Erzähl Dir ZeitGeschichten - Luise Link - E-Book

Erzähl Dir ZeitGeschichten E-Book

Luise Link

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Beschreibung

Erzähl Dir ZeitGeschichten ist eine überarbeitete und erweiterte Version der drei Bände von Erzähl Dir Zeit. Entstanden sind auf knapp vierhundert Seiten drei Abteilungen mit Erzählungen, kurzen und Kürzest-Geschichten - für den Leser mit viel, etwas und wenig Zeit. Wer gern über die Liebe und ihre Verwicklungen liest, wer sich für zukünftige Welten oder Geheimnisse der Gegenwart interessiert, ist bei diesem Buch genauso aufgehoben wie der Liebhaber von Besinnlichem, Komödiantischem oder Politisch-Satirischem. Ein bunter Reigen unterschiedlicher Genres und Blickwinkel, eine gute Portion Spannung und Lesevergnügen!

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Seitenzahl: 468

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Mach keine Geschichten,

sagte der Gatte zur Gattin,

als sie ihm ihren Neuen vorstellte.

Erzähl Dir Zeit, Band 1

Die zwei größten Tyrannen der Erde,

der Zufall und die Zeit.

J.G. von Herder

Erzähl Dir Zeit, Band 2

Haben Sie denn auch etwas

zu sagen oder zu fragen,

gnädige Frau?

Erzähl Dir Zeit, Band 3

Inhalt

Vorwort

Erzählungen

Die Stufen der Wahrheit

Samuel McGregor

He-She-It

Rose von Dorth

Indianischer Sommer

Der Geburtstag

Hermann und Dorotea

Der Duft

Kurze Geschichten

Alice

Ich bin so frei

Tian

Hoa, mon amour

Im Krug

Frau Hampel und Herr Mann

Wie Großonkel Kurt aus der Zeit fiel

Heini

Schwein oder Gans?

Ohne Titel

Besuch bei der alten Dame

Le Soleil

Sauerbier

Der Aadell

Frau P bei Herrn P

Benjamin beim Peuschel

Beste Freundinnen

Frau Graf

Kürzest-Geschichten

Glückstagebuch

Karoline

Vom ABC

Närrische Tage

Hans und Käthe im Glück

Im Licht betrachtet

Sammler

Von dem Schatten, von den Hasen und von der furchtbar furchtbaren Angst

Krank

Urlaub

Spiel mir das Lied

Sommer ade

Platz machen

Davon

Gerechtigkeit

Der erste Tag

Der Backes

Vom Bücherlesen

Ortsbegehung

Wat dat Volkherr jesacht hätt

Experiment: Schlechter Text – Wer Wie Was?

Von Schimpansen und Löwen

Bei Otternbusch und Partner

Tante Anne und Biene Maja

Nimm meine Hand

Pferd und Esel

Von der Giraffe und dem Frosch

Der Tod von Mrs Bumblebee

Die dumme Kuh und die freche Ziege

Der letzte Zug der Graugänse

Die Autorin

Vorwort

Die drei Bände von Erzähl Dir Zeit sind in 2016 erstmals erschienen. In der vorliegenden, in einem größeren Format erscheinenden Gesamtausgabe, fasse ich nun alle Erzählungen zusammen. Einiges wurde überarbeitet oder musste neu geordnet werden. Lange habe ich überlegt, welches Prinzip ich hierbei anwenden sollte.

Die lustigen und die traurigen Geschichten kenntlich machen, so dass der Leser entsprechend seiner Stimmung auswählen kann?

Nach Genre? Die Kurzgeschichten, die Fabeln von den satirischen oder utopischen Texten trennen?

Oder vielleicht doch nach Inhalt: Liebe, Eifersucht, Witz, Mord, Tod, …?

Letztlich habe ich mich für die Textlänge entschieden, von lang zu kurz und kürzest.

In den drei Jahren, die seit der Erstveröffentlichung vergangen sind, entstanden eine Reihe neuer Geschichten. Ich habe sie dieser Ausgabe hinzugefügt. Ein paar alte fielen dem Rotstift zum Opfer.

Wo und wie auch immer Sie dem Erzählten begegnen werden – ich wünsche Ihnen dabei viel Lesevergnügen!

„Die Kunst des Erzählens besteht darin, eine Katze mit maximalem Effekt aus dem Sack zu lassen.“

Hellmuth Karasek

Die Stufen der Wahrheit

Clara

„Mach die Kerzen aus! Hier passt doch sowieso nichts mehr zusammen.“

„Sei still“, flüsterte Irene. „Mama kann alles hören. Die Küchentür ist offen.“

„Deine ewige Rücksichtnahme und Leisetreterei, Schwesterchen, ist kontraproduktiv“, entgegnete Michael. „Mama muss endlich kapieren, dass sie zumindest peinlich, wenn nicht schon auf dem Weg in den Wahnsinn ist. Es wird Zeit, dass wir ihr die Augen öffnen. Und der heutige Tag ist gerade richtig. Wann sind wir denn schon mal zusammen hier? Das dauert doch wieder Monate. Und bis dahin kann sie längst durchgeknallt sein. Ich jedenfalls halte meinen Mund nicht mehr. Und ich werde Mama zwingen, sich zu entscheiden.“

Clarissa meldete sich zu Wort.

„Hast du mal drüber nachgedacht, dass Mama vor acht Monaten den Verlust von Papa verkraften musste? Ich finde, sie ist total tapfer. Und dass sie unter dem Druck ein bisschen komisch ist, für mich ist das mehr als verständlich. Sei froh, dass sie uns in Ruhe lässt. Sie könnte auch verlangen, dass wir jeden Tag an ihrer Seite sind. Aber sie fordert nie etwas.“

Michael schüttelte den Kopf.

„Ihr tut Mama mit eurer Nachsicht überhaupt keinen Gefallen, nur euch selbst. Ihr bestätigt ihren Kurs. Ihr seid eben zu bequem und feige, ein Zeichen zu setzen. Aber ich werde euch heute zu einer Stellungnahme zwingen. In Mamas Interesse.“

Die Küchentür wurde aufgestoßen und Clara kam, die Platte mit dem Rehrücken in der rechten Hand, herein. Drum herum hatte sie Preiselbeeren und Pilze gelegt. In der linken Hand balancierte sie die Schüssel mit den dampfenden Knödeln, ein traditionelles Gericht aus Claras Heimat. Sie stellte beides vor den Kindern auf den Tisch, holte die Saucière.

„Warum habt ihr denn die Kerzen auf dem Adventskranz ausgemacht?“, fragte sie.

„Michael wollte es so“, antwortete Irene.

Clara griff nach den Streichhölzern, zündete die Kerzen wieder an.

„Lasst es euch schmecken, Kinder“, sagte sie und schob Michael, dem Ältesten, die Platte hin.

Drei Wochen später, an einem anderen Ort

Irene

„Als unsere Mutter dann in der Küche war, um das Dessert zuzubereiten, hat Michael verlangt, dass wir ihr ein Ultimatum setzen. Dass sie ihre merkwürdigen Verhaltensweisen und den Quatsch, den sie erzählt, aufgeben muss und dass wir sie deshalb erst wieder zu Ostern besuchen würden, bis sie sich alles überlegt hat.“

Irene fing an zu weinen.

„Mutter war wie versteinert, als wir ihr das gesagt haben. Michael hat darauf bestanden, dass wir am ersten Weihnachtstag alle nachhause zurückfahren. Wir dachten, wir müssen Mama von ihrem Weg abbringen. Und wir wussten uns einfach keinen anderen Rat als den. Und seitdem haben wir sie nicht mehr gesehen. Das Haus ist leer, ans Handy geht sie auch nicht, keine SMS, keine Mails. Sie ist verschwunden. Spurlos, so wie Papa.“

Der Journalist

Irene hatte so lebendig erzählt, dass ich den Eindruck hatte, beim Weihnachtsessen dabei gewesen zu sein.

„Von welcher Behörde kommen Sie denn genau?“, fragte Irene. „Wir haben unsere Mutter nämlich vor einigen Wochen schon, nachdem wir ihr Verschwinden entdeckt haben, als vermisst gemeldet. Bei der Polizei hatten sie uns versprochen, sich zu kümmern. Aber niemand hat uns noch mal befragt. Da blieb uns nichts übrig, als die Zeitung zu informieren. Vielleicht kriegen die ja etwas raus.“

„Ich bin freier Journalist. Der Chronicle hat mich mit der Recherche beauftragt. Ich hoffe, dass ich etwas über den Verbleib Ihrer Mutter herausfinden kann.“

„Vielleicht hängt ja das Verschwinden meines Vaters vor acht Monaten damit zusammen. Da ist die Polizei auch total untätig. Haben Papa verdächtigt, sich wegen einer anderen Frau auf und davon gemacht zu haben. Aber Papa hat Mama über alles geliebt. Das hätte der nie getan. Und uns hätte er das auch nicht zugemutet, so war Papa nicht.“

„Vertrauen Sie mir, Irene. Ich werde alles daran setzen, die Spur Ihrer Mutter zu verfolgen.“

Ich schüttelte Irenes Hand und machte mich auf den Weg in die Redaktion. Der Verdacht, der nun schon einige Wochen bei den Leuten und in den Lokalzeitungen herumgeisterte, war irrwitzig, hatte aber auch mich schon beschlichen.

