Erzählende Affen - Samira El Ouassil - E-Book
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Samira El Ouassil

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Beschreibung

Eine starke Geschichte kann die Welt retten – oder sie zerstören. Sie kann Wahlen entscheiden, Menschenleben retten, aber auch Kriege auslösen und Ungerechtigkeit zementieren. Samira El Ouassil und Friedemann Karig verfolgen diese ambivalente Wirkungsmacht anhand wichtiger Narrative von der Antike bis zur Gegenwart. Und sie zeigen, welche Erzählungen uns heute gefährden und warum wir neue benötigen. Wie gelingt es, den Klimawandel so zu erzählen, dass er zum Handeln drängt? Aus welchen Überlegenheitsmythen entstehen Rassismus und Antisemitismus? Mit welchen Storys manipulierte Trump seine Anhänger, und weshalb verfangen die Lügen der Querdenker und Verschwörungsideologen? Was erzählen wir seit jeher über uns selbst ‒ als Deutsche, als Europäer, als Humanist*innen, über unsere Republik? Gibt es Alternativen dazu? Wie könnte eine wirkungsmächtige neuen Erzählung der Aufklärung aussehen?Geschichten sind ein maßgeblicher Teil unserer Sozialisation. Sie durchdringen Politik, Medien und Kultur, lehren uns, unterhalten uns, verführen uns, beeinflussen unsere Wirklichkeitswahrnehmung - vom griechischen Drama bis zur Netflix-Serie.

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Das Buch

Wie gelingt es, die Klimakrise so zu erzählen, dass ein weltweites Handeln einsetzt? Aus welchen Narrativen entstehen Rassismus und Antisemitismus? Mit welchen Storys manipulierte Trump seine Anhänger? Weshalb verfangen die Lügen der Rechtspopulisten und Verschwörungsideologinnen? Was erzählen wir seit jeher über uns selbst – als Deutsche, als Europäer, als Humanistinnen? Geschichten sind ein maßgeblicher Teil unserer Sozialisation, mehr noch, sie sind Kern unserer Identität. Kein Wunder, dass wir die Welt in Geschichten sortieren. Sie durchdringen Politik, Medien und Kultur, lehren uns, unterhalten uns, verführen uns, formen unsere Wirklichkeit. Samira El Ouassil und Friedemann Karig erforschen die Kraft der Narrative, die sich im griechischen Drama ebenso manifestiert wie in einer Netflix-Serie, im Roman wie im Rap und nicht zuletzt in Kriegen wie jenem zwischen Russland und der Ukraine. Und sie machen sich auf die Suche nach einer wirkmächtigen neuen Erzählung der Aufklärung.

Die Autoren

SAMIRA EL OUASSIL, geboren 1984 in München, studierte Kommunikationswissenschaft und Neuere Deutsche Literatur an der LMU München. Sie schreibt für das Onlineportal Übermedien die preisgekrönte Kolumne Wochenschau und erklärt mit Christiane Stenger im Audible-Podcast Sag niemals Nietzsche philosophische Konzepte. Seit 2020 schreibt sie für den Spiegel die Online-Kolumne Ganz meiner Meinung. Gemeinsam mit Friedemann Karig bestreitet sie den Podcast Piratensender Powerplay.

FRIEDEMANN KARIG, geboren 1982 im Schwarzwald, studierte Medienwissenschaften, Politik, Soziologie und VWL. Er schrieb u.a. für die Süddeutsche Zeitung, das SZ-Magazin, Die Zeit und jetzt und moderierte das für den Grimme-Preis nominierte Format Jäger&Sammler (ARD/ZDF). Für seinen Spotify-Podcast Friedemann & traf er Persönlichkeiten wie Kevin Kühnert, Anne Will oder Luisa Neubauer. Von ihm erschien der Roman Dschungel sowie Wie wir lieben. Vom Ende der Monogamie.

Samira El Ouassil & Friedemann Karig

Ullstein

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ISBN 978-3-548-06733-9

Erweiterte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Januar 2023

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 / Ullstein Verlag

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, nach einer Vorlage von Rothfos & Gabler, Hamburg

Titelabbildung: © Marinika / Adobe Stock

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

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Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autoren
Titel
Impressum
Widmung
Der Krieg und seine Mythen
1 Gewohnte Welt – Prolog
2 Ruf des Abenteuers – Erlöser, Dämonen, Heldinnen
Eine Reise, sie alle zu verwandeln
Bösewichte, Mentorinnen und weitere Mitspieler
Was Aschenputtel mit dem Alten Testament zu tun hat
Masterplots: Geschichten von der Stange
Heldinnen im »postheroischen Zeitalter«
3 Die Weigerung – Wie werde ich mein eigener Held?
Die älteste Geschichte der Welt
Tote Affen erzählen nicht
Der Homo narrans
Der Writer’s Room im Kopf
Eine völlig natürliche Superdroge
Das Gehirn als mentaler 3-D-Drucker
Das berühmteste Holzpferd der Geschichte
Der Affe im Spiegel
Das narrative Selbst
Andere Zeiten, andere Heldinnen
Jede ist eine Königin
4 Begegnung mit dem Mentor – Wörter, Sätze, Bilder als Instrumente der Erzählung
Biete Waffe, suche Freunde
Die erste Regel: Es gibt keine Regeln
Die Ein-Wort-Geschichte
Gotthafter Wortzauber
Ein Bild erzählt mehr als 1000 Helden
5 Überschreiten der ersten Schwelle – Wie das Internet unser Erzählen verändert
Zuckerbergs Mythos
Der Siegeszug der narrativen Turbotechnologien
I, phone
Monkey see, monkey do
Digitale Lagerbildung
Die pubertäre Gesellschaft
6 Bewährungsproben, Verbündete, Feinde – Welche Narrative unsere Welt bestimmen
Narrativische Kriegsführung
Die Welt sicher für die Demokratie machen
Das erste MfE: der Homo oeconomicus
Die Götter müssen verrückt sein
Die Erfindung des Königs
Ein neues Märchen: Jeder ist seiner Krone Schmied
Die Erfindung des Schwarzseins
Das MfE von den blutrünstigen Juden
7 Vordringen zur tiefsten Höhle – Die ewige Verführung von rechts
Kommt und erfindet sie euch!
Ein Bund fürs Überleben
Der totale Antagonist
»Möge die Wehrmacht mit dir sein« – Sparta, Star Wars und Disney World
Protofaschisten wie Trump: Lügen, Mythen, Fiktionen
Verschwörungserzählungen als interaktive faschistoide Märchen
8 Entscheidende Prüfung – Welche Geschichten sich Deutschland und die USA über sich selbst erzählen
Eine perverse Pflicht
Die Tiefengeschichte und das Land der unbegrenzten Fiktion
Die deutsche Tiefengeschichte bis 1933
Eine Seifenoper spült die Verdrängung weg
Das einzig wirklich Deutsche
9 Ergreifen des Schwertes – Das nicht so starke Geschlecht
Äpfel, Schlangen, Frauen
Mythos und Heldenreise als Männerdomäne
Incels und ihr Frauenhass
10 Rückweg: Das Ende der Menschheit wird nicht im TV übertragen – Woran Erzählungen beim Klima scheitern
Das größte Debakel der Filmgeschichte
Warum wir das Klima falsch erzählen
Macht euch die Erde untertan
Greta als Heldin
11 Auferstehung – Der erschöpfte Affe
Das Selbst in der Krise
Was wir uns über Glück erzählen
Sex, Lügen, Kino
Astrologie und andere Entpolitisierungen
Der Marktplatz der Geschichten
Identitätspolitik – narrative Dissonanz und das Recht am narrativen Selbst
Der zerzählte Affe
12 Rückkehr mit dem Elixier – Wie wir die Welt vielleicht doch noch retten
Kassandras und Coronas
Das Trolley-Problem zwischen Gegenwart und Zukunft
Fantasie ist ein Muskel, und Geschichten sind ein Virus
Lieber Kopf und Kragen riskieren, als das Gesicht verlieren
Eine Utopie für unruhige Zeiten
Die wahren Antagonisten
Das letzte Bild
Danksagung
Literatur
Anmerkungen
Bildnachweise
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für Martin Martin!

Der Krieg und seine Mythen

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Liebe Leserinnen und Leser,

wer ein Sachbuch schreibt über die Wirklichkeit und unsere Konstruktion derselben, begibt sich in zwei große Gefahren. Erstens, von der Wirklichkeit überholt zu werden, sobald das Werk gedruckt ist. Am 24. Februar 2022 überfiel die Armee der russischen Föderation auf Befehl Wladimir Putins die souveräne Demokratie der Ukraine. Was er eine »Spezialoperation« zu nennen befahl, entwickelte sich schnell zur brutalen und langdauernden Zermürbung einer Zivilbevölkerung und ihrer staatlichen Souveränität. Kein Krieg ohne Erzählungen, Lügen und Propaganda – und speziell dieser Konflikt war von Anfang an vom Kampf um die Informationshoheit und damit um das dominante Narrativ geprägt, so wie kaum einer vor ihm. Diesem Umstand müssen wir in der neuen Ausgabe unseres Buches gerecht werden.

Die zweite Gefahr besteht darin, dass man das sich mühsam angeeignete und auf Buchlänge angewendete Instrumentarium zum Standard aller Weltbetrachtung macht. Wer die eigene Brille, in unserem Fall die der Narrative, nicht mehr reflektiert und die ganze Welt durch sie hindurch betrachtet, wird kurzsichtig. Krieg bedeutet immer und überall zuallererst physische Vernichtung, unendliches Leid, Flucht, Armut, Zerstörung. Keine Geschichte, sei sie noch so stark, kann Menschen wieder lebendig machen oder Häuser wieder aufbauen.

Wenn wir nun in diesem Vorwort die narrative Kriegführung eines Wladimir Putin und die Heldenreise eines Wolodymyr Selenskyj betrachten, bitten wir dies mit aller Demut vor der schrecklichen Physis des Krieges verstanden zu wissen. In diesen Tagen hoffen wir auf nichts anderes, wollen wir von nichts anderem erzählen als von dem Weg zurück zum Frieden – diesem, wie wir erneut erfahren, so zerbrechlichen Zustand, der keineswegs selbstverständlich ist. Er wird auch durch den narrativen Dschungel führen, der rund um diesen Überfall gewachsen ist. Das Privileg, in Frieden, Freiheit und Sicherheit von Deutschland aus darauf zu schauen, begreifen wir als Auftrag, präzise zu fassen, was erzählt wird.

Beginnen wir nicht mit den Tätern, beginnen wir mit den Opfern. Die Ukraine erzählt sich und der Welt momentan ihre eigene Heldinnengeschichte unter dem Slogan »Slawa Ukrajini!« (deutsch etwa: »Ruhm der Ukraine!«, ein seit dem Euromaidan 2014 gängiger und von seiner nationalistischen Konnotation befreiter Begriff). Das Kollektiv als Protagonist in einem ehrenvollen Abwehrkampf gegen den Aggressor – dieses Narrativ wird von der Führung des Landes gezielt bespielt und in Social Media durch Porträts einzelner Kämpfer (und Kämpferinnen!) personifiziert – eine zum Beispiel von Lyubov Plaksyuk, einer ehemaligen Geschichtslehrerin und Mutter, die als erste Frau in der ukrainischen Armee eine Artillerie-Einheit befehligt und dafür eigens mit Foto auf Twitter vom Verteidigungsministerium gewürdigt wurde1.

Die Historikerin Diane Purkiss sagt in der britischen Dokuserie Myths & Monsters über Kriegserzählungen: »Die Geschichten, welche sich die Gesellschaft über den Krieg erzählt, machen sichtbar, welche Werte diese Gesellschaft hochhält und welche sie durch Krieg bewahren will.«2 Bei den Ukrainern hießen die Werte vermutlich: Zusammenhalt und Unbeugsamkeit (indem jeder Fußbreit Boden gemeinsam unter hohen Verlusten gegen eine Übermacht verteidigt wird, zur Not von freiwilligen Kräften der »Territorialverteidigung«), Erfindergeist (wenn geringere militärische Ressourcen durch kreative Nutzung der vorhandenen ausgeglichen werden) – und natürlich Mut (angefangen von Präsident Selenskyj, der trotz russischer Versuche, ihn und seine Familie zu entführen, nicht aus Kiew floh).

Diese Werte in Kombination mit dem offensichtlichen Unrecht, welches die russische Seite hier verübt, wurden in der Berichterstattung, insbesondere bei Ausbruch des Krieges, mit einem der ältesten und wirksamsten Erzählschemata der Welt verbunden: David gegen Goliath. Wie wir in diesem Buch zeigen, reagieren wir neurologisch und biochemisch auf eindeutige Geschichten. Sie sind umso effizienter und dementsprechend politisch und medial wirkmächtiger, je höher die Asymmetrie zwischen Protagonisten und Antagonisten ist und je größer die empfundene Ungerechtigkeit des Konfliktes. Die Verletzlichkeit einer Figur macht sie als Heldin noch heroischer, ihren Triumph noch verdienter und ein glückliches Ende für uns noch befriedigender, weil dadurch das Gleichgewicht der sozialen Ordnung wiederhergestellt zu sein scheint. Das ist ein Echo aus unserem steinzeitlichen Leben, wo Kooperation überlebensnotwendig war und jeder Konflikt als Gefährdung der Sicherheit der Gruppe empfunden wurde. Unser narratives Gehirn nimmt die manichäischen Eindeutigkeiten – eine kleine, überfallene Nation mit charismatischen Demokraten versus eine hochgerüstete, von einem Autokraten regierte Militärmacht – dankbar an und macht aus einem Krieg einen vertrauten Plot: Gut gegen Böse, Schwach gegen Stark. Die Ukraine hat jedoch nicht nur die überzeugendere Erzählung, sondern mit Wolodymyr Selenskyj auch einen Protagonisten, mit dem man sich leicht identifizieren und solidarisieren kann. Identifikation – die empathische Verbindung, die man mit einer (realen oder auch fiktionalen) Figur eingeht – ist ein wesentlicher Faktor hinsichtlich der Wirkmacht von Geschichten. Den Aufstieg vom unterschätzten Underdog zum gefeierten Riesenbezwinger kennen wir aus verschiedensten Erzählungen, vom tapferen Schneiderlein bis zu Frodo Beutlin im Herrn der Ringe. Im Ukraine-Krieg erfährt dieses Märchen eine sehr zeitgemäße Modernisierung: Selenskyj wurde vom Comedian zum Staatsmann. Mit dem geradezu postmodernen Twist, dass er überhaupt erst Präsident wurde, nachdem er in einer Comedy-Serie namens Diener des Volkes einen ukrainischen Lehrer gespielt hatte, der aus Versehen Präsident wird. Die enorme Beliebtheit dieser inkompetenten, aber zutiefst aufrichtigen Figur nutzte der damals schon sehr erfolgreiche und gut situierte Schauspieler und Medienunternehmer, um 2019 schließlich für seine Partei »Diener des Volkes« anzutreten und damit wirklich Präsident zu werden. Von diesem Quereinsteiger, der sich vor der Invasion eher verhandlungsbereit gegenüber Russland gezeigt hatte, erwartete Wladimir Putin offenbar die schnelle Kapitulation, vielleicht sogar Flucht und Verrat. Das Gegenteil trat ein. Dieses Übersichselbsthinauswachsen inmitten einer Krise ist einer der wichtigsten Eigenschaften des klassischen Helden.

Im Informationskrieg ist diese Heldenreise Selenskyjs also ein wichtiger Teilerfolg der Ukraine, den Russland nicht einkalkuliert hatte. In der vergleichenden Ästhetik kommen wir konsequenterweise nicht umhin, einen fast kinohaften Kontrast zwischen Putin und Selenskyj wahrzunehmen: auf der einen Seite ein glatt inszenierter russischer Diktator im uniformen Geschäftsanzug, der an überdimensionierten Tischen weit entfernt von seinen Beratern sitzt oder sie sogar nur am Bildschirm sieht; auf der anderen ein unrasierter ukrainischer Staatslenker, mal im T-Shirt, mal in Armeeuniform, der sich wie ein Influencer mit seinem Smartphone beim Gang durch Kiew oder durch den Präsidentenpalast filmt und (angeblich) Sätze sagt wie Bruce Willis in einem Actionfilm: »Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit.«

Besonders auffällig, aber angesichts dieser narrativen Gegebenheiten nur konsequent in der medialen Übersetzung dieses Krieges: Menschen in sozialen Netzwerken nutzen mangels historischer Bezugspunkte gerne fiktionale Referenzsysteme zum Verständnis dessen, was in diesem Krieg gerade geschieht. Fiktionale Heroen und Schurken der Popkultur werden mit Putin und Selenskyj remixt; man gleicht den unfassbaren Krieg dem eigenen Kinoereignis an. Die Kultur-Kommentatorin Kate Knibbs spricht von einer »Marvelisierung«3, benannt nach dem Comicverlag, dem wir das global rezipierte Megafranchise monatlicher Superheldenfilme verdanken. Dieses erzählerische Archiv wird weltweit erkannt, weshalb ein Bezug darauf naheliegend und verführerisch ist. Zum Beispiel in Form von Memes, welche Selenskyj als Captain Ukraina (analog zu Captain America) zeigen, Putin hingegen als Thanos des Konflikts, gerne auch als Darth Vader oder Voldemort. Schauspieler Mark Hamill, der Luke Skywalker in StarWars verkörpert, postete nach einem Gespräch mit Selenskyj ein Star Wars-Poster mit den Worten »Resist« sowie »Stand with Ukraine« und einem typischerweise von den Rebellen geflogenen X-Flügel-Sternjäger in blau-gelb. Diesem gegenüber steht ein riesiger, offensichtlich Russland symbolisierender imperialer Sternenzerstörer. Das Bild kommentierte der Schauspieler mit den Worten »Möge die Macht mit euch sein«, dazu das Emoji der ukrainischen Flagge.4 Vitaly Kim, Gouverneur der Oblast Mykolajiw, bezeichnete die russischen Truppen oft als »Orks«, eine Anlehnung an DerHerr der Ringe, die sich in dem Sozialen Medien schnell durchsetzte. Solche Zuschreibungen vereinfachen den Konflikt auf die Struktur von Epischem und erlauben dadurch eine narrative Komplexitätsreduktion.

Auf der russischen Seite greift Wladimir Putin immer wieder auf die eine intakte und positive Selbsterzählung seines Landes zurück: den Sieg über Nazi-Deutschland und den Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Deshalb bezeichnet er die Ukraine als »Nazis« – im postsowjetischen Russland der denkbar gefährlichste Antagonist. In seiner Rede am 9. 5. 22 zum »Tag des Sieges«5 verteidigte Putin den Angriff auf die Ukraine deshalb als »präventiven« Schritt seiner Regierung, denn eine Nazi-Junta als Nachbar wäre Russland früher oder später gefährlich geworden. Die kanadische Historikerin Margaret MacMillan erklärt hierzu: »Geschichte ist ein Instrument des Krieges geworden. Putin nutzt Geschichte oder seine Version von Geschichte, um Anspruch auf die Ukraine zu erheben.«6 Und er geht weiter: Getrieben von einem religiös verbrämten großrussischen Imperialismus, spricht er von einer »heiligen Pflicht«, die angeblich bedrohten Russinnen und Russen in der Ukraine zu »befreien« und den historischen Fehler seiner Vorgänger, das Sowjet-Reich zerfallen zu lassen, zu korrigieren. Putin arbeitet hier mit dem in unserem Buch näher beschriebenen narrativen Mittel der »Retropie« (Zygmunt Baumann), also der utopischen Aufladung einer vermeintlich idealen Vergangenheit, zu der er – und nur er – sein Volk zurückführen kann. Mit dieser narrativen Vorbereitung konnte Putin seine beiden Märchen verbreiten, um die Invasion der Ukraine vor der russischen Bevölkerung zu begründen: erstens die Lüge, dass die Ukraine entnazifiziert werden müsse und das russische Militär dort als heldenhafter Befreier begrüßt würde; zweitens die Lüge, dass die Ukraine als souveräner Staat gar nicht existiere. Diese Fantasmen, die sich des urnationalistischen Narrativs des »wir gegen die« bedienen, müssen aus der Sicht eines Putin unter allen Umständen verteidigt werden, daher gilt alles, was sich seinen Mythen in den Weg stellt, als Feind.

Narrativ vorbereitet wurden diese Legitimationen des Angriffskriegs von langer Hand, durch Jahrzehnte der politischen Propaganda, aber auch fiktional-erzählerisch, wie der Osteuropa-Experte Sergej Sumlenny beobachtet hat. Unter anderem geschah dies durch die in den 2010er-Jahren beginnende Massenproduktion von Büchern über »coole« Seiten von Stalin und Stalinismus zum einen und eines aufziehenden Krieges gegen den Westen zum anderen. Kurz darauf begann der Kreml, Geschichten aus dem Bereich »fantastische Schlachten« zu veröffentlichen: massenproduzierte Bücher schlechter Qualität über die russische Militärüberlegenheit in allen möglichen Konflikten. Ein häufiger erzählerischer roter Faden darin: Die wahren Feinde Russlands säßen in der Ukraine und müssten zerstört werden. Mit den ukrainischen Maidan-Protesten 2014 habe die »letzte Schlacht« des glorreichen russischen Militärs begonnen, und zwar (man ahnt es) gegen die vom Westen unterstützten »Nazis« in der Ukraine. Dies gilt nur als weiteres Kapitel in der endlosen Geschichte von Geschichten, wie Sumlenny aufzählt, in denen Russen angeblich betrogen wurden.

Diese Selbstviktimisierung ist ein zentraler narrativer Kniff nicht nur in Russland, sondern in faschistoiden Ideologien generell (siehe dazu Kapitel 9). Ein eigenes Genre namens »Popadantsy« (ungefähr: Zeitreisende, wörtlich: »Erscheinende«) hilft den Russen dabei, empfundene historische Ungerechtigkeiten zu korrigieren: Zeitreisende aus der Gegenwart fliegen zurück und verhindern zum Beispiel die Revolution 1917 gegen Zar Nicholas II, woraufhin die westlichen Feinde besiegt werden können und das großrussische Reich intakt bleibt.7 Solche revisionistischen Narrative ziehen sich durch Popmusik, (staatlich geförderte) Mainstream-Filme und Fernseh-Diskussionen, werden pseudowissenschaftlich unterfüttert und nicht zuletzt in den Essays und Reden von Putin immer präsenter – der angeblich selbst von patriotischen Spionagefilmen wie Schild und Schwert (1968) zu seiner ersten Agententätigkeit ermuntert worden sein soll8.

Die gegenwärtige Realität ist freilich eine andere, als der russische Präsident sie uns verkaufen will. Die Ukraine macht sich zur Protagonistin, die mit allen Mitteln auf ihrer Souveränität besteht. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari geht so weit zu behaupten: »Putin hat den Krieg bereits verloren, weil es in diesem Krieg um die Existenz der ukrainischen Nation geht, und die ganze Welt jetzt weiß (…), dass die Ukraine eine sehr, sehr reale Nation ist.«9 Das jedoch interessiert den russischen Autokraten bis jetzt wenig, erzählt er seine Lügen doch nicht vorrangig, damit sie geglaubt werden. Die primäre Rolle einer alternativen Realität, wie sie Putin immer wieder konstruiert, ist nicht ihre Überzeugungskraft, sondern die Machtdemonstration. Willkürliche, offenkundige Lügen erscheinen als das Privileg eines Mannes, der so stark ist, dass er sich nicht an das für alle anderen geltende Konzept von Wahrheit und Lüge halten muss. So wurden beispielsweise auch die Nordstream-Gaslieferungen gen Westen mit fadenscheinigsten Begründungen, die niemand glauben konnte, gedrosselt oder ausgesetzt. Wie Sergej Sumlenny es ausdrückte: »Viele fragen sich: Wieso lügen Russen so blöd? Nun, in Russland ist die absichtlich ungeschickte Lüge, die jeder durchschaut, aber niemand verhindern kann, ein Zeichen von Macht. Sie demütigt das Gegenüber maximal.«10

Paradoxerweise wird dieser Krieg gleichzeitig medial so ausgeleuchtet wie keiner vor ihm – und er ist auch in bislang einzigartiger Weise informationell umkämpft. Im Zweiten Weltkrieg spielte das Radio (in Deutschland der Volksempfänger) eine große Rolle; im Golfkrieg war es die 24-Stunden-Berichterstattung im TV. Heute nun haben wir, wie manche Kommentatoren11 es beschreiben, den ersten »TikTok-Krieg«, der durch seine Unmittelbarkeit ein starkes Identifikationspotenzial mit sich führt und eine hohe narrative Transportation bewirkt – beides beschreiben wir in diesem Buch. 1972 war es das Foto der nackten, versehrten Phan Thi Kim Phúc in Vietnam, das Menschen weltweit demonstrierend auf die Straße brachte und so die amerikanische Regierung unter Druck setzte. Heute haben wir ein ganzes Meer von Bildern und Videos in unseren Feeds, die in den sozialen Medien zu den typischen Solidaritätsdynamiken führen. Ob dies letztlich eher zu einer Abstumpfung und einer indirekten »Kriegsmüdigkeit« führt, wird man erst feststellen können, wenn die sozialpsychologischen Auswirkungen ausreichend erforscht sind. Welche Transformation und Prüfungen dieser Krieg auch immer den Beteiligten noch auferlegt, bis hoffentlich Recht über Unrecht siegt: Noch nie wurde ein Krieg (sozial)medial so intensiv begleitet und quasi in Echtzeit erzählt. Ukrainische Werbekampagnen gegen russische Trollarmeen, eindringliche Rhetorik gegen Lügen und Propaganda: Auf dem narrativen Feld erleben wir die Renaissance eines Heldentums, das wir in unseren »postheroischen« Gesellschaften (siehe Kapitel 2) als bereits erledigt sahen. Eine von vielen Entwicklungen, die wir nicht ahnten. Und auf die wir hätten verzichten können.

Was uns zu unserer Rolle in dieser Geschichte führt. Der Westen tritt in diesen Konflikt entschieden auf Seiten der Ukraine ein. Auch er pflegt einige Narrative, um den eigenen ethischen wie militärischen Kompass zu finden. Dr. Elizabeth Gloyn, Expertin für die Rezeption klassischer Monster in der Populärkultur und für die Analyse römischer Schriften, sagt: »Krieg erlaubt uns, die ethischen Prioritäten einer Kultur zu sehen, die ihn begonnen hat. Wie gehen wir mit den gefangen genommenen Menschen um? Was tun wir, wenn wir verlieren? Gegen wen führen wir Krieg?«12 Für die NATO steht in der Ukraine zwar nicht direkt die Intaktheit ihres Bündnisses und damit ihrer Selbsterzählung auf dem Spiel, aber dennoch mehr als genug, um nach einigen Wochen des Schocks über die Invasion eine eigene Mission explizit – und durchaus gen Russland gerichtet – zu formulieren: »Die Ukraine darf diesen Krieg nicht verlieren.« Auch unsere Freiheit, so heißt es, werde in der Ukraine verteidigt, da die russische Erzählung nach einem möglichen Sieg in der Ukraine nicht Halt machen, früher oder später also weiter nach Westen angreifen würde. Damit hat man sich mindestens als Gefährtin und Mentorin der Heldenreise der Ukraine versprochen, im Sinne der in Deutschland von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen »Zeitenwende« womöglich aber selbst mehr zur Protagonistin gemacht, als man jetzt noch erahnen mag.

So viel an dieser Stelle zu einem andauernden, furchtbar brutalen Konflikt, auf den wir durch den vielzitierten »fog of war« immer nur sehr eingeschränkt sehen können, der aber natürlich auch diesem Buch einen neuen Kontext aufzwingt. Wir hoffen, die Lektüre erlaubt es Ihnen, auch ohne explizite Nennung einige Übertragungen zwischen dem Dargelegten und dem heute Stattfindenden anzustellen. Vielleicht hilft unsere Geschichte des Geschichtenerzählens dabei, eine Welt zu verstehen, die seit Februar etwas unverständlicher geworden ist.

Berlin und München im Oktober 2022

Samira El Ouassil und Friedemann Karig

1

Gewohnte Welt

Prolog

Lassen Sie uns mit der Geschichte einer Wette beginnen. Und zwar einer Anekdote aus dem Leben von Ernest Hemingway. Die Legende besagt, dass Hemingway mit einigen Autoren in einem Restaurant saß und wettete, er könne eine Geschichte mit sechs Worten schreiben. Er kassierte von jedem zehn Dollar und schrieb auf eine Serviette:

For sale: baby shoes, never worn.

Unser Leben ist oft nichts anderes als eine Wette auf die Zukunft. Wir erzählen einander und uns selbst, was die wahrscheinlichste und was die wünschenswerte Zukunft ist. Und wie aus der Letzteren die Erstere wird. Dann verhalten wir uns in der Gegenwart danach. Wir stehen jeden Morgen auf (jedenfalls die meisten von uns), in der Erwartung, dass jemand oder etwas – ein Mensch, eine Arbeit, ein Schicksal – auf uns wartet und es auffällt, wenn wir liegen bleiben. Aber was genau passieren wird, können wir nicht wissen. Wir gehen eine Wette ein. Und wir erzählen uns, warum wir etwas tun, damit es uns nicht sinnlos vorkommt.

Ein Großteil unserer kognitiven Kapazitäten ist genau damit beschäftigt: eine möglichst stimmige Selbsterzählung zu pflegen. Was passiert morgen, was heute schon wichtig ist? Die Ankündigung von Regen genügt, damit Millionen Menschen eine Jacke oder einen Schirm mitnehmen. Die Zukunft beeinflusst direkt die Gegenwart, was in der Physik normalerweise nicht vorkommt. Doch eine unsichtbare Kraft scheint von der einen in die andere Zeit zu wirken.

Ebenso entgegen allen physikalischen Naturgesetzen scheint es, dass ein Gegenstand durch den Weltraum von einem Planeten auf dessen Mond springt. Aber weil sich die Menschen immer schon Geschichten erzählt haben und ihnen der Mond seit jeher nicht nur ein Fleck am Himmel war, vielmehr ein Sehnsuchtsort oder gleich eine Göttin, wurde die Geschichte irgendwann wahr. Nein, sie musste irgendwann wahr werden – und der Mensch auf den Mond fliegen. Nur wegen einer Geschichte. Die nicht einmal wahr sein wollen muss. Sie muss uns nur etwas sagen. Etwas bedeuten. Unsere Sehnsucht danach, dass sie wahr werde, erledigt dann den Rest.*

* So wie die Geschichte von Hemingway und seiner Sechs-Wörter-Story. Die ist gut – fast zu gut, um wahr zu sein. Nach allem, was man weiß, ist sie tatsächlich eine Erfindung. Oder zumindest eine freie Kombination aus den sechs Wörtern, die es schon lange vor Hemingways Geburt gab, und dem von Mythen umrankten Schriftsteller, der so gerne wettete.

So haben Geschichten uns den Himmel erklärt, die Furcht vor der Dunkelheit genommen und unsere Schiffe an fremde Küsten und schließlich ins All gelenkt. Geschichten lehren uns, wie man lebt und wie man liebt. Wir wachsen mit ihnen auf und wir werden mit ihnen beerdigt. Kaum etwas lässt unsere Augen so leuchten, uns so gebannt zuhören. Und kaum etwas kann uns so tiefgreifend verändern wie eine gute Geschichte. Doch haben sie uns auch Angst eingeflößt, gegeneinander aufgehetzt, Kriege beginnen lassen und das andere immer wieder zum Feind erklärt. Die an Gewalt wie Entdeckungen reiche Geschichte der Menschheit kann auch als Summe unserer geteilten Geschichten gelesen werden. Beides, das Dunkle und das Helle, hat darin einen festen Platz.

Wenig überraschend erzählen wir uns heute, im Zeitalter demokratisierter Zugänge zu Medien durch digitale Technik, mehr Geschichten denn je. Hier könnte nun eine imposante Aufstellung unbegreiflich hoher Geldsummen folgen, die damit weltweit umgesetzt werden. Ob Facebook oder Instagram, TikTok oder Twitter, ob Hollywood, Bollywood oder Nollywood, ob der internationale Buchmarkt, der internationale Hörbuchmarkt oder (vielleicht etwas kleiner) der internationale Theatermarkt, dazu noch der oft vergessene Videospielmarkt (der inzwischen fast alle anderen überstrahlt): Stellen Sie sich einfach die lange Reihe an Nullen vor, die die Fantastilliarden der Erzählindustrie abbilden. Oder überschlagen Sie kurz, wie viele Geschichten Sie selbst heute schon gehört, gesehen oder erzählt haben. Wir wetten, es waren einige. Und versuchen Sie mal, einen Tag lang keine zu hören oder zu erzählen. Geschichten sind so etwas wie die Atemzüge des Geistes. Wir können nicht ohne sie.

In allen Geschichten liegen, wie in diesen russischen Puppen, kleinere Einheiten. Kerne des Erzählten, aus denen unzählige weitere Geschichten sprießen können. Wir nennen sie ›Narrative‹. Sie tragen unterschwellige Botschaften durch die Welt: angebliche Ursachen, Wirkungen, Verbindungen, Konflikte, die wir uns selten vergegenwärtigen und die wir doch immer und immer wieder erzählt bekommen und nacherzählen.

Ein paar Beispiele gefällig? Das erste Narrativ ist millionenfach erzählt worden, es ergibt die erfolgreichsten Hollywood-Filme, steckt in unzähligen Videospielen ebenso wie in politischen Programmen. Es ist uns in Fleisch und Blut übergegangen: Jeder ist seines Glückes Schmied. So lautet das Narrativ des neoliberalen Individualismus, das gleichsam Versprechen wie Aufforderung ist. Wenn jeder Mensch direkten Zugriff auf sein Glück hat, ist im Umkehrschluss jeder für sein ausbleibendes Glück verantwortlich – und sogar für sein Unglück. Und zwar indem er nicht genug ›geschmiedet‹, sprich, hart und gut genug gearbeitet hat. Dass die Strukturen, in denen er schmiedet, für sein Glück mitentscheidend sind, dass nicht jeder mit einem brauchbaren Amboss auf die Welt kommt, dass das Leben manchen Menschen bessere Materialien zum Schmieden mitgibt als anderen – all diese systemischen Faktoren für Glück oder Unglück spielen hierbei keine Rolle. Letztlich geht es zurück auf den frühen Individualismus der alten Griechen und hat unser Denken wie kein anderes geformt.

Noch älter: »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.«1 Sie kennen vermutlich die Quelle: dieses seltsame Buch voller Geschichten und darunter liegender Botschaften, manche heilsam, manche destruktiv. Das Narrativ von der Überlegenheit des Menschen und der Verfügbarkeit des Planeten ist so alt wie die Bibel und so gefährlich wie kaum ein anderes. Ressourcenausbeutung, Vermüllung, Vergiftung, industrielles Abschlachten von Tieren und die größte existenzielle Krise der Menschheit namens Klimakrise – das alles gründet auch in den mannigfaltigen Erzählungen vom Auftrag unserer Herrschaft über die Welt.

Und dann ist da natürlich das ewige Narrativ von der Überlegenheit der eigenen Gruppe und der Unterlegenheit der anderen, von deren Schuld an allem Schlechten und dem daraus folgenden gerechten Kampf gegen sie, notfalls bis zu ihrer Auslöschung. Es ist noch älter als die Bibel, vermutlich so alt wie die Menschheit. Es übersetzt unsere niedersten Instinkte, die dunkelsten Seiten unserer Spezies in mächtige Geschichten von gerechtem Zorn und unausweichlicher Gewalt. Es hat tausendundeine Gestalten, taucht etwa als Antisemitismus, als Faschismus, als Misogynie auf. Es wendet sich gegen andere Religionen, Hautfarben und Kulturen. Es tötet und ist selbst nicht totzukriegen, von keinem Gesetz, keinem Kodex, keiner besseren Idee. Warum? Weil uns solch ein Narrativ eine chaotische Welt erklärt. Noch genauer: weil es uns diese Welt so verlockend schlicht erzählt.

Viele dieser Geschichten, die wir einander erzählen, sind nicht nur nicht wahr – sie sind sogar zerstörerisch und gefährlich, schon in ihrer Struktur. Wir, die Autoren, glauben, dass die Schemata, die Beschaffenheit, die Ausprägung und vor allem die eingebetteten Botschaften etlicher unserer heutigen Geschichten letztlich schuld an vielen Miseren unserer Welt sind. Wie kulturelle Gene wurden sie über Jahrtausende von einer Generation, die mit ihnen im Überlebenskampf erfolgreich war, zur nächsten vererbt. Im Grunde erzählen wir uns heute in einer westlichen, fortschrittlichen Gesellschaft schematisch kaum andere Geschichten als die Menschen vor zehntausend Jahren.

Wir haben zwar in den letzten Jahrzehnten Netflix, Dolby Surround, den Kindle und das postmoderne Ende hinzugewonnen (nicht alle würden sagen, dass das echte Verbesserungen waren), doch die Wirkung und die Funktion der Geschichten blieben ähnlich: Die allermeisten von ihnen sollen uns unterhalten und begeistern, erheitern und erhellen. Die Logiken ihrer Weltdeutung haben jedoch oft genug eine unterschwellige Wirkung auf uns, indem sie uns moralisch disziplinieren und indem sie – besonders heute – Verantwortung mal individualisieren, mal bestimmten Gruppen (Frauen, Juden, den anderen) kategorisch zuweisen. Sie verschieben Verantwortung in die Zukunft, verschweigen oder legitimieren den Raubbau an unseren Lebensgrundlagen. Indem sie unseren oft einander widerstrebenden Bedürfnissen Figuren zuordnen, vereinfachen sie die Welt.

Diese Narrative sind deshalb so mächtig, weil sie nicht nur das Außen, sondern auch unser Innen bestimmen. Und das viel mehr, als den meisten von uns bewusst ist. In der Erzählung durch andere entwickeln wir überhaupt erst so etwas wie einen Geist, eine Idee von Identität. Nahezu alles, was wir heute das ›Ich‹ nennen, stellt sich uns selbst und den anderen als Summe mehr oder weniger stimmiger Erzählungen dar. Wir sind, wer wir auf der Bühne anderer Bewusstseine zu sein glauben, genauer: welche Rolle wir dort von uns erzählen dürfen. Wenn das Sein dem Bewusstsein folgt und das Bewusstsein von ebendiesen Geschichten auf gewisse Kausalitäten hintrainiert wurde, liegt der Schlüssel zu einem gerechteren Sein im Kern dieser Narrative. Beleuchten und ändern wir Form und Inhalt unseres Erzählens, so beleuchten und ändern wir die Welt – und was es heißt, in ihr Mensch zu sein.

Menschen bringen Menschen um, könnte man einwenden. Menschen schlagen zu und geben Schüsse ab, und keine Geschichte, mag sie noch so wirkungsvoll sein, kann das verhindern. Wer Gerechtigkeit sucht, sollte nicht herumtheoretisieren, sondern für sie arbeiten, könnte man fordern, und als Erstes an sich selbst. Doch läge man damit falsch.

In diesem Buch wollen wir zeigen, dass kaum etwas so mächtig ist wie eine gute Geschichte. Wir sind uns darüber im Klaren, dass unsere Welt ungerecht ist und schlichtweg langsam kaputtgeht. Wir glauben deshalb, dass wir andere Geschichten brauchen. Wenigstens wäre es einen Versuch wert, unsere narrative Programmierung zu begreifen und auszuprobieren, was sich in der Welt bewegt, wenn wir den mentalen Stoff, der sie für uns zusammenhält, verändern. Diesen Versuch wollen wir in drei Schritten wagen.

Erstens möchten wir nachzeichnen, warum für unsere Spezies die Kulturtechnik des Erzählens so überlebensnotwendig wie ermächtigend war, weshalb wir als erzählende Affen also heute von nichts stärker beeinflusst sind als von Erzählungen. Wir möchten ergründen, wieso auch das moderne Selbst sich letztlich nur eine Geschichte erzählt – und wie das heute besser gelingen kann.

Zweitens wollen wir aufzeigen, welche Felder unseres Lebens, unserer Geschichte und unserer Gesellschaften von welchen Narrativen geprägt sind und in welcher Weise – und wie sehr Milliarden Menschen deshalb unter ihnen leiden. Dabei werfen wir unseren Blick naturgemäß zuerst auf die Geschichten des sogenannten ›Westens‹. Zum einen, weil sie eben auch unsere sind, zum anderen und vor allem aber, weil der Westen mit ihrer Hilfe den Rest der Welt politisch wie kulturell unterworfen hatte. Folglich spielen sie, wohl oder übel, für fast alle Menschen eine Rolle. Wir wollen aber auch darüber nachdenken, wie wir diesen Blick weiten können.

Drittens werden wir auskundschaften, welche Narrative die wahrhaftigen, gesünderen, produktiveren und damit – im Sinne einer utopischen Zukunft – die besseren sein könnten. Ob Menschen überhaupt Utopien brauchen oder wie wir sonst am besten moralisch dazulernen.

Wir wollen also nichts anderes leisten als eine radikale (im etymologischen Sinne ›an die Wurzel gehende‹) narrative Kulturkritik, mit dem Ziel, die Hebel hinter den Geschichten zu verstehen und zu verändern. Wir betrachten dabei die Menschheitsgeschichte selbst als Heldenreise eines Wesens, das sich von sämtlichen anderen Wesen dieser Erde darin unterscheidet, dass es sich Geschichten erzählt. Unsere epische Entwicklung als Spezies stellt uns vor die größte Herausforderung unserer Geschichte: die fortschreitende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.

So weit die schlechte Nachricht. Die gute lautet: Wie in jeder Heldenreise ist die Lösung dieses Problems längst in uns angelegt.* Wie in jeder Heldenreise müssen wir uns grundlegend wandeln, um die Lösung in uns zu finden. Und wie in jeder Heldenreise erwartet uns, wenn wir alle Prüfungen bestehen, eine neue, bestenfalls bessere Welt. Auch von ihr soll dieses Buch handeln.

* Wenn Sie wissen wollen, wie die Menschheit sich vor dem Untergang retten kann, blättern Sie vor zu Kapitel 12. Wenn Sie lieber den ganzen spannenden Kram dazwischen lesen wollen, fahren Sie auf der nächsten Seite fort. Generell funktioniert dieses Buch auch als interaktives Abenteuer: Wir geben Ihnen in Fußnoten die Gelegenheit, an eine andere Stelle zu springen. Entscheiden müssen Sie selbst.

PS: Wir verwenden in diesem Buch die männliche und weibliche Form. Alle Geschlechter seien immer mit gemeint. Wir hoffen, dafür Ihre Zustimmung zu bekommen.

2

Ruf des Abenteuers

Erlöser, Dämonen, Heldinnen

Eine Reise, sie alle zu verwandeln

Als der Held aufgeben will angesichts der Übermacht des Bösen und all der Opfer, die er bringen musste, um es zu besiegen, redet sein bester Freund ihm Mut zu:

Das ist wie in den großen Geschichten. In denen, die wirklich wichtig waren. Voller Dunkelheit und Gefahren waren sie. Und manchmal wollte man das Ende gar nicht wissen. Denn wie könnte so eine Geschichte gut ausgehen? Wie könnte die Welt wieder so wie vorher werden, wenn so viel Schlimmes passiert ist? Aber letzten Endes geht auch er vorüber, dieser Schatten. Selbst die Dunkelheit muss weichen. Ein neuer Tag wird kommen, und wenn die Sonne scheint, wird sie umso heller scheinen. Das waren die Geschichten, die einem im Gedächtnis bleiben, selbst, wenn man noch zu klein war, um sie zu verstehen. […] Ich weiß jetzt: Die Leute in diesen Geschichten hatten stets die Gelegenheit umzukehren, nur taten sie’s nicht. Sie gingen weiter, weil sie an irgendetwas geglaubt haben!1

Daraufhin fragt der Held: »Woran sollen wir glauben?«, und sein bester Freund antwortet: »Es gibt etwas Gutes in dieser Welt, Herr Frodo. Und dafür lohnt es sich zu kämpfen.«2

Frodo, Alice im Wunderland, Jesus, Ellen Ripley – der tapfere Hobbit, das neugierige Mädchen, der barmherzige Erlöser, die mutige Astronautin: Was haben diese so unterschiedlichen Figuren gemeinsam? Sie alle kämpfen für etwas. Sie ziehen los und begeben sich in ungewisse Abenteuer. Sie erleben Konflikte, Widerstände, Siege und Niederlagen. Und sie alle erreichen ein Ziel. Doch was macht sie wirklich zu Helden und Heldinnen? Ihr Glaube. Sie glauben fest genug an etwas, um alles zu riskieren. Die meisten Helden müssen ihren Glauben allerdings erst entdecken, tief in sich selbst, und dazu einen Wandel vollziehen. Sie sind Protagonistinnen* einer Geschichte, weil sie sich auf eine Reise begeben, auf der sie letztendlich sich selbst finden. Frodo findet den Mut, den Ring zu tragen, und den Willen, ihn zu vernichten. Alice wächst aus einer kindlichen Fantasiewelt heraus, die damit ihren Schrecken – und ihren Zauber – verliert. Jesus widersteht allen Versuchungen, opfert sich für die Sünden der Menschen und wird vom Prediger zum Messias. Ellen Ripley wird dank ihrer Entschlossenheit von der gejagten Soldatin zur kosmonautischen Drachentöterin.** Ihre Abenteuer sind jeweils der steinige Pfad zu ihrem heroischen Selbst, eine Tour de Force, die gleichzeitig Wachstum ist: eine Heldenreise.

* Vom Altgriechischen prótos = »der Erste« und ágo = »ich handle, bewege, führe«.

** Die 1979 mit dem ersten Alien-Film begonnene Heldinnenreise der Astronautin Ellen Ripley war auch deshalb so speziell, weil es der Hauptdarstellerin Sigourney Weaver und dem Regisseur Ridley Scott hier gegen alle Regeln des Genres gelang, eine Frau als Heldin eines Sci-Fi-Actionfilms zu etablieren. Interessanterweise steht gleich zu Beginn des Originaldrehbuchs von Alien, dass alle Rollen von allen Geschlechtern gespielt werden könnten, wobei die Drehbuchautoren zugaben, beim Schreiben einen männlichen Protagonisten vor Augen gehabt zu haben. Scott fand dann aber einfach keinen geeigneten Schauspieler für die Rolle – bis Weaver vorsprach. Sie war der Held, nach dem man die ganze Zeit gesucht hatte.

Obwohl der Mann diesen Begriff nicht erfand, gilt er als Entdecker dieser erzählerischen Grundstruktur: Joseph Campbell. In seinem 1945 veröffentlichten Opus magnum Der Heros in tausend Gestalten*** analysierte der amerikanische Mythenforscher Tausende von Geschichten, Sagen und Legenden aus aller Welt. Dabei identifizierte er ein Muster, das er den ›Monomythos‹ nannte. In keltischen wie arabischen Mythen, bei indischen wie griechischen Halbgöttern, ja sogar in den uralten, kulturell autarken Erzählungen der Native Americans oder Aborigines findet sich das immer gleiche Schema, welches Campbell wie ein narratives Genom entschlüsselte: eine äußere Reise als physisches Abenteuer neben der inneren Verwandlung als psychische Entdeckung.****

*** Der englische Originaltitel Hero with a thousand faces ist noch näher an der zentralen Eigenschaft der Heldinnen, sich durch ihre Reise verwandeln zu können.

**** Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss untersuchte die Bestandteile dieser Mythen und fand »Mytheme«, kleinste Einheiten von Gegensatzpaaren, die immer neue Geschichten ergeben. In den Messiasgeschichten zum Beispiel wäre das die Opposition von Versuchung und Widerstehen, von göttlicher Macht und einem diabolischen Antagonismus. Auch sie sind sich, ähnlich wie die Heldenreise, quer durch viele Kulturen und ihre Erzählungen sehr ähnlich. Für Lévi-Strauss sind Mythen keineswegs primitive Sinnbildungen, sondern ausgefeilte Techniken der Weltdeutung.

Campbell fragte sich nun, wie diese eine Art des Erzählens sich überall so ähnlich verbreiten konnte. Dabei griff er auf psychoanalytische Theorien der Verdrängung und Sublimierung von Trieben und Ängsten zurück: auf Sigmund Freud, Otto Rank und Carl Gustav Jung. Weil Heldenmythen seiner Ansicht nach ihren Ursprung in unseren kulturell übergreifend ähnlich gestalteten Psychen haben, glaubte Campbell, dass sie für alle Menschen universell seien und ähnlichen, wenn nicht sogar identischen Mustern folgten. In gewissem Sinne erlaubt uns diese Schablone, den Helden als Archetypen für den psychischen Reifungsprozess zu betrachten, den wir alle in unserem Leben durchlaufen. Denn Heldinnen sind keine Außerirdischen* und keine Maschinen. Sie erzählen uns etwas über uns selbst und damit über das Menschsein an sich. Sie sind Persönlichkeiten, die wir gerne wären oder die wir sein könnten – oder die wir sogar schon sind, ohne es zu wissen.

* Manchmal allerdings schon – wie Alf vom Planeten Melmac. Der ist jedoch kein Held im klassischen Sinne, denn die meisten komischen Genres zeichnet aus, dass die Helden eben keine Entwicklung durchlaufen.

Protagonistinnen erleben an unserer statt kolossale Abenteuer und drastische Emotionen, kämpfen auf Leben und Tod, erfahren größtes Glück und Unglück. Sie erschlagen Drachen, finden Schätze, verlieben sich, retten ihre Kinder und verraten ihre Eltern. Sie riskieren oft alles, gewinnen jedoch meist noch mehr. Doch wozu genau müssen sie diese Wagnisse auf sich nehmen? Um uns zu unterhalten, gewiss. Doch die Unterhaltung ist hierbei nur das Medium einer tieferen Verbindung.

Worum es im Kern geht, fassen die Mythenforscherinnen Eva M. Thury und Margaret K. Devinney wie folgt zusammen: »Wir sind alle Helden, die darum kämpfen, unser Abenteuer zu vollenden. Als menschliche Wesen nehmen wir an einer Reihe von Kämpfen teil, um uns als Individuen zu entwickeln und unseren Platz in der Gesellschaft zu finden. Darüber hinaus sehnen wir uns nach Weisheit: Wir wollen das Universum und die Bedeutung unserer Rolle darin verstehen.«3 Die Mission des Helden ist folglich eine Metapher für eine unbewusste Sehnsucht vieler Menschen, insbesondere die nach Orientierung, nach Einsicht in die Ordnung der Dinge, nach Erkenntnis. Als Vorbilder und Vorkämpferinnen, als Champions unserer Bedürfnisse und Narzissmen personifizieren Heldinnen die Aussicht auf Wunsch- und Trieberfüllung. Auf ihrem Weg erleben sie übermenschliche Prüfungen und allzu menschliche Transformationen – wenn sie sich diesen nicht verweigern und letztlich scheitern. Damit bieten sie uns einen raren Zugang zu unserem Unbewussten. Indem wir mit Heldinnen Beziehungen eingehen, uns mit ihnen identifizieren und verbinden, loten wir immer auch unsere eigenen Fragen, Hoffnungen und Werte aus. Doch anders als die Heldinnen gehen wir dabei kontrollierbare Risiken ein. Der lustvolle Selbstverlust des Mitfieberns am Verlauf einer spannenden Erzählung ist immer zeitlich begrenzt. Die Empathie mit den Figuren einer Geschichte ist eine mit »emotionaler Rückfahrkarte«4, wie der Germanist Fritz Breithaupt es nennt, da wir selbst während der wildesten Abenteuer wissen, dass wir jederzeit das Buch weglegen oder den Fernseher ausschalten können. Und jede Geschichte ein Ende hat.

Dafür ist es egal, ob die Helden echt oder erfunden sind. Man kann bei den meisten der hier (und später) aufgeführten großen Geschichten bezweifeln, ob sie sich jemals so zugetragen haben.** Inwiefern sie Fiktionen mit einem verschütteten authentischen Kern, fiktionalisierte Dramatisierungen historischer Ereignisse oder schmissig erzählte wahre Biografien sind, ist nicht relevant für unser Buch. Denn an ihrer Funktion für und ihrer Macht über unser Leben änderte keine dieser Einschätzungen etwas, und sei sie noch so begründet. Zumal wir es hier nicht mit Problemen der Historizität, sondern der Symbolik zu tun haben. Wie Campbell es formulierte: »Ob Rip van Winkle, Kamar ez-Zamán oder Christus wirklich gelebt haben, ist nicht unsere primäre Sorge. Ihre Geschichten sind es, was uns angeht, und diese Geschichten sind so weit über die Welt verbreitet, nur in verschiedenen Ländern verschiedenen Personen zugeschrieben, daß die Frage, ob dieser oder jener Träger dieser universellen Themen eine historische Persönlichkeit, ein lebender Mensch gewesen sein mag […], nur von zweitrangigem Interesse sein kann. Sie würde die Botschaft, die aus den Bildern spricht, einfach beiseite schieben.«5

** Die Frage, was überhaupt »authentisch« oder »wahr« genannt werden kann, öffnet insbesondere im Bereich der Erzählungen ein weites Feld. Alle erkenntnistheoretischen Probleme, die damit verknüpft sind, möchten wir hier vernachlässigen. Solange eine Geschichte »wahrhaftig« ist, ist sie wahr genug, um von uns betrachtet zu werden, denn dann kann sie wirken, als wäre sie wahr. In seinem Buch Coraline paraphrasierte der Autor Neil Gaiman einen Absatz aus G. K. Chestertons Essaysammlung Tremendous Trifles folgendermaßen: »Märchen sind mehr als nur wahr: nicht deshalb, weil sie uns sagen, dass es Drachen gibt, sondern weil sie uns sagen, dass man Drachen besiegen kann.« (Neil Gaiman: Coraline. Würzburg, Arena Verlag 2003, S. 3)

Ob fiktive Person oder nicht: Für den epischen Verlauf seiner Reise in Der Herr der Ringe ist Frodo unser Alter Ego, eine freundliche Projektionsfläche, die für uns die Strapazen und Schwerthiebe einsteckt. Mit ihm betreten wir einen fiktiven Kosmos voller Herausforderungen und schwerer Prüfungen. Und damit wird der Held auch Teil der Perspektive, von der wir auf seine Wirklichkeit schauen. Wir folgen Alice ins Wunderland, das für sie ebenso neu und unwirklich ist wie für uns. Durch Harry Potters Brille blicken wir in die Zauberwelt von Hogwarts. Zusammen mit Katniss Everdeen erfahren wir in Die Tribute von Panem das dekadente Leben im Kapitol und die brutale Organisation dieser Gesellschaft. An der Hand eines Helden wagen wir uns also auf eine Reise, auf der das Individuum nach Campbell einen Sinn für seine Identität und seinen Platz in der Welt findet.

Das führt uns zu Campbells Phasen, die ein Protagonist während seiner Heldenreise belaufen muss – und wir mit ihm. Es handelt sich dabei um eine Art erzählerische Uhr, auf deren Ziffernblatt Campbell strukturell wiederkehrende Hauptereignisse chronologisch* platzierte.

* Bei Campbell sind die Etappen gegen den Uhrzeigersinn angeordnet, um die Widerstände, gegen die der Held sich behaupten muss, zum Ausdruck zu bringen. Während die gewohnte Wirklichkeit im Uhrzeigersinn voranschreitet, stemmt die Heldin sich gegen diese Routinen ihrer Realität, läuft gegen die Ordnung der Dinge an, nimmt den harten Weg. Wir haben uns dennoch entschieden, aus Gründen der Lesegewohnheit die Etappen von links nach rechts zu platzieren.

Campbell spricht von 17 Etappen einer Heldenreise. Im Verlauf seiner Rezeption wurden diese jedoch auf verschiedene Weisen interpretiert, zum Teil zusammengeführt oder aktualisiert. Während in mythologischen Stoffen zum Beispiel ein Treffen mit einer Göttin stattfand, die dem männlichen Helden maternale Hilfe, manchmal auch eine romantische Begegnung gewährte, findet man dies in vielen gegenwärtigen Geschichten, wenn überhaupt, nur noch symbolisch angedeutet oder in aktualisierter Form. Während Frodo auf die Elbin Galadriel trifft, die ihm wertvolle Erkenntnisse über die Zukunft verrät, fehlt solch ein Rendezvous beispielsweise in Die Tribute von Panem. In den unterschiedlichen Ausprägungen der Heldenreise tauchen jedoch in der Regel die hier aufgeführten zwölf Schritte konsistent auf. Für die Benennung der einzelnen Stunden der Heldenuhr haben wir uns verschiedener Werke6 bedient, um die verschiedenen Facetten der Heldenreise zu präsentieren.

1. Gewohnte Welt. Die Reise jedes Helden fängt in einer für ihn gewöhnlichen Welt an. Dorothy, die Heldin aus dem Zauberer von Oz, befindet sich im grauen Kansas, Neo aus dem Film Matrix im grünstichigen Büro. Ellen Ripley wacht in ihrem Raumschiff auf, Frodo will nur seine Ruhe im schönen Auenland. Und doch ahnt man schnell, dass hier etwas nicht stimmt oder den Heldinnen selbst etwas fehlt. Manche sind Misfits wie Neo, Außenseiter, gequält von dunkler Vorahnung. Andere dagegen scheinen zufrieden, so wie Frodo, weil sie ihre Bestimmung noch verdrängen. Doch eine leise Sehnsucht nach Veränderung steckt in fast allen Helden.

2. Knock, knock, Neo. Time to wake up.Das Abenteuer ruft. Die vertraute Welt wird von außen erschüttert – und etwas zwingt die Heldinnen zum Handeln. Luke Skywalker erhält im Krieg der Sterne einen Hilferuf von Prinzessin Leia. Die Königin der Nacht bittet Tamino in der Zauberflöte um die Rettung ihrer Tochter aus Sarastros Gewalt (und verspricht sie ihm im Falle seines Erfolgs zur Frau). Harry Potter bekommt einen Brief (beziehungsweise sehr viele) aus Hogwarts in den schrecklichen Ligusterweg geschickt. T’Challas Vater stirbt in Black Panther, Wakanda braucht einen Thronfolger, die Welt einen neuen Black Panther. Bei Alice erfolgt der Ruf in Gestalt eines weißen Kaninchens – ebenso bei Neo, der es als Tattoo bei einer Begleiterin entdeckt. In Anleitungen zum Drehbuchschreiben wird dieser Moment auch der inciting incident genannt, der Auslöser, der dafür sorgt, dass der Held sich auf seine Reise begibt.

3. Die Weigerung. Moment mal! Etwas hält den Helden zurück. Selbstzweifel oder Angst? Unmut? Faulheit? Oder etwa eine Vorahnung, was ihm blüht, wenn er aufbricht? Nicht immer, aber gelegentlich lehnt der Held den Ruf des Abenteuers ab. Frodo will den Ring, »sie alle zu knechten«, gar nicht haben, und sein bester Freund Sam warnt ihn: »Es ist eine gefährliche Sache, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen.«7 Sogar der angebliche Sohn Gottes namens Jesus von Nazareth hatte zuerst wenig Lust, Messias zu sein, was wiederum in der Heldenreise seiner Persiflage Brian in Monty Pythons Das Leben des Brian (1979) satirisch überhöht wird.* Ebenso brach der spätere Buddha namens Siddhartha Gautama, trotz nagender Unzufriedenheit mit seinem luxuriösen Leben als Fürstensohn sowie allerlei Weissagungen, erst mit 29 Jahren zu seiner asketischen Sinnsuche auf.** Und Luke Skywalker weist den Ruf erst ab, da das Abenteuer zu weit weg von zu Hause stattfindet, schließlich müsse er sich doch um Onkel und Tante kümmern (die kurz darauf ermordet werden). Selbst Spiderman alias Peter Parker entscheidet sich zunächst für ein bisschen Wrestling gegen Geld, statt einem Mann in Not zu helfen, dabei hat er gerade durch den Spinnenbiss seine Fähigkeiten erlangt, die ihn zum Beschützer der Schwachen machen könnten. (Als bittere Konsequenz tötet der Straßenräuber, den er nicht aufhält, später seinen Onkel Ben.) In der Regel braucht es also einen zweiten Anlauf, eine Verschärfung der Not, bis der Held beschließt, sich seiner Verantwortung zu stellen. Manchmal ist es aber auch das Umfeld, das Angst um die Protagonistinnen hat oder sie aus anderen Gründen zurückhalten will – wie beispielsweise Harry Potters Onkel Vernon. Lässt der Held sich aber auf die Reise ein, gibt es kein Zurück mehr.

* Brian: »Ich bin nicht der Messias, hört mir doch bitte zu! Ich bin nicht der Messias. Habt ihr verstanden? Ehrlich!« Einer der Anhänger: »Nur der wahre Messias leugnet seine Göttlichkeit.« Brian: »Was!? Oh! Was bleibt mir denn da noch für eine Chance? … Also schön! Ich bin der Messias!« Viele Anhänger: »Er ist es! Er ist der Messias!«

** Generell sind die Parallelen zwischen Jesus und Buddha oder allgemein zwischen monotheistischen Messiasgestalten so häufig, dass man meinen könnte, sie wären allesamt erfunden, von einer einzigen Spezies, die das Bedürfnis nach solchen Geschichten hatte. Allerdings wurde Buddha von sage und schreibe 40 000 Tänzerinnen in Versuchung gebracht – so schwer hatte es Jesus nicht.

4. Der Held bricht auf und erfährt die Hilfe eines Mentors. Mentor hieß der Freund des Odysseus, der sich um dessen Sohn Telemach kümmerte. Ein Mentor steht seither archetypisch wie psychologisch für das höhere Ich, eine noblere Version unserer selbst. Oft waren Mentorinnen früher selbst Heldinnen, welche nun die Verwandlungserfahrungen ihrer eigenen Abenteuer an den Helden weitergeben. Dementsprechend sind sie selbst gerne mütterlicher oder väterlicher Art, wenn sie nicht buchstäblich ein Elternteil sind (oder ein Onkel). Von ihnen bekommt der Held Erfahrung, Ratschläge, Techniken, Informationen, Training oder Ausrüstung. Mentoren vermitteln Wissen, so wie Dumbledore Harry Magie lehrt. Sie motivieren zum Weitermachen, so wie Rocky Balboa den jungen Creed aufbaut. Obi-Wan, Morpheus, Dumbledore, T’Challas Schwester Shuri, Gandalf, Karate Kids Meister Mr. Miyagi, Rockys Boxlehrer: Sie alle geben dem Helden etwas Entscheidendes mit, denn sie verkörpern all die Werte und die Weisheit, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Aber auch eine Erinnerung an jemanden kann die Funktion eines Mentors übernehmen, wie in Zack Snyders Superman, oder das Abrufen eines zuvor erlebten, aber schwer zugänglichen Wissens. (Achtung, Spoiler: Besonders doppeldeutig ist die Mentorenbeziehung in Fight Club zwischen dem Erzähler und seinem Freund Tyler Durden: Der Held wird zu seinem eigenen Mentor und zugleich zu seinem eigenen Antagonisten.)***

*** Zeitgenössische Stoffe spielen mit diesen starren Rollen: Der Pixar-Film Soul zum Beispiel erzählt, wie der verstorbene Jazz-Musiker und Lehrer Joe und die Seele 22, der er im Jenseits begegnet, einander zu Mentoren auf allen Bedeutungsebenen des Wortes werden. Am Ende seiner Heldenreise übertritt Joe ein letztes Mal die Schwelle, buchstäblich durch eine Tür und metaphorisch von einer Welt zur anderen, um final zu entscheiden, ob er Held oder Mentor wird.

5. Die Schwelle wird überschritten, die Grenze des Auenlandes passiert, die rote Pille geschluckt. Die Heldin verlässt ihre vertraute Umgebung, fällt durch den Kaninchenbau und landet im Wunderland oder auf dem Planeten mit den bösen Aliens. Katniss Everdeen erreicht mit dem Zug das erbarmungslose Kapitol, die Hauptstadt von Panem; auch für Harry Potter ist der Zug nach Hogwarts das Symbol der Unumkehrbarkeit seiner Reise. Willkommen in Oz – es gibt kein Zurück mehr, Dorothy.

6. Bewährungsproben, Verbündete, Feinde. So langsam geht es ans Eingemachte: Der Held wird geprüft, baut Freundschaften auf, findet Verbündete und lernt seine Feinde kennen. Die Avengers in den Marvel-Filmen werden ein Team, Mulan lernt in der gleichnamigen Geschichte im harten Training, wie ein Mann zu kämpfen. Die Heldin muss auch Misserfolge einstecken, wodurch ihre Willensstärke getestet wird. Wir lernen: Training ist wiederholtes Scheitern unter kontrollierbaren Bedingungen. Zeit für Montagen! Es kann zunächst Niederlagen hageln, aber egal, weiter: Ein Held zeichnet sich vor allem durch Entschlossenheit aus. Die Knochen müssen gebrochen werden, damit sie stärker werden. Was dich nicht umbringt, heldet dich ab. »Tue es oder tue es nicht. Es gibt kein Versuchen«, so der Jedi-Meister Yoda zu Luke. »Konzentrieren, Potter!«, fordert Severus Snape. Also: Wax on, wax off. Don’t forget to breathe!

7. The Bad guys close in. Nun müssen die Heldinnen zeigen, was sie gelernt haben, wie entschlossen sie sind, wie sehr sie den Sieg wollen. Und auch die bösen Buben/Mädchen beweisen ihr ganzes bösewichtiges Potenzial, ihren Willen zur Vernichtung der Heldinnen, vielleicht sogar der ganzen Welt. Die Agenten greifen Morpheus, Trinity und Neo an. Voldemorts Handlanger greifen Harry, Hermine und Ron an. Das Imperium greift Han Solo, Leia und Luke an. Beide Seiten werfen alles in den Ring. Doch wie die epische Schlacht auch ausgeht, sie bedeutet noch nicht die Entscheidung.

8. The dark night of the soul. Der tiefste Punkt. Wunden sind geschlagen, Verluste zu verzeichnen, oftmals hat sich ein Mentor geopfert. Morpheus bleibt zurück, um die Agenten aufzuhalten und den Auserwählten Neo zu retten. Dumbledore wird von Snape getötet, auch Obi-Wan geht über den Jordan. Und die Hobbits müssen sich von Gandalf dem Grauen verabschieden, der sich für sie opfert (und später als Gandalf der Weiße wiederaufersteht). Der Held begegnet in diesem entscheidenden Moment nun seiner größten Angst oder gleich dem Tod – und zwar ganz allein. Selbst in der romantischen Komödie gibt es diesen tiefsten Punkt. Hier stirbt die sich anbahnende Beziehung symbolisch durch eine Trennung: Der Held verliert die Liebe seines Lebens und damit alle Hoffnung. So ist dieser Punkt immer auch eine Begegnung mit den eigenen Dämonen, die nur durch eine enorme Anstrengung überwunden werden können. Der Held muss sich seinen verdrängten Ängsten stellen. Luke fürchtet, von der dunklen Seite der Macht verführt zu werden, und muss symbolisch wie buchstäblich eine dominante Vaterfigur bezwingen. Mulan gewinnt zwar die Schlacht, wird jedoch verletzt und als Frau enttarnt, ausgestoßen und zurückgelassen. Harry Potter liegt wehrlos auf dem Waldboden, er wird gleich von einem Dementoren ausgesaugt. Frodo liegt gleichfalls wehrlos auf dem Höhlenboden und wird gleich von einer Spinne eingewickelt. Rocky liegt auf dem … Kurzum: Alles scheint verloren.

9. Ergreifen des Schwertes. Doch im Moment größter Dunkelheit fasst der Held einen Entschluss, gewinnt eine Erkenntnis, rafft sich ein letztes Mal auf. Er überwindet seine Angst, alle Selbstzweifel, manchmal sogar den Tod. Er wird eine neue, bessere Version seiner selbst: wiedergeboren oder wiederauferstanden. Mutiger, stärker, unbeirrbarer. Nun wird der Protagonist endgültig zum Helden. Neo kehrt zurück, um Morpheus zu retten, obwohl er laut Orakel dabei sterben könnte. Jesus und Harry Potter opfern sich für ihre Freunde und die Menschheit. Mulan kämpft jetzt nicht mehr in der Verkleidung von Hua Jun, sondern als sie selbst, frei von Lügen und Restriktionen. Der beinahe ohnmächtige Harry sieht in der Ferne einen durch ein »Expecto Patronum!« heraufbeschworenen Patronus (ein zeitliches Paradox: Es ist nämlich sein zukünftiges Selbst, welches diesen Schutzpatron heraufbeschwört, weil er sich in der Vergangenheit am Punkt seiner dunkelsten Stunde selbst dabei zuschauen konnte, es bereits einmal geschafft zu haben). Oft symbolisiert das vom Helden ergriffene Schwert die Erkenntnis, die Herausforderung bewältigen zu können. Oder der Held nimmt den Schatz in Besitz, den er durch die Konfrontation mit dem Tod gewonnen hat. Manchmal sind die Schätze echte Schätze – Steine der Weisen oder Baupläne für Todessterne zum Beispiel. Aber der Fund kann auch ein Wissen sein, die Liebe, ein geretteter Mensch. Oder eine Freundschaft wie die zwischen Frodo und Sam: Nachdem Gollum sie scheinbar zerstört hat, erweist sie sich nach der symbolischen Wiederauferstehung Frodos als stärker denn je. Und rettet letztlich die Welt.

10. Rückweg. Der Held hat sich verändert. Er hat auf seiner Reise herbe Verluste erlitten, dabei jedoch Grundsätzliches über sich und seine Welt gelernt, manche Täuschung entlarvt und sein altes Ich hinter sich gelassen, wenn nicht sogar getötet. Die Schätze, Grale und Erkenntnisse müssen nach Hause gebracht werden. Doch nicht so schnell – kurz vor der Heimkehr kommt es zu einer nun wirklich finalen Prüfung, die dem Helden abermals alles abverlangen kann. So muss sich Ellen Ripley erneut des sich noch einmal aufbäumenden Aliens erwehren, Neo wird gar auf der Flucht aus der Matrix von Agent Smith erschossen.

11. Auferstehung. Doch Neo weiß inzwischen, dass er der Auserwählte ist. Er hat die Beschaffenheit der Matrix begriffen und kann sie mit seinem Willen beeinflussen. Die Verwandlung, die bei der entscheidenden Prüfung begonnen hat, ist hiermit endgültig abgeschlossen und von außen für alle sichtbar. Harry Potter weiß inzwischen, dass er den »Expecto Patronum«-Zauberspruch beherrscht, denn er hat sich selbst dabei beobachten können, es schon einmal geschafft zu haben. Luke hat keine Angst mehr, die Macht zu nutzen, weil er weiß, dass er der dunklen Seite nicht erliegen wird. »Nutze die Macht, Luke!« ertönt im entscheidenden Moment die mysteriöse, aus dem Nichts kommende Stimme seines Mentors Obi-Wan. Der Todesstern explodiert.

Campbell nannte diesen Punkt der Reise »Herr der beiden Welten«: Der verwandelte Held reagiert nicht mehr durch Anpassung auf die Situation, sondern er selbst passt die Situation an. Mitunter erfolgt diese Auferstehung strukturell auch direkt nach dem tiefsten Punkt, oder der Abschnitt des Rückwegs ist sehr kurz. Es muss also nicht immer die Flucht aus dem einstürzenden Tempel sein, sondern es kann sich auch schlicht um ein Aufwachen handeln. Wenn Alice und Dorothy die Augen öffnen und plötzlich wieder daheim sind, stehen sie symbolisch wie buchstäblich wieder auf.

12. Der Held kehrt nach Hause zurück – wobei er oft ein Element des Schatzes bei sich trägt, das die Macht hat, die Welt so zu verwandeln, wie der Held verwandelt worden ist. Die Avengers essen Shawarma inmitten der Trümmer eines wieder friedlichen, sicheren New Yorks. Dorothy ist zurück in Kansas – und liebt es. Mulan kehrt mit dem Schwert des Kriegers und dem kaiserlichen Siegel heim, beides Belege dafür, dass sie ganz China gerettet und die Ehre ihrer Familie wiederhergestellt hat. »Die Freiheit zu leben« nennt Campbell diese letzte Etappe des Helden.

Bösewichte, Mentorinnen und weitere Mitspieler

Doch was wäre James Bond ohne Dr. No oder Ernst Stavro Blofeld? Was wäre die Agentin Clarice Starling ohne Hannibal Lecter? Was wäre Van Helsing ohne Dracula, was Mozarts ungleiches Gespann Tamino und Papageno ohne die schrecklich-schöne Königin der Nacht? Der Held ist und bleibt die wichtigste Figur, aber alleine ist er nichts. Eine gute Geschichte braucht weitere integrale Bestandteile, und der nach dem Helden wichtigste ist natürlich der Antagonist – etwa ein Colonel Kurtz in Apocalypse Now, eine böse Hexe für Schneewittchen, ein Darth Vader für Luke Skywalker, ein Joker für Batman in den gleichnamigen Comics.

An diesen Beispielen merkt man, dass besonders starke Antagonisten eine Geschichte beinahe übernehmen können. Die Protagonisten dienen dann eher dazu, die antagonistische Genialität und Abgründigkeit ihrer Gegenspieler zu betonen, als die Hauptfiguren zu stellen. Getreu dem Motto von Alfred Hitchcock: »Je gelungener der Schurke, umso gelungener der Film.«8 In der Regel jedoch ist es andersrum: Der Antagonist ist für sich selbst kaum lebensfähig, ist er doch nur das Negativ zum Protagonisten. Er komplementiert ihn, und manchmal erkennt er dies sogar, wie zum Beispiel der Joker, wenn er zu Batman sagt: »Ich will dich nicht umbringen. Was würde ich ohne dich tun? […] Du vervollständigst mich!« Und weiter: »Ich bin kein Monster. Ich bin den anderen nur voraus.«9 Darin liegt, über einen wohligen Grusel der Ambivalenz hinaus, seine Funktion für die Geschichte: Er personifiziert gewisse problematische Eigenschaften, Egoismen oder Deformationen, die in jedem von uns angelegt sind – auch im Protagonisten. Frodo erfährt die Gier nach Macht und nach dem sie manifestierenden Ring hautnah; Jesus wird vom Teufel höchstpersönlich in Versuchung geführt; Batman kämpft immer wieder mit seinen inneren Dämonen darum, nicht zum brutalen Lynchmörder zu werden. Manchmal sind diese Antagonismen sogar produktiv, wenn der Antagonist genau die Qualitäten besitzt, die dem Protagonisten fehlen. Besonders die beiden großen Comic-Universen von Marvel und DC verdanken ihren Erfolg auch ihren genialen Gegenspielerinnen: schillernde, tiefgründige Charaktere, immer für eine Überraschung und einen starken Spruch gut – und deshalb von den Fans oft höher verehrt als die leichter berechenbaren Heldinnen.

In Black Panther haben Regisseur Ryan Coogler und Autor Robert Cole mit Killmonger einen bemerkenswert komplexen Gegenspieler zum royalen T’Challa geschaffen, der nach dem Tod seines Vaters König von Wakanda und damit Träger des Black-Panther-Kostüms wird. T’Challa will die protektionistische Tradition seines Vaters fortsetzen und das Königreich Wakanda vor der Welt versteckt halten, um sein Volk und seine wertvollen Rohstoffe und Erfindungen zu schützen. Killmonger erhebt ebenfalls Anspruch auf den Thron, möchte aber auf die globale Bühne treten, um weltweit Schwarze Menschen mithilfe der fortgeschrittenen Technologie und der reichen Ressourcen Wakandas aus der Unterdrückung zu befreien. T’Challas Bestreben, sein Volk zu schützen, ist nobel und aus seiner Perspektive als frisch gekrönter König nachvollziehbar, befürchtet er doch, dass die Technologie in die falschen Hände geraten könnte. Gleichzeitig hat Killmonger recht, wenn er die Abschottung für unethisch und egoistisch hält, weil man, auf einem Berg von Rohstoffen und Fortschritt sitzend, die Brüder und Schwestern in der Welt wissentlich leiden ließe. Die Heldenreise von T’Challa beinhaltet eine Versöhnung mit der Position seines Gegenspielers. Er begreift, dass Killmonger recht hat, und nachdem er ihn besiegt hat, beschließt er, das getarnte Königreich der Öffentlichkeit zu präsentieren, wie es Killmonger wollte. Die Stärke des Helden T’Challa zeigt sich hier nicht in seiner Kampffertigkeit oder seinem Geschick, sondern in der Bereitschaft, sich von seinem Gegner berichtigen zu lassen. Gerade dadurch wird er zum Black Panther, den sein Königreich und die Welt brauchen: anpassungsfähig und weise, nicht durch Macht korrumpiert oder von Tradition geblendet.

Der Antagonist muss also gar nicht immer der schurkische Bösewicht sein, der nur existiert, um den Helden zu sabotieren und dadurch die Handlung voranzutreiben. Seine Interessen können nachvollziehbar sein, aber die fehlende Ethik der Mittel, die er benutzt, sowie seine Unfähigkeit zur Reflexion und Transformation sind es, die ihn zum Gegenspieler machen.*