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Während die letzten Reserven der Wehrmacht im Westen verheizt werden, brennt der deutsche Osten!
Jürgen Thorwalds Sachbuch "Es begann an der Weichsel" ist ein zeitloser Klassiker, der den Endkampf an der Ostfront minutiös aufarbeitet und Ihnen tiefe Einblick in das Kampfgeschehen und die dramatische Flucht der Bevölkerung bietet.
Unter dem Donner von tausenden Artilleriegeschützen und Raketenwerfern trat die Rote Armee am 12. Januar 1945 zum Sturmlauf auf den Osten des Deutschen Reiches an. Der Endkampf ums Reich begann und sollte noch einmal Millionen von Opfern fordern …
Der mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnete Autor Jürgen Thorwald zeigt nach Auswertung von tausenden Dokumenten und Zeitzeugenberichten auf, wie die Wehrmacht verzweifelt versuchte, die Rote Armee an den Grenzen des Reiches aufzuhalten.
Seine fesselnde Darstellung der damaligen Ereignisse schildert ebenfalls drastisch, unter welchen Umständen Millionen Menschen ihre Heimat verlassen mussten. Schwere Fehlentscheidungen von Politik und Militär erschwerten das Los der notleidenden Bevölkerung unnötig.
Lassen Sie sich diesen in seiner Nüchternheit geradezu beklemmenden Tatsachenbericht nicht entgehen und sichern Sie sich Jürgen Thorwalds detaillierte Aufarbeitung von einem der dramatischsten Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte.
Hinweis: Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich um eine Neuauflage der Publikation aus dem Jahr 2024
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Jürgen Thorwald
Es begann an der
Weichsel
Helios
Inhalt
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Ziegenberg
Es begann an der Weichsel
Sturm über Ostpreußen
Flucht über die Ostsee
Zwischen Weichsel und Oder
Nachklang
Quelle Im Folgenden sind die wichtigsten Quellen angegeben, die dem Autor zur Verfügung standen
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Der Befehlszug des Generalstabschefs des deutschen Heeres befand sich in der Nacht vom 8. auf den 9. Januar 1945 auf der Fahrt von Zossen südlich Berlin nach lieh bei Gießen. Schwere englische Luftwaffenverbände waren über dem Ruhrgebiet und über Mitteldeutschland gemeldet. Der Zug hatte seit seiner Abfahrt mehrfach Umleitungen befahren müssen. Aber das war seit langem nichts Ungewöhnliches mehr.
Generaloberst Guderian hatte sich niedergelegt. Er litt an einer koronaren Herzkrankheit, die sich durch die Aufregungen seines Amtes nicht gebessert hatte. Da er zu einer neuen Auseinandersetzung zu Hitler fuhr, von deren Verlauf in starkem Maße Wohl und Wehe der deutschen Ostfront abhing, wollte er sich so lange wie möglich ausruhen und Kräfte schonen.
Trotzdem war ihm keine Ruhe geschenkt Hinter ihm stand wie ein drohendes Gespenst die Gewißheit, daß die sowjetische Armee am 12. Januar eine neue Großoffensive gegen die deutsche Ostfront entfesseln würde, die aus dem Raum von Tilsit nach Warschau und von dort entlang der Weichsel nach Süden verlief.
Über das Ausmaß dieser Offensive gab man sich im Generalstab des Heeres keinen Illusionen hin. General Gehlen, Chef der Abteilung Fremde Heere Ost, der die Nachrichten über den östlichen Gegner zusammenstellte, war ein gewissenhaft arbeitender Mann. Guderian hatte keinen Grund, an der Zuverlässigkeit seines Mitarbeiters zu zweifeln. Dessen Aufstellungen aber waren um so beängstigender, als jetzt nur noch Reste des 1941 und 1942 eroberten sowjetischen Raumes die sowjetische Armee von Deutschland trennten. In Ostpreußen standen russische Truppen schon auf deutschem Boden, und was der überraschten deutschen Zivilbevölkerung im Spätherbst 1944 in Nemmersdorf und Goldap an Mord, Vergewaltigung und Verschleppung zugestoßen war, zwang dazu, der kommenden Entwicklung mit brennenden Sorgen entgegenzusehen.
Der Generaloberst drehte sich unruhig zur Seite. Der schwache Schein des Nachtlichtes fiel auf seinen gedrungenen Kopf. Guderian war kein Generalstabschef, wie man sich einen solchen gemeinhin vorstellte. Er war weder ein ausgesprochen »operativer Kopf«, noch liebte er die Planungsarbeit an Schreibtischen. Er war ein Mann der Front und ein Panzerführer.
Daß ausgerechnet er, der in der Hauptsache die deutschen Panzertruppen geschaffen und bis 1941 eine Panzerarmee geführt hatte, nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli Generalstabschef geworden war, schien mehr eine Laune des Zufalls als Bestimmung. Dies um so mehr, als Hitler ihn während der verlorenen Winterschlacht 1941/42 vor Moskau abgesetzt und verbannt hatte. Erst 1943 war Guderian zurückberufen worden, als er gebraucht wurde, um der ausgebluteten Panzerwaffe neues Leben einzuhauchen. Er war Generalinspekteur der Panzertruppen geworden und nach dem 20. Juli Chef des Generalstabes des Heeres. Durch eine Laune des Zufalls, weil der Mann, der eigentlich diese Stellung erhalten sollte, erkrankte.
Guderian fragte sich manchmal, ob er das Amt angenommen hätte, wenn ihm dessen Bürde im voraus bekannt gewesen wäre. Aber es war jetzt müßig, darüber nachzudenken. Er hatte sich mit der nicht allzu überlegten Tatkraft des Panzermannes in die neue Aufgabe hineingestürzt. Er hatte das Führerhauptquartier und Hitler selbst vorher so selten persönlich erlebt, daß er sich dem Glauben hingegeben hatte, es bedürfe nur eines Mannes mit Zähigkeit und dem Mut zum offenen Wort, um Irrtümern Hitlers ein Ende zu machen und militärisch zu retten, was noch zu retten war. Sicherlich hatte er sich selbst zu hoch eingeschätzt. Vor allem aber hatte er die Wirklichkeit verkannt.
Guderian war, wie die meisten Generale, kein »politischer Kopf«. Er trennte das Militärische vom Politischen und hielt es für seine Sache, zu kämpfen, und für die Sache der Politiker, ein Ende zu machen und ein Ende zu finden, wenn es keinen anderen Ausweg m ehr gab. Er hatte seit den Erklärungen Roosevelts und Churchills während deren Treffen der Alliierten in Casablanca das eindeutige vae victis der Gegner vor Augen. Und nach seiner Überzeugung als Soldat war seither nichts anderes übriggeblieben, als sich bis zur letzten Möglichkeit zur Wehr zu setzen.
Einige Empörer des 20. Juli, die das Debakel überlebt hatten, warfen Guderian vor, er habe das Amt des Generalstabschefs in einem Augenblick übernommen, in dem Generale, Offiziere, also Kameraden, verhaftet und bald darauf auf eine unmenschliche Weise zu Tode gebracht wurden. Sie vergaßen nie einen Befehl über die Schuld des Generalstabs am 20. Juli, den Guderian nach der Übernahme seines neuen Amtes erlassen hatte. Sie argwöhnten, Guderian habe aus alter Gegensätzlichkeit gegen den einstigen Generalstabschef und nunmehrigen Empörer, General Beck, der seinerzeit wenig Verständnis für die revolutionären Ideen Guderians über die Panzerverwendung gezeigt hatte, sein Amt übernommen.
Seine Gegner mochten mit ihrer Kritik insofern recht haben, als die unvernarbten Wunden seines plötzlichen und nach seinem Empfinden ungerechten Sturzes im Winter 1941/42 Guderian dazu getrieben hatten, eine vermeintliche Scharte in seinem Leben wiedergutzumachen. Aber das war nicht das Entscheidende. Entscheidend für seine unkomplizierte Natur war die Überzeugung gewesen, daß Tyrannenmord in einem Augenblick verfehlt sei, in dem es darum gehe, sich einem drohenden Schicksal der Niederlage und Vernichtung Deutschlands geschlossen entgegenzustellen.
Was die Überzeugung von der Notwendigkeit des Widerstandes bis zum letzten betraf, hatte sich Guderians Ansicht bis zu dieser Nacht, in der er zu Hitler fuhr, nicht gewandelt. Seit im Verlauf der unglücklichen deutschen Dezemberoffensive in den Ardennen ein gegnerisches Schriftstück über einen alliierten Plan »Eclipse« erbeutet wurde, war kein Grund vorhanden, anders über diese Notwendigkeit zu denken. Der Plan »Eclipse« schien ein getreues Abbild von Vorstellungen, die der amerikanische Finanzminister Morgenthau über die Behandlung Deutschlands nach dem Siege nicht nur vertrat, sondern anscheinend durchgesetzt hatte. Dabei von echten Vernichtungsabsichten gegen das deutsche Volk zu sprechen, schien Guderian keine Übertreibung.
Trotzdem hatte sich in Guderian seit jenen hektischen Julitagen vieles geändert. Guderian kannte jetzt eine Welt von innen, die er damals mehr oder weniger nur von außen gesehen hatte. Er kannte jetzt das Führerhauptquartier so, wie es sich entwickelt hatte. Er kannte diesen Sumpf aus Größenwahn, aus Resten gigantomaner Hitlerscher Konzeptionen, die vielen immer noch als genial erschienen und in deren Zeichen ein gläubiges Deutschland einmal ausgezogen war, um Wunden des Ersten Weltkrieges zu heilen, vor allem aber um die Sowjetunion und ihre bolschewistische Welt zu zerstören und in ein großgermanisches Kolonialreich zu verwandeln. Er kannte die blinde Verweigerung der Einsicht in Wirklichkeiten, mit denen Hitler das Hauptquartier beherrschte.
Guderian besaß trotz seiner Krankheit eine bullenhafte Zähigkeit. Er wirkte nur selten diplomatisch, war vielmehr von aggressiver Offenheit. Und er hatte damit seit dem Sommer 1944 manches erkämpft, was ihm militärisch vernünftig erschien. Aber wenn er die Summe dessen übersah, was er im günstigsten Sinne erreicht hatte, so blieb sie klein und bedeutungslos.
Guderian blickte auf die Uhr. Er schob die Verdunkelung hoch und las das Namensschild eines kleinen Bahnhofes in Mitteldeutschland. Es würde wenigstens noch fünf Stunden dauern, bis der Zug Gießen erreichte. Von dort war es noch eine kurze Kraftwagenfahrt bis Ziegenberg in Hessen, wo Hitler sich seit Beginn seiner inzwischen zusammengebrochenen Dezemberoffensive in den Ardennen aufhielt.
Die deutschen Fronten hatten im Jahre 1944 die furchtbarsten Rückschläge erlitten. Im Westen waren die englischamerikanischen Invasionsarmeen im Sommer 1944 in der Normandie gelandet. Sie hatten die fast ohne Luftunterstützung kämpfende deutsche Westfront nach wochenlangem Ringen durchbrochen. Sie hatten Frankreich und Belgien überschwemmt und waren unter Aussparung der niederländischen Gebiete bis an die deutsche Westgrenze vorgedrungen. Sie hatten alles zurückgenommen, was Deutschland 1940 einmal erobert hatte, und waren bereit, nach Deutschland selbst vorzudringen.
In Italien, das Mussolini gestürzt und das Bündnis mit Deutschland verlassen hatte, schob sich die alliierte Front Stück für Stück weiter nach Norden vor. Im hohen Norden hatten die erschöpften Finnen im September 1944 Waffenstillstand mit der Sowjetunion geschlossen. Die deutsche Gebirgsarmee an der Eismeerfront war in schwierigen Märschen durch die Tundra nach Nordnorwegen zurückgewichen, von wo sie jetzt langsam nach Süden zog. Alle Niederlagen, Rückzüge und Katastrophen wurden jedoch durch die Rückschläge an der Ostfront überschattet.
Anfang Juni 1944 war jene Front noch weit jenseits der deutschen Ostgrenzen durch seit 1941 erobertes sowjetisches Gebiet verlaufen. Wenige Wochen später bereits wankte das ganze Gebäude dieser Front. Dies geschah zuerst im Bereich der Heeresgruppe Mitte des Generalfeldmarschalls Busch, dessen balkonartig weit vorspringende Tausend-Kilometer-Front sich von Kowel über Pinsk, Shlobin, Mogilew, Orscha, Witebsk bis in die Gegend nordostwärts Polozk erstreckte. Die 2., 9. und 4. Armee sowie die 3. deutsche Panzerarmee standen hier mit knapp vierzig schwachen Divisionen und zwei Reservedivisionen einhundertfünfzig sowjetischen Schützendivisionen und fünfundvierzig Panzerdivisionen gegenüber. Diese eröffneten am 22. Juni nach stundenlangem Trommelfeuer ihre Sommeroffensive.
Vergebens hatten die Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte, der fähige, erfahrene, als Persönlichkeit jedoch schwankende Feldmarschall von Kluge, und sein Nachfolger, Feldmarschall Busch, der m ehr und m ehr resignierte und sich dem Trunk ergab, immer wieder darauf hingewiesen, daß die Front ihrer Heeresgruppe einen strategisch untragbaren Balkon bilde, der den Gegner zum Hineinstoßen auffordern müsse. Vergebens hatten sie um die Genehmigung ersucht, diesen Balkon zu räumen, die Front zu begradigen und dadurch Reserven zu gewinnen. Hitler kannte in seinem Aufbäumen gegen die an Zahl wachsenden Niederlagen nur noch eine Strategie, die keine mehr war. Er schlug um sich. Er setzte sich starr zur Wehr, in dem besessenen Versuch, kein Stück sowjetischen Raumes preiszugeben. In dem Gefühl, daß ihm jeder Verlust von Raum den Gegner näher brächte, gab es für ihn nur noch eine Strategie, die etwas blind Besessenes an sich hatte. Es war die These von der kompromißlosen Verteidigung jedes einmal von deutschen Soldaten besetzten Fleckchens Boden. Er kannte fast nur noch einen Befehl: Behaupten! Auch wenn er damit ganze Armeen opferte, die an verkürzten Fronten einen längeren Widerstand hätten leisten können. Vergebens hatten von Kluge und auch Busch darauf gedrängt, hinter ihrer Front Befestigungsanlagen zu bauen und vorsorglich zu besetzen, um nach einem sowjetischen Durchbruch zurückweichenden eigenen Truppen wieder Halt zu geben. Dem hatte Hitler seine menschenverachtende These entgegengestellt, daß der Bau von Befestigungslinien in rückwärtigen Frontgebieten die Truppe nur dazu verführe, rückwärts zu blicken und in der Kampffront nicht genügend Widerstand zu leisten. Er hatte statt dessen mehr oder weniger wahllos Städte im Frontbereich zu »Festungen« erklärt, deren Besatzungen den Befehl erhielten, diese festen Plätze »bis zum Tode zu verteidigen«, gleich, was ringsum geschah. Er klammerte sich damit an ein System, das ihm einmal während der großen Krise im Winter 1941/42 geholfen hatte, die deutsche Ostfront zu behaupten und unter fürchterlichen Opfern das Verhängnis abzuwenden, das er selbst durch seine Unterschätzung und Herausforderung des sowjetischen Kolosses herbeigerufen hatte.
Hitler übersah, daß jetzt nicht einmal mehr die nötigen Kräfte vorhanden waren, um solche Plätze zu behaupten. Er übersah, daß die Luftwaffe, nicht zuletzt durch die Opfer jenes Winters 1941/42, am Ende ihrer Kraft angekommen war und keine ausreichende Versorgung aus der Luft durchführen konnte. Und er übersah schließlich, daß Deutschland all jene Regimenter und Divisionen nicht mehr verschmerzen konnte, die in den festen Plätzen zugrunde gingen.
Es war gekommen, wie es kommen mußte. Bei Shlobin, Rogatschew, an der Rollbahn und südlich und nördlich von Witebsk brachen die sowjetischen Panzerkolonnen durch. Sowjetische Panzerverbände stießen aus dem Raum von Witebsk hinter der deutschen Front entlang vor und faßten den linken Flügel der 4. deutschen Armee im Rücken. Sie rollten bis zur Beresina und besetzten die Übergänge, über welche die unglücklichen deutschen Soldaten hätten zurückgehen müssen. Die Masse der 4. Armee und etwa die Hälfte der 3. Panzerarmee mit nahezu dreihunderttausend Soldaten fanden in den riesigen düsteren Wäldern ostwärts Minsk ein erbarmungsloses Ende.
Hals über Kopf wurde Feldmarschall Busch durch den Feldmarschall Model ersetzt, eine umstrittene Gestalt, innerlich zerrissen, ein sogenannter »Löwe der Abwehr«, voller Energie, voller Erbarmungslosigkeit, mit der Fähigkeit, selbst in schwierigen Situationen Aushilfen zu finden. Von der Rumänienfront, die zu diesem Zeitpunkt noch in trügerischer Ruhe dalag, rollten Divisionen nach Norden. Aber die meisten kamen zu spät. Am 5. Juli fiel Molodetschno, am 8. Juli Baranowitschi. Vorübergehend gelang es Model, in der Linie Kowel-Pinsk-Lida-Wilna eine dünne Front zu errichten. Es gelang nur, weil die Russen ihre Verbände auffrischen mußten.
In dieser Lage flog Model am 10. Juli nach Rastenburg in Ostpreußen, wo Hitler sich damals noch aufhielt. Auch er wußte keinen anderen Weg mehr, als durch Zurücknahme der Heeresgruppe Nord Kräfte für seine eigene Front zu gewinnen. Diese Heeresgruppe Nord bildete in Kurland nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte einen weit nach Osten vorstrebenden Balkon. Sie mußte ihren Südflügel immer weiter verlängern, um irgendwie Anschluß an die nach Westen zurückgeworfenen Reste der Heeresgruppe Mitte zu finden. Ihre Zurücknahme hinter die Düna hätte viele Divisionen frei gemacht. Aber Hitler lehnte ab. Er blieb dabei, jeden Flecken eroberter Erde zu behaupten, sei es auch nur noch ein strategisch wertloser Fetzen, der ihn an die Weite der Eroberungen und die trügerische Glorie der vergangenen Jahre erinnerte.
Er stützte sich zwar auf plausible Erklärungen des Großadmirals Dönitz, nach denen die Räumung des Baltikums die Kriegsmarine zwingen würde, die bisherige Absperrung des Finnischen Meerbusens aufzugeben und den russischen U-Booten den Weg in die Ostsee zu öffnen. Aber Hitler hatte sich aus Dönitz’ Worten nur das herausgenommen, was ihm genehm war.
Schon am 14. Juli begann der nächste sowjetische Angriff. Mit Mühe gelang es, den Verlust Warschaus zu verhindern. Weiter nördlich aber überschritten die Russen am 16. Juli 1944 den Njemen und stürmten bis zur ostpreußischen Grenze vor.
Guderian war noch einmal eingeschlafen, während der Zug durch den kalten, trüben Wintermorgen Kassel entgegenfuhr. Aber sein Schlaf war nur eine wirre Folge jener Traumbilder, die ihn seit Wochen heimsuchten. Und diese verwirrende Folge war ein Abbild dessen, was seit Juli 1944 auf ihn einstürmte.
In einem der Traumbilder sah er seinen eigenen Mund, der schnell und erregt Sätze hervorstieß, welche stets die gleichen Argumente wiederholten: »Die Russen stehen vor Ostpreußen. Sie können jeden Tag bei Memel an die Ostsee durchbrechen. Sie können die Heeresgruppe Nord im Baltikum abschneiden. Die Heeresgruppe Nord kämpft dann für nichts und wieder nichts. Wir brauchen ihre dreißig Divisionen in Ostpreußen. Wir brauchen sie am Narew. Wir brauchen sie an der Weichsel. Wir brauchen sie zum Schutz der Heimat!« Dann sah Guderian Hitlers totenbleiches Gesicht hinter einer großen grünen Brille. Und Hitlers Mund sprach immer wieder die gleichen Worte: »Nein, kommt nicht in Frage. Die Heeresgruppe Nord kämpft, wo sie steht. Der deutsche Soldat gibt freiwillig keinen Meter Boden preis.« Alle Bilder und Gestalten, die Guderian in seinen Träumen sah, gehörten zu einem einzigen verwirrenden Reigen, dessen einzelne Szenen erbitterte Kämpfe mit Hitler und den ringsum anstürmenden Gewalten verkörperten.
Juli/August 1944: Die Russen in Ostpreußen. Eine dünne deutsche Front, die sich ihnen noch entgegenstellt. Die Heeresgruppe Nord in Kurland dagegen völlig unberührt. Verzweifelter Kampf um die Zurücknahme der dreihunderttausend Mann dieser Heeresgruppe zum Schutze Ostdeutschlands. Hitler: »Nein, kommt nicht in Frage!« Erster Durchbruch der Russen zur Ostsee bei Riga. Wiederherstellung der Verbindung mit der Heeresgruppe Nord.
2. September 1944: Finnland schließt Frieden. 18.-27. September 1944: Heeresgruppe Nord gezwungen, Estland zu räumen. Rückzug der Heeresgruppe Nord nach Lettland. Neuer Antrag, die Heeresgruppe Nord nach Ostpreußen zurückzunehmen. Hitler: »Nein!« Durchbruch der Russen bis zur Ostsee beiderseits Memel.
9. Oktober 1944: Endgültige Isolierung der Heeresgruppe Nord. Antrag, die Heeresgruppe zum Durchbruch nach Ostpreußen antreten zu lassen, solange die russischen Kräfte bei Memel noch schwach sind. Hitler: »Nein! 16. Oktober 1944: Russen greifen mit vielfacher Übermacht Ostpreußen an. Halb aufgefrischte Verbände der bei Witebsk zum größten Teil vernichteten 4. Armee, jetzt unter General Hoßbach, verteidigen Ostpreußen. Vier schwache deutsche Korps gegen fünf russische Armeen. Chef des Stabes der Heeresgruppe Nord, General von Natzmer, bei Hitler. Erneuter Antrag, die intakte Heeresgruppe Nord nach Ostpreußen durchbrechen zu lassen. Hitler: »Nein! Ich rechne bald mit einer Änderung der Lage und brauche dann Kurland, um den Russen in die Flanke stoßen zu können. 22. Oktober 1944: Russen in Goldap und Nemmersdorf. Vordringen gegen Gumbinnen.
25. Oktober 1944:4. Armee hält unter beispiellos erbitterten Kämpfen die Russen auf, vernichtet westlich der Straße Goldap-Gumbinnen russische Kräfte. Aber neuer russischer Durchbruch bei Daken. Schwere Krise. Ostpreußen in Gefahr, überrannt zu werden. Gleichzeitige Angriffe gegen Heeresgruppe Nord in Kurland. Heeresgruppe auf lettischem Festlandzipfel zwischen Ostsee und Rigaer Bucht zusammengedrängt. Frage an Hitler: »Welchem Zweck soll die Behauptung dieses Zipfels dienen? Sie hat keinen Sinn!« Hitler: »Sie lenkt russische Angriffe ab!« Neuer Antrag: Truppen der Heeresgruppe Nord über See nach Ostpreußen zu bringen. Hitler: »Nein! Die Heeresgruppe bleibt, wo sie ist! 27. Oktober 1944: Hoßbach bringt mit letzter Kraft russischen Angriff in Ostpreußen zum Stehen.
4. November 1944: Hoßbach nimmt Goldap zurück. Furchtbare Verwüstungen. In Nemmersdorf Frauen lebend an Scheunentore genagelt. Frauen und Mädchen ungezählte Male vergewaltigt, Männer und Greise zu Tode gemartert, 40 französische Kriegsgefangene erschlagen.
11. November, 18. November, 20. November, 23. November 1944: Neue Anträge auf Überführung der Heeresgruppe Nord in die Heimat. Hitler: »Nein!« Russen sind nicht mehr von ostpreußischem Boden zu vertreiben. Verzweifelte Anstrengungen, um der Heeresgruppe Mitte, die jetzt unter Generaloberst Reinhardt dünnen Frontbogen mit 3. Panzerarmee, 4. und 2. Armee von Tilsit bis nördlich Warschau hält, Kräfte zuzuführen.
26. November, 28. November, 5. Dezember 1944: Anträge auf Räumung Kurlands. Hitler: »Nein! Kommt nicht in Frage, der deutsche Soldat gibt freiwillig keinen Meter Boden auf Aber dies war nicht der einzige Reigen bedrückender und beängstigender Ereignisse, aus denen das Unterbewußte seine Traumbilder schöpfte, um Guderian auch in seinen Nächten in die von Krisen, Zusammenbrüchen, Drohungen und Sorgen durchtobte Wirklichkeit zurückzurufen, in deren Mittelpunkt er gerückt worden war. Es gab einen noch größeren, noch chaotischeren Reigen von Informationen, dessen Schauplatz von Warschau bis zum Balkan reichte.
5. August 1944: Rumänischer Staatsführer Marschall Antonescu in Wolfsschanze. Antonescu vertraulich zu Guderian: »Ich kann nicht verstehen, daß sich an dem Attentat auf den Führer Offiziere beteiligt haben. Sie können versichert sein, ich kann mein Haupt in den Schoß meiner Generale legen! 6. August 1944: Der Oberbefehlshaber Heeresgruppe Süd, Generaloberst Frießner, schreibt an Hitler: »Innere Lage in Rumänien unsicher, König wahrscheinlich Mittelpunkt der Kräfte, die aus dem Kriege auszuscheiden wünschen. Diese Kräfte hegen Hoffnungen auf die Westmächte, welche nach ihrer Meinung die Rumänen nicht der Sowjetunion überlassen würden, auch wenn zunächst ein Einmarsch der Russen erfolgt. Konspiration bis in die Familie Antonescus. Front der Heeresgruppe Süd vom Schwarzen Meer am Dnjestr entlang über Jassy bis zur Karpatenlinie durch russische Angriffsvorbereitungen bedroht. Rumänische 4. Armee und rumänische Heeresgruppe Dimitrescu unzuverlässig. Jetzige Front nur zu halten, wenn Rumänien nicht abfällt. Im Falle der Unerfüllbarkeit dieser Voraussetzung sofortige Zurücknahme der Front hinter den Pruth unerläßlich. 7. August 1944: Hitler: »Die Front bleibt da, wo sie steht!« 10. August 1944: Bericht des deutschen Gesandten in Bukarest, von Killinger: »Lage völlig sicher. König Michael Garant des Bündnisses mit Deutschland. 13. August 1944: Hitler befiehlt anstelle Rückführung der Heeresgruppe Nord Abzug aller Reservedivisionen und (mit einer Ausnahme) sämtlicher Panzerdivisionen der Heeresgruppe Süd und ihre Überführung an die Weichsel, an den Narew und nach Ostpreußen.
16. August 1944: Generaloberst Frießner meldet: »Sieben russische Panzerkorps und neunzig russische Infanteriedivisionen sind angriffsbereit. Ihnen gegenüber stehen einundzwanzig deutsche Divisionen. Rumänische Divisionen unzuