmehr die damit einhergehende Entscheidung, die sie treffen werden, kann durchaus eine Entscheidung für die Menschen sein. Du hast selbst gesagt, dass die Turmkarte das Eine Tor symbolisiert. Und der Turm wird zerstört.“ Er beugte sich vor. „Den Hütern der Waage sollte besser bekannt sein als uns beiden, dass die Auserwählten nicht nur die Macht haben, das Tor zu öffnen, sondern dass sie die Einzigen sind, die es für alle Zeiten versiegeln können. Wenn ihr sie tötet, wird es zwar für dieses Mal geschlossen bleiben, aber die Gefahr bleibt bestehen. Und eines Tages wird es den Hütern und den Mönchen nicht mehr gelingen, die Auserwählten entweder voneinander fern zu halten oder sie zu töten. Eines Tages – in 333 Jahren oder in 666 oder wann auch immer – wird es einem auserwählten Paar gelingen, das Tor zu öffnen.“ Er tippte auf die Liebenden. „Diese beiden haben das nach allem, was dein Orakel sagt, was mein Orakel sagt und was die Loas mir sagen, überhaupt nicht vor.“

Sheeba trank von ihrem Kaffee und überdachte das. Gus schenkte sich ebenfalls nach und wartete ab. Sheeba nickte schließlich.

„Das mag stimmen. Mein Kontakt bei den Hütern hat mir erzählt, dass einige der Mönche die beiden in Indien gestellt und zu töten versucht hatten. Diejenigen, die sie direkt angegriffen haben, wurde durch irgendeine Magie getötet. Aber die anderen haben sie nicht nur am Leben gelassen, sondern sie ließen sie auch unbehelligt gehen.“

„Hm.“ Gus nickte bedächtig. „Passt das zu Dämonen, die das Tor öffnen und die Menschheit versklaven wollen?“

Sheeba schüttelte den Kopf. „Einer der überlebenden Mönche behauptet, dass die beiden ihnen gegenüber versichert haben, dass sie das Tor versiegeln und nicht öffnen wollen.“

„Ha!“ Gus klopfte auf die Karten. „Und hier hast du den Beweis dafür. Aber trotzdem wollt ihr sie töten? Verhindern, dass sie das tun können?“

„Sie sind Halbdämonen und Lügen und Täuschen liegt ihnen deshalb im Blut, weshalb wir das nicht unbesehen glauben dürfen.“ Sheeba schüttelte den Kopf. „Trotzdem glaubt mein Kontaktmann, dass sie es ehrlich meinen. Und ja, die Karten haben das gerade bestätigt. Aber“, sie sah Gus eindringlich an, „da gibt es ein gravierendes Problem. Wir wissen zwar nichts darüber, wie das für die ganze Sache erforderliche Ritual aussieht, aber es dürfte ab einem gewissen Punkt für die Dämonen – und ich meine die Py’ashk’hu – ersichtlich sein, dass die beiden das Tor versiegeln wollen. Dabei werden die wohl kaum tatenlos zusehen. Mit größter Wahrscheinlichkeit verfügen die über magische Mittel und Wege, die beiden Auserwählten zu zwingen, das Tor zu öffnen. Schließlich sind alle Py’ashk’hu Vollblutdämonen mit entsprechend starken magischen Kräften, die Auserwählten aber nur halbe, weshalb auch ihre magischen Kräfte nicht gegen die der anderen ankommen können. Besonders nicht, wenn die ganze Dämonensippe an einem Strang zieht. Und das wird sie, bei dem, was auf dem Spiel steht. Und deshalb, Gus, dürfen wir dieses Risiko im Interesse der Menschen einfach nicht eingehen. Ja, es könnte sein, dass die beiden Erfolg haben. Es könnte aber auch sein, dass sie es nicht schaffen. Oder dass sie es sich anders überlegen.“ Sheeba warf die Hände hoch. „Du weißt doch selbst, dass Orakel immer nur den Status quo offenbaren. In sechsunddreißig Tagen kann eine Menge passieren.“

Gus seufzte und lehnte sich zurück. Sie hatte recht, keine Frage. Trotzdem gefiel ihm die Sache nicht. Er vertraute den Loas. Aber auch die Loas konnten nicht oder nur sehr begrenzt in die Zukunft sehen. Und sie gaben nicht alles preis, was sie sahen. So oft Gus die Knochen bereits befragt hatte, hatten sie ihm immer wieder dieselbe Antwort gegeben. Aber bei dem, was auf dem Spiel stand, konnte er sich nicht darauf verlassen, dass die Antwort auch in zehn, zwanzig oder sechsunddreißig Tagen noch dieselbe wäre. Es könnte tatsächlich sein, dass Umstände eintraten, die entweder die guten Absichten von Bronwyn Kelley und Devlin Blake torpedierten oder dass sie sich freiwillig umentschieden und das Eine Tor öffnen würden. Wenn man sie nicht aufhielt.

Aber konnte – durfte zu diesem Zweck ein heiliger Houmfo geschaffen und geweiht werden, nur um ihn durch das Beschwören eines Dämons wieder zu entweihen?

Er seufzte. „Das ist nicht leicht zu entscheiden, Sheeba. Ich nehme an, du wirst eine Weile in der Stadt bleiben?“

Sie nickte. „Da New York nicht gleich um die Ecke liegt, werde ich hierbleiben, bis du eine Entscheidung getroffen hast.“

Sie brauchte ihm nicht zu sagen, dass das Wohl der Menschheit an eben dieser Entscheidung hing. Wenn er seine Hilfe verweigerte und das Schlimmste einträfe, wäre er dafür verantwortlich, weil er es hätte verhindern können. Den Hütern der Waage nicht zu helfen, käme einem Russischen Roulette gleich. Jedoch ...

Er seufzte wieder. „Ich werde die Loas befragen. Komm übermorgen wieder. Dann habe ich die Antwort.“

„Danke, Gus. Egal wie deine Antwort ausfällt.“

Sie plauderten noch eine Weile über verschiedene Dinge, bis die Kanne Kaffee leer war. Nachdem Sheeba sich verabschiedet hatte, blieb Gus in seinem Sessel sitzen und dachte über alles nach. Eine wirklich schwierige Entscheidung, die sie ihm abverlangte. Aber eine, die gefällt werden musste.

Die Frage war nur, wie.

Kapitel 2

Las Vegas

Bronwyn schlug die Augen auf und schnupperte. Es roch eindeutig nach Kaffee. Das Zimmer kam ihr fremd vor, weil es fremd roch. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Sie war zu Hause; vielmehr in ihrem Haus, 3333 Bryant Avenue, das ihrem leiblichen Vater gehört hatte. Als sie es vor gut zwei Wochen übernommen hatte, war es ein unansehnliches Höllenloch gewesen mit schwarzen Wänden, schwarzen Möbeln, blutroten Fußbodenbelägen und grauenhaften Gemälden an den Wänden, bei denen man den Eindruck hatte, dass das Blut förmlich aus den abstrakten Darstellungen geschundener Leiber real herausquoll. Kein Wunder: Mokaryon – alias Morgan Karyon – war ein Dämon gewesen, der sich von negativen Emotionen ernährt hatte.

Bronwyn hatte als Erstes die gesamte Einrichtung verändert. Seitdem sah das Haus nach menschlichen Standards bewohnbar und sogar richtig gemütlich aus. Das Schlafzimmer hatte sie in eine exakte Kopie des Schlafzimmers in ihrem Haus in Denver verwandelt. Trotzdem fühlte es sich fremd an und sie konnte nicht nur dieses Zimmer, sondern das ganze Haus nicht als ihr Zuhause betrachten. Ebenfalls kein Wunder, denn sie hatte erst eine Woche hier verbracht. Und es war unwahrscheinlich, dass sie Zeit genug haben würde, dieses Haus zu einem Heim zu machen, denn sie und Devlin würden die Wintersonnenwende wahrscheinlich nicht überleben.

Aber es wäre wundervoll, wenn sie die letzten sechsunddreißig Tage ihres Lebens in einer Umgebung verbringen könnte, die sie als Heim betrachtete. Ein Traum, der sich so oder so nicht erfüllen würde, denn sie fühlte sich gegenwärtig überall fremd; sogar in ihrer eigenen Haut. Seit sie erfahren hatte, dass sie eine Halbdämonin und die Königin und Erbin der dämonischen Ke’tarr’ha-Dynastie war und die Menschen, die sie bis dahin für ihre Eltern gehalten hatte, sie nur adoptiert hatten, war ihr sogar das Haus fremd, in dem sie aufgewachsen war und wo sie eine glückliche Kindheit und Jugend verbracht hatte.

Ihr Haus in Denver, in dem sie seit zehn Jahren wohnte, war ihr sowieso nie wie ein Zuhause erschienen, da sie als freie Journalistin die meiste Zeit des Jahres auf Reisen war. Außerdem konnte sie dorthin nicht mehr zurück, denn zu viele Leute wussten, dass sie dort wohnte und warteten nur darauf, dass sie sich wieder blicken ließ, um sie umzubringen.

Sie zuckte zusammen, als ein Arm sich über sie legte und ein anderer unter ihren Kopf geschoben wurde. Im nächsten Moment küsste Devlin ihre Wange.

„So traurig schon am frühen Morgen?“, murmelte er und fuhr mit der Zunge über ihre Halsbeuge. „Das muss ich schleunigst ändern.“ Er küsste ihre nackte Schulter.

Sie drehte sich zu ihm um und genoss den Kuss, den er ihr diesmal auf den Mund gab, wehrte aber seine Hand ab, mit der er ihre Brust streicheln wollte. Devlin war eins ihrer Probleme. Sie liebte ihn, wie sie noch nie jemanden geliebt hatte, aber sie war sich nicht sicher, ob diese Liebe aus ihr selbst kam oder ob sie eine Nebenwirkung des Seelenbandes war, mit dem sie und Devlin seit ihrer Geburt unauflöslich verknüpft waren. Obendrein befand sich ihre junge Beziehung in einer Krise.

Devlin, König und Erbe der Py’ashk’hu-Dämonendynastie, war unter Dämonen aufgewachsen und sich seines Standes als ihr alleiniger Herrscher nur allzu bewusst. Das hatte zu einer gewissen arroganten Grundhaltung geführt, die er leider auch gegenüber Bronwyn zeigte. Dass sie aufgrund der Bestimmung, für die sie beide geboren worden waren, aneinander gebunden waren bis ans Ende ihrer Tage, machte die Sache nicht besser. Devlin machte das wenig, genau genommen gar nichts aus. Bronwyn fühlte sich missbraucht, wenn auch nicht von ihm, sondern von ihren Erzeugern.

Vor 3330 Jahren war es den Oberhäuptern der beiden Dynastien – Mokaryon und Reyashai, Devlins Mutter – gelungen, von der anderen Seite aus das einzige Tor zu öffnen, durch das alle Dämonen der Unterwelt in die Welt der Menschen gelangen konnten. Wie Devlin ihr erklärt hatte, bestand die Unterwelt aus unzähligen verschiedenen „Biotopen“, die in sich abgeschlossen existierten und in denen eine Atmosphäre herrschte, die sich mit der in dieser Welt nicht immer vertrug. Die Magie des Einen Tores bewirkte, dass jeder Dämon, der es von der anderen Seite aus durchschritt, körperlich an die Gegebenheiten in dieser Welt angepasst wurde, sodass er problemlos hier leben konnte. Wie Reya Bronwyn erklärt hatte, bot die hiesige Welt reichlich Nahrung für Dämonen ihrer Art, vor allem in Form der Emotionen Angst und Schmerz, die unter Dämonen recht selten vorkam.

Dass die Dämonen nicht schon damals hordenweise hierher gekommen waren, verdankte die Menschheit einigen beherzten menschlichen Zauberern, denen es gelungen war, das Tor zu schließen, sodass nur ungefähr hundertfünfzig Dämonen beider Dynastien den Übertritt in diese Welt geschafft hatten. Zwar hatten die Menschen mangels entsprechender Fähigkeiten und Kräfte das Tor nicht auf ewig versiegeln können, aber sie hatten es magisch so gesichert, dass kein Dämon es je wieder öffnen konnte. Allerdings hatten die Dämonen im Laufe der darauf folgenden Jahrhunderte einen Weg gefunden, den Zauber aufzuheben.

Zu diesem Zweck mussten zwei Wesen – jeweils zur Hälfte Dämonen und Menschen –, die in Körper, Herz und Seele eins geworden waren, in einem besonderen Ritual ihr Blut vergießen. Jedoch musste das zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfinden: eine Wintersonnenwende in dieser Welt, wenn auf der anderen Seite gleichzeitig das „T’k’Sharr’nuh-Opfer“ erbracht wurde; was immer das war. Damit nicht genug, mussten die beiden Auserwählten exakt um Mitternacht des Tages geboren worden sein, welcher der 121.628. seit der letzten Geburt eines solchen Paares war.

Mit anderen Worten: Bronwyn und auch Devlin waren ausschließlich zu dem Zweck gezeugt und geboren worden, um der Schlüssel zu sein, mit dem die Dämonen den Rest ihrer Sippe in die Welt holen wollten. Sie waren nichts anderes als ein Werkzeug, das man benutzte. Zur Belohnung bekämen sie dadurch zwar die absolute Macht über die Dämonen und wären nicht nur uneingeschränkte Herrscher über alle, die in diese Welt kämen, sondern über die Menschheit gleich dazu. Auch wenn sich diese Herrschaft nicht wie bei den Dämonen in Form eines Königtums etablierte, sondern in einem gigantischen Wirtschaftsimperium. Das änderte nichts an der Tatsache, dass die Dämonen sie nur benutzten. Und auch jeder Mensch, der ihnen „diente“, tat das ausschließlich aus eigennützigen Beweggründen, weil er sich – zu recht – wahlweise Reichtum oder Macht oder gleich beides erhoffte, wenn er den Dämonen die Stiefel leckte und dafür seine eigene Rasse verkaufte.

Als Bronwyn ihr weltliches Erbe angetreten hatte, hatte sie festgestellt, dass sie die reichste Frau der Welt war. Ihr Vermögen belief sich auf eine siebzehnstellige Summe – vor dem Komma – und wuchs täglich um einen siebenstelligen Betrag. Devlin besaß ebenso viel. Die Anwaltskanzlei, die seit zweihundert Jahren Mokaryons und jetzt Bronwyns Vermögen verwaltete und vermehrte, ging buchstäblich über Leichen, um Mokaryons Auftrag zu erfüllen, möglichst viel Geld zu scheffeln. Aber nicht seinetwegen. Da die vier Anwälte Turnbull, Coulter, Stavros und Blaylock prozentual am Gewinn beteiligt waren, hatten sie selbst Millionen kassiert. Ihre einzige Sorge, als Bronwyn den Laden übernommen hatte, war, dass sie den Kontrakt auf-kündigen könnte, den ihr Vater mit ihnen geschlossen hatte. In dem Fall würden sie alles verlieren.

Wie skrupellos diese Leute waren, hatte Bronwyn in den vergangenen fünf Tagen erlebt. Cole Turnbull hatte sie dringend gebeten, mit ihm und seinen Kumpanen einige Dinge durchzugehen, für die er ihre persönliche Entscheidung oder Unterschrift brauchte, nachdem nun sie und nicht mehr er die Oberhoheit über alles hatte. Bronwyn hatte die Gelegenheit genutzt, um ein paar wohltätige Stiftungen zu initiieren. Angeblich als Tarnung, um damit das Image der Kanzlei zu verbessern – das einzige Argument, das ihre Anwälte verstanden. In Wahrheit wollte sie wenigstens ein bisschen Gutes zurücklassen, falls sie die Wintersonnenwende nicht überlebte, was ziemlich wahrscheinlich war. Sie fühlte sich zutiefst davon abgestoßen, dass jeder, wirklich jeder nur seinen eigenen Vorteil im Kopf hatte, soweit es Bronwyn und Devlin betraf. Deshalb war sie froh, dass sie ab heute nicht mehr täglich ihre Zeit in der Kanzlei verbringen musste.

Allerdings hatte sie zu oft das Gefühl, dass auch Devlin sie nur benutzen wollte. Obwohl er sie liebte. Er war, bevor er ihr begegnet war, noch nie ernsthaft verliebt gewesen und hatte keine Übung darin, eine Beziehung zu führen. Deshalb behandelte er sie manchmal wie eine von seinen Untertanen. Allerdings gab er sich Mühe, ein Mann zu sein, den sie in jeder Beziehung lieben konnte, seit sie ihm angekündigt hatte, dass sie ihn verlassen würde, sobald die Wintersonnenwende vorüber wäre; immer vorausgesetzt, dass sie beide dann noch lebten.

„Hey.“ Er küsste sie sanft und streichelte ihre Wange. „Noch sind wir nicht tot. Und wenn unser Plan klappt und vor allen Dingen, wenn wir Gressyl wirklich trauen können, haben wir gute Chancen, den Tag der Tage zu überstehen.“

Er hatte mal wieder ihre Gedanken gelesen. Das brachte das Seelenband mit sich. Außerdem hatten sie inzwischen ihre magischen Kräfte vereinigt und im Zuge dessen auch den für das Ritual erforderlichen Blutbund geschlossen. Sie waren bereits eins in Seele, Geist und Körper. Einerseits war das etwas im wahrsten Sinn des Wortes Wunderbares. Andererseits machte Bronwyn das Angst. Sie hatte schon immer ihre Unabhängigkeit geliebt und auch ihr ganzes Leben insofern weitgehend allein verbracht, dass sie – eher unfreiwillig – kaum Freunde und seit dem Tod ihrer Adoptiveltern auch keine Familie mehr hatte. Sie war Bindungen nicht gewohnt. Und nun hatte sie mit Devlin eine so intensive, ausschließliche und allumfassende Verbindung, wie kein normaler Mensch sie je erleben könnte. Trotz der damit einhergehenden Unausweichlichkeit hatte die aber auch ihre guten Seiten.

Sie legte die Arme um Devlin und schmiegte sich an ihn. Spürte sein hartes Glied, das einladend über ihre Schenkel strich. Ein Kribbeln breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, das sich in ihrem Schoß konzentrierte, als Devlin ihre Halsbeuge küsste, mit der Zunge darüber leckte und seinen Atem auf die feuchte Stelle hauchte. Sie seufzte wohlig und strich mit einem Finger sein Rückgrat entlang. Sie wusste, dass ihn das antörnte. Nicht, dass es nötig gewesen wäre, ihn noch stärker zu erregen, aber sie beide liebten das Spiel, einander bis zum Äußersten zu reizen, was die anschließende Vereinigung umso intensiver machte.

Devlin sog scharf die Luft ein und revanchierte sich, indem er ihre Brüste küsste und abwechselnd an den Nippeln saugte. Bronwyn streichelte seine Schultern und seine Arme und fuhr ihm durch das Haar, während er tiefer rutschte und mit der Zunge über ihren Bauch bis zum Nabel fuhr. Als ob das nicht schon ausgereicht hätte, ihren Schoß feucht werden zu lassen, küsste er gleich darauf ihr Geschlecht und lachte, als sie einen leisen Schrei ausstieß. Er gab ihr einen tiefen Kuss, in dem sie ihre eigene Lust schmeckte. Bronwyn legte ein Bein über seine Hüfte als Einladung, in ihren Körper einzutauchen, aber er wich ihr aus und rollte sich mit ihr herum. Wich wieder aus und spielte mit ihr, während sie einander streichelten, küssten und leckten, und passte den perfekten Moment ab, um endlich mit einem sanften Stoß in sie zu gleiten. Bronwyn genoss ein paar Augenblicke reglos, ihn in sich zu spüren, ehe sie seinen erst langsamen, dann schneller werdenden Stößen entgegenkam. Mit einem letzten Stoß in Verbindung mit einem innigen Kuss löste sich schließlich die aufgestaute Spannung in ekstatischen Wellen, die sie mit sich rissen und schließlich entspannt und zufrieden zurückließen.

Devlin zog sich langsam aus ihr zurück, bettete sie in seine Arme und hielt sie in einer Weise, die Bronwyn mehr als alle Worte sagte, wie sehr er sich wünschte, sie vor allem Übel dieser Welt beschützen zu können. Die ihr auch vermittelte, wie viel sie ihm bedeutete. Sie legte den Kopf auf seine Schulter, einen Arm über seine Brust, schloss die Augen und genoss das Gefühl ihrer gegenseitigen Liebe, die durch das Seelenband resonierte. Sie wünschte sich, dieser Moment würde nie enden.

Leider drängten sich die ungelösten Probleme zu bald wieder in ihr Bewusstsein. Sie gab Devlin einen Kuss auf die Nasenspitze. „Riechst du auch, was ich rieche?“

Er schnupperte. „Kaffee.“

„Hast du den gezaubert?“

„Nein. Das muss wohl Gressyl gewesen sein.“ Gressyl war ihr dämonischer Leibwächter, weshalb Bronwyn ihm erlaubt hatte, in einem der Gästezimmer des Hauses zu wohnen.

„Kaffee ist genau das, was ich jetzt brauche.“ Bronwyn gab Devlin einen letzten Kuss, schwang sich aus dem Bett und ging ins Bad.

Als sie zwanzig Minuten später herauskam, hatte Devlin sich inzwischen im Gästebad frisch gemacht und zog sich an. Er lächelte ihr zu. Bronwyn erwiderte sein Lächeln und fand, dass er wie immer eine wandelnde Versuchung darstellte. Die beiden Strähnen seines schwarzen Haares, die ihm, noch feucht vom Duschen, links und rechts ins Gesicht hingen, gaben ihm ein verwegenes Aussehen. Die Lippen luden ein, sie zu küssen, und die straffen Brust- und Bauchmuskeln, über denen er in diesem Moment sein schwarzes Denimhemd mit lasziven Bewegungen zuknöpfte, verlockten Bronwyn, sie erneut zu streicheln. Und der schelmische Blick seiner grünen Augen signalisierte ihr, dass sie nur mit den Fingern zu schnippen bräuchte, damit er sich sofort wieder auszog.

Lachend schüttelte sie den Kopf und musste noch mehr lachen, als er enttäuscht seufzte. Sie holte eine frische Jeans aus dem Kleiderschrank und suchte unter ihren T-Shirts eins, das zu ihrer Stimmung passte. Sie stieß auf ein schwarzes, das mit einer Schlange aus Goldpailletten bestickt war, die sich vom unteren Rücken über die Schulter bis zum Bauch schlängelte, wo ihr Leib einen Halbkreis beschrieb und sich wieder nach oben wand, bis ihr Kopf direkt auf der linken Brust lag.

Bronwyn hatte das Shirt vor Jahren aus einer Laune heraus gekauft, es aber selten getragen. Dass sie es unbewusst geholt hatte, als sie ihre Lieblingssachen mit einem Bringzauber aus ihrem Haus in Denver in den hiesigen Schrank transportiert hatte, ließ tief blicken. Immerhin stammte sie väterlicherseits von indischen Schlangengöttern, den Nagas, ab und war dadurch, wie sie letzte Woche erfahren hatte, ebenso wie Devlin ein Abkömmling von Kadru und Kashyapa, den göttlichen Stammeltern der Nagas und Naginis. Allerdings lagen zwischen ihnen und den göttlichen Vorfahren Hunderte von Generationen. Sie waren Kashyapa in Indien persönlich begegnet. Er hatte ihnen wichtige Hinweise gegeben, die ihnen für ihren Plan, das Eine Tor zu versiegeln, nützlich sein würden.

Devlin legte von hinten die Arme um sie und küsste ihre Wange, als sie sich angezogen hatte. „Steht dir gut, das T-Shirt.“

„Danke.“

Er wiegte sie leicht hin und her, machte aber keinen Versuch, sie noch einmal zu verführen. Stattdessen schob er sie zur Tür. „Gehen wir den Kühlschrank plündern, bevor Gressyl uns alles wegfuttert.“

Was kein Problem wäre, da ein Bringzauber alles holen würde, was sie brauchten. Außerdem waren sie hier in Vegas. Ein Anruf in ihrer Anwaltskanzlei hätte genügt, und keine halbe Stunde später wäre von irgendeinem hauseigenen Caterer ein ganzes Frühstücksbuffet angeliefert worden. Bronwyn lehnte sich an Devlin, genoss seine Nähe und seine Wärme und ging mit ihm zur Küche.

Da sie bisher kaum Gelegenheit gehabt hatte, das Haus genauer in Augenschein zu nehmen, vielmehr seine Architektur auf sich wirken zu lassen, wurde ihr erst jetzt bewusst, dass es fast keine Ecken gab. Wo welche hätten sein müssen, waren die Wände gerundet, wodurch die Zimmer fließend ineinander übergingen. Sogar die Türen bestanden im oberen Fünftel aus einem Kreissegment. Seltsamerweise vermittelten ihr diese Rundungen ein anheimelndes Gefühl.

Als sie die Küche betraten, blieb Bronwyn überrascht stehen. Gressyl hatte nicht nur Kaffee gekocht, sondern auch den Tisch gedeckt – auf magische Weise, keine Frage –, und zwar für drei Personen. Der Dämon hatte sogar die aktuelle Ausgabe des Las Vegas Review Journal besorgt, die neben einem Korb mit dicken Brotscheiben lag.

„Guten Morgen, Gressyl“, sagte Bronwyn und deutete auf den gedeckten Tisch. „Für uns?“

„Nein. Ich habe Hunger und Appetit auf Kaffee. Und da mein Hunger für drei reicht, ist das alles für mich.“

Sie starrte ihn verblüfft an. Gressyl – lächelte. Bronwyn hatte ihn noch nie lächeln gesehen. Es ließ sein markantes Gesicht, das sonst nur wachsam, kalt und dadurch in Verbindung mit der tiefen Schwärze seiner Augen und seinem fast eisweißen Haar bedrohlich wirkte, freundlich aussehen – menschlich. Und durchaus anziehend.

„Gressyl, hast du gerade einen Scherz gemacht?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe es versucht. Ist es mir ge-lungen?“

Bronwyn lachte. „Ja, das ist es.“

„Und wie kommst du auf den Gedanken, für uns den Tisch zu dekken?“, wollte Devlin wissen.

„Ich habe nur imitiert, was ich in Filmen gesehen habe. Nachdem Kashyapa meine geistige Beschränkung geheilt hat“, er klopfte sich mit dem Fingerknöchel gegen die Stirn, „kann ich endlich viele Dinge verstehen, die mir bisher ein Rätsel waren. Ach, übrigens ...“ Er hielt Bronwyn die Hand hin.

Sie ergriff sie zögernd, denn Gressyl war nicht gerade mit Feingefühl ausgestattet und hatte bisher seine übermenschliche Körperkraft Menschen gegenüber nicht immer richtig dosieren können. Das war schon besser geworden, nachdem sie ihm aufgetragen hatte, Zärtlichkeit zu erlernen. Denn wenn es ihr und Devlin tatsächlich gelang, das Eine Tor zu versiegeln, würde Gressyl für den Rest seines wahrscheinlich noch ein paar weitere Jahrtausende währenden Lebens unter Menschen verbringen müssen. Da wäre es von Vorteil, wenn nicht jede seiner Begegnungen mit ihnen mit Gewalt oder sogar Toten endete. Schließlich hatte er Bronwyns Mutter vor dreiunddreißig Jahren mehr oder weniger versehentlich getötet, nur weil er seine Kräfte nicht kontrollieren konnte.

Er strich mit den Fingerspitzen über ihren Handrücken. „Ist das zärtlich genug?“

Das war es in der Tat. Sogar mehr, als sie ihm zugetraut hatte. „Ja, das ist es. Sehr gut, Gressyl.“

„Verstand bekommt dir offenbar“, stellte Devlin fest und räusperte sich mit einem scharfen Blick auf Bronwyns Hand, die Gressyl immer noch hielt.

Sie spürte seine Eifersucht und unterdrückte ein Lachen. Falls es stimmte, was er ihr darüber gesagt hatte, dann beinhaltete ihr Bund in Körper, Geist und Seele, dass sie einander niemals untreu werden konnten, weil sie nie wieder ein Verlangen nach einem anderen Partner haben würden. Selbst wenn Gressyl Bronwyn hätte verführen wollen, es hätte bei ihr nicht funktioniert, weil sie an Devlin gebunden war.

Gressyl ließ sie los und setzte sich an den Tisch. Devlin rückte ihr den Stuhl zurecht, als sie Platz nahm und hielt ihr eine dunkelrote Rose hin, die er mit einem Bringzauber geholt hatte. Er hatte ihr, seit sie ihn kannte, schon einige davon geschenkt. Woher sie auch kommen mochten, Bronwyn hatte noch nie so intensiv und betörend duftende Rosen bekommen. Sie nahm sie, schnupperte daran und steckte sie in eine Vase, die sie ebenfalls mit einem Bringzauber holte.

„Warum sind Menschenfrauen so begeistert über blühendes Kraut?“, wollte Gressyl wissen.

„Erstens empfinden wir Blumen als optisch schön. Zweitens lieben wir ihren angenehmen Duft; wenn sie denn angenehm duften. Es gibt auch Blumen, die stinken. Drittens sind sie ein Symbol. Rote Rosen signalisieren zum Beispiel Liebe. Viertens empfinden wir es als romantisch, wenn sie uns von einem Mann geschenkt werden. Und Frauen mögen Romantik. Die meisten jedenfalls. Fünftens drückt ein Mann seine Wertschätzung aus, wenn er einer Frau Blumen schenkt.“ Sie lächelte Devlin zu.

Er erwiderte ihr Lächeln, griff zur Kanne, schenkte ihr Kaffee ein und legte ihr ein Croissant auf den Teller. Er wusste schließlich, was sie gerne aß.

Gressyl beobachtete aufmerksam. Der Dämon war ein Phänomen in mehr als einer Hinsicht. Er gehörte zu Devlins Py’ashk’hu-Untertanen und war der Laufbursche von Devlins Mutter Reya gewesen. Devlin hatte Gressyl zu Bronwyns Beschützer ernannt, was er zum Glück sehr ernst nahm; andernfalls hätten sie und Devlin ihr indisches Abenteuer nicht überlebt, von dem sie letzte Woche zurückgekehrt waren.

Obwohl es ihre Bestimmung war, das Eine Tor nach dem Willen der Dämonen zu öffnen, wollten sie beide es unter allen Umständen versiegeln. Und zwar ein für allemal. Allerdings hatten sie nicht gewusst, ob das möglich war und wenn ja, wie sie das bewerkstelligen konnten. Den einzigen Hinweis darauf hatte eine alte Prophezeiung geliefert. Die Hüter der Waage hatten sie schon vor langer Zeit irgendwo gefunden. Da sie nur unvollständig erhalten war und ausgerechnet der letzte Teil gefehlt hatte, der ihnen die Lösung offenbarte, hatten sie in Indien nach dem Original gesucht und es auch gefunden.

Jedoch waren sie dort zwischen alle Fronten geraten. Da sie beide Nachfahren von Nagas und Naginis in der dreiunddreißigsten Generation waren, wären sie aufgrund dessen und ihrer halbdämonischen Natur die einzigen, die das in einem magischen Reich eingesperrte Volk der Schlangenwesen hätten befreien können. Eine Fraktion der Nagas hatte sie eben dazu zwingen wollen, die andere wollte das um jeden Preis verhindern und hatte sie zu töten versucht. Obendrein war Devlin durch den Einfluss seines finsteren Naga-Vorfahren seinem dämonischem Wesen so stark verfallen, dass er sich auf dessen Seite geschlagen und Bronwyn zu zwingen versucht hatte, das Schlangenvolk auf die Menschheit loszulassen.

Im beinahe letzten Moment war Gressyl aufgetaucht, hatte den Naga getötet und Bronwyn geholfen, Devlin von dessen Finsternis zu heilen. Die Frage war immer noch, wie er sie überhaupt hatte aufspüren können. Da sie befürchtet hatten, dass Gressyl alles, was sie taten und vor allem planten, vielleicht nicht unbedingt absichtlich, aber aufgrund seiner beschränkten Geistesgaben versehentlich Reya mitteilen könnte, hatten sie ihn bei ihrer Abreise nach Indien in den Staaten zurückgelassen. Weil aber Devlin ihm befohlen hatte, Bronwyn zu beschützen, hatte er sie aus eigener Initiative gesucht und gefunden durch ein Band, das zwischen ihr und ihm existierte. Bronwyn hatte noch keine Gelegenheit gehabt herauszufinden, welcher Art dieses Band war oder wie es entstanden sein mochte. Oder sich Gedanken darüber zu machen, ob daraus eine zusätzliche Gefahr entstehen könnte.

Nachdem sie die Prophezeiung gefunden und erfahren hatten, dass sie, um das Eine Tor zu versiegeln, nicht zwangsläufig sterben mussten, waren sie umso entschlossener, dem Spuk, den Mokaryon und Reya vor 3330 Jahren entfesselt hatten, endlich ein Ende zu bereiten. Denn von ihrem Erfolg hing noch sehr viel mehr ab, wie Kashyapa ihnen gesagt hatte, der ebenfalls geplant hatte, sie zu töten, falls sie sich entschieden hätten, es zu öffnen.

Als das Tor geöffnet worden war, hatten menschliche Zauberer es gewaltsam geschlossen. Durch das dadurch erzeugte Aufeinanderprallen der gewaltigen gegenpoligen magischen Kräfte war ein Riss in der Struktur des Tores entstanden, durch den magische Energien von der anderen Seite in diese Welt drangen wie Tropfen durch den Riss in einem defekten Tonkrug. Diese Energien kontaminierten schleichend die ganze Welt und äußerten sich darin, dass das Böse immer mehr an Macht gewann. Da Bronwyn und Devlin nicht nur ein beliebiges, zu diesem Zweck gezeugtes Halbdämonenpaar waren, sondern die Reinkarnation ihrer ersten Existenz als Halbdämonen, waren sie deshalb die Einzigen, die diesen Riss verschließen konnten. Wenn sie versagten, würde die Welt auf lange Sicht in Chaos versinken und zerstört werden.

Wie Kashyapa ebenfalls erklärt hatte, waren die magischen Gesetzmäßigkeiten, durch die manche Dinge möglich, andere zwingend erforderlich, wieder andere völlig unmöglich waren, derart komplex und kompliziert, dass sie nicht immer menschlicher Logik folgten. Deshalb tat sich Bronwyn schwer, diese Dinge zu begreifen. Vor allem war ihr Gressyls Rolle bei dem Ganzen nicht ganz klar. Kashyapa hatte behauptet, dass er mehr mit all dem zu tun hätte, als ihm selbst bewusst war. Dann hatte er Gressyls geistige Beschränkung magisch geheilt und war mit dem kryptischen Hinweis verschwunden, dass sie erfahren müssten, was genau in der Vergangenheit geschehen war, um zu tun, was getan werden musste. Der Schlüssel dazu befand sich angeblich in der Residenz der Ke’tarr’ha. Dort würden sie ihre Antworten finden. Auch Gressyl, wie er betont hatte. Verdammt, welche Rolle spielte der?

„Gressyl, du hast vor ein paar Tagen gesagt, etwas würde dich dazu drängen, alles für mich zu tun und dazu, dass Devlin und ich das Tor versiegeln können“, sagte sie aus diesem Gedanken heraus. „Dass dir das ein Bedürfnis wäre. Weißt du inzwischen warum? Hat Kashyapas Heilung deines Geistes auch deine Erinnerungen aktiviert oder so was?“

Gressyl hielt darin inne, sich ein Croissant mit Rahm zu bestreichen, wie Bronwyn es tat, statt sich wie gewohnt fertige Speisen herzuzaubern, die er nur noch zu essen brauchte. „In manchen Bereichen ja. Aber viele Dinge sind immer noch – weg.“ Er blickte sie nachdenklich an. „Kashyapa hat auch gesagt, dass ich in deiner Residenz finden werde, ‚was mir entrissen wurde’.“ Er nickte. „Genau den Eindruck habe ich: dass ich immer noch unvollständig bin. Irgendetwas muss in der Vergangenheit mit mir passiert sein, das mich wichtige Dinge vergessen ließ.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber ich habe keine Ahnung, was deine Residenz damit zu tun haben könnte. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal dort gewesen zu sein. Aber das will nichts heißen, da ich mich an vieles nun mal nicht erinnern kann.“

Bronwyn seufzte. Sie hatte die Residenz – „ihre“ Residenz noch nicht betreten. Sie lag nicht weit von Las Vegas’ Stadtgrenze entfernt, wie sie mit ihren magischen Sinnen fühlte. Eine eigene Welt für sich, die durch Magie ebenso wie die Residenz der Py’ashk’hu bei Chicago vor den Augen der Menschen verborgen war, die sie auch nicht betreten konnten. Es sei denn, Bronwyn würde sie hineinbringen und sie auf diese Weise für ein ungehindertes Kommen und Gehen „konditionieren“, wie Devlin das mit ihr für seine Residenz getan hatte. Was sie nicht tun würde; mal ganz abgesehen davon, dass es sowieso keine „Ke’tarr’hani“ mehr gab, wie die Menschen genannt wurden, deren Vorfahren irgendwann von einem der Ke’tarr’ha-Dämonen gezeugt worden waren und die ihnen deshalb loyal dienten. Gedient hatten. Was Bronwyn wieder einmal zu Bewusstsein brachte, dass sie völlig allein war, ohne einen einzigen Verwandten auf der Welt. Sie verscheuchte diesen Gedanken.

„Du hast auch gesagt“, wandte sich Devlin an Gressyl, „dass du angeblich schon lange gewusst hättest, dass ich niemals das Eine Tor öffnen würde.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie bist du darauf gekommen? Nicht mal meine Mutter hat was davon gemerkt.“

Gressyl zuckte mit den Schultern. „Auch das kann ich nicht beantworten. Aber glaube mir, Devlin, ich habe es immer gewusst.“

„Vielleicht finden wir auch die Antwort auf dieses Phänomen in der Residenz“, sagte Bronwyn, bevor Devlin etwas sagen konnte. „Schließlich muss irgendwas Außergewöhnliches in der Vergangenheit passiert sein, das wir noch nicht wissen, andernfalls Kashyapa uns wohl kaum diesen Hinweis gegeben hätte.“ Sie seufzte. „Bestimmt müssen wir wieder unzählige Schriftrollen und Bücher sichten, um das herauszufinden.“ Sie lachte. „Oh, ich vergaß: Wir können uns ja die, die wir brauchen, mit einem Suchzauber zeigen lassen und holen.“

Devlin streichelte ihre Hand. „Du siehst, wie nützlich Magie ist.“

„Ja, das habe ich inzwischen begriffen.“ Obwohl sie immer noch zu „unmagisch“ dachte, verglichen mit Devlin, der mit dem Gebrauch seiner magischen Fähigkeiten aufgewachsen war.

Um zu verhindern, dass sie und Devlin einander jemals begegneten und das Eine Tor öffneten, aber auch , um zu verhindern, dass die Mönche vom Orden der Heiligen Flamme Gottes sie ermordeten, hatten die Hüter der Waage Bronwyn nicht nur Minuten nach ihrer Geburt ihrer leiblichen Mutter weggenommen, sie hatten auch ihre magischen Fähigkeiten blockiert. Dadurch hatten sie verhindert, dass die Seher der Mönche oder die Dämonen sie durch deren unverwechselbare Ausstrahlung aufspüren konnten. Die Dämonen hatten natürlich alles darangesetzt, sie zu finden und in Sicherheit zu bringen.

Bronwyn war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass es vielleicht nicht das Schlechteste gewesen wäre, wenn sie wie Devlin unter den Dämonen aufgewachsen wäre. Zumindest was den Umgang mit ihren magischen Fähigkeiten betraf. Erst mit ihrem dreiunddreißigsten Geburtstag hatten sie begonnen zu erwachen, weil die Blockierung nicht mehr erneuert worden war. Da sie sich erst seit zwei Monaten in ihrem Gebrauch übte, waren sie ihr immer noch fremd, obwohl sie sie dank Devlins Unterweisung inzwischen weitgehend beherrschte.

Doch seitdem stand ihre Welt Kopf. Nein, seitdem war ihr bisheriges Leben vorbei. Für immer. Selbst wenn sie die Wintersonnenwende überleben sollten. Zu erfahren, dass die beiden Menschen, bei denen sie aufgewachsen war, nicht ihre Eltern gewesen waren und – noch schlimmer – zu den Hütern der Waage gehörten, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen. Die einer Frau das Kind weggenommen hatten, die nicht einmal gewusst hatte, dass der Vater dieses Kindes ein Dämon war, von dem sie selbst in der unzähligsten Generation ebenfalls abstammte. Nur wenige Tage später hatte Gressyl Bronwyn im Auftrag von Devlins Mutter Reya zu entführen versucht.

Die Mönche hatten Bronwyns Nachbarn und Freund Josh Harker entführt, gefoltert und ihn gezwungen, Bronwyn in eine tödliche Falle zu locken, bevor sie ihn ermordet hatten. Die Hüter hatten Bronwyn entführt, gefangen gehalten und sie ebenfalls zu töten versucht, als sie feststellten, dass sie und Devlin bereits ein Paar waren. Bronwyns aufrichtige Versicherung, dass sie nicht vorhatten, das Eine Tor zu öffnen, glaubten sie natürlich nicht. Deswegen hatten sie sich inzwischen mit den Mönchen zusammengetan, um gemeinsam Jagd auf sie zu machen. Und obendrein interessierte sich auch eine Sondereinheit des FBI für sie. Gäbe es dieses Haus nicht, das ihrem dämonischen Vater gehört hatte, sie hätte kein Zuhause mehr gehabt. Und ob dieses Haus jemals ihr Heim werden konnte, stand in den Sternen.

Aber darüber konnte sie sich immer noch Gedanken machen, falls sie die Sonnenwende überlebte. Bis dahin musste sie nicht nur erfahren, was sich in der Vergangenheit ereignet hatte, sie musste vor allem ihr inneres Gleichgewicht zurückgewinnen. Wobei „zurückgewinnen“ der falsche Begriff war. Sie musste es überhaupt erst einmal finden. Solange sie denken konnte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass etwas mit ihr nicht stimmte, dass ihr etwas Wichtiges fehlte. Auch als sie sich nach ihrem Anglistikstudium in Denver niedergelassen und begonnen hatte, als Journalistin zu arbeiten, war sie immer rastlos gewesen. Länger als ein paar Wochen hatte sie es nie zu Hause ausgehalten, selbst wenn sie nicht im Auftrag irgendeiner Zeitschrift für eine Reportage ins Ausland reisen musste. Zuletzt hatte sie mehrere Monate mit einer Expedition in Kolumbien verbracht auf der Suche nach Überresten der Zenú-Kultur. Dort hatte Devlin sie gefunden. Und kaum war sie wieder in Denver gewesen, musste sie fliehen.