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Luise Link

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Beschreibung

Wie erzog der Vater der antiautoritären Erziehung seine eigenen Kinder? Was hat die Französische Revolution mit Tugend und Terror zu tun? Phantasierten deutsche Politiker tatsächlich einst von der Weltmacht Deutschland? Mit diesem Buch begeben Sie sich auf eine Zeitreise durch folgenreiche utopische Vorstellungen! Sie begegnen Jean-Jacques Rousseau und seiner Lebensgefährtin Thérèse Levasseur, lernen Maximilien de Robespierre, seine Familie und Weggefährten kennen, Sie erleben den Ersten Weltkrieg aus der Sicht der Familie Montiegel. Können Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, in der die Alten geächtet sind, wo die Städte verwaisen oder man wieder hinter dem Hakenpflug hergeht? Wenn Sie bedeutsames Vergangenes und mögliches Zukünftiges in meist dokumentarischen, spannenden und bewegenden Erzählungen entdecken möchten, könnte dieses Buch für einige Zeit ein anregender Begleiter sein.

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„Eine Idee wird darum noch nicht wahr,

weil jemand sich dafür geopfert hat.“

Oscar Wilde

Inhalt

Vorwort

1.

Kindheit, Jugend, Alter

Hagne

Die Kinder und Monsieur Jean-Jacques

Nein, meine Gruppe mag ich nicht!

Von den Riesen und von den Zwergen

Die Ballade von Johanna

Grenzen

Kurz gefasst

Sie machen wohl Witze …

2.

Revolution

Herr Maximilien und die Tugend

Wiegenlied

Das verlorene Leben oderKennen Sie Robert Blum?

Der alte Demokrat

Kurz gefasst

Sie machen wohl Witze …

3.

Zum An-Denken

Der Brief

Home

Ja, das war

Kurz gefasst

4.

Klimageschichten

Ruina mundi

Sonne

Katastrophe auf Raten

Kurz gefasst

Sie machen wohl Witze

5.

Strategien und Strategen

Wiedergänger

Die Zauberlehrlinge

Stell dir vor

Kurz gefasst

Kein Witz?

Nachwort

Die Autorin

Die Illustratorin

Vorwort

Vorstellungen von einer besseren Zukunft, Bilder einer anderen Welt entstehen aus den Herausforderungen und Möglichkeiten einer Epoche. Von solchen Ideen und ihren Folgen handelt dieses Buch.

Aus vielen möglichen Themenbereichen, die auch für die Gegenwart bedeutsam sind oder in denen der stattfindende Wandel von Auffassungen und Bewältigungsstrategien deutlich wird, haben sich fünf Kapitel ergeben.

Sie erzählen und berichten von Menschen und Ideen, die die Welt einst aufrüttelten, immer noch oder wieder bewegen, von Gedankengebäuden, die uns utopisch, völlig neu oder nicht mehr nachvollziehbar erscheinen. Ein Stoff für Leser, die spannende Unterhaltung und Anregung suchen.

Einige berühmte Leute von gestern werden Ihnen begegnen; Jean-Jacques Rousseau, Maximilien de Robespierre, Robert Blum, Ludwig der XVI, der letzte deutsche Kaiser, aber auch unbekannte Gestalten, die im Nebel von Vergangenheit oder Zukunft verschwinden.

Wo Historie die Handlung und Ideen liefert, ist ihr Ablauf und Inhalt sorgfältig recherchiert und wo nötig, mit Quellen belegt: Ob jedes winzige Detail stimmt, wird nicht garantiert.

Begeben Sie sich auf eine Reise!

Vielleicht haben Sie an deren Ende mehr Fragen als Antworten, aber wenn Sie die Tour durch Jahrhunderte genießen, sie interessant und vielleicht eines zweiten Gedankens wert finden, hätte das Erzählte seinen Zweck erfüllt.

1 Kindheit, Jugend, Alter

Die Frauen sind ihren Männern,

die Kinder ihren Eltern

und so überhaupt

die Jüngeren den Älteren untertan.

Thomas Morus

Schilderung von Utopia

1516

Hagne

Athen

Fünfter Hekatombaion im Jahr des Perikles

Der Haussklave Eustakhios schreibt einen Brief. Hagne, die junge Frau des in Ephesos weilenden Timaios, diktiert.

Großherziger Gatte, werter Timaios!

Möge Aiolos, der Gott der Winde, das Schiff beschleunigen, das dir meine Nachricht bringen wird.

Der Same, den du am Tage unserer Hochzeit gesät hast, hat Früchte getragen. Am Ersten des Monats bin ich niedergekommen. Unter heftigen Schmerzen und großen Schwierigkeiten. Mein Körper war wohl zu zart und zu jung für die Aufgabe. Aber unser Kind lebt, ist wohlgestalt und gesund. Wenn du es erlaubst, möchte ich sie Eudokia nennen. Das Kind ist also ein Mädchen und dafür bitte ich dich um Verzeihung. Ich bin in der Lage, sie zu nähren und habe noch keine Amme gesucht, weil ich zunächst auf deine Antwort warten will. Möge deine Großherzigkeit blühen! Mögest du das Kind als das deinige annehmen, so dass ich es nicht aussetzen und dem sicheren Tode anheimgeben muss! Es schläft in meinem Bett und ist mir in der Zeit deiner Abwesenheit Gefährte und Trost. Wenn auch mein Körper noch sehr geschwächt ist, werde ich doch bald meine Aufgaben im Haus wieder bewältigen können, so dass du nach deiner hoffentlich baldigen Rückkehr deinen Oikos in dem Zustand vorfinden wirst, den du erwartest. Dein Sohn Hippolytos ist mir trotz seines Gesundheitszustandes eine große Hilfe in allen Fragen, die die Verwaltung deines Hausstandes betreffen.

Es grüßt dich in Ergebenheit und Hoffnung, Hagne

Ephesos

Zwölfter Hekatombaion im Jahr des Perikles

Hagnes Brief hat Timaios am Morgen erreicht.

Er liegt mit seiner Geliebten Almatheia zu Tisch.

„Nun beruhige dich, Timaios! Was hast du erwartet, wenn der Bock so eine junge Geiß bespringt! Dass sie die Geburt überlebt hat, grenzt an ein Wunder! Wie sie verlauten lässt, ist sie bemüht, die ihr zugedachten Aufgaben zu erledigen. Und sie scheint doch sehr fruchtbar zu sein, trotz ihrer Jugend. Sie könnte dir noch Söhne gebären. Obwohl …“

„Was willst du andeuten, Almatheia? Heraus mit der Sprache!“

„Unser Sohn lebt. Du hast bereits einen zweiten Sohn, Timaios.“

„Du bist meine Hetäre, Almatheia, nicht meine Ehefrau. Unser Sohn ist ein Bankert, ein Nothoi ohne Aussicht auf Bürgerrecht. Er wird niemals meinen Platz einnehmen können. Letztlich existiert er nicht.“

„Perikles wird die Rechtsprechung wegen seines Sohnes mit Aphasia vielleicht entsprechend beeinflussen können, denke ich?“

„Das Denken, schönste Almatheia, überlässt du besser uns Männern. Dafür seid ihr Frauen nicht geschaffen! Ihr weißarmigen, lieblichen Geschöpfe, bei Zeus! Teilt mit uns das Bett, lasst eure frischen Körper unserer Lust und unserem Vergnügen dienen. Ich werde nachher an Hippolytos schreiben, meine Entscheidung ist gefällt.

Komm!“

Athen

Zwanzigster Hekatombaion im Jahr des Perikles

Hippolytos liest die gerade eingetroffene Nachricht seines Vaters.

Mein Sohn Hippolytos!

Ich werde Poseidon und Aiolos opfern, damit meine Nachricht dich schnell erreichen möge!

Hagne hat uns alle schwer enttäuscht! Ich hatte einen Sohn erwartet, vor allem, weil dein Gesundheitszustand weiterhin, wie Hagne mitgeteilt hat, schlecht ist. Wer soll meinen Platz einnehmen, unserem Haus, dem Gesinde und den Sklaven vorstehen, falls du stirbst? Das Kind, das Mädchen, wird nur Kosten verursachen und schon in wenigen Jahren muss ich ihrem Bräutigam eine Mitgift zahlen. Ich habe deshalb entschieden, dass das Kind auszusetzen ist. Sollte Hagne nicht umgehend meinem Befehl gehorchen, dir irgendwelche Schwierigkeiten machen, weinen, sich an das Kind klammern oder dich irgendwie durch weibisches Verhalten unter Druck setzen, gib mir Nachricht. Ich werde sie dann umgehend des Hauses verweisen, damit ich von ihr geschieden bin. Mache ihr klar, dass ihre Mitgift nur sehr gering war und ihr Vater sie wohl nicht gern oder gar nicht zurücknehmen wird. Er war in den Brautverhandlungen sehr hartleibig und schien mir auch nur über sehr geringe Mittel zu verfügen. Sehr erfreut war ich über die Mitteilung, dass du Hagne in allen Belangen des Hausstandes mit Rat zur Seite stehst. Bleibe weiterhin ein guter Sachwalter meiner Interessen! Ich werde, wenn es der Gang der Geschäfte erlaubt, nachhause zurückkehren.

Vielleicht sind die Götter dir gnädig und machen dich wieder stark und gesund. Bete zu ihnen!

Dein Vater Timaios

Athen

Dreiundzwanzigster Hekatombaion im Jahr des Perikles

Hippolytos hat Hagne zu sich gerufen.

Er ist zu einer Entscheidung gelangt.

„Das kann nicht dein Ernst sein, Hippolytos! Er hat sich mit Gewalt genommen, was ich ihm nicht geben wollte, nicht geben konnte! Aber meine Eudokia, die in Schmerz gezeugt und geboren wurde, ist gesund. Ein kleiner Mensch, der leben will. Und sie wird dich lieben, wie einen Vater. Du kannst ihren Tod nicht wollen!“

„Ich kann mich den Befehlen meines Vaters nun einmal nicht widersetzen, Hagne! Wenn du dich weigerst, werde ich ihm Nachricht geben müssen. Er will dich aus dem Haus weisen, wenn du dich nicht fügst. Und dann, als geschiedene Frau, wird es für dich schwierig, eher unmöglich sein, euch beide durchzubringen. Ich gebe dir noch fünf Tage Zeit, Lösungen zu finden und die Sache zu überlegen. Dann werde ich Eustakhios beauftragen, ihm zu schreiben.“

Ob Hagne einen Ausweg für sich und ihr Kind gefunden hat?

Oder hat sie Eudokia auf dem öffentlichen Dunghaufen Athens ausgesetzt und dem Untergang preisgegeben?

Ging sie vielleicht gemeinsam mit ihr in den Tod?

Die Kinder und Monsieur Jean-Jacques

Jean-Jacques lag auf der braunen Chaiselongue des Salons. Er trug keine Perücke mehr, sein Kopf war kahl. Zwei Kissen steckten gefaltet hinter seinem Oberkörper. Seit vielen Minuten hatte er geschwiegen, so dass vornehmlich sein ab und an rasselnder Atem an seine Gegenwart erinnerte. Wenn er die Augen öffnete – und das geschah nur alle paar Minuten – blickte er Thérèse an. Sie hatte auf einem Stuhl neben ihm Platz genommen. Dann und wann schaute er zum Fenster, das man wegen der Hitze und der gleißenden Sonnenstrahlen draußen verdunkelt hatte.

„Willst du nicht den Vorhang öffnen, Thérèse? Dunkel wird es ja für mich noch früh genug, nicht wahr?“

Huschte ein Lächeln über die eingefallenen Wangen und den merkwürdig verzogenen Mund?

Thérèse zog die Verdunkelung zurück und ließ die Tageshelle herein.

„Öffne das Fenster“, flüsterte Jean-Jacques, „vielleicht kann ich die Vögel noch einmal zwitschern hören.“

Die Hitze des frühen Tages hatte die kleinen Sänger jedoch schon verstummen lassen, nicht ein einziger Laut drang von draußen herein.

„So still wird es wohl bald für immer sein. Ich fühle es, meine Liebe, meine Stunden und unsere gemeinsame Zeit auf dieser Erde neigen sich dem Ende zu.“

Als Thérèse sich anschickte zu widersprechen, nahm Jean-Jacques ihre Hand. Sie begann zu weinen, leise, lautlos.

„Warum weinst Du? Es ist ja mein Glück, ich sterbe in Frieden. Niemand wollte ich Leids tun und rechne mit der Gnade Gottes.“

Er versuchte sich etwas aufzurichten, schaute wieder zum Fenster hinaus.

„Wie rein und lieblich ist der Himmel, keine Wolke trübt ihn. Ich hoffe, der Allmächtige nimmt mich da hinauf zu sich.“

Wer war der Mann, dem wir in dieser Szene begegnen?

Jean-Jacques Rousseau wurde 1712 als Sohn eines Uhrmachers und Forschers in Genf geboren. Rousseaus Mutter Suzanne Bernard, die Tochter eines Pastors, starb neun Tage nach seiner Geburt, wahrscheinlich am Kindbettfieber. Eine Tante väterlicherseits kümmerte sich fortan um den Haushalt und liebevoll um das oft kränkelnde und empfindsame Kind. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Offizier flüchtete der Vater aus Angst vor Strafe aus Genf und überließ für die nächsten Jahre seinen Sohn der Obhut von Verwandten. 1726 heiratete er zum zweiten Mal; in der Folge verlor er das Interesse an seinem Sohn.

Mit zwölf ging Rousseau zunächst bei einem Gerichtsschreiber, später bei einem Graveur in die Lehre. Sein Interesse gehörte aber vor allem dem Lesen. Sein Hang zu Träumereien erschwerte die Beziehungen zu Altersgenossen. Von 1728 bis 1743 währten seine Wanderjahre durch Italien und Frankreich und fast ebenso lang seine Liebesbeziehung zu der dreizehn Jahre älteren Madame de Warens. 1744 lernte er Thérèse Levasseur kennen; die Beziehung zu ihr sollte 34 Jahre, bis zu seinem Tod, dauern.

Nach kompositorischen Ausflügen in die Welt der Oper verfasste er ab 1756 sein belletristisches, pädagogisches und politisches Hauptwerk, welches ihm schon zu Lebzeiten Ruhm und bis heute große Anerkennung und Bekanntheit beschert hat.

In seinem Erziehungsroman Émile, 1762 erschienen und bis zum heutigen Tage der berühmteste Erziehungsratgeber der Weltliteratur, gesteht der Verfasser Kindern zum ersten Mal eine lange und unbeschwerte Kindheit zu. Er sieht sie als eigenständige Persönlichkeiten, die auf ihre Weise denken und empfinden. Titelheld Èmile ist ein Junge, der seine Kindheit auf dem Land verbringt und weitgehend frei von den Zwängen der damaligen Zeit aufwächst – und sich dabei durch Spielen, Toben und Faulenzen prächtig entwickelt. Rousseau kritisiert das damals übliche Verschnüren der Babys ebenso wie die Sitte, Neugeborene an Ammen zu übergeben statt sie selbst zu stillen; er verweist auf die Pflicht zur Erziehung der Kinder durch den Vater und dessen wichtige Rolle für die Familie. Rousseau stellte mit seinem Werk die Erziehungsvorstellungen seiner Zeit auf den Kopf. Das Buch hatte eine enorme Durchschlagskraft. Eltern versuchten, ihre Kinder nach seinen Prinzipien zu erziehen, viele Generationen von Pädagogen wurden durch das Werk beeinflusst.

1778 stirbt der große Philosoph, Schriftsteller und Vordenker der Französischen Revolution in Ermenonville, wo er beim Grafen Girardin Quartier genommen hatte. Man untersucht seinen Leichnam, bis heute halten sich Spekulationen, er sei ermordet worden. Auch Thérèse Levasseur gerät in Verdacht, weil sie Universalerbin wird und bald nach Rousseaus Tod ihren Liebhaber heiratet. Rousseaus Überreste werden von den französischen Revolutionären, die ihn als einen ihrer Ideengeber und geistigen Väter verehren, feierlich ins Pantheon überführt, wo sie noch immer ruhen.

Das glanzvolle Lebenswerk Rousseaus, das bis heute nachwirkt, hat jedoch einen Makel.

„Was ist denn der Name der jungen Dame uns gegenüber?“, wollte Rousseau von seinem Sitznachbarn rechter Hand wissen. Er beugte sich in Erwartung einer geflüsterten Antwort zu Herrn de Bonnefond, der ihn kurz zuvor in der Runde vorgestellt hatte, hinüber. Man saß gemeinsam am Mittagstisch im Hotel Saint-Quentin in Paris, in Gesellschaft einer weiteren weiblichen Person in Gestalt der schon etwas angejahrten Wirtin und einiger jüngerer weltlicher und geistlicher Herren, die sämtlich angefangen hatten, anzügliche Witze und Anekdoten zu erzählen und dabei ständig auf das Mädchen zu schielen, das ein übers andere Mal rot anlief und die Augen niederschlug.

„Von einer jungen Dame kann wohl kaum die Rede sein“, antwortete der alte Griesgram Bonnefond nach einer Weile so laut, dass augenblicklich jede weitere Unterhaltung verstummte. Das Mädchen errötete daraufhin noch mehr, sprang auf, begab sich zur hinter dem Gastraum liegenden Küche und kam gleich darauf mit einem neuen Krug Rotwein zurück, um den anwesenden, jetzt wieder lärmenden Herren nachzuschenken.

„Thérèse Levasseur heißt sie, junger Freund“, sagte Bonnefond, nun in etwas gemäßigterem Ton. „Sie besorgt die Wäsche und möglicherweise, da bin ich mir noch nicht so sicher, auch für so manchen Herrn bereits etwas anderes. Jedenfalls sitzt sie hier seit zwei Wochen nach dem Willen unserer ebenfalls durchaus willigen Wirtin bei uns am Mittagstisch, damit die Herren noch ein weiteres Objekt für derbe Späße und ihre lüsternen Begierden haben, nicht wahr?“

Bonnefond schüttelte, offensichtlich entrüstet, den Kopf und wandte sich seinem Essen zu.

Thérèse hatte inzwischen wieder Platz genommen und sich mit großem Ernst den Resten ihres Mittagsgerichts zugewandt. Sie blickte auf ihren Teller.

Rousseau ließ seine Augen mit Wohlgefallen auf ihr ruhen. Sie war nicht schön zu nennen, aber im Gegensatz zu der aufgetakelten, bereits etwas verlebten und beleibten Wirtin wirkte sie adrett, frisch und natürlich. Zierlich war sie nicht, sondern eher kräftig, aber wohlgestalt. Mit einigen hinterher gesandten Blicken auf die Davoneilende hatte Jean-Jacques dies feststellen können.

Als kurz darauf die Tischgespräche der Herren erneut schlüpfrig, die Witze zotig und die Ansprache an Thérèse wiederum laut, respektlos und frech wurden, schaltete sich der Neuankömmling ein.

„Meine Herren“, sagte er, „in Gegenwart der Damen sollten wir uns vielleicht etwas zurückhalten, nicht wahr?“

Erstaunlicherweise wurde es augenblicklicher stiller im Raum, die Herren vertieften sich in Zweier- oder Dreier-Unterhaltungen und Thérèse war in der Lage, ohne unverschämte Bemerkungen ihr Mahl zu beenden. Kurz blickte sie auf und sah Rousseau in die Augen. Ein Lächeln huschte über ihre Züge. Die Wirtin allerdings funkelte ihn aus dunkel aufgerissenen Augen an und kniff die Lippen zusammen. Er war ihr also wohl ins Gehege gekommen, hatte sie erzürnt. Die positive Reaktion von Thérèse war ihm aber weit wichtiger. Er verließ die Tischgesellschaft nach Beendigung seines Mittagessens mit einem sehr guten Gefühl.

Einige Tage später, nach mehreren Tischrunden, in denen Jean-Jacques Partei für Thérèse ergriffen hatte, um sie vor den zudringlichen Reden der Herren und den Anzüglichkeiten der Wirtin in Schutz zu nehmen, klopfte es mitten in der Nacht an Rousseaus Zimmertür. Noch bevor der junge Mann Gelegenheit gehabt hätte, „Herein!“ zu rufen, stand Thérèse in seinem Zimmer. Sie hatte offensichtlich geweint, ihr Haar hatte sich aus der Frisur gelöst und fiel in sanften Wellen über ihre nur spärlich bekleideten Schultern. Sofort begann sie unter weiteren Tränen zu berichten. Die Wirtin behandle sie neuerdings sehr schlecht, sie schimpfe ständig mit ihr, nichts sei gut genug, immerzu müsse sie zusätzliche Arbeiten verrichten. Und dann behaupte sie noch, sie sei getäuscht worden, denn Thérèses Mutter, die werte Beamtengattin Madame Levasseur, habe zugestimmt, dass Thérèse sich auch für die Herren dienlich erweisen werde.

Der junge Mann erhob sich sofort aus seinem Bett und nahm Thérèse in die Arme. Sie schmiegte sich an ihn. Welch wunderbare Wendung! Rousseau selbst war nicht unbedingt ein Draufgänger, aber in Liebesdingen seit seinem siebzehnten Lebensjahr erfahren. Er drückte die junge Frau enger an sich, bog ihren Kopf ein wenig zurück und versuchte sie zu küssen. Thérèse befreite sich augenblicklich aus seinen Armen, sie seufzte und heulte zugleich und rannte aus dem Zimmer. Sie ließ einen enttäuschten und verwirrten Rousseau zurück.

Unsicher, auch etwas verärgert, war er ebenfalls. Konnte und wollte er jetzt die Rolle des Biedermannes, des Tugendwächters für Thérèse aufrechterhalten? War sie eine unberührte Jungfrau, der er zu nahe getreten war? Oder eher eine raffinierte Kokotte? Es würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als so zu agieren wie bisher und den Schein zu wahren. Man konnte nicht so mir nichts dir nichts seine Rolle in der Gesellschaft wechseln, ohne unglaubwürdig zu wirken.

Also verliefen die Tischrunden ähnlich den vergangenen – und wenn er Thérèses Blicke und ihre geflüsterten Worte richtig deutete, schien der jungen Frau sein Verhalten zu gefallen. Das Warten, die Ungewissheit des Zukünftigen ließen ihn immer mehr entflammen. Er folgte ihr in den Gängen, versuchte den Moment zu erhaschen, wo er sie fragen, vielleicht überreden könne, ihn zu erhören. Eines Abends, die Lichter im Haus waren fast sämtlich erloschen, erwischte er sie im dunklen Gang vor ihrer Kammer.

„Hätten wir nicht so manches zu besprechen, Thérèse?“, fragte er und drängte sie in Richtung Wand. Sie schaute unter sich, schien etwas schuldbewusst – antwortete aber dennoch nach kurzem Zögern:

„Ja, Monsieur Jean-Jacques, ich werde Sie heute Abend in Ihrem Zimmer besuchen. Nicht früh, Madame trägt mir oft spät abends noch eine Aufgabe auf, aber ich werde kommen.“

Rousseau konnte die Stunde von Thérèses Ankunft kaum erwarten. Immer wieder rückte er seine Perücke zurecht, zupfte an seinem Gehrock, probierte vor dem Wandspiegel Posen aus, die die junge Frau beeindrucken sollten. Als die Uhr elf schlug, hatte er die Hoffnung fast aufgegeben.

Also kein kurzes heftiges Abenteuer mit einer unerfahrenen Jungfrau? Oder vielleicht auch der Beginn einer längeren Beziehung mit einer schon erfahrenen Frau? Jean-Jacques nahm seine Perücke ab – da klopfte es doch noch an der Tür. Mit züchtigem, niedergeschlagenem Blick trat Thérèse ein. Rousseau zeigte auf den einzigen Stuhl im Zimmer und bat Thérèse, Platz zu nehmen. Er setzte sich auf die Bettkante.

Sie hatten schon einige peinliche Minuten geschwiegen, als Thérèse die Stimme erhob.

„Monsieur Jean-Jacques, ich werde Ihnen jetzt etwas gestehen, was einen feinen, anständigen Herrn wie Sie vermutlich enttäuschen und entsetzen wird. Aber auch, wenn Sie nach meinem Geständnis den Kontakt mit mir meiden werden, ist es besser, die Wahrheit zu sagen.“

Thérèse verfiel nach diesen Worten wieder in Schweigen, welches auch Rousseau nicht unterbrach. Zu gespannt war er auf das, was er erfahren würde.

„Vor einigen Jahren war ich in Anstellung bei einem reichen Kaufmannsehepaar. Der Sohn des Hauses stellte mir von Anbeginn nach, versprach mir viel und alles und eines Tages, als die Eltern bei einem Gartenfest weilten und die meisten Bediensteten aus dem Haus waren, ist es geschehen. Monsieur, ich bin keine Jungfrau mehr. Bitte verachten Sie mich nicht zu sehr!“

Tränen rannen aus Thérèses Augen, sie rang die Hände. Im Schein der Kerze erschien sie Jean-Jacques beinahe schön.

Er sprang auf, stieß einen Freudenschrei aus und lachte so laut, dass Thérèse erschrocken zusammenfuhr.

„Wollen Sie mich verlachen, Monsieur?“, fragte sie traurig.

„Im Gegenteil, liebe Thérèse! Ich bin erleichtert. Ich kann mein Glück kaum fassen. Ich liebe dich, Mädchen. Lass uns die Liebe genießen, werde heute Nacht die Meine!“

Mit diesen Worten zog Jean-Jacques Thérèse auf sein Bett. Thérèse ließ sich umarmen, küssen, der leidenschaftliche Liebhaber bescherte ihr zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Glück.

In der Folgezeit hält Rousseau seine Geliebte aus, noch hat er Geld. Thérèse wohnt bei ihm im Hotel Saint-Quentin, er bezahlt der Hotelbesitzerin zusätzliches Geld für das nun zu zweit genutzte Zimmer; sie ist es zufrieden. Er bezahlt Thérèses Mutter für den ausbleibenden Lohn, auch sie schweigt zu den Umständen der Beziehung. Als die finanziellen Mittel knapp werden, zieht Rousseau allein in eine neue Wohnung in der Nähe der Oper. Er will sein Ballett „Die galanten Musen“ zu Ende komponieren und seiner zukünftigen Wirkungsstätte nah sein. Thérèse veranlasst er, zurück zu den Eltern zu ziehen. Sie soll wieder arbeiten und zum Lebensunterhalt beitragen. An der Miete der Familie will sich der Liebhaber beteiligen; Thérèses Mutter ist nicht begeistert, aber das in Aussicht gestellte Geld beruhigt sie.

Dass er sie niemals heiraten werde, hat Rousseau Thérèse anlässlich des Umzuges mitgeteilt. Aber er werde sie auch nie verlassen. Thérèse fügt sich ohne Murren, sie ist verliebt. Und auch Rousseau erkennt die Vorzüge des Mädchens, ihre Lebensklugheit, ihre unverbildete Natürlichkeit und Seelenstärke, die ihre mangelnde Bildung und Eleganz aufzuwiegen scheinen. Er geht dazu über, dann und wann Ausflüge mit ihr aufs Land zu machen, sie nicht gänzlich zu verstecken. Seine Beziehung zu dem einfachen Mädchen aus dem Volke hält er vor seinen gebildeten und vornehmen Freunden und deren meist adligen Freundinnen und Gönnerinnen allerdings geheim. In die Oper, ins Theater, zu Konzerten nimmt er sie nicht mit.

Er wird über die Gleichheit der Menschen schreiben, er wird einer der Väter der Französischen Revolution werden – aber Thérèse wird in der Zeit ihrer ersten Schwangerschaft allein sein, während er sich auf Reisen und in Schlössern mit seinen adligen Freunden vergnügt.

Als er zurückkehrt, ist er über Thérèses Zustand bestürzt. Genau das hatte er vermeiden wollen, indem er sie nicht heiratet: Die kleinbürgerliche Fessel einer Familie, von Verantwortung, die ihm nach dem mondänen Leben und der Beachtung in der Gesellschaft der Reichen besonders ungelegen kommt.

Mit finanzieller Hilfe seiner Gönnerin, Frau Dupin, richtet er sich allerdings kurze Zeit später eine eigene größere Wohnung ein, die die schwangere Thérèse samt Mutter und Vater mit bewohnen soll.

Nach innen so etwas wie ein Familienidyll, stellt Rousseau nach außen seine Geliebte und deren Mutter als seine Haushälterinnen vor. Als die Zeit der Niederkunft naht, veranlasst Rousseau Thérèses Übersiedlung zur Hebamme Mademoiselle Gouin. Er hat einen Plan.

„Warum kann ich nicht hierbleiben, Monsieur?“

In Gegenwart von anderen siezte Thérèse ihren Liebhaber nach wie vor, und ihre Mutter war bei dem Gespräch zugegen.

„Deine Mutter ist genauso wie ich dafür, dass du zur Hebamme Gouin gehst. Sie hat große Erfahrung. Die Geburt eines Kindes bringt viel Ungemach und Aufruhr mit sich. Da ist es besser, du bist für einige Zeit fort.“ Rousseau blickte zu Madame Levasseur, sie nickte bestätigend mit dem Kopf.

Thérèse seufzte, entgegnete aber nichts. Gegen die Übermacht würde sie wohl kaum ankommen. Und Vater, auf den brauchte sie nicht zu hoffen, der hatte im ganzen Leben nie etwas zu sagen gehabt und sich immer von seiner Frau regieren lassen.

„Ich werde dich morgen früh dorthin bringen, pack einige Sachen für dich zusammen“, fuhr Rousseau weiter fort.

„Aber das ist unmöglich.“

Thérèse war nun sehr erregt. „Wo soll ich denn die Sachen für das Kind so schnell herbekommen, ich habe doch noch gar nichts für das Kleine besorgt.“

„Mach dir darüber keine Sorgen! Mademoiselle Gouin weiß Bescheid, ich habe über alles mit ihr gesprochen. Das findet sich.“

Rousseau nahm Thérèse kurz in die Arme, küsste sie auf die Stirn und verabschiedete sich mit einer Verbeugung von Madame Levasseur, um in der Stadt seinen Beschäftigungen nachzugehen.

Am nächsten Morgen bringt nicht Jean-Jacques, sondern die Mutter Thérèse zu Mademoiselle Gouin. Der Zeitpunkt ist gut gewählt. Nicht lange dauert es und die Wehen setzen ein. Die Geburt verläuft unproblematisch. Thérèse schenkt einem gesunden Knaben das Leben. Sehnsüchtig wartet sie auf Jean-Jacques, um ihm das schöne Kind zu zeigen. Aber der frischgebackene Vater hat es nicht eilig.

Thérèse war wohl schon dutzende Male zum Fenster gelaufen, das auf die Straße hinabblickte. Warum ließ sich Jean-Jacques so viel Zeit? Heute werde er kommen, hatte die Mutter angekündigt. Aber es war schon zwölf Uhr und von Jean-Jacques immer noch keine Spur. War er denn gar nicht neugierig auf sein Kind? Wollte er mit der Mutter seines Kindes nicht das Glück gemeinsamer Elternschaft am Bettchen des Kindes genießen? Um ein Uhr klopfte es. Das musste er sein. Thérèse stürmte zur Tür.

Ein ernst dreinblickender Rousseau stand dort.

Thérèse suchte nach einem Lächeln, vielleicht einem Leuchten in seinen Augen, aber sie konnte nichts davon entdecken.

Trotzdem nahm sie seine Hand.

„Komm, ich zeige dir deinen Sohn.“

Ihre Stimme zitterte vor Rührung und sie hatte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Vor Stolz auf das Kind, vor Sehnsucht nach Gemeinsamkeit mit dessen Vater. Aber Jean-Jacques blieb in einiger Entfernung vom Bettchen seines Sohnes steif und wie angewurzelt stehen. Keine Umarmung, kein Kuss.

„Setz dich bitte hin!“, sagte er stattdessen.

Seine Worte, seine Haltung verwirrten Thérèse. Wie hatte sie diesen Moment herbeigesehnt! Sie setzte sich auf den Stuhl, der am Fenster stand, schaute hinunter auf die Straße. Rousseau begann, in der Stube auf und ab zu gehen. Einige Minuten schwieg er, seufzte dann und wann vernehmlich, so, als ob ein schweres Schicksal auf seiner Brust laste. Thérèse wurde immer unsicherer, verzweifelter. Warum freute er sich nicht?

„Thérèse, ich sehe, dass du dich inzwischen von der Geburt erholt hast. Deshalb habe ich ja bisher auf einen Besuch bei dir verzichtet, damit du ganz ungestört bist und Kraft schöpfen kannst.“

„Aber es wäre viel schöner für mich gewesen, wenn du uns sofort besucht hättest. Ich dachte, du könntest es nicht erwarten, dein Kind zu sehen und habe mich die ganze Zeit nur gewundert und gegrämt, Jean-Jacques!“

„Nun. Jetzt bin ich da und möchte und muss etwas mit dir besprechen.“

Er seufzte wieder und schwieg dann einen langen Moment.

„Bisher haben wir deine Schwangerschaft und die Geburt ja vor der Welt verbergen können. Denn Mademoisielle Gouin ist diskret, deine Mutter wird aus eigenem Interesse nichts erzählen und auf deine Nichte können wir uns auch verlassen. Sonst hat niemand etwas mitbekommen. Deine Ehre ist also nicht besudelt, Gottseidank! Du kannst ganz beruhigt sein. Aber das Kind muss natürlich weg!“