Mane

„Finden Sie eine vernünftige Erklärung für den ganzen Quatsch. Und bitte schnell, denn die Leute fangen an durchzudrehen.“

Mane saß mir gegenüber in seinem dicken Chefredakteurssessel.

„Und wenn es keine vernünftige, logische Erklärung dafür gibt, sondern die Leute mit ihren Vermutungen recht haben?“, fragte ich.

„Ich glaube, ich habe mich klar ausgedrückt, nicht wahr. Wir als Presse haben eine Verpflichtung dem Gemeinwohl gegenüber. Und das heißt, Ruhe in der Gesellschaft bewirken und bewahren helfen ist vorderste Pressepflicht.“

„Und wenn die Wahrheit eine völlig andere ist? Haben unsere Leser nicht auch ein Recht auf die Wahrheit? Ist nicht diese erste Pressepflicht, Herr Mane?“

„Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie hier bei uns als freier Journalist arbeiten? Eine Zusatzinformation, bevor ich fortfahre. Es dürfte Ihnen sicher bekannt sein, dass der Chronicle in einem Verbund mit weiteren elf Zeitungen landesweit in einem Dachverbund organisiert ist. Wenn Sie also beabsichtigen, weiter als freier Journalist zu arbeiten, rate ich Ihnen dringend, genau das zu finden, was dem faulen Zauber ein Ende bereitet. Haben Sie mich verstanden?“

Ich nickte, war mir aber durchaus nicht sicher, ob ich vor einer Wahrheit, wäre sie auch noch so abstrus, die Augen und den Mund verschließen würde. Ich war schon immer ein Kamikazeflieger.

Dr. Brauer

Manes Sekretärin hatte mir Brauers Adresse und Telefonnummer gegeben.

„Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie nicht sagen, von wem Sie die Adresse haben. Mane wird mich sofort hinauswerfen. Ich kann mich doch auf Sie verlassen?“

„Sichere Quellen sind immer sicher“, hatte ich sie beruhigt.

Jetzt stand ich vor Brauers Wohnung. Für einen Doktor der Astrophysik eine bemerkenswerte Gegend und ein bemerkenswerter Wohnblock. Beides total heruntergekommen. Das Treppenhaus roch muffig und fischig. Warum musste ein derart bekannter Mann hier wohnen? Nach dem zweiten Läuten wurde die Tür geöffnet. Ich nannte meinen Namen, der Doktor bat mich hinein. Im kleinen dunklen Wohnzimmer nahmen wir Platz.

„Herr Doktor Brauer, Sie wissen ja in groben Zügen, um was es geht. Vor acht Monaten ist der bekannte Rechtsanwalt Richard Hynes spurlos verschwunden. Die Familie hat eine Vermisstenmeldung aufgegeben. Ob die Polizei in der Sache sehr aktiv gewesen ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Sechs Monate später verschwindet seine Frau, Clara Hynes. Ebenso spurlos und unauffindbar wie ihr Mann. Die drei Kinder sind natürlich in großer Sorge, vor allem, weil sie der Polizei Untätigkeit unterstellen. Sie haben sich an die Zeitungen gewandt und das hat eine Lawine ausgelöst. Die Gerüchte überschlagen sich. Außerirdische hätten die beiden entführt, mutmaßen die Leute. So ein Verschwinden macht in dieser ländlichen Gegend viel Aufruhr und Angst. Der Chronicle hat mich als freien Journalisten mit der Recherche beauftragt. Es soll Licht in das Dunkel gebracht werden.“

„Eher Dunkel in das Licht“, lachte Brauer.

„Darf ich fragen, was Sie damit meinen?“

„Sollte es sich tatsächlich um eine solche Sache handeln, wird der Chronicle alles tun, um den Sachverhalt zu verschleiern. Ihnen, junger Freund, kann ich nur raten, sehr vorsichtig mit Ihren Aussagen zu sein, weil Sie sonst lebenslang in einer Gegend und einer Wohnung wie dieser Ihr Dasein fristen werden. Ich dachte auch einmal, man müsste immer und überall die Wahrheit sagen. Das ist mir, wie Sie unschwer erkennen können, schlecht bekommen. Erst habe ich meinen Job verloren, wurde verleumdet, diffamiert, für verrückt erklärt. Dann kam die gesellschaftliche Ächtung, meine Frau hat’s nicht ausgehalten und meine Kinder wollten keinen Irren zum Vater. Ging alles aber trotzdem nicht anders. Ich bin nun mal so wie ich bin.“

„Glauben Sie, dass die beiden von Aliens entführt wurden?“

Brauer lachte wieder.

„Wissen Sie, mit dem Glauben hab ich’s nicht so. Ich hab ja damals nicht geglaubt, dass ich ein UFO gesehen habe, sondern etwa fünfhundert andere Leute neben mir sahen es auch. Und dort, wo es dann gelandet ist, hat es Spuren hinterlassen. Die gesamte Vegetation war verbrannt – oder verdorrt, das konnte man nicht so genau unterscheiden. Und deutliche Spuren im Erdboden, die waren ebenso auszumachen. In meiner Naivität habe ich zunächst meiner vorgesetzten Behörde alles berichtet, man erlegte mir Schweigen auf. Nach ein paar Jahren brach ich das Schweigegelübde, weil ich es nicht mehr vor mir verantworten konnte. Mit dem Ergebnis hier.“

„Können Sie mir einen Hinweis in der Sache geben?“

„Ich werde Ihnen einige Adressen von Institutionen und Leuten geben. Die Sache mit den UFOs und den Aliens, da gibt es ja schon Forschung, Beobachtungen und einiges mehr. Aber Sie hören nichts, zumindest nicht viel davon. Wenn hier Aliens gewesen sind, dann haben auch andere Leute die beobachtet. Dann müsste etwas bekannt sein.“

Er ging in einen anderen Raum und kam mit einem Papier zurück.

„Hier ist die Liste. Telefonieren Sie sich erst einmal durch, vielleicht werden Sie fündig.“

Philips

„Vor neun Monaten hat es in der Gegend um Archhill einige Sichtungen gegeben“, sagte Major Philips vom Cemeta Institute, einer privaten Institution für UFO-Forschung.

Dr. Brauer hatte sich noch einmal für mich verwenden müssen, bis ich nun heute hier empfangen wurde.

„Mehr wissen wir über diese Sache nicht“, fuhr Philips fort. „Vor drei Monaten allerdings gab es dann, wiederum dort, eine ganze Welle von merkwürdigen Erscheinungen mit vielen zuverlässigen Zeugen. Einige Piloten der Airforce sollen Meldung gemacht haben. Als wir dann aber vorstellig geworden sind, konnten wir nichts erfahren. Einige Kollegen hier nennen das ‚Schweigekartell‘. Ich kann Ihnen auf der Karte zeigen, wo die Sichtungen konzentriert waren. Schauen Sie, hier! Sie können die Karte mitnehmen. Vielleicht hilft sie Ihnen weiter.“

Ich bedankte mich bei dem Major und verließ das Gebäude.

Am Archhill-See

Irene hatte mir mehrere Fotos von ihrer Mutter und zwei von ihrem Vater mitgegeben. Ich hatte sie in der Redaktion vergrößern lassen. Waren jetzt etwas unscharf, wirkten aber trotzdem lebensnäher.

Mit einem gemieteten Auto und Proviant für drei Tage machte ich mich auf den Weg. Ich hatte mir die Berichte von den Zeugen, die eine Aussage gewagt hatten, genau angesehen. Übereinstimmend berichteten sie von flachen metallischen Flugkörpern, rund, manche auch dreieckig, mit einem Saum leuchtender Scheinwerfer an der Unterseite, die in rasender Geschwindigkeit aus dem Nichts auftauchten, einige Zeit schwere- und lautlos über einer Stelle schwebten und wieder im Nichts verschwanden. Von Kontakten mit irgendwelchen Insassen der Gefährte, von Entführungen, hatte in den Akten nichts gestanden. Hierher zu fahren und drei Tage und drei Nächte auf Aliens zu warten – das glich der Suche nach der Nähnadel im Heuhaufen.

In der Redaktion hatte ich von meinem Vorhaben natürlich nichts erzählt. Man hätte mich sofort als absoluten Spinner klassifiziert, Mane hätte mir den Auftrag wohl augenblicklich entzogen. Aber Anhaltspunkte, die kriminelle Machenschaften oder rätselhafte Unfälle für das Verschwinden des Ehepaars verantwortlich machten – die waren genauso unwahrscheinlich und hirnrissig wie das, was ich jetzt ausloten wollte.

Ein bisschen unheimlich war mir, als es immer dunkler wurde. Da schon der ganze Tag wolkenverhangen gewesen war, erhellte nicht ein einziger Mondstrahl die Szenerie.

Ich war wohl gerade eingeschlafen, als ich laute Geräusche, Geheul, wie von Sirenen, wahrnahm. Ich schaltete die Taschenlampe an. Die Bäume, die den See umstanden, bogen sich im aufkommenden Wind, eher einem Sturm. Ich lag stundenlang wach und schlief erst gegen Morgen ein.

Der nächste Tag verlief unspektakulär. Der Wind hatte sich gelegt und war einem sanften immerwährenden Regen gewichen. Fast heimelig war es in meinem Auto. Allerdings begannen die Beine, Knie und Füße wegen der Enge allmählich zu schmerzen und der Zigarettenrauch von zwei Tagen, der auch durch Lüften nicht mehr zu vertreiben war, hatte sich in die Polster gefressen. Ich beobachtete aufmerksam den Himmel, als die Dämmerung hereinbrach. Nichts. Die Wolken hatten sich in den vergangenen Stunden abgeregnet und das Mondlicht erhellte den See und die umgebende Landschaft. Wenn ich hier mit einem hübschen Mädchen gesessen hätte, wäre es sehr romantisch gewesen. Ich schlief wegen der Schmerzen schlecht, meine Augen tränten. Immer wieder wachte ich kurzzeitig auf und war am Morgen wie zerschlagen. Gottseidank war heute der dritte, der letzte Tag. So viel konnte mir der Chronicle gar nicht zahlen, dass ich mich noch länger hier an diesem See herumgedrückt hätte. Ich würde Mane irgendetwas auftischen müssen, vielleicht eine Revolvergeschichte von einer Räuberbande oder einem Serienmörder – vielleicht würden er und die Bevölkerung es fressen.

Am Abend zogen wieder Wolken auf und verbargen Mond und Sterne. Es war ratzeduster. Irgendwann musste ich todmüde eingeschlafen sein.

Mitten in der Nacht

Plötzlich ganz helles Licht. Die Autotür auf der Fahrerseite ist geöffnet, das Licht trifft mich auf der Brust, wie ein dumpfer Stoß. Sofort empfinde ich heftige Schmerzen. Der Lichtstrahl erfasst mich, wie ein riesiger Greifarm zerrt er mich aus dem Auto. Ich muss die Augen vor seinem Gleißen und Blitzen verschließen. Wieder dumpfe Stöße und Schläge, jetzt auf den Rücken, auf den Kopf. Ich versuche, die Augen doch ein wenig zu öffnen. Sofort wird alles schwarz um mich. Der Arm, etwas, zieht mich immer weiter. Oder immer höher? Wie lange, weiß ich nicht. Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Das Licht scheint etwas schwächer zu werden, ich öffne meine Augen einen Spalt. Ich bin nicht mehr blind, ich kann wieder sehen. Eine ältere Frau steht vor mir, über mir. Sie hat einen Adventskranz mit vier Kerzen auf dem Kopf. Die Kerzen brennen. Sie sieht aus wie Irenes Mutter auf dem Foto. Ich würde sie gerne etwas fragen, aber ich kann nicht, ich bleibe stumm. Die Frau schaut mich aufmerksam an, ihr Gesicht zeigt keinerlei Regung. Ich liege auf einem Tisch, auf einer Bahre? Jetzt drehe ich mich um – oder dreht man mich um? Mit dem Gesicht nach unten schaue ich auf einen tiefschwarzen Boden. Oder ist es nur grenzenlose bodenlose Dunkelheit? An meinem Rücken stumpfe Schläge. Ich höre nichts, ich spüre nur die Schmerzen.

Am Morgen

Es war heller Morgen. Endlich schien die Sonne. Kein Regen, kein Wind mehr. Wieviel Uhr war es? Meine Armbanduhr war stehengeblieben. Ich lag auf dem Fahrersitz, die Beine über das Lenkrad gelegt und in Richtung Vorderscheibe gestreckt. Mein Hemd wies mehrere Brandlöcher auf. Im Rücken spürte ich einen brennenden Schmerz, der sich auf eine Stelle zu konzentrieren schien. Wo war der Autoschlüssel? Ich bückte mich, um ihn im Auto zu suchen, da sprang der Wagen wie von Geisterhand an und begann sich zu bewegen. Ich fühlte mich merkwürdig, weder gut noch schlecht, fröhlich oder traurig, nur einfach anders. Ich erinnerte mich, dass ich am Nachmittag einen Termin mit Mane hatte. Und den würde und musste ich wahrnehmen.

Unterwegs

Ich stoppte an einer Tankstelle und füllte den Wagen auf.

„Der sieht ja wie ein Penner aus.“

Bildete ich mir nur ein, dass ich die Gedanken des Tankwarts gehört hatte? Vielleicht hatte er mich abschätzig angesehen und ich hatte seine Gedanken einfach nur erahnt? Ich war sicher nur übermüdet, meine Nerven angespannt. Ich stellte meine Armbanduhr nach dem Chronometer über der Kasse. Wieder in der Zeit gelandet zu sein, gab mir etwas Sicherheit.

Um 15.00 Uhr klopfte ich an Manes Tür. Er begrüßte mich von seinem Chefredakteurssessel aus, erhob sich nicht, bot mir keinen Platz an.

„Was haben Sie bis jetzt herausgefunden?“, fragte er.

Ich musste mich vor ihm in Acht nehmen.

„Dieser Idiot. Er hat sich verändert. Er hat mit dem Feuer gespielt.“ Das waren Manes Gedanken, die ich gerade gehört hatte. „Er muss kaltgestellt werden. Er weiß zu viel. Es gibt sonst eine Katastrophe“, vernahm ich Manes Stimme weiter in meinem Kopf.

Ich erkannte die Gefahr, die mir von ihm drohte und wandte mich zur Tür.

Die letzte Erkenntnis

„Jetzt können Sie also meine Gedanken lesen?“, raunte mir Mane ins Ohr. Er war blitzschnell aufgestanden und stand hinter mir. Mit der einen Hand hielt er mich fest, mit der anderen zog er den Kragen meines Hemds herunter und inspizierte meinen Nacken.

„Na bitte, Sie haben dich verstöpselt. Ich hab dich gewarnt, aber du musstest dich ja in Gefahr begeben, du dämlicher Kamikazeflieger.“

Er brauchte nicht weiter zu sprechen.

Ich wusste genau, wohin er mich bringen würde.

Samuel McGregor

Aufwachen

Als Samuel McGregor eines Tages aufwachte, fand dies Beachtung. Die Nachricht verbreitete sich. Für McGregor selbst vollzog sich der Vorgang langsam. Und sprunghaft. Er schlug die Augen auf. Gleißendes, unangenehmes Licht veranlasste ihn, sofort wieder die Augen zu schließen. Kurz danach musste er erneut in tiefen Schlaf gefallen sein.

Beim zweiten Mal war das Licht schwächer, nicht mehr so grell. McGregor erinnerte sich, dass unterschiedliche Helligkeiten mit Tageszeiten zusammenhängen konnten. Er hatte also möglicherweise einige Stunden geschlafen und es war bereits Nachmittag oder früher Abend. Er blickte nach oben, nach links, dann nach rechts. Er befand sich in einem sehr hohen Raum, in dem er die Decke nur schemenhaft wahrnahm. Überall dort oben waren Scheinwerfer, von denen jetzt offensichtlich einige ausgeschaltet worden waren. Die unterschiedlichen Grade von Helligkeit waren somit wohl nicht auf die Tageszeit zurückzuführen. Der Raum, die Halle, musste riesig sein.

Warum fühlte er seinen Körper nicht? McGregor versuchte seinen Kopf anzuheben, um einen Blick auf seinen Rumpf, seine Beine zu werfen. Es gelang ihm nicht.

Warum hatte er nicht alle seine Sinne zusammen? Fünf Sinne hatte ein Mensch, da war er sicher. McGregor wusste allerdings bereits seinen Namen. Samuel McGregor. Und dass ein Mensch, der Samuel hieß, ein Mann sein musste, daran erinnerte er sich auch. Das Grübeln erschöpfte ihn.

Als er zum dritten Mal aufwachte, spürte er immer noch nichts. Er öffnete die Augen.

Was war das? Gestalten, übermannshoch. Sie umringten sein Bett. Niemals vorher in seinem Leben hatte Samuel solche Wesen gesehen. Da war kein Irrtum möglich. Auf dem, was McGregor für Köpfe hielt, befanden sich zwei antennenähnliche Fühler. Die Kreaturen standen auf ihren zwei Hinterbeinen, hatten allerdings noch zwei weitere Arm- oder Beinpaare, die in gleichem Abstand und symmetrisch über den Körper verteilt waren. Sie waren unbekleidet, Kleidung hätte merkwürdig an ihnen gewirkt, fand Samuel. Der Körper bestand aus irgendeinem harten Material, hatte eine ovale Form. Schön, fand McGregor, waren die Wesen nicht. Eine der Gestalten trug am unteren Teil des Kopfes ein Gerät, das mit Bändern an den Fühlern festgebunden war. Eines der anderen Wesen bestand nur aus Körper, ihm fehlte der Kopf. Dort, wo er vielleicht einmal gesessen hatte, klaffte ein großes Loch. Trotzdem stand die Kreatur aufrecht neben Samuels Lagerstatt.

„Wir freuen uns, dass Sie endlich aufgewacht sind. In Ihren Unterlagen haben wir den Namen ‚Samuel McGregor‘ gefunden. Heißen Sie so?“

Samuel hatte die Worte und die Frage verstanden, er konnte also hören und begriff Zusammenhänge. Das war beruhigend. Die Stimme des Sprechers war einigermaßen deutlich gewesen, allerdings hallte das Gesprochene in der riesigen Halle wider und die Worte schepperten wie zerspringendes Geschirr, wenn es bei einer Hochzeit auf einen Haufen geworfen wird. Samuel erinnerte sich, dass er früher einmal geheiratet hatte, dass er bei dem Zerbersten des Geschirrs anwesend gewesen war. Mit wem er eine Ehe geführt hatte, das fiel ihm in diesem Augenblick nicht ein.

„Ja, ich heiße Samuel McGregor“, antwortete er nach einer Weile. Er hatte laut gesprochen. Er konnte also sehen, er konnte hören, er konnte sprechen. Und er erinnerte sich an einiges.

Die Gestalten kamen noch näher. Sie beugten sich über ihn, ihre Fühler schwebten über seinem Kopf, ihre Augen starrten ihn an. Ein merkwürdiger Geruch. Immer intensiver, nahezu unerträglich. Abgestandener, uralter, verfaulter Kohl. Auch sein Geruchssinn funktionierte also. Greifwerkzeuge fuhren über seinen Kopf, betasteten seine Wangen, strichen über seine Augen. Er spürte es, er freute sich, dass er fühlen konnte. Und empfand gleichzeitig panische Angst vor den Augenpaaren, den Fühlern, den Greifwerkzeugen, dem Gestank. Wenn er doch nur weglaufen könnte, weg aus dieser Halle, von diesen schreckerregenden Wesen. Er versuchte, den Kopf zu drehen, um wenigstens den starrenden Blicken zu entkommen. Es gelang ihm nicht. Sein Kopf lag nach wie vor auf der gleichen Stelle, unfähig zur kleinsten Bewegung. Sein Körper, nichts davon war bisher in McGregor‘s Bewusstsein zurückgekehrt. Er fühlte keine Arme, keine Hände, keine Beine, nichts.

Die Gestalt ohne Kopf und der Sprecher von vorhin traten noch etwas näher. Die anderen Wesen wichen zurück.

„Es hat sich bei Ihnen, soweit wir dies aus ihrer Akte ersehen konnten, bei der Behandlung eine Veränderung ergeben. Diese war im Verlaufe notwendig geworden, konnte vorher wohl nicht mehr mit Ihnen abgesprochen werden. Mittlerweile verfügen wir allerdings über eine sehr gute Möglichkeit, diese Problematik in gewisser Weise rückgängig zu machen.“

Welche Problematik? Welche Behandlung? Was musste rückgängig gemacht werden?

„Wir möchten Ihnen“, der Sprecher strich mit einem der Greifwerkzeuge über den gezackten äußeren Körpersaum des Wesens ohne Kopf, „Ihre Bezugsperson vorstellen.“

Mit den zwei unteren Greifwerkzeugen stieß der Sprecher den Kopflosen noch ein Stück näher, ganz dicht an Samuel heran.

Warum lebte diese Gestalt? Warum konnte sie stehen? Wo war ihre Steuerungszentrale, die ihr Bewegungen erlaubte?

„Was meinen Sie mit Bezugsperson?“

„Ich teilte Ihnen schon mit, dass bei Ihrer Behandlung eine Veränderung vorgenommen werden musste. Ich zeige es Ihnen.“ Der Sprecher fasste mit seinen oberen Greifwerkzeugen in Samuels Haare, ergriff seinen Kopf und hob ihn hoch. Samuel blickte hinunter. Schläuche, Leitungen, Pumpen, Technik. Sonst nichts. McGregor bestand nur noch aus seinem Kopf.

Er schrie. Er brüllte. Der Sprecher legte den Kopf zurück auf den gepolsterten Schemel, von dem er ihn heruntergenommen hatte.

„Sie werden sich vielleicht erinnern, dass Sie, nach Ihrem Tode, einer Kryonik-Behandlung unterzogen werden wollten. Dies ist im Jahr 2032 geschehen.“ Er entfernte sich etwas vom Schemel, auf dem McGregors Kopf lag, hatte kurz darauf eine Art Mini-Kissen in der Hand und schob dieses unter Samuels Kopf.

„Die erhöhte Lage wird Ihnen einen etwas größeren Beobachtungsradius erlauben“, sagte er und drehte sich zu den anderen Gestalten um. Mit den mittleren Greifwerkzeugen bat er um Ruhe, fixierte einige der Wesen etwas länger und intensiver. Er erinnerte an einen Professor, der seine Studenten oder Assistenzärzte zur Visite am Krankenbett eines Patienten versammelt. „Interessanterweise war dies“, fuhr er fort, „kurz vor dem richtungsweisenden Symposium in Los Angeles in 2034. Dort wurde der entscheidende Durchbruch erzielt, wenn Sie sich erinnern, meine Herren.“ Der Sprecher trat wieder näher an den Schemel. „Beim Einfrieren, Herr McGregor, stellten sich, das war in Ihren Akten zu lesen, durch ungünstige Umstände solche Gewebeschäden ein, dass man Ihren Kopf vom Körper trennen musste. Bei den Menschen, so haben wir den Schriften entnehmen können, sitzt das Bewusstsein offensichtlich allein im Kopf – und deshalb war die Behandlung auch in unseren Augen sinnvoll. “

Die Kraft zum Schreien hatte McGregor verloren. Sein Mund blieb stumm. Sein Kopf erinnerte sich. Er war ein wohlhabender Geschäftsmann gewesen, hatte Krebs gehabt. ‚Vielleicht sind irgendwann die Fortschritte in der Medizin so groß, dass man sie retten kann‘, hatte ihm der Arzt gesagt. McGregor hatte die Summe überwiesen und war mit der Hoffnung gestorben, eines Tages wieder aufzuwachen.

Ja, und das war jetzt geschehen.

Veränderungen

„Ihre behandlungsbedingte Veränderung, wir erwähnten es schon, kann in erheblichem Umfang rückgängig gemacht werden. Ihre Bezugsperson wartet schon.“

„Könnten Sie mich nicht einfach von den Schläuchen und Pumpen trennen?“, fragte Samuel.

„Davon müssen wir leider absehen. In Ihrem gegenwärtigen Befinden können Sie Ihre Situation nicht zutreffend beurteilen, es würde darüber hinaus die Rechte Ihrer Bezugsperson verletzen. Länger als neun Tage ist der Zustand, in dem sie sich momentan befindet, nicht tolerabel. Und der Fortentwicklung der Forschung muss ebenfalls Rechnung getragen werden. Guten Tag.“

Der Sprecher nahm das Gerät von seinem Mund, eine nach der anderen Gestalt trat vom Schemel zurück und McGregor meinte Schritte, Lärm von zerspringendem Geschirr und Gelächter zu hören. Der Gestank hing noch lange in der Luft.

Als jedes Geräusch verstummt war, wurde es plötzlich stockdunkel in der großen Halle. Alle Scheinwerfer waren mit einem lauten Knall erloschen.

Finsternis

Bis zu seinen allerletzten Tagen damals hatte Samuel gut geschlafen. In den jüngeren Lebensjahrzehnten ohne Hilfe, später hatten die Ärzte Medikamente gefunden. Obwohl nicht ein Lichtschein von irgendwoher hereindrang, blieb er nun aus, der Schlaf. Der kleine Bruder des Todes.

Dunkelheit. Stille. Schlaflosigkeit. McGregor hatte jedes Zeitgefühl verloren. Waren es Sekunden, Stunden oder die Ewigkeit? Für einen kurzen Augenblick irgendwann fiel er, ganz tief hinunter, rasend schnell. Für einen Moment spürte er seinen herabstürzenden Körper.

Abelson

„Hilfe, Hilfe!“

Was war das? Begannen jetzt die Halluzinationen? McGregor hätte sich die Ohren zuhalten wollen, war sich aber augenblicklich der Unmöglichkeit bewusst. Er war ausgeliefert, Eindrücken, die er hasste. Ohne Möglichkeit zur Flucht oder zum Rückzug. Er war vom Tode auferstanden. Musste er so jetzt ewig leben?

„Hilfe!“

McGregor war sich sicher, eine Stimme zu hören. Leise, fast ersterbende Laute nur, aber die Stimme eines Menschen.

„Wer spricht da?“

„Oh mein Gott, eine menschliche Stimme“, hörte McGregor die Antwort. Von irgendwoher.

„Wissen Sie, wo wir uns befinden?“

„In einer riesigen Halle, mit unzähligen Scheinwerfern an der Decke, die jetzt ausgeschaltet sind. Wissen Sie, wer Sie sind?“

„Nicht alles, die Erinnerungen kommen erst zurück. Ich bin Wissenschaftler. In der Telomeren-Forschung. Ich hatte Herzprobleme, das weiß ich.“

„Wollten Sie eine Kryonik-Behandlung?“

„Nein. Nein. Glauben Sie, ich war tot, und man hat mich eingefroren und jetzt bin ich wieder aufgewacht?“

„Es spricht einiges dafür.“

„Haben Sie schon mit den Ärzten gesprochen?“

„Ja.“

„Ich werde mich an den Chefarzt oder den Oberarzt wenden. Einen Menschen ungefragt, gegen seinen Willen, zum Leben zu verurteilen, das ist doch ein Skandal.“

„Sie werden vermutlich einige Überraschungen erleben.“

„Was heißt das? Sie machen mir Angst. Diese Dunkelheit hier. Und ich kann mich kaum bewegen, ich fühle meine Beine nicht.“

„Fühlen Sie Ihre Arme, Ihre Hände?“

„Ich fühle einen Arm, irgendwie, kann ihn aber nicht bewegen. Und weil ich mich immer noch nicht aufstützen kann, liegt mein Kopf, seit ich aufgewacht bin, auf der gleichen Stelle. Es ist zum Verrückt-Werden!“

Plötzlich ein Knall. Ohrenbetäubend. Dann gleißende Helligkeit. Die Scheinwerfer waren wieder angeschaltet worden. McGregor war für einen Augenblick blind. Schritte, Lärm von zerspringendem Geschirr, Laute, fast wie Gelächter, dann der Widerhall von Worten. Von irgendwoher.

„Wir freuen uns, dass Sie aufgewacht sind. Wissen Sie Ihren Namen schon?“

Das war die Stimme des Sprechers.

„Ich bin Professor Abelson. Ich möchte den Chefarzt sprechen. Wer sind Sie?“

„Herr Professor, Sie müssen sich auf einige Veränderungen einstellen. Ich bin der Sprecher und der Chefchirurg.“

„Was soll das heißen? Sie sehen aus wie ein Tier. Was soll der ganze Unfug? Ich verlange, augenblicklich den Chefarzt zu sprechen!“

„Beruhigen Sie sich. Sie werden einen Chirurgen dringend benötigen. Schauen Sie!“

McGregor wusste sofort, was geschah. Denn Professor Abelson – oder das, was von ihm übrig geblieben sein musste – schrie. Und brüllte.

Dann Schritte, das Verklingen der Laute, Stille.

Nach den Schläuchen und Pumpen hatte Abelson nicht gefragt.

Geschehen

McGregor versuchte nach links und rechts zu sehen. Das kleine Kissen befand sich noch immer unter seinem Kopf. Drei, vielleicht vier Meter entfernt konnte er die Umrisse eines Schemels, des Schemelsitzes, entdecken. Darauf musste Abelson liegen.

„Professor Abelson?“

Keine Antwort.

„Professor Abelson, Sie müssen sich mit den Gegebenheiten abfinden. Es scheint hier keine Menschen mehr zu geben, ich habe keinen einzigen gesehen oder gesprochen. Es muss etwas passiert sein. Und die Tatsache, dass wir von den Toten auferstanden sind, legt den Schluss nahe, dass wir uns in einer Zeit befinden, die weit in der Zukunft liegt. An welches Jahr können Sie sich erinnern?“

„2034.“

„Das ist ein merkwürdiger Zufall. Dieses Jahr hat der Sprecher im Zusammenhang mit einem Symposium in Los Angeles erwähnt. Dort scheint etwas Entscheidendes geschehen zu sein.“

„Es war der Durchbruch bei der Telomeren-Forschung. Ich habe federführend die Forschungsaktivitäten und dieses Symposium geleitet.“ Abelsons Kopf schrie wieder. Brüllte. Dann Schluchzen.

McGregor wartete, bis er keinen Laut mehr hörte.

„Was bedeutete denn ‚Durchbruch in der Telomeren-Forschung‘?“, fragte er.

„Wir hatten den Stoff entdeckt, der das Altern der Zellen und Telomere unterbricht. Und damit war der Weg zum ewigen Leben für die Menschheit in greifbare Nähe gerückt.“

Abelson fing erneut an zu schreien, brüllte, er wurde leiser, dann nur noch ein Wimmern.

Mit einem lauten Knall erloschen die Scheinwerfer.

Kleiner Bruder

Schlafen, nichts mehr fühlen, tot sein.

Nichts sehnlicher wünschte sich McGregor. Aber nicht einmal die Gnade kurzer Bewusstlosigkeit wurde ihm zuteil. Er versuchte sich an Techniken zu erinnern, die er früher, in seinem ersten Leben, eingesetzt hatte, um zur Ruhe zu kommen. An Yoga erinnerte er sich. Dazu benötigte man einen Körper. Tabletten. Es gab so viele gute Tabletten. Dazu benötigte man einen Stoffwechsel, den hatte er nicht mehr. Wie hatte er das Nichts gefürchtet und ewiges Leben sich gewünscht. Was war er für ein Tor gewesen!

McGregor brüllte und schrie. Die Erschöpfung verschaffte ihm für kurze Zeit Erleichterung.

Der Sieg

Der Knall. Helligkeit. Schritte. Visite.

Der Schemel mit Professor Abelsons Kopf ganz nah, links neben McGregor. Direkt daneben die Bezugsperson. Das Wesen mit der klaffenden Halswunde ohne Kopf. Auf der anderen Seite der Sprecher.

„Wir werden heute einen Großteil der Veränderung, die man an Ihnen vornehmen musste, rückgängig machen. Ab heute Abend, Professor Abelson und Herr McGregor, verfügen Sie wieder über einen Körper. Und gleich mehrere Gehirne. Im Körper Ihrer Bezugsperson befinden sich bereits zwei. Eine wunderbare Möglichkeit natürlich auch, dass Sie beide nun vernetzt werden können. Wir versprechen uns wegweisende Erkenntnisse.“ Der Sprecher verneigte sich nach allen Seiten

Die mittleren Greifwerkzeuge der Gestalten klatschten Beifall.

„Ich möchte Ihnen für heute Abend noch eine Information geben. Sie befinden sich einhundert Meter unter der Erdoberfläche. Sollten Sie nach dem gemeinsamen Aufwachen“, der Sprecher lachte scheppernd, die Gestalten applaudierten frenetisch, „darüber nachdenken, ob Sie fliehen können, muss ich Sie enttäuschen. Zunächst einmal, natürlich, Ihre Bezugsperson. Ein Faktor, der nicht mehr zu vernachlässigen ist, nicht wahr? Außerdem. Die radioaktive Verseuchung durch die beiden Kriege in 2035 und 2036. Sie hat uns den Überlebenskampf gegenüber der menschlichen Rasse gewinnen lassen. Wir werden Ihnen nachher eine Weiterentwicklung des Abelson-Medikamentes spritzen. Falls Sie die Flucht nach oben versuchen sollten, werden sich unerträgliche Schmerzen einstellen. Sterben jedoch – werden Sie nun niemals mehr.“

Abelson meldete sich, wie es schien, mit letzter Kraft, zu Wort.

„Sie können zwei Menschen nicht wie eine Sache behandeln. Wir haben Rechte, ich werde mich nicht als Ihr Versuchsobjekt missbrauchen lassen. Ich verlange meine Trennung von diesen Schläuchen und Pumpen, damit ich in Würde sterben kann.“

„Herr Professor, ich muss Sie belehren. Hatten denn Kakerlaken in Ihren Verfassungen damals verbriefte Rechte? Das sind wir nämlich, nicht wahr? Eine besondere Riesenart von Kakerlaken. Unsere Existenz ist im Übrigen eine Folge der Nuklearkriege. Die menschliche Rasse existiert nur noch in etwa dreihundert Exemplaren. Für uns sind Sie ausgestorbene Tiere, die wir mit unserer Kunst zum Leben erweckt haben oder erwecken werden. Und deshalb wird mit Ihnen genau das geschehen, was vorgesehen ist.“

Der Sprecher entfernte das Gerät von seinem Mund, verbeugte sich nach allen Seiten. Wieder Beifall. Ein Transportwagen nahm die Bezugsperson, die zwei Köpfe, die Technik, Leitungen, Schläuche und Pumpen auf. Daneben die Gestalten und der Chirurg in stiller, feierlicher Prozession.

In der Großen Halle

verliert sich

alles.

Der Wunsch der Menschheit

nach ewigem Leben

hat sich

erfüllt.

He-She-It

Introduction

Ich ließ die Fliegenklatsche sinken. Ich hatte etwas gehört. Nicht ein tiefes Brummen, wie erwartet, sondern Wörter. Englische. Das Ding, das Wesen, das ich gerade noch für eine dicke hässliche Schmeißfliege gehalten hatte, saß auf meinem Frühstücksteller.

Ich setzte meine Brille auf und nahm das Etwas erneut in Augenschein. Es hatte Augen, flinke, kleine, mich jetzt anschauende, mich verfolgende Augen mit merkwürdig langen Wimpern darüber. Etwas tiefer saß eine kleine, glänzend helle Kugel, wohl die Nase, und darunter volle Lippen, ein schön geschwungener Frauenmund. Der Körper ähnelte mehr den Strichzeichnungen, die ich als Kind in langweiligen Schulstunden angefertigt hatte. Ein langer Strichstock in der Mitte, zwei Strichstöcke mit daumenähnlichen Gebilden oben und zwei Striche unten, in hochhackige Stiefel gesteckt.

Hatte ich die zwei Glas Rotwein gestern Abend nicht vertragen? Ich putzte noch einmal meine Brille mit der Serviette, schloss die Augen, ließ sie einen langen Moment geschlossen.

„He-She-It“, sagte das Ding.

“He,she,it, ‘s’ geht mit.”

Diese Kopplung in meinem Kopf kann ich nach fünfunddreißig Jahren Englischlehrerdasein einfach nicht verhindern. Das Ding vor mir auf dem Tisch konnte sprechen. Englisch. Sollte ich mit diesem Wesen reden?

“What’s your name?”, fragte ich.

“He-She-It”, kam prompt die Antwort.

Making friends

Mit den beiden Strichstockdaumen fegte He-She-It nach dieser Vorstellung die Brötchenkrümel auf meinem Frühstücksteller zu einem Kissenhaufen zusammen, legte sich hin, gähnte laut, schloss die Augen und fuhr mit seinem rechten Daumen drei Mal in die Luft. Von links nach rechts, vor seinem Kopf, zeichnete er eine kurze Strecke in die Luft.

Ich verstand seine Körpersprache sofort. Ich bin Lehrerin und damit professionelle Körpersprachenversteherin. „Don’t disturb!“ war die Botschaft, der ich Folge leistete, während lautes Schnarchen unsere Kommunikation fürs erste beendete.

Ich bin es gewohnt, meine Entscheidungen laut und ausführlich mit mir zu diskutieren. Gelegentlich zeichne ich mir sogar Entscheidungsbäume auf. Ich nahm mir also die Tasse mit dem Rest des kalten Kaffees und verzog mich an meinen Schreibtisch. Vorteile, Nachteile - schrieb ich auf das Blatt, wog dann Positiva und Negativa genauestens ab, bis meine Entscheidung feststand.

Ich ging ins Esszimmer zurück, räumte den Rest des Frühstücksgeschirrs ab und nahm daraufhin He-She-It auf seiner Tellerunterlage mit in die Küche. Schade, dass Harald damals unsere Katze mitgenommen hatte. Die hatte immer gerne einen frischen Proteinhappen gefressen.

Auf halber Distanz wurde He-She-It wach, sein linker Daumen stieß in die Luft, blieb kurz stehen. Drei Mal.

“Stop! Stop! Stop!“

Ich verstand sofort und wusste, dass auch das Ding verstanden hatte. Der Daumen wies mich zurück ins Esszimmer. Ich gehorchte.

Ich setzte He-She-It auf den Tisch, ließ mich auf einem der Stühle nieder und wartete. Auch das Ding hatte sich nun aufgesetzt, schaute sich interessiert um und suchte, nach einem langen Augenaufschlag mit den geschwungenen Wimpern, meinen Blick.

Ich würde sie nicht ansprechen, ich hatte sie nicht eingeladen! Wenn ich sie schon nicht in der Mülltonne entsorgen konnte, sollte sie wenigstens wissen, wie unwillkommen sie mir war. Vielleicht hatte sie ja noch einen letzten Rest von Anstand und Manieren und verabschiedete sich freiwillig wieder. Mir fiel ein, was mein Vater zu sagen pflegte, wenn Nachbarn oder Verwandte bei uns mal eben vorbeigeschaut hatten: „Unangemeldete Gäste empfängt man nicht gern.“ Schade , dass He-She-It meine Gedanken nicht lesen konnte, dann wüsste sie, was ich von ihrem Besuch hielt.

Sie kniff das linke Auge zu. Schon früher habe ich diese Geste, die Einverständnis Gemeinsamkeit, Vertrautheit ausdrückt, die ich nicht zurückweisen kann, gehasst. Noch einmal. Sie befeuchtete sich ihre Lippen, lächelte, zwinkerte mir zum dritten Mal mit den Augen zu.

„Du hast drei

Wünsche frei!“

Sie war also zweisprachig - und von allen guten Geistern verlassen. „Wenn du mir nichts zutraust, schau her!“, sagte sie.

He-She-It‘s Strichhände stießen in die Luft, beide Daumen abgespreizt, dort verweilten sie für einen Augenblick. Dann fuhren sie in zwei sich voneinander fortbewegenden Bögen in die Luft – wie mein Stuhl, auf dem ich vor wenigen Minuten Platz genommen hatte. Die heftige Aufwärtsbewegung entriss mir meine Brille, die darauf folgende Landung meine beiden Sandalen. He-She-It konnte also Gedanken lesen! Eine Eigenschaft, die ich selbst oft gerne gehabt hätte, aber bei anderen nicht schätze. Und selbst die Schwerkraft war für ihn kein Hindernis! Langsam wurde mir das Ding unheimlich.

Ich stand auf, setzte meine Brille wieder auf, schaute He-She-It an.

„Du brauchst mir deine Fähigkeiten nicht mehr zu beweisen. Lass mir bis morgen Zeit, ich will einmal darüber schlafen. Drei Wünsche sind viel und doch wenig. Ich will das Richtige tun.“

He-She-It bedachte mich daraufhin mit einigen wütenden Augenblitzen. Sein rechter Daumen fuhr zum Boden. Ich musste unwillkürlich an die römischen Kaiser denken, die die gleiche Geste machten, wenn sie einen Gladiator nach dem Kampf zum Tode verurteilten.

„No, no, no!

Time is pressing,

time to go!“

rief er in einer Lautstärke, die ich dem winzigen Gesellen nicht zugetraut hätte. Er wischte sich mit der Hand über den Kopf, keuchte erschöpft und fuhr dann merklich sanfter fort: „Du weißt doch, wie du es mit den Kindern machst, wenn sie keine Ideen haben. Denk einfach an Liebe, Reisen, Geschichte, Musik.“

Ein ganzer Schwall von weiteren Begriffen prasselte auf mich nieder, aber ich hatte nur die ersten beiden richtig wahrgenommen. Liebe, Reisen. Die beiden Wörter öffneten ein Tor, das lange verschlossen gewesen war.

Memories

„Wo gehst du hin?“, wollte He-She-It von seinem Kissenhaufenteller aus wissen.

Ich war vom Esszimmerstuhl aufgestanden und beabsichtigte nicht, diesem Ding auf jede Frage eine Antwort zu geben. Ich ging zum Kamin und fasste hinter den obersten Scheit des aufgestapelten Kaminholzes. Es dauerte einen Augenblick, bis ich das Papierknäuel gefunden hatte. Wie oft hatte ich den Brief, den er mir zum Abschied geschrieben hatte, gelesen, zerknüllt und wegwerfen wollen. Und hatte ihn doch immer wieder aufbewahrt. Als ich den Brief jetzt nach Jahren erneut entfaltete, krochen die alten, vergessen geglaubten Gefühle von äußerster Verletzung und unbändiger Wut wieder in mir hoch. Ich ging schnell ins Wohnzimmer und setzte mich auf den Sessel, der der Tür abgewandt stand.

„Meine liebe Ruth, meine Liebe,

ja, das bist und bleibst du für mich: Ein lieber Mensch, der mich viele Jahre meines Lebens begleitet und mein Leben erst lebenswert gemacht hat. Wenn ich dich jetzt trotzdem wegen meiner Beziehung zu Marina verlasse, so versichere ich dir, dass du nicht schuld bist: Es hat mich einfach überfallen und ich kann, so gern ich auch möchte, gegen meine Liebe, ja, und meine Leidenschaft, nicht an. Ich hoffe und bin eigentlich sicher, dass das Leben ohne mich für dich lebenswert bleibt: Du hast ja deinen geliebten Beruf. Meinen finanziellen Verpflichtungen werde ich natürlich nachkommen, wenn ich auch froh bin, dass sie aufgrund deiner eigenen Berufstätigkeit nicht so erheblich sind! So ist ein Neuanfang für mich erschwinglich.

Ich lasse dir meine neue Adresse bei Gelegenheit zukommen und sei versichert, dass ich dir von Herzen für die weiteren Jahre alles Gute wünsche.

Dein Harald

P.S. Vielleicht findest du ja auch einen neuen, netten Lebensgefährten, der mich ersetzt. Du weißt ja, dass ich niemals eifersüchtig gewesen bin!“

Wie gut, dass He-She-It im Esszimmer saß und die Tränen nicht sehen konnte, die jetzt aus meinen Augen die Wangen hinunter kullerten.

Warum musste ich plötzlich an Lewandowski denken? An Gernot Lewandowski? Wie albern! Wie aussichtslos! Ich nahm den Brief und zerknüllte ihn erneut. Im Esszimmer zog ich die drei oberen Holzscheite nach vorn, ließ das Knäuel verschwinden und schob die Scheite wieder davor.

Gespräch

„Was hast du im Wohnzimmer gemacht?“, wollte He-She-It sofort wissen.

Ich überhörte seine Frage. Ich setzte mich wieder auf meinen Esszimmerstuhl. He-She-It schien über mein Schweigen beleidigt zu sein. Er drehte mir seine Seite zu, schob die Kissenkrümel mit dem linken Daumen unter seinem Kopf zusammen und verteilte einige Krümel auf seinem Strichstockkörper. Dann gähnte er laut und vernehmlich und bedeutete mir mit der Rechten, zu gehen.

„Ich möchte jetzt sofort mit dir reden“, übersah ich seine Geste.

Augenblitze.

„Du kannst mich nicht einfach aus meinem eigenen Esszimmer weisen. Ich habe eine Entscheidung gefällt, du wolltest es ja unbedingt bald wissen. Meine drei Wünsche…“

Weiter kam ich nicht.

He-She-It hatte sich aufgesetzt. Mit zusammengekniffenen Lippen fixierte er mich eine Weile. Erst dann sprach er.

„Listen you

and hear my rhyme.

It’s me

who names

the point of time.”

Er legte sich wieder hin, drehte mir seine Seite zu und begann augenblicklich laut zu schnarchen. Ich hatte ohnehin schon längst abwaschen wollen.

Wünsche

„Ich bin jetzt hörbereit.“

He-She-It saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf der höchsten Stelle des Wasserhahns meiner Spüle. Sie würdigte mich mit mehrmaligem Augenaufschlag hinter geschwungenen Wimpern. Ich trocknete meine Hände ab. Ich kam mir nicht mehr albern vor, meine drei Wünsche zu benennen. Inzwischen war ich von den Kräften des kleinen Wesens restlos überzeugt.

„Ich möchte meinen Mann treffen. Ich möchte meine Mutter noch einmal sehen. Ich will eine große Reise machen. In Ägypten die Pyramiden anschauen, nach Australien fliegen, in London auf der Themse fahren.“

He-She-It legte bei meiner Aufzählung ihren Daumen auf den Mund und schüttelte dann heftig den Kopf. Womit hatte ich nun schon wieder ihren Unwillen erregt?

„You look

And read

my face.

It’s me

Who’ll name

the place“.

Sie hüpfte vom Wasserhahn herunter und in den geöffneten Schrank mit dem Frühstücksgeschirr.

„Auf diesem Teller will ich reisen. Aber ich brauche einen Baldachin, damit ich nicht herunterfallen kann.“ Sie schaute mich an, zeigte auf meinen Kopf. „Die zwei Klammern in deinem Haar, die finde ich übrigens sehr hässlich, nimmst du zum Befestigen. Im Flur habe ich vorhin ein Seidentuch in deinem Mantelärmel entdeckt. Das will ich haben für meinen Baldachin. Ich lege mich jetzt noch eine Weile hin, damit ich vor der Reise noch etwas ausruhen kann.“

Sie hüpfte aus dem Schrank auf die Arbeitsplatte, stellte sich breitbeinig hin und begann mit der rechten Hand wilde, wirbelnde Kreise zu beschreiben:

„Listen you

and hear

my rhyme

Future, present, past

I mix up

the time.”

Ein letzter erneuter Wirbel. Ich saß, Haralds Brief in der Hand, im Wohnzimmersessel.

Gedanken lesen

He-She-It hatte sich auf meinen Schoß gesetzt und schaute mich an.

„Ich verstehe gar nicht, warum er dich verlassen hat.“

Sie wusste also schon alles und hatte in meinem Kopf gestöbert.

„Du hast eigentlich immer noch ein junges Gesicht, ein Kindergesicht.“

Ich nehme an, ich errötete, denn ich hatte schon so lange kein Kompliment mehr gehört.

„Aber“, fuhr sie sogleich Kopf schüttelnd fort, „es sieht darum umso komischer aus. Ein Kindergesicht mit Falten, wo gibt es denn so etwas?“

Mir blieb die Luft weg. Ich dachte einen Moment über eine gemeine Erwiderung nach, zum Beispiel könnte ich ihre Kugelnase kritisieren oder ihre strichdünnen Beine - aber dann fielen mir die drei Wünsche ein und dass man die Hand, die einen füttert, nicht beißen soll.

Gefährte

„Hast du meinen Baldachin fertig?“, fragte He-She-It.

Ich setzte sie auf die Sessellehne, holte ihr Gefährt und stellte es vor sie hin auf den Sitz. Augenblicklich war sie unter dem Seidendach verschwunden. Ihr Kugelkopf flitzte hin und her. Offensichtlich gefiel ihr das Gefährt. Dann schob sie sich unter dem Baldachin hervor.

„Du bist sehr vergesslich. Wahrscheinlich liegt das schon an deinem Alter. Hast du gedacht, ich kann ohne eine ordentliche Unterlage, ohne Kopfkissen und Zudecke, nur auf dem glatten Teller schlafen?“

Sie war blitzschnell in der Küche verschwunden. Ich hörte sie den Brotschrank öffnen, ohne eine Ahnung, wie das kleine Ding diese Aufgabe bewältigte. Nach nur einem Moment kam sie mit einem Rosinenbrötchen zurück.

„Du teilst jetzt das Rosinenbrötchen in drei Teile, wobei ein Teil kleiner als die beiden anderen sein muss. Jetzt drückst du den einen der großen Teile etwas flach. Nein, Nein, nein“, sie hüpfte auf das Brötchendrittel und dann hin und her, „so flach muss es sein. Das soll meine Matratze werden!“

Sie nahm die drei Rosinenbrötchenteile an sich, verschwand unter ihrem Baldachin, ich hörte sie hin und her gehen, bis sie unter dem Seidendach hervorlugte und mit strahlenden Augen verkündete: „Mein Bett ist sehr, sehr schön geworden. Ich bin jetzt reisefertig.“

Sie zeigte mit dem Daumen auf den Sessel.

„Das ist dein Gefährt. Du brauchst die Lehnen, um dich festhalten zu können. Hole dir einen Mantel, es wird windig werden. Und eine adäquate Schuhbekleidung wäre empfehlenswert. Diese scheußlichen Sandalen würdest du sofort verlieren.“

Sie hatte sicherlich eine Menge Erfahrung mit solcherlei Reisen. Also war es vernünftig, ihren Rat zu befolgen.

Ich kleidete mich in Mantel und feste Schuhe, nahm auf dem Sessel Platz, setzte He-She-It mit ihrer Frühstückstellerkutsche auf meinen Schoß und wartete auf die Dinge, die als nächstes passieren würden.

Reise

He-She-It stand breitbeinig vor seinem Baldachin. Er legte den rechten Daumen auf seinen Mund. Einen Augenblick stand er bewegungslos. Dann führte er beide Hände nach oben, die Daumen abgespreizt. Zwei Bögen beschrieb er mit der Hand. Dann das gleiche noch einmal.

Die Fahrt begann so rasant und plötzlich, dass ich Mühe hatte, den Teller und mich selbst an der Lehne festzuhalten. He-She-It war nicht mehr zu sehen, er hatte sich unter seinen Baldachin verzogen.

Wir glitten dahin, in unvorstellbarer Geschwindigkeit, und kaum hatte ich die Türme von Nürnberg ausgemacht, waren wir schon über München.

He-She-It stoppte die schnelle Fahrt, steuerte den Sessel tiefer und tiefer, bis wir über einem mehrstöckigen Gebäude herumz trudeln begannen. He-She-It‘s Daumen deutete nach unten - und da sah ich ihn.

Er saß in einem hell beleuchteten Zimmer an einem Tisch. Eine äußerlich veränderte, durch ihre Körperfülle matronenhaft wirkende Marina, saß seitlich neben ihm. Vor beiden stand ein Teller und eine Tasse. Sein ehemals dunkles Haar war jetzt schütter und weiß. Ich reckte mich auf meinem Sessel, konnte aber seine Gesichtszüge nur schemenhaft erkennen. So, als hätte er meinen Wunsch erraten, steuerte uns He-She-It noch etwas näher.

Marina aß nicht selbst, sie hatte einen Löffel in der Hand. Sie nahm aus dem Teller etwas Grünes auf, sie führte den Löffel zu seinem Mund. Sie fütterte ihn. Im rechten Mundwinkel hatte sich etwas von dem Gemüse verteilt, das er gegessen hatte.

Marina sah es im gleichen Moment wie ich. Sie wischte den Brei mit ihrer Hand weg, putzte ihn mit der Serviette ab, die er um den Hals gebunden trug. Sie gab ihm wieder ein Löffelchen seines Gemüsebreis. Sie strich ihm über das weiße Haar und er lächelte sie an, nicht wie ein Mann, sondern wie ein Kind.

In diesem Moment unendlicher Liebe und Traurigkeit verzieh ich ihm und ihr. Eine seltsame Leichtigkeit, so, als hätte ich einen Ballast abgeworfen und sei bereit für Neues, überkam mich. Ich machte He-She-It Zeichen, dass ich weiterreisen wolle.

Der zweite Wunsch

Wir waren schon eine ganze Weile geflogen und He-She-It hatte gerade eine Ruhephase in unserem Flug eingeleitet, so dass wir fast in der Luft standen. Er baute sich breitbeinig vor seinem Baldachin auf und blickte mich an.

„Are you certain

Shall I

lift the curtain?“

„Ich habe mir meine Wünsche genau überlegt“, erwiderte ich. „Bitte, erfülle mir jetzt meinen zweiten Wunsch! Aber zuvor noch etwas: Warum reimst du immer, He-She-It? Bist du ein Dichter oder willst du einer werden?“

Bei seiner Antwort ging er auf und ab.

„Wann und warum schreiben die Poeten? Wenn sie das Schreckliche, das Traurige, das Schlimme überwinden wollen. Sie geben der Trauer, dem Schrecken eine ästhetische Dimension. Schöne Bilder, schöne Sprache, dann geht alles leichter“, sinnierte er. „Halte dich jetzt gut fest. Und…“.

He-She-It beschrieb mit der rechten Hand drei wirbelnde Kreise.

Ich saß auf meiner Schaukel.

Wie hatten wir diesen Platz in unserem Garten geliebt! Mama, meine junge, schöne Mama, stand in ihrem blauen Sommerkleid an meiner Seite. Sie stieß mich an. Hoch, höher.

„Mama, guck, ich fliege!“

Ich bedeckte die Augen mit den Händen. „Nicht weiter, He-She-It, nicht weiter!“

He-She-It beschrieb drei neue wirbelnde Kreise.

Mama auf dem Flughafenfeld, auf dem Weg zu dem großen Flugzeug. Ich stehe hinter der Absperrung, ich winke ihr zu, sie sucht mich in der Menge, winkt zurück. Bald wird sie zurückkommen.

Das Foto. Papa hat die Zeitung mit dem Foto vor mir versteckt. Ich hole die Zeitung aus dem Papierkorb. Das Wrack. In diesem Flugzeug ist sie gestorben. Sie hat an mich gedacht, an Papa, an uns.

Mamas leeres Bett. Der leere Platz an unserem Tisch. Nie mehr ist sie zurückgekehrt, nie wieder hat sie mir übers Haar gestrichen, mich in den Arm genommen, nie wieder an meiner Seite gestanden.

Nimmermehr.

He-She-It putzte mit seinen Daumen meine Tränen ab.

Aufwachen

Ich wachte auf, weil unser Gefährt taumelte. Die Umgebung hatte sich völlig verändert. Keine Berge, keine Flüsse mehr, nirgendwo eine Stadt oder menschliche Ansiedlungen – nur noch helles, gleißend weißes Licht und ein riesiges Tor am Ende des sich verengenden Weges. Irgendetwas juckte und kratzte an meiner Hand – da sah ich, dass He-She-It seine Frühstückstellerkutsche mittlerweile verlassen hatte und nun auf meiner Hand, die beiden Strichstockhände in die Seiten gestützt, hin und her ging. Jetzt blieb er plötzlich stehen und blitzte mich, breitbeinig in Positur gebracht, an. Seine veränderte Haltung, sein scharfer Blick verursachten mir ein ungutes Gefühl. Was führte dieser Fliegengeselle im Schilde?

Sein rechter Daumen fuhr in die Luft, blieb dort einen Moment stehen. „Stop“, sollte das heißen. Seinen linken Daumen legte er jetzt auf seinen Mund. Das war das Zeichen, dass ich ihm nun zuzuhören hätte.

Wieder befanden wir uns in schneller Fahrt, so dass He-She-It gegen den Fahrtwind anschreien musste.

„Listen you

And hear my rhyme

This is now

The point of time.

Look at me

And read my face

This is now

The final place.“

He-She-It verlangsamte nach diesen Worten die Fahrt, so dass wir auf das Große Tor zuglitten. Er stand jetzt oben auf meinen Handrücken und kehrte mir den Rücken zu. Ich musste ihn endlich fragen. Ich verstand nicht, was all diese Andeutungen bedeuten sollten. Ich erinnerte mich, dass er den Zeitpunkt und die Orte der Reise hatte bestimmen wollen. Mir war ja auch nichts anderes übrig geblieben, als mich darein zu fügen. Aber in dieser gottverlassenen Gegend konnte man schwerlich irgendwelche Attraktionen erwarten. Ob sich Sehenswürdigkeiten hinter dem großen Tor verbargen? Mein letzter Wunsch, der stand doch noch aus!

„He-She-It“, begann ich, „was kann ich mir denn hinter dem Tor ansehen? Ich wollte doch so gern nach Australien reisen, oder hast du das vergessen? Und falls möglich, würde ich auch …“.

Ich kam nicht weiter, denn He-She-It verbot mir mit einem in die Luft fahrenden rechten Daumen das Weiterreden.

„Stupid teacher

Silly creature

Listen you

And hear my rhyme

Up and over is your time

Look at me

And don’t you cry –

You will die!“

„Die? Sterben?“

Ich drückte mich in den Sessel und starrte auf das große Tor, das nun noch näher gekommen war. Dort sollte ich hindurch gehen, jetzt schon, für immer hinter dem großen Tor verschwunden sein, ohne zu wissen, wie es dort aussah, was mich dort erwartete?

„He-She-It, gehst du mit?“, stellte ich dem winzigen Boten auf meinem Handrücken meine dritte Frage.

Er antwortete mir dieses Mal in Deutsch.

„He-She-It

geht niemals mit.“

Dann fuhr er in englischer Sprache fort:

He always leaves

before

The door.”

Wir waren angekommen. Das Licht wurde noch heller und die zwei Flügeltüren begannen sich in der Mitte zu öffnen. He-She-It‘s Hände fuhren in die Luft, bezeichneten bereits den Anfang eines Bogens, so, als wolle er gleich allein seine Rückreise antreten.

Da packte ich ihn an seinem rechten Arm, wirbelte ihn sechs Mal in großen Kreisen herum und stieß He-She-It beim siebten Wirbel auf den unteren Rahmen der großen Tür. Ich sah noch, wie er sich krampfhaft mit seinen beiden Strichstockdaumen dort festhielt, um nicht in den Abgrund hinter dem Tor zu fallen, aber ganz genau habe ich nicht erkennen können, ob es ihm gelungen ist.

Wake up

„Miss Lein, wachen Sie doch auf!“

David und Laura saßen neben mir auf dem Boden. Ich hörte Wortfetzen des London-Films, der immer noch lief.

„Tower Bridge opens so that the ships can go through.”

Die Kinder halfen mir aufzustehen. Ich war im Klassenraum der 6A. Ich hatte wohl einen Film mitgebracht. An den Wänden ein Poster von London, eins vom Ayers Rock.

„Miss Lein, wir glauben, Sie sind gestürzt. Wir haben es aber erst gemerkt, als der Film schon fast am Ende war, vor der Zusammenfassung, wissen Sie? Thomas ist zu Herrn Lewandowski gerannt, um ihn zu holen. Er kommt bestimmt gleich.“

Ich richtete meine Kleidung, fuhr mir schnell durch die Haare. Ich musste fürchterlich aussehen.

Studiendirektor Lewandowski sah besorgt aus.

„Frau Lein, ist alles in Ordnung?“

Er legte die Hand auf meine Schulter. Schaute mich an. Endlich – endlich sah er mich einmal an.

„Ich habe Herrn Behn bereits mit der Vertretung beauftragt. Nein, keine Widerrede. Es ist mir ein Bedürfnis, Sie nach Hause zu begleiten. Die frische Luft wird Ihnen sicher gut tun.“

Herr Behn hatte schon das Klassenzimmer betreten, half mir in meinen Mantel. Die Kinder verließen leise den Raum.

Studiendirektor Lewandowski reichte mir wortlos seinen Arm. Dort, wo ich mich eingehakt hatte, wurden meine Schulter, mein Arm ganz warm. Gernot Lewandowski öffnete die Eingangstür der Schule, ließ mich hinaus. Die Tür fiel ins Schloss. Wir gingen auf das eiserne zweiflüglige Schultor, das den Hof nach außen begrenzte, zu. Schnell nahm ich wieder seinen Arm.

Als wir direkt vor dem Tor standen, löste ich mich von ihm und blieb stehen. Ich schaute ihn an, endlich – endlich sah ich ihn an. Ich holte tief Luft, dann nahm ich seine Hände.

Meine Hand in seiner Hand - gingen wir durch das Tor.

Rose von Dorth

Rose saß am Schreibtisch. Wie jeden Morgen über den wie immer gleichen Zahlenkolonnen. Rechts vorn auf ihrem nussbaumartigen Marterinstrument der abgehärmte, reichlich vertrocknete Kaktus als Symbol ihres eigenen Daseins und ihres fast fünfzehnjährigen Martyriums in dieser Firma.

„Von einer Rose hat sie gar nichts“, hatte Mama an Roses zwölftem Geburtstag Papa angefaucht. „Das Pyknische hat sie von dir, den kleinen Geist auch. Ich hätte es ja wissen müssen, aber hinterher ist man immer klüger.“

Rose war in der Küche gewesen. Aber sie hatte alles genau gehört.

Rose musste sich schnupfen.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es endlich halb zehn war. Zeit für die Kaffeepause. Sie legte die Blätter auf einen Haufen, ließ den Stapel durch ihre Hände gleiten, bis er rechtwinklig war, legte den Stift links vor ihre Tastatur, schob den Stuhl erst nach hinten, nach dem Aufstehen wieder unter den Schreibtisch und begab sich, auf ihren Stampfern, wie Mama immer gesagt hatte, in den Frühstücksraum im Keller.

Eine Kriegserklärung hatte Rose nicht erhalten. Trotzdem war ihr, als sie den Frühstücksraum betrat, unverzüglich klar, dass ab heute Morgen mit feindlichen Begegnungen oder Scharmützeln gerechnet werden musste. Auf ihrem Platz, den sie seit vierzehndreiviertel Jahren erfolgreich annektiert hatte, stand eine Tasse mit dampfendem Kaffee. Eine Namenstasse. Karins Tasse. Und deren Eigentümerin hatte es sich auf Roses Stuhl bequem gemacht.