Erdoğans langer Arm - Duygu Özkan - E-Book

Erdoğans langer Arm E-Book

Duygu Özkan

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Beschreibung

Die Türkei entwickelt sich unter Recep Tayyip Erdoğan zu einem autokratischen Präsidialsystem – auch in Österreich haben der umstrittene Präsident und seine AKP viele Anhänger. Befindet sich die Community in ideologischer Geiselhaft, ist sie eine willfährige Bastion der türkischen Regierung – und wie reagieren Politiker und Medien? Die Außenpolitikjournalistin Duygu Özkan hat mit Anhängern und Gegnern des türkischen Präsidenten gesprochen. Sie wirft einen Blick hinter die Kulissen von umstrittenen Organisationen wie den »Grauen Wölfen«, »Milli Görus« oder der »Gülen-Bewegung« und bringt spannende Erkenntnisse über Geschichte und Motive hinter den aktuellen Ereignissen zwischen Ankara und Wien.

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Duygu Özkan

Erdoğans langer Arm

Sein Einfluss in Österreich und die Folgen

© 2018 by Molden Verlag

in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Wien – Graz

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-990-40492-8

Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es

in jeder Buchhandlung und im Online-Shop

www.styriabooks.at

Coverfoto: Patrick Domingo/picturedesk.com

Covergestaltung: Emanuel Mauthe

Buchgestaltung und Satz: Florian Zwickl

Lektorat und Projektleitung: Elisabeth Wagner

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Als „die Türken“ kamen

Die Vereine in der Diaspora

Die Diaspora-Politik der AKP

„Erdoğans Roboter“? Die UETD

Die religiöse Kontrolle: Atib

Die „nationale Sicht“ der Diaspora

Die türkische Rolle innerhalb der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich

Alte Allianzen: Die AKP und die Gülen-Bewegung

Neue Allianzen: Die Umarmung der Rechtsextremen

Wie weit reicht „Erdoğans langer Arm“ wirklich?

Der Mann, der es schaffte: Recep Tayyip Erdoğan – ein Porträt

Anmerkungen

Einleitung

Das Wetter zeigte sich gnädig, als Erdoğan kam. Am 19. Juni 2014, es war Fronleichnam, verwandelte sich der weitläufige Parkplatz vor der Wiener Albert-Schultz-Halle in ein Festgelände. Tausende hatten sich schon am frühen Vormittag auf den Weg in die Donaustadt gemacht. Junge Männer trugen Erdoğan-T-Shirts, junge Frauen ein Stirnband mit der Aufschrift „Erdoğan“. Auf Fahnen war der Name des türkischen Politikers ebenso zu sehen wie auf den Plakaten am Wegesrand. Der Parkplatz war ein rotes Fahnenmeer. Nicht alle konnten es in die Halle schaffen, daher stellten die Veranstalter vor dem Platz große Leinwände auf. Alle wollten Recep Tayyip Erdoğan reden hören.

Drinnen in der Halle herrschte dieselbe Euphorie wie draußen. Eine ältere Frau, die mit ihrer Familie gekommen war und ungeduldig mal die türkische Fahne, mal ihr Enkelkind, mal einen Imbiss von Hand zu Hand reichte, konnte später gar nicht glauben, dass sie sich tatsächlich im selben Raum wie er befand. Die Rede Erdoğans saugte die Besucherin regelrecht auf. Der Politiker sagte, er habe die „Grüße von 77 Millionen Bürgern der Türkei im Gepäck“, und: „Als Volk waren wir immer stolz auf euch. Als es euch gut ging, ging es uns auch gut. Als ihr traurig wart, waren wir auch traurig.“ Die Frau war tief bewegt. In all den Jahrzehnten, in denen sie als Näherin in Österreich gearbeitet hatte, erzählte sie später, habe ihr nie jemand gesagt: „Deine Arbeitskraft war wichtig.“ Es musste ein Erdoğan dafür kommen.

Der Auftritt des türkischen Politikers war eine Zäsur in der türkisch-österreichischen Geschichte. Er kam freilich nicht nur, um Grüße auszurichten, denn Erdoğan befand sich mitten im Wahlkampf, war er doch Kandidat für die im selben Jahr stattfindende Präsidentschaftswahl. Zu diesem Zeitpunkt durften dank einer Gesetzesänderung der regierenden AKP erstmals auch die Auslandstürken vor Ort ihre Stimme abgeben. Erdoğan kam also durchaus aus politischen Gründen, aber er wusste genau, wie er die türkeistämmige Gemeinschaft emotional ansprechen konnte. Er musste nur die oben genannten Sätze sagen, die bislang kein österreichischer Politiker auf Regierungsebene auszusprechen gewagt hatte. Zumindest für die ältere Frau war das genug: Für ihn war sie keine Bürgerin zweiter Klasse, sagte sie.

In das Jahr 2014 fielen mehrere Ereignisse, die die Beziehungen zwischen der türkeistämmigen Gemeinschaft und der sogenannten Mehrheitsgesellschaft nachhaltig zerrütteten. Neben dem Auftritt Erdoğans und dem damit verbundenen Auslandswahlkampf waren das Demonstrationen, umstrittene Fernsehauftritte sowie Debatten um geplante Imam-Schulen, die aufzeigten, welchen Einfluss die türkische Regierung auf die Diaspora haben konnte. Die Stimmung war das ganze Jahr über auch aufgrund globaler Brandherde wie dem Nahostkonflikt aufgeheizt und stand stets auf der Kippe. 2014 veränderte sehr viel – und zeigte auf, welche Dynamiken und Allianzen sich in der türkeistämmigen Gemeinschaft in Österreich gerade bilden.

Die Community ist im Wandel begriffen und an dieser Entwicklung hat die einnehmende Politik der AKP großen Anteil. Dieses Buch hat zum Ziel, den Wandel innerhalb des konservativen Spektrums der türkeistämmigen Gemeinschaft näher unter die Lupe zu nehmen und einzuordnen. Eine Annäherung in fünf Thesen, die in den folgenden Kapiteln etwas ausführlicher betrachtet werden sollen:

Erstens markierte das Jahr 2014 das 50-jährige Jubiläum des „Gastarbeiter-Abkommens“ Österreichs mit der Türkei. Seit nunmehr fünf Jahrzehnten leben türkeistämmige Menschen im Land und angesichts des frenetischen Jubels vor der Albert-Schultz-Halle fragten sich unzählige Kommentatoren: Wie kann es sein, dass nach all dieser Zeit die Gemeinschaft noch immer eine derart starke Bindung zur Heimat der Großeltern oder Eltern hat? Eine einfache Antwort kann es nicht geben. Zunächst einmal muss diese Bindung gar nicht paradox sein, denn Sozialwissenschaftler sprechen längst von transnationalen Identitäten. Im globalen Zeitalter können Loyalitäten vielschichtig sein, sie können sich auf die Türkei beziehen und gleichzeitig auf Österreich oder auf Wien oder Vorarlberg. Die eine Loyalität schließt die andere nicht aus.

Das betrifft nicht nur die türkeistämmige Gesellschaft: Auch in kroatischen, serbischen oder tschetschenischen Gemeinschaften, um nur einige Beispiele zu nennen, können enge Beziehungen in beide Richtungen beobachtet werden. Schwieriger ist es, die Loyalität auf der emotionalen Ebene zu beschreiben – den Jubel, den junge Menschen einem Erdoğan entgegenbringen, die noch nie in der Türkei gelebt haben. Das hat wohl damit zu tun, dass dieses Land Österreich trotz allem nah ist: geografisch, aber auch über die Nachrichten, über türkisches Fernsehen, über soziale Medien. Die emotionale Verbindung wurde über all die Jahrzehnte dadurch aufrechterhalten, dass die Migrationsströme aus der Türkei bis heute nicht aufgehört haben. Kamen zunächst die „Gastarbeiter“, waren es später deren Familien, dann politische Flüchtlinge, Ehepartner, Geschäftsleute, ethnische Minderheiten, Studierende, bis hin zu den nun verfolgten Anhängern des Predigers Fethullah Gülen. Die Migrationserfahrung geht mittlerweile auch in die andere Richtung: Türkeistämmige teilen sich ihre Zeit zwischen dem Herkunftsland und Österreich auf; Pensionisten etwa, oder auch Unternehmer. Die Interaktion hat also nie aufgehört – und wurde somit an die jüngere Generation weitergegeben. Für die Älteren hingegen mag etwas anderes eine zusätzliche Rolle gespielt haben: Einmal im Jahr fuhren die ehemaligen Gastarbeiter in die Türkei, oft in die ländlichen Regionen des Landes. Vier Jahrzehnte lang hatte sich dort nichts verändert, bis mit dem Antritt der AKP der wirtschaftliche Aufschwung einsetzte. Plötzlich waren die Straßen asphaltiert, Flughäfen wurden gebaut, man hatte das Gefühl, das Land hat sich über Nacht modernisiert. Die Türkeistämmigen nahmen diese positiven Eindrücke mit in die Diaspora und nicht zuletzt an diesen Eindrücken messen sie die Politik der AKP, obwohl sie längst nur mehr einen oberflächlichen Anschluss an die Lebensrealitäten der Türkei haben.

Zweitens liegt es nicht nur an den Türkeistämmigen selbst. In Ankara regiert derzeit mit der AKP eine Partei, die den Kontakt mit der Diaspora nicht nur offensiv gesucht, sondern für deren Einbindung in die Türkei eine eigene Strategie entwickelt hat. Die Regierung gründete innerhalb weniger Jahre neue Behörden und Strukturen, die sich den Türkeistämmigen weltweit annehmen sollten – das Amt für Auslandstürken ist ein Beispiel dafür. Darüber hinaus animierte sie die in Europa angesiedelte Community, selbst Vereine zu gründen, etwa die viel zitierte „Union Europäisch-Türkischer Demokraten“ (UETD). Das heißt, dass die AKP die Beziehungen zwischen Ankara und den Türkeistämmigen institutionalisiert hat. Die Einführung des Auslandswahlrechts hatte zudem zur Folge, dass der türkische Wahlkampf keine geografischen Grenzen mehr kennt. Diese Situation, die seit 2014 gilt, stellt sowohl die gesamte türkeistämmige Gemeinschaft als auch die europäischen Länder vor ganz neue Herausforderungen.

Drittens kam Ankara zwar nicht ohne Plan auf die Türkeistämmigen zu, aber die Gemeinschaft hier musste diesen Plan auch akzeptieren. Das war für die AKP kein großes Risiko, denn die Partei fand ein weit verstreutes Vereinswesen vor, das ehemalige Gastarbeiter in den vergangenen Jahrzehnten mehr oder weniger autonom aufgebaut hatten. In konservativen, rechten und rechtsextremen Vereinen und Institutionen zeigte man sich empfänglich für die Ideale der AKP. Parallel zu dieser Entwicklung fingen die betroffenen Vereine in Österreich an, sich einander anzunähern. Zeigten früher Gruppen wie die islamistische Millî Görüş, Atib und die als rechtsextrem geltenden Idealistenvereine („Graue Wölfe“) lange kein Interesse aneinander, arbeiten sie mittlerweile punktuell zusammen und sind auch unter dem Dach der „Islamischen Glaubensgemeinschaft“ vereint. Es kommt zwar hie und da zu Grabenkämpfen, aber das sollte nicht über diese durchaus strategische Annäherung hinwegtäuschen.

Viertens hängt nicht die ganze Entwicklung von der Türkei und der türkeistämmigen Diaspora ab. Im Nachkriegsösterreich waren „die Türken“ jahrzehntelang die am stärksten fremd empfundene Gemeinschaft, ehe die Zuwanderung viel diverser wurde. Aber das Fremdsein haftet der Community weiterhin an und leitet sich bisweilen auch von der historischen Erfahrung ab. Historiker haben erforscht, dass sich vor allem nach der Zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683 das Feindbild „Osmane“ beziehungsweise „Türke“ tief im kollektiven Gedächtnis verankert hat. Ebendieses Feindbild wurde im Laufe der Jahrhunderte kultiviert und kann daher immer wieder als Referenzpunkt dienen. Von einer „Dritten Türkenbelagerung“ war schon die Rede, womit die türkeistämmige Gemeinschaft von heute mit einer mordenden und plündernden Soldatenschar gleichgesetzt wurde. Ein weiteres Beispiel: Bei der Wien-Wahl 2010 warb die FPÖ mit dem Comic „Sagen aus Wien“ und nahm damit Bezug auf die Zweite Wiener Türkenbelagerung, um antitürkische Ressentiments zu schüren.

Die gesamte Integrationsdebatte wird bisweilen so geführt, als ob die Integration der türkeistämmigen Gemeinschaft per se nicht möglich wäre. Das ist insofern merkwürdig, weil nach fünf Jahrzehnten türkisch-österreichischen Zusammenlebens türkeistämmige Abgeordnete im Nationalrat sitzen, türkeistämmige Ärzte und Juristen praktizieren, als Unternehmer und Künstler wirken. Ganz abgesehen davon, dass die ehemaligen Gastarbeiter – das gilt auch für jene, die aus Ex-Jugoslawien nach Österreich gekommen sind – ihren Teil dazu beigetragen haben, dass dieses Land zu einem der wohlhabendsten der Welt wurde. Warum fällt es der österreichischen Politik derart schwer, das anzuerkennen? Denn so viel sich Erdoğan auch Mühe geben mag, auf die Gemeinschaft einzuwirken: Die österreichische Demokratie sitzt immer am längeren Hebel, sie ist stärker, und das ist die Botschaft, die eigentlich verbreitet werden sollte. Viel zu oft geht die Debatte von der Stärke Erdoğans aus, sie sollte aber von der Stärke der Demokratie ausgehen.

Bei den deutschen Nachbarn ist der Zugang etwas differenzierter. Zunächst einmal hatte auch Deutschland 2008 seinen Erdoğan-Moment, als der damalige Premier in Köln auftrat und von Tausenden euphorisch bejubelt wurde. Dieselben Fragen, die Beobachter in Sachen Integration nach dem Erdoğan-Auftritt in Wien stellten, tauchten natürlich auch dort auf. Aber im Sommer 2017, am Höhepunkt der bilateralen Krise zwischen Berlin und Ankara, wandte sich der damalige Außenminister Sigmar Gabriel in einem offenen Brief an die türkeistämmige Gemeinschaft: „Sie, die türkischstämmigen Menschen in Deutschland, gehören zu uns – ob mit oder ohne deutschen Pass.“ Eine vergleichbare Aussage von einem Politiker vergleichbaren Ranges fiel in Österreich bislang nicht, dafür scheint sich die Community noch viel zu sehr als innenpolitischer Spielball zu eignen. Knapp ein Jahr nach dem Brief Gabriels zeigte eine Studie der Universitäten Köln und Duisburg-Essen, dass Türkeistämmige mit deutschem Pass eher Angela Merkel Vertrauen schenken als Erdoğan. Auf einer Beliebtheitsskala zwischen minus fünf und plus fünf erreichte der türkische Präsident einen Schnitt von minus 2,5 – und Merkel einen Schnitt von plus 1,6.

Fünftens ist die türkeistämmige Gemeinschaft in Österreich konservativ. Zwar kann das Wahlergebnis der Austro-Türken, die zu einem großen Teil die AKP wählen, nicht für die gesamte Community gelten – die Wahlbeteiligung lag bisher bei maximal 51 Prozent und nur etwa die Hälfte der schätzungsweise 300.000 türkeistämmigen Menschen hat einen österreichischen Pass. Aber ein Großteil der frühen Gastarbeiter stammt nun einmal aus den ländlich-konservativen Regionen. So divers die Community heute ist – politisch, ethnisch, religiös –, und so viele sich auch dagegen wehren, sich von der autoritären Politik Erdoğans vereinnahmen zu lassen: Die konservativen, religiösen und rechtsgerichteten Gruppen dürften dennoch eine leichte Mehrheit stellen. Auch das hat den Eintritt Erdoğans in den österreichischen Politalltag erleichtert.

Dieses Buch wäre ohne die vielen Interviews nicht möglich gewesen – ich danke daher allen meinen Gesprächspartnern. Einige waren sehr zugänglich, andere skeptisch und vorsichtig, andere wiederum lehnten ein Gespräch sofort ab. Viele stimmten einem Interview nur unter Wahrung der Anonymität zu.

Ein kleiner Teil dieses Buches stammt von meiner Arbeit für Die Presse.

Als „die Türken“ kamen

Einmal machte ich Nachtdienst, es roch nach Fisch und ich wollte sehen. Ich sah viele Leute auf der Straße, die mit alten Fischkisten Feuer machten, um sich zu wärmen. Sie wollten auf der Straße übernachten, damit sie in der Früh bei der Anwerbestelle drankommen konnten. Alle wollten ins Ausland (…) Am nächsten Tag kam ich als 27. dran. Ich wurde gesundheitlich untersucht und mußte eine Prüfung ablegen. Dort sagte mir ein Angestellter, daß ich eigentlich eine Arbeit hätte, daß es mir nicht so schlecht ginge und warum ich unbedingt fahren wolle? ‚Ich habe Schulden, ich muss sie unbedingt zurückzahlen‘, sagte ich ihm. (…) Es kam ein Brief von der Anwerbestelle, die Antwort war positiv. Innerhalb einer Woche mußte ich nach Österreich. ‚Wo ist Österreich?‘, fragte ich den Beamten. ‚In der Nähe von Deutschland‘, antwortete er. ‚Welche Währung gibt es denn dort?‘ ‚Schilling‘, sagte er. ‚Und wieviel kriege ich?‘ ‚17 Schilling Stundenlohn.‘“1

„Aufgrund äußersten Arbeitskräftemangels muß ich Sie heute, entgegen meiner bisherigen Abneigung gegen türkische Fremdarbeiter, ersuchen, mir unbedingt und möglichst sofort drei bis fünf Türken für meine Möbelfabrik zuzuteilen.“2

Ein Taxifahrer in der Türkei, ein Möbelhersteller in Österreich: Landflucht und Bevölkerungsexplosion in der Türkei, Wiederaufbau in Österreich. Mangel an Arbeit, Mangel an Arbeitskraft. Der Taxifahrer und der Möbelhersteller stehen symptomatisch für eine Entwicklung, die die Geschichte beider Länder ab den 1960er-Jahren nachhaltig prägen sollte. Als sogenannter Gastarbeiter war der Taxifahrer in Österreich angekommen, aber dass er blieb, seinen Lebensabend hier verbringen würde, das hatte er nicht geplant. Ihm und vielen anderen „Gastarbeitern“ kam das Leben dazwischen.

Wenn der historische Verlauf linear ist, wo lokalisieren wir nun den Beginn dieser nunmehr 50-jährigen türkisch-österreichischen Geschichte? Zunächst nach Ende des Zweiten Weltkriegs und dem daraus resultierenden Arbeitskräftemangel in Ländern wie Österreich, aber vor allem mit dem Konjunkturprogramm der USA für den Wiederaufbau Westeuropas. Der „Marshallplan“ hatte zum Ziel, Europa zu einem attraktiven Absatzmarkt für die US-Wirtschaft auszubauen, und tatsächlich trieb er Handel und Industrie in Ländern wie Deutschland und Österreich derart an, dass Unternehmer bereits Mitte der 1950er-Jahre über fehlende Arbeiter klagten. Die Gesellschaft des „Wirtschaftswunders“ hungerte nach Arbeitskräften, während Länder wie die Türkei ihren Bürgern nicht genug Beschäftigung bieten konnten. Dort hatte die technologische Modernisierung der Landwirtschaft die Arbeitswelt tiefgreifend verändert. Landflucht setzte ein und verschob innerhalb kürzester Zeit die Demografie, was nicht nur die Städte überforderte, sondern auch die Menschen selbst. In Filmen, Gedichten, in Kunst und Kultur ist dieses „Herausreißen“ aus der idyllischen ländlichen Heimstätte in die anonyme Kälte Istanbuls bis heute ein immer wiederkehrendes Sujet. In den 1960ern hatte die Türkei vier Jahrzehnte Republikgeschichte, einen Putsch sowie den turbulenten Wandel zum Mehrparteiensystem hinter sich. Es fiel Ministerpräsident İsmet İnönü, einem alten und loyalen Weggefährten des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, sowie den einflussreichen und zeitweise herrschenden Militärs in dieser Zeit nicht schwer, einem bilateralen Abkommen zur Abwerbung türkischer Arbeiter zuzustimmen. Es winkten die Entlastung des heimischen Marktes sowie dringend gebrauchte Devisen.

Dass die deutsche und österreichische Politik an Anwerbeabkommen dachte, lag auf der Hand. Österreich und Deutschland hatten im Vergleich zu anderen europäischen Ländern keine Kolonialgeschichte vorzuweisen – und somit keine damit verbundene Zuwanderung. Einen ersten Versuch in Richtung Anwerbung versuchte das Nachkriegsösterreich im Jahr 1962 mit Spanien, einem Land, das damals schon seit mehr als zwei Jahrzehnten eisern von Diktator Francisco Franco geführt wurde. Der Vertrag brachte allerdings nicht den gewünschten Erfolg. Das Gerüst für den spanischen Versuch hatten Gewerkschaft und Wirtschaftskammer ein Jahr zuvor ausgearbeitet, die sogenannte Fremdarbeiterbeschäftigung sollte schließlich reguliert sein und strikt und nach Plan erfolgen. Franz Olah, der an der Spitze der Gewerkschaft stand, und Julius Raab, Präsident der Bundeswirtschaftskammer, einigten sich auf einen Partnerschaftsvertrag, der ihre beiden Namen trug und fast „nebenbei“ den Grundstein für die österreichische Sozialpartnerschaft legen sollte. Das Raab-Olah-Abkommen regelte die sogenannte Fremdarbeiterbeschäftigung, Lohn- und Preispolitik, hielt fest, dass dieses Modell nur temporär Bestand haben sollte, und erlaubte die aktive Anwerbung mit Büros im Ausland. Für das Jahr 1962 sahen die Sozialpartner ein Kontingent von 47.000 Gastarbeitern vor, aber die Erwartungen an Spanien waren zu hoch. Zwei Jahre später hatte Wien den geografischen Blickwinkel bereits verändert und unterzeichnete ein Anwerbeabkommen mit der Türkei, und wiederum zwei Jahre später, 1966, mit Jugoslawien. Was den Status der „Gastarbeiter“ betraf, hielt das Raab-Olah-Abkommen fest, dass sie den inländischen Arbeitnehmern gleichgestellt werden müssten. Die Gewerkschaft wollte unbedingt einen Lohnkampf verhindern, aber erst ein Jahrzehnt später einigten sich die Verhandler schriftlich auf die gleiche kollektivvertragliche Entlohnung.

So weit die Theorie. Im Durchschnitt verdiente ein Gastarbeiter 30 Prozent weniger. Ihre Unterbringung war, wie es dem provisorischen Charakter ihres Österreich-Aufenthaltes entsprechen sollte, spartanisch. Männer stellten anfänglich das Gros der Gastarbeiter dar, und sie wurden oftmals in Schlafsälen untergebracht, in Substandard-Wohnungen oder sie zahlten vergleichsweise hohe „Mieten“ für ihre (Stock-)Betten. Zeitgenössische Aufnahmen zeigen improvisierte Kochnischen, Schlafhallen, Zimmer mit abgewetzten Tapeten, Fotografien der Familie an den Wänden. 35 Prozent der türkischen Familien lebten in der ersten Hälfte der Gastarbeiter-Epoche in Wohnungen, die kleiner waren als 45 Quadratmeter. An dem improvisierten Charakter dieses Aufenthaltes hielten zunächst alle fest. Eine Gruppe von türkischen Gleisarbeitern in Hannover, berichtete die Zeitschrift Hayat Mecmuası im September 1964, verwendete einen Waggon als Gebetsstätte: „Die Gebetsrichtung (gen Mekka, Anm.) müssen sie jeden Tag neu ausrichten. Denn wenn der Waggon in Betrieb ist, ändert er auch ständig seine Lage.“3

Die Suche nach Arbeit in Österreich führte die türkischen Interessenten auf die historische İstiklal Caddesi in Istanbul. Eigens für die Anwerbung hatte Wien in den alten Gemäuern der ehemaligen russischen Botschaft, im imposanten Haus Narmanlı Han, ein Büro eröffnet. Hier, aber auch in den Fabriken und Kleinbetrieben quer durch Österreich, stellte sich ziemlich schnell heraus, dass die theoretischen Grundlagen des Raab-Olah-Abkommens schlecht umsetzbar waren. Erstens erwies sich das von der Schweiz übernommene Rotationsmodell als unpraktisch: Die Erwerbstätigen sollten ein Jahr in der Alpenrepublik bleiben und anschließend zurückkehren, aber viele Arbeitgeber stellten sich quer. Dieser Ablauf erforderte, dass die Betriebe unaufhörlich neue Arbeiter einlernen mussten. Das kostete Zeit. Zweitens begannen die Unternehmer schon recht früh damit, die bürokratische und kostenpflichtige Anwerbung über die offiziellen Stellen zu umgehen. Denn das österreichisch-türkische Abkommen erlaubte – im Gegensatz zum österreichisch-jugoslawischen – die namentliche Rekrutierung, das heißt, dass Arbeitgeber ihnen empfohlene Personen direkt einladen konnten. Türkische Arbeiter in Österreich empfahlen den Unternehmen ihre Verwandten und Freunde, und so kam es, dass in bestimmten österreichischen Bundesländern bestimmte türkische Provinzen besonders stark vertreten sind. In Wien haben viele türkeistämmige Menschen ihre Wurzeln in der anatolischen Provinz Yozgat, wie überhaupt die meisten früh eingewanderten „Gastarbeiter“ aus ländlichen Regionen stammten.

Ölpreisschock und Militärputsch verändern die Lage

Wien und Bonn, Österreich und Deutschland, kooperierten bisweilen in Sachen Anwerbung, hatten jedoch unterschiedliche Vorstellungen und Herangehensweisen. Zeitgenössische Berichte belegen, dass die Bonner Behörden nicht nur besser organisiert waren, sie hatten auch höhere Ansprüche, was die Qualifikation der Arbeiter betraf. Nicht selten schickte die deutsche Stelle jene Anwerber nach Narmanlı Han, die sie als wenig qualifiziert erachtete. Für die ausgebildeten Facharbeiter selbst war ein anderes Argument ausschlaggebend: Die Löhne in den wichtigen Industriesparten waren in Deutschland und der Schweiz höher.

Welches Land nun letztlich am Ende der Reise stand, der Weg nach Europa fand meist mit Bus und Bahn statt und in Österreich endete die Fahrt am Wiener Südbahnhof mit seiner kühlen Nachkriegsarchitektur. Der schwere Arbeitsalltag, die Sehnsucht nach der Heimat und der Familie, die überwältigende Fremde, für all diese Empfindungen stand lange Zeit die große, schmucklose Halle des Südbahnhofs. Hier hielten sich die Arbeiter in der Freizeit auf, konnte doch jemand Bekanntes ankommen und einen Brief von zu Hause mitbringen. In der österreichischen Öffentlichkeit wurde ihre Existenz bisweilen auf ihre Arbeit reduziert, nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch im wirtschaftspolitischen Diskurs, in den Behörden, im sozialen Umgang. Der „Gastarbeiter“ war kein Teil des österreichischen Wohlfahrtsstaates, und er selbst musste rasch erkennen, dass er seine Sparziele nicht verwirklichen konnte. Das Leben war teuer. „Der Koffer ist die Hoffnung des Auswanderers“, beschreibt ein ehemaliger „Gastarbeiter“ seine frühen Tage in der Fremde, „den Koffer haben wir nicht unter dem Bett oder im Stauraum versteckt. Er war immer in Sichtweite, sodass unsere Hoffnungen lebendig blieben.“4 So blieb das Provisorische lange bestehen, beginnend von den Gebetsstätten bis hin zu den Schlafräumen.

Keine zehn Jahre nachdem der erste „Gastarbeiter“ angekommen war, wagten die Wirtschaftswunder-Länder noch von grenzenlosem Wachstum und hoher Mobilität zu träumen, doch 1973 holte der Ölpreisschock Europa jäh ein. In Österreich lebten bereits mehr als 220.000 sogenannte Gastarbeiter, eine Rekordzahl. Das Kontingent sollte eigentlich stabil und hoch bleiben, nur setzte die schwierige Rohstofflage der Wirtschaft erheblich zu. Die Behörden verschärften die bislang geltenden Regelungen; bereits ein Jahr vor der 1975 einsetzenden Rezession hatte Wien einen Anwerbestopp durchgesetzt, gleichzeitig schob das Land der „Touristenbeschäftigung“, mittels der „Gastarbeiter“ sich selbst auf die Suche nach Arbeitsplätzen machen konnten, einen Riegel vor. Möglich war das durch die damalige Visafreiheit für Türken. Nun setzte Österreich – nach einer Zeit liberaler Beschäftigungsgesetze – das sogenannte Inländerprimat ein. Österreichische Arbeitskräfte erhielten somit den Vorzug.

Die Einwanderung wurde damit allerdings nicht gestoppt, denn die Arbeiter begannen ihre Familien nachzuholen. Die Türkei hatte in der Zwischenzeit einen zweiten Militärputsch (1971) zu verkraften, die instabile Lage mag die Gastarbeiter ebenfalls zu diesem Schritt bewogen haben. Spätestens mit dem dritten Putsch in der Republikgeschichte, im September 1980, setzte eine Zuwanderung politisch Verfolgter nach Österreich ein, die sich auch als solche deklarierten. In den Jahren davor zeigten jene, die aus politischen Gründen die Türkei verließen, kaum Interesse an Asylanträgen, konnten sie doch rasch Arbeit finden. Ab 1980 war die Lage in beiden Ländern eine andere: Die Wirtschaftskrise zerrüttete den österreichischen Arbeitsmarkt, die Putschisten in der Türkei zeigten sich besonders erbarmungslos. Dort lieferten sich rechtsextreme und religiöse Gruppen blutige Straßenschlachten mit linken und linksextremen Arbeiter- und Studentenorganisationen und der türkische Sicherheitsapparat zeigte sich höchst aggressiv. Gleichzeitig formierte sich der bewaffnete kurdische Widerstand. Mit dem Putsch des gnadenlosen Generals Kenan Evren kehrte dann auch nicht die erhoffte Ruhe sein, sondern wurde sie mit staatlicher Gewalt, die besonders die Linke traf, erzwungen. Aufgearbeitet hat die türkische Gesellschaft diese Zeit kaum, wiewohl Tausende Menschen verschwunden, verfolgt, verhaftet oder getötet worden sind. Nur die wenigsten Staatsbürger blieben von diesen blutigen Tagen verschont.

„Nach dem faschistischen Militärputsch“, erinnert sich ein politisch Verfolgter an seine aktiven Tage in der Türkei zurück, „kamen viele demokratisch gesinnte Menschen sofort ins Gefängnis. Gott sei Dank war ich in meinem Dorf. (…) Ich hatte Angst, aber die Polizei wusste nicht, wer im Dorf politisch arbeitet. Aber jeder in der Stadt wußte, daß unser Dorf ein sozialistisches Dorf war.“5 Als sich die Lage immer weiter zuspitzte, flüchtete der Mann schließlich nach Österreich. Einer Befragung unter türkischen Arbeitern aus dem Jahr 1983 zufolge gaben 4,3 Prozent von ihnen an, aufgrund der politischen Situation in ihrer Heimat nach Österreich gekommen zu sein. Im Jahr 1975 verzeichnete die österreichische Statistik einen Asylwerber aus der Türkei, im Jahr 1987 waren es 408, zwischen 1989 und 1992 waren es fast 8.600.

Die Zuwanderung von politischen Aktivisten machte die ohnehin nicht homogene Gruppe türkeistämmiger Menschen noch diverser und gleichzeitig bildeten sich in der Diaspora Identitäten neu. Das betraf Kurden genauso wie Rechte, Konservative und Linke. Es war auch um diese Zeit, als in Österreich ein Paradigmenwechsel stattfand, auch wenn er nur von einzelnen Initiativen ausging und oft nur akademische Kreise erreichte: Die Arbeiter, die als „Gäste“ gekommen sind – sie werden wohl bleiben, und als sie kamen, nahmen sie naturgemäß ihre ganz persönliche sowie die Geschichte ihres Landes mit. Die „Türken“ sind keine homogene Bevölkerungsschicht, es befinden sich auch Kurden, Tscherkessen und Armenier unter ihnen, und sie sind nicht alle sunnitische Muslime, denn es gibt auch Aleviten, Christen und Areligiöse. Es sollte aber noch eine Weile dauern, bis diese Vielfalt ihren Niederschlag in den Medien und im gesamtgesellschaftlichen Diskurs finden sollte.

Eine in unserem Zusammenhang interessante Entwicklung fand ungeachtet der Tatsache statt, dass sowohl die „Gastarbeiter“ als auch die Aufnahmegesellschaft das Leben in Österreich als temporär betrachteten: die Selbstorganisation der türkeistämmigen Gemeinschaft. Bis zum Siegeszug der heutigen türkischen Regierungspartei AKP hatten Türkeistämmige in europäischen Ländern bereits ein weitverzweigtes Vereinswesen aufgebaut, das Spektrum reichte von weit links bis weit rechts, von religiös bis kulturell, von studentisch bis proletarisch, von kurdisch bis extrem nationalistisch. Nur aufgrund dieses guten Organisationsgrades insbesondere in konservativ-religiösen Kreisen konnte die AKP derart schnell Anschluss in der Diaspora finden.

Die Vereine in der Diaspora

Bei einer Erhebung des „Instituts für Höhere Studien“ (IHS) aus dem Jahr 1983 gaben 53,8 Prozent der befragten türkischen Arbeiter an, dass ihr soziales Umfeld ausschließlich aus „Bekannten aus der Heimat“ bestehe. Bei jugoslawischen Arbeitern betrug die Zahl 40,1 Prozent. Folgestudien des Instituts hielten fest, dass diese hohen Zahlen vor allem mit den Nachfolgegenerationen sukzessive niedriger wurden. Was aber immer blieb, war die Suche nach dem Kontakt zu Menschen mit derselben oder ähnlichen Migrationserfahrung, mit derselben Muttersprache, demselben Herkunftsland – insbesondere, auch das zeigen frühe Studien, unter Zuwanderern aus dem ländlichen Raum, da „die kulturelle Distanz zu den Einheimischen bei dieser Gruppe am stärksten ist“6, wie es in einer IHS-Studie heißt.