Erzähl Dir Zeit - Luise Link - E-Book

Erzähl Dir Zeit E-Book

Luise Link

5,0

Beschreibung

Um Mobbing, eine Ehe zwischen Alt und Jung, eine mysteriöse Reise sowie Liebe im Alter geht es im zweiten Band der Reihe „Erzähl Dir Zeit“ von Luise Link. In „Rose von Dorth“ taucht der Leser in die Seele eines Mobbingopfers ein. Kann Rose ihre Hilflosigkeit überwinden? Die Titelheldin findet überraschende Antworten. Wird Karl mit seiner jungen, zweiten Frau Keira glücklich werden? Oder sind die Schatten der Vergangenheit zu lang und die Unterschiede zu groß? In „Indianischer Sommer“ begleiten wir den Protagonisten Karl auf seinem Weg. Was führt der kleine Fliegengeselle HeSheIt, der eines Morgens die alte Englischlehrerin besucht, im Schilde? Warum kann er sprechen, warum besitzt er übermenschliche Kräfte? Eine gemeinsame Reise lässt die Lehrerin das Geheimnis herausfinden. Seit achtzehn Jahren arbeiten sie zusammen, der vierundfünfzigjährige, lyrikliebende Psychologe Hermann Winter und seine zweiundfünfzigjährige, klavierspielende Sekretärin Dorotea Herbst. Werden sie sich irgendwann doch noch entdecken? Werden die beiden Singles am Ende zueinander finden? Welche Rolle spielt Pater Hansmann dabei? „Hermann und Dorotea“ - eine humoristisch erzählte, heitere Geschichte. Die Ähnlichkeit mit der literarischen Vorlage von Goethe ist weder unbeabsichtigt noch zufällig.

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„Die zwei größten Tyrannen

Der Erde:

Der Zufall und die Zeit.“

J.G. von Herder

Inhaltsverzeichnis

Rose von Dorth

Indianischer Sommer

HeSheIt

Hermann und Dorotea

Rose von Dorth

Rose saß am Schreibtisch. Wie jeden Morgen über den wie immer gleichen Zahlenkolonnen. Rechts vorn auf ihrem nussbaumartigen Marterinstrument der abgehärmte, reichlich vertrocknete Kaktus als Symbol ihres eigenen Daseins und ihres fast fünfzehnjährigen Martyriums in dieser Firma.

„Von einer Rose hat sie gar nichts“, hatte Mama an Roses zwölftem Geburtstag Papa angefaucht. „Das Pyknische hat sie von dir, den kleinen Geist auch. Ich hätte es ja wissen müssen, aber hinterher ist man immer klüger.“ Rose war in der Küche gewesen. Aber sie hatte alles genau gehört.

Rose musste sich schnupfen.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es endlich halb zehn war. Zeit für die Kaffeepause.

Sie legte die Blätter auf einen Haufen, ließ den Stapel durch ihre Hände gleiten, bis er rechtwinklig war, legte den Stift links vor ihre Tastatur, schob den Stuhl erst nach hinten, nach dem Aufstehen wieder unter den Schreibtisch und begab sich, auf ihren Stampfern, wie Mama immer gesagt hatte, in den Frühstücksraum im Keller.

Eine Kriegserklärung hatte Rose nicht erhalten.

Trotzdem war ihr, als sie den Frühstücksraum betrat, unverzüglich klar, dass ab heute Morgen mit feindlichen Begegnungen oder Scharmützeln gerechnet werden musste.

Auf ihrem Platz, den sie seit vierzehndreiviertel Jahren erfolgreich annektiert hatte, stand eine Tasse mit dampfendem Kaffee. Eine Namenstasse. Karins Tasse. Und deren Eigentümerin hatte es sich auf Roses Stuhl bequem gemacht.

Karin war die neue Telefonistin. Nach nur einer Woche Anstellung war sie beim jährlichen Fototermin fürs Betriebsfoto so elegant erschienen, dass selbst die schicke Frau Möller, die Bereichsleiterin der Sparte A, underdressed gewirkt hatte. Unbegründetes Selbstbewusstsein von hier bis Bagdad, hatte Rose damals gedacht, aber Karin hatte sich bis heute schon eine gute Startposition zu verschaffen gewusst.

Bei ihr liefen alle Nachrichten zusammen. Sie wusste alles und jedes, und Rose hegte den Verdacht, dass sie vor allem kräftig zur weiteren Verbreitung von negativen Informationen beitrug. Sie hatte sich dieser Beschäftigung wohl gerade gewidmet, als Rose den Raum betreten hatte. Denn urplötzlich war das Gespräch bei ihrem Eintritt verstummt.

Rose ging zur Kaffeemaschine, um sich eine Tasse Cappuccino zu holen. Sie ging langsam, verzögerte jeden Schritt. Vielleicht würde ihre Gegnerin doch noch das Feld räumen und dem Scharmützel ausweichen. Als Rose sich jedoch ihrem Platz wieder näherte, hatte Karin eine weitere Markierung des Territoriums vorgenommen. Nun stand auch noch ihre Handtasche neben der Karinkaffeetasse.

Rose spielte ein ganzes Set von möglichen Verbaläußerungen durch.

„Karin, das ist aber mein Platz, auf dem du da sitzt. Kannst du bitte aufstehen?“

So devot ging es wahrscheinlich nicht. Griet, die links neben Karin saß, würde sich sonst diebisch freuen. Die hatte sich schon immer über sie lustig gemacht. Und Hanne, die rechts saß, würde sowieso den Mund halten und hoffen, dass man ihr selbst nichts zuleide tat.

„Karin, gefällt Ihnen – plötzlich zum Sie zurückzukehren, würde durchaus Aufmerksamkeit erzeugen – mein Platz so gut, dass ich Ihnen mit der Überlassung eine Freude machen kann?“

Gar nicht so übel, sinnierte Rose, wenn ich es lustig rüberbringe, würden die beiden anderen vielleicht lachen und Karin wäre dann blamiert und isoliert.

Als Rose gerade ihren Entschluss in die Tat umsetzen wollte, um Handlungsalternative zwei ablaufen zu lassen, wurde sie von hinten angerempelt. Die Tasse mit dem Cappuccino fiel klirrend zu Boden. Sina, die zweite Telefonistin, legte ihre Hand auf Roses Schulter und flötete:

„Frau von Dorth, das tut mir wirklich unendlich leid, dass wir zwei so unglücklich aneinander geraten sind. „Eigentlich“, sie sprach jetzt zu Karin, Griet und Hanne gewandt, „eigentlich kann man sie ja gar nicht übersehen, nicht wahr, aber heute? Mmh“, fuhr sie weiter mit lauter Stimme fort, „das sieht vor Ihnen ja wirklich aus, als hätten Sie in die Stube gepinkelt.“

Da stand Rose nun, eine dicke gelbbraune Pfütze vor ihren Füßen, alle Augen auf sich gerichtet, und vor allem ohne Sitzgelegenheit und ohne Kaffee. Sina, obwohl Verursacherin des Malheurs, hatte sich einen Stuhl zu Karin herangezogen, dachte nicht im Traum daran, die Pfütze mit Papiertüchern aufzuwischen, sondern schaute im Gegenteil höchst amüsiert, im Quartett mit den drei anderen, auf Rose, um ihr bei der Beseitigung der gelbbraunen Lache zuzusehen.

Wie ein absoluter Trottel steh’ ich hier, dachte Rose.

Karin hatte sich derweil erhoben, den Küchenschrank hinter der Kaffeemaschine geöffnet und eine Rolle Küchenkrepp geholt.

Wie eine Königin schritt sie nun auf Rose zu, reichte ihr wortlos die Küchenrolle, drehte sich um, schritt erneut majestätisch zu ihrem Platz, zu Roses Platz, schaute ihre drei Bewundererinnen triumphierend an und starrte dann wieder auf Rose.

Wie ein Hund, der in die Stube gepinkelt hat, stimmt, dachte Rose, und bückte sich, um ihre Arbeit zu verrichten.

„Gott, was hast du für ein mächtiges Hinterteil“, hörte sie Mamas Stimme, wie damals, als sie sich gebückt hatte, um Mamas Brille aufzuheben.

Richtiger Pferdehintern, von einem Kaltblüter eben, fügte Rose in Gedanken hinzu.

Das Papier tropfte, als sie das Knäuel in den Kücheneimer warf und dann, ohne die Anwesenden noch einmal anzublicken, zur Tür stampfte, um ihre Arbeit am nussbaumartigen Schreibtisch bis ein Uhr fortzusetzen.

Ohne den Kaffee, den Rose nun schon seit fast fünfzehn Jahren jeden Morgen um diese Zeit gewöhnt war, fiel die Arbeit noch schwerer.

So ein Depp bin ich. Beschäftige mich ein Leben lang mit toten Zahlen, obwohl ich schon in der Schule der absolute Versager in Mathematik war.

Obwohl - mit leblosen Dingen habe ich mich an sich schon gerne beschäftigt. Die Geschichtsstunden beim Dreidreidrei, die hab‘ ich geliebt. Den mochte außer mir zwar niemand, aber ich denke heute noch an seine Sprüche, an seine vielen Eselsbrücken und lateinischen Zitate. War ein kluger Mann, der. Aber sah halt mickrig aus, so unscheinbar wie mein Vater.

„Birnenmännchen“, so hatte Mama ihn immer bei ihrer Cousine genannt, wenn sie dachte, niemand aus der Familie höre zu.

Hat ihn sowieso nur wegen seines Namens geheiratet. Wollte gerne eine „von“ sein, aber an dem „von“ hing hinten noch der Papa dran. Und der war nicht standesgemäß für die Frau Gymnasiallehrerin. Ich auch nicht, so, wie ich schon als Vierjährige ausgesehen hab’. Aber auch mit den ganzen Diäten hat sie’s nicht geschafft, aus mir die kleine Elfe zu machen, die ihr nach ihrer Meinung zugestanden hätte. Nach der Enttäuschung hat sie’s bei mir als dem einzigen Kind belassen. Hat ihr gereicht, lachte Rose.

Telefon

Das Telefon. Rose schreckte aus ihren Gedanken.

„Frau von Dorth“, Karin betonte das ‚von‘ deutlich, „ich soll dir von Herrn Sickdorf ausrichten, dass er nicht die Absicht hat, weitere zehn Minuten auf deine Zusammenstellung zu warten. Es gäbe sehr viele in diesem Hause, die liebend gerne deine Arbeit übernehmen würden. Soll ich dir ausrichten.“

Kein weiteres Wort. Aufgelegt.

Was will Sickdorf denn von ihr? Eine Kontaktaufnahme ist doch gar nicht vereinbart. Und eine Terminvorgabe von heute, daran kann sich Rose beim besten Willen nicht erinnern. Bin ich denn schon so vergesslich? Rose schüttelte den Kopf.

Also werde ich ihm die Umsatzzahlen von den bisher bearbeiteten Geschäftsbereichen aushändigen, und die zwei noch nicht bearbeiteten nachreichen. Ich tue einfach so, als hätte ich sie nur auf dem Schreibtisch vergessen, nahm sich Rose vor und legte die Ausdrucke in einen Ordner.

Die zwei Treppen zu Sickdorfs Büro eilte sie hinauf. Aufzug lohnte sich dafür nicht.

Nach zweimaligem Klopfen rief Sickdorf „Herein!“

Er stand am Fenster, hatte Rose den Rücken zugewandt.

Audienz

Rose bleibt an der Eingangstür stehen.

Zwei Sekunden können länger als zwei Stunden sein, denkt sie. Unser Deutschlehrer hat das immer Zeitdehnung genannt.

Sie hat wohl ein bisschen vom Treppensteigen gekeucht, denn Sickdorf dreht sich nun, wie es Rose scheint, nach einer kleinen Ewigkeit, um.

„Was führt Sie denn zu mir, Frau von Dorth?

Sie müssen mir ja etwas sehr Wichtiges mitzuteilen haben, wenn Sie sich so abgehetzt haben.

Na, na“, er kommt jetzt auf Rose zu, „Sie haben ja auch ein bisschen was die Treppen mit hinauf zu schleppen. Dann wollen wir uns doch mal zusammen hinsetzen“, lächelt er und streicht Rose vertrautväterlich über die Schulter.

Paternalistisches Arschloch, denkt Rose und lächelt zurück, die Augen wie ein wohlerzogenes kleines Mädchen niederschlagend.

Sickdorf weist ihr gnädig einen Platz in seiner Sitzgruppe an.

„Bitte, nehmen Sie doch Platz, Frau von Dorth. Nun?“

Rose hat schon beim Treppensteigen geschwitzt. Jetzt, nachdem sie kapiert hat, wie sie verladen worden ist, laufen ihr die ersten Schweißtropfen von der Stirn. Versinken möchte sie, ganz klein werden, ihren dicken Torso in dem violetten Stuhlkissen verschwinden lassen.

„Frau Schmitz, die neue Telefonistin, hatte mich informiert, dass Sie Papiere von mir erwarten und mich zu sprechen wünschen, Herr Sickdorf.“

„Aber, aber, liebe Frau von Dorth, soweit müssten Sie doch unsere betriebliche Hierarchie nach den vielen Jahren inzwischen kennen, dass ich meine Anordnungen nicht über Telefonistinnen auszugeben pflege. Das wäre doch wohl eher eine Aufgabe für die Bereichssekretärin gewesen.“

Sickdorf lacht, schüttelt mehrfach den Kopf.

„Na, diese neue Telefonistin scheint ja ein rechter Spaßvogel zu sein. Die hat Sie aber schön hereingelegt! Wobei – so ganz die feine englische Art ist das ja nicht. Aber lustig war’s, das müssen Sie zugeben!“

Damit ist Rose wohl entlassen. Sie blickt Sickdorf kurz an, mit einem knappen Nicken bedeutet er ihr aufzustehen.

„Nun nehmen Sie aber um Gottes willen den Aufzug, liebste Frau von Dorth. Sie sollten Ihre sportlichen Betätigungen heute nicht mehr übertreiben.“

Er visiert kurz Roses Torso an, sein Blick bleibt auf ihrem Pferdeunterteil hängen.

Aber auch der Fußboden öffnet sich nicht, um Rose, simsalabim, im Untergrund verschwinden zu lassen.

Also stampft sie zur Tür, murmelt im Vorbeigehen „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Sickdorf“ und verschwindet hinter der Bürotür, die sie vielleicht eine Spur zu laut schließt.

Scheiß drauf, denkt Rose, und trampelt die zwei Treppen hinunter.

Rückweg

Auf dem Weg zum Großraumbüro kam Rose am Glaskasten vom Callcenter vorbei. Karin stand bei Sina, sie schauten zu ihr und lachten sich halb kaputt. Die Tür war nur angelehnt.

„Der Sickdorf hat wirklich Humor, der ist echt nett“, hörte sie Sina sagen.

Ich bin so blöd, ich schäm mich auch noch, dachte Rose, als sie sich bei den beiden vorbeidrückte. Bestimmt wussten alle im Büro schon längst von dem „Spaß“, wie Karin das vermutlich nannte, und alle würden sie anblicken und sich innerlich über ihre Blödheit und Naivität amüsieren.

Rose blickte zu Boden, wich den Blicken aus, fühlte fünf, zehn Augenpaare auf sich gerichtet. Sie ließ sich auf ihren Bürostuhl fallen und erschrak selbst über den Laut, den dieser gequält von sich gab.

Das dicke Pferd hat sich mit Getöse niedergelassen, dachte Rose und wurde an diesem vermaledeiten Tag zum x-ten Mal rot wie ein junges Mädchen. Aber bei jungen Mädchen sah‘s wenigstens schön aus.

Gedanken am Schreibtisch

Der Rest des Nachmittags. Leblose Umsatzzahlen, immer neue Reihen, Kombinationen, die ihr eigentlich glatt am Arsch vorbeigehen.

Aber die in der Schule wollten ja mit ihren englischen Geschichten und ihren Geschichten aus der Geschichte nichts zu tun haben. Da war sie eben auch so ein Versager wie hier.

Was für ein Aufruhr bei Mama, als sie damals aus der Schule gekommen war und sie informiert hatte.

„Das kannst du doch nicht tun, was willst du denn machen, du kannst doch sonst gar nichts“, hatte Mama entsetzt gerufen und dabei die Hände theatralisch vors Gesicht geschlagen.

In der Rückschau war das einer der besten Momente in Roses Leben gewesen. Ihre Mutter war endlich einmal erschüttert, und das auch noch über Roses Verhalten, vielleicht sogar über ihr weiteres Leben.

Dieser Felsblock, dieser Betonklotz hatte also doch noch einen Rest Gefühle für die missratene Tochter, diese ständige Beleidigung für Mamas Ästhetik.

Rose hatte sich damals zum ersten Mal erwachsen, sogar ein bisschen überlegen gefühlt, den Moment der Niederlage für ihre Mutter genossen. Dass sie selbst einen Entschluss gegen ihre eigenen Interessen gefällt haben könnte, das war ihr damals nicht in den Sinn gekommen. Sie hatte nur einfach weg, endlich weg gewollt.

„Weißt du, wie gemein Kinder sein können?“, hatte sie Mama gefragt.

„Natürlich weiß ich das, wenn nicht ich, der ich über zwanzig Jahre im Schuldienst bin. Aber, mein liebes Kind, zum Lehrer-Ärgern gehören immer zwei Seiten. Eine Seite, die ärgert und die andere, die es sich ohne Gegenwehr gefallen lässt. Und da war man bei mir immer an der falschen Adresse, das kann ich dir versichern. Du hast dir eben in die Tasche pinkeln lassen, du hättest einfach mehr Kopf zeigen müssen, aber das konnte dein Vater ja auch nicht.“

Was hätte Rose nicht alles entgegnen können auf diesen Einwand?

„So gemein wie du bin ich eben nicht, du hast doch sowieso kein Herz, du bist doch nur an deiner eigenen Machtstellung interessiert, Papa hast du ja auch immer klein gemacht, bis er sich am liebsten aufgelöst hätte, deshalb ist er auch so früh gestorben, oder was glaubst du, warum sein Herz so früh versagt hat, weil du ihm das Herz jeden Tag schwer gemacht hast mit deiner Missachtung, dabei hast du nur seinen adligen Namen gewollt, weil du so hochnäsig bist, mich hast du auch nie geliebt, ich war dir immer zu hässlich, zu schwach, zu dick. ‚Ganz und gar nicht glamourös‘, hast du immer zu Cousine Doro gesagt.“

Aber Rose hatte damals nur geschwiegen.

Mama war jedoch noch lange nicht fertig gewesen.

„Was haben deine Schüler denn Schreckliches mit dir angestellt, dass du nach so wenigen Wochen die Flucht vor ihnen ergriffen hast?“

Rose hatte eigentlich nicht die geringste Lust gehabt, über ihre Schmach zu sprechen.

Mama kannte den Schulleiter aber gut, und wenn sie kein Futter vorgeworfen bekam, würde sie sofort anrufen, sich erkundigen und Rose noch mehr blamieren. Und der Schulleiter, der Polterschnauz, wie ihn alle hinter seinem Rücken nannten, würde am nächsten Morgen natürlich nichts Besseres zu tun haben, als die Story in der ersten großen Pause bei seinen Fans im Lehrerzimmer zum Besten zu geben, der war doch sowieso in der Infantilisierung des Lehrerstandes hängen geblieben.

Einen kleinen Vorwurf einbauen, das war die beste Vorwärtsverteidigung.

„Wenn du mich vielleicht mal in den ersten Wochen gefragt hättest, auch ein bisschen Interesse an meinem Berufsweg gezeigt hättest, ausgeschlossen wäre es ja nicht gewesen, dass du mir nach zwanzig Jahren, wie du gerade betont hast, hättest auch mal ein paar hilfreiche Tipps geben können.“

„Deine Vorwürfe kannst du dir sparen, sie tangieren mich nicht, aber du hast auf meine Frage, wie üblich, nicht geantwortet, gnädiges Fräulein!“

Mama hatte sich bei diesen Worten in den Wohnzimmersessel gesetzt und die Beine übereinander geschlagen.

„Ich hab’ keine Ruhe in die Kinder reingekriegt. Kann ich einfach nicht. Sie haben jeden Morgen über mich gelacht, sogar im Unterricht, nicht nur auf dem Flur, wenn ich entlang gegangen bin. Und sie haben mir eine Kalorientabelle auf den Schreibtisch gelegt.“

„Da hast du wahrscheinlich in deinem chaotischen Denken keine Struktur aufgebaut und dann konntest du nichts vermitteln. Das war auch bei“.

An dieser Stelle hatte Mama sich tatsächlich unterbrochen, ihr Redefluss war aber nur für einige Sekunden versiegt:

„Was die Kalorientabelle anbetrifft, da könntest du dich einfach mal an deine eigene Nase fassen, was erwartest du denn von jungen Menschen? Das versteht sich doch von selbst, was die bei ihrem Lehrer für ein Aussehen erwarten! Nun ja, ich kann dich von meinem kleinen Gehalt und dem bisschen Witwenrente von deinem Vater nicht durchschleppen, da musst du dir eben was suchen, wovon du leben kannst.“

Wham, bam.

Thank you, M’am.

Flashback

Hatte Rose schon oft gehabt, obwohl sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen Joint geraucht hatte.

Mama im Sessel. Auf dem Schoß ihre Katze. Mama hatte sie Daisy getauft, wegen ihrer Affinität zur englischen Sprache. Daisy schnurrte so laut, dass Rose, die bestimmt zwei Meter von Mama entfernt stand, die Wohllaute noch hören konnte.

Mama streichelte Daisys wunderschönes seidiges Fell, kraulte sie hinter den Ohren, in regelmäßigen Abständen beugte sie sich hinunter, um Daisy einen Kuss auf ihren wohlgeformten schlanken Kopf zu hauchen.

Rose war damals noch ein kleines Mädchen gewesen, nicht älter als fünf, sechs Jahre. Sie wollte auf Mamas Schoß sitzen, Mama sollte mit ihr schmusen, sie küssen, Rose wollte sich an sie kuscheln. Sie hatte sich zu Mamas Füßen gesetzt und ihr Bein mit ihren Händen umklammert, ihren Kopf an Mamas Wade gedrückt. Ganz kurz hatte Mama Rose so verharren lassen, dann hatte sie gesagt: „Kind, warum um alles in der Welt sitzt du denn auf dem Boden? Jetzt steh’ schon auf, mein Bein schläft mir ja ein.“

Danach hatte Rose es nicht mehr versucht.

Papa war immer nur still gewesen, hatte sich verkrochen, ihr ab und zu über den Kopf gestrichen, sie angeschaut und ihr zugelächelt. Das Schmusen hatte er wohl verlernt.

Hanne

Als Hanne plötzlich neben ihr stand, merkte Rose erst, wie weit ihre Gedanken gewandert waren.

Hanne hatte die Hände gefaltet, sie trat von einem Fuß auf den andern, ihr Mund stand wie immer etwas offen und vermittelte dem Betrachter das stupide Image, unter dem Hanne zu leiden hatte. Sie schaute noch unglücklicher drein als sonst.

Rose blickte sie von unten an.

„Willst du etwas mit mir besprechen, Hanne?“

Hanne nickte, wortlos.

Dann flüsterte sie: „Komm’ um halb vier runter in den Frühstücksraum.“

Sie blickte sich im Großraumbüro nach allen Seiten um, dann machte sie kehrt und eilte zurück zu ihrem eigenen Schreibtisch.

Vielleicht überlegt sie, die Seiten zu wechseln, möglicherweise könnte ich einen Alliierten gegen die sich zusammenbrauende Übermacht gewinnen, sinnierte Rose und empfand zum ersten Mal an diesem hundsgemeinen Tag so etwas wie Freude.

So furchtbar ist die Arbeit hier ja gar nicht, und ich kann auch ganz gut von meinem Geld leben. Vielleicht bin ich einfach zu empfindlich. Rose nahm sich vor, das zu ändern.

Im Frühstücksraum

Der Frühstücksraum war schon fast dunkel. Falls Hanne hier irgendwo war - sie hatte kein Licht angemacht.

„Lass das Licht aus, sie sollen uns nicht sehen. Ich sitze hier hinten!“

„Total albern find’ ich das, aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich“, murmelte Rose und tastete sich in Hannes Richtung.

Hanne zog sie am Arm.

„Setz dich. Ich muss dir was erzählen. Aber versprich mir, dass es unter uns bleibt, sonst bin ich verloren.“

„Also Hanne, hat dich der wilde Watz gebissen oder warum benimmst du dich so komisch?“, entgegnete Rose.

„Du hast einfach keine Ahnung. Die zwei machen mobil, und wenn ich nicht aufpasse, bin ich das nächste Opfer, da kannst du dich drauf verlassen.“

„Wovon sprichst du eigentlich, Hanne?“

„Heute Morgen, das war der Anfang. Sie wollen einen richtigen Feldzug gegen dich starten. Und zu mir haben sie gesagt: „Hanne, wer nicht für uns ist, der ist gegen uns, das merk’ dir. Den Sickdorf, den haben sie auch schon rumgekriegt. Der hat dich sogar schon bei der Möller angeschwärzt. Die Sina, ich verrat’s dir, aber nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit, die hat schon öfter über dich gelästert. Aber seit die Karin in der Firma ist, da haben die beiden sich richtig gegen dich verschworen. Du wärst eine eingebildete Zicke, würdest dir auf dein ‚von‘ was einbilden und auch auf dein Abitur und Studium, so, als ob du was Besseres wärst. Sie haben im Glaskasten am Schrank das Betriebsfoto aufgehängt, und die Karin, die wirft immer auf dich in der Mittagspause, und dann lachen sie alle. Die Karin ist immer besonders kiebig. Ich wollt’s dir nur erklären, warum ich ab jetzt nicht mehr bei dir sitzen kann und warum ich auch nicht mehr mit dir sprechen werde. Die Griet, die hat ihren Platz genau neben meinem Schreibtisch und die ist dick befreundet mit der Sina, deshalb ist die wichtiger für mich als du, Rose. So, jetzt hab’ ich’s dir gesagt, und hoffentlich bist du mir nicht böse.“

Mit diesen Worten stand Hanne abrupt auf, lief eiligst zur Tür und ließ Rose im Dunkel zurück.

Erst grinste Rose, dann lachte sie.

Herrlich, da geht’s doch einem in der Firma noch schlechter als mir!

Immerhin. Mitleid gibt’s umsonst, Neid muss man sich verdienen. Rose lachte glucksend weiter, die Tränen liefen ihr die dicken Backen herunter. Es geht immer noch ein bisschen was, auch wenn man sich selbst schon am untersten Unglückslevel angekommen wähnt. Selbst die dumme Hanne, meine Hackordnungsnachbarin, kann mich noch verlassen.

Chapeau. Rose verneigte sich vor einem imaginären Publikum. Gerade eben hat sich das Dream-Team von Dick und Doof von Ihnen verabschiedet.

Das Wochenende wirft seinen Schatten voraus

Rose tastete sich zum Ausgang und stampfte für die letzte Stunde der Arbeitswoche die zwei Treppen hinauf.

Zurück an ihrem Schreibtisch, hörte sie Gesprächsfetzen von Griet, zwei Schreibtische vor ihr.

„…freuen uns so auf heut’ Abend. Sina und Jo kommen auch mit. Das wird bestimmt `ne ganz tolle Party.“

Tolle Party wird’s bestimmt auch bei mir zuhause, dachte Rose. Fräulein Kätzchen wartet schon auf mich, vielleicht hat sie mir wieder ein Geschenk hingelegt, und Mama wartet auch schon. `Nen Mann hab’ ich zwar nicht, aber immerhin ‘ne Katze zum Schmusen und `ne Mutter am Nagel. Ach ja, den sensationellen Fernseher, den hätt’ ich doch bald vergessen!

Rose schloss ihren Computer, legte alle Blätter in die oberste Schreibtischschublade, wartete auf das Vorrücken des großen Zeigers der Büro-Uhr und verließ, ohne sich an dem üblichen „Tschüs“, „Schönes Wochenende!“, Küsschen links und rechts, zu beteiligen, eilig und ohne irgendjemanden anzuschauen, das Büro.

Heim

Regen, Straßenbahn, Pfützen.

Siebenundzwanzig Minuten, wenn sie die erste Bahn gleich erwischt.

Sieben Stockwerke, vierzehn Mietparteien, sechs Treppen. In der zweiten Etage, nach zwei Treppen oder einer viertel Minute Fahrstuhl, wohnt Rose.

An der Wohnungstür hängt das Porzellantürschild aus Mamas Nachlass. Ein Geschenk von Cousine Doro. Mit Katzenmotiv.

Rose hat „Familie“ überklebt und „Rose“ auf den Papieraufkleber geschrieben. Hier wohnt Rose von Dorth.

Zuhause

Endlich allein, dachte Rose, als sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss zog.

Fräulein Kätzchen von Dorth saß im Vorraum. Sie blickte Rose mit ihren schönen Augen an. Rose bückte sich und strich ihr über den Kopf. Kätzchen rührte sich nicht, ließ die Liebkosung ohne Reaktion über sich ergehen.

„Hast du wieder was zum Spielen mitgebracht?“, fragte Rose.

Sie öffnete schnell die Zwischentür, schloss sie eilig und trat ins Wohnzimmer.

Sie liebte diesen Moment des Wochenendes. Zwei Tage niemandem begegnen, außer Mama am Nagel und Fräulein Kätzchen von Dorth.

Rose legte ihren Mantel über den Stuhl, ließ sich auf das Sofa fallen und begegnete Mamas missbilligenden Blick.

„So wie sie aussieht“, hatte Mama zu Cousine Doro bemerkt, „wird sie wohl nie einen Mann kriegen“.

Rose griff nach ihrer Handtasche und schleuderte sie in Richtung des Mamabilds. Die Tasche fiel zu Boden, Mama blieb am Nagel hängen und lächelte wie immer. Kalt und überlegen.

Zum Spielen

Vom Vorraum hörte Rose plötzlich ein Kreischen, einen hohen Ton, wie von einem kleinen Kind in Not. Rose blieb sitzen. Den Ton kannte sie bereits. Beim Heimkommen war Fräulein Kätzchen schon so verdächtig ruhig gewesen. Wahrscheinlich war das kleine Wesen, das sie sich zum Spielen und Töten mitgebracht hatte, in seiner Not zunächst unter die Kommode entkommen. Rose würde warten, bis Kätzchen ihr Werk vollendet hatte. Die nahm sich mit dem Töten meistens Zeit, zögerte den Tod hinaus, ließ Vogel oder Maus ein paar Mal scheinbar entkommen, biss erst endgültig den Hals durch, wenn sie selbst genug Freude gehabt hatte.

Roses Blick fiel auf die andere Katze, auf Daisy, die dritte, die auf einem kleinen Brett neben Mama an der Wand saß.

„Na, wie gefällt’s dir da oben? Würdest wohl gerne mit Mama schmusen, geht aber nicht mehr, ihr seid nämlich beide mausemausetot, mein Schatz!“

Ein erneutes Kreischen aus dem Vorflur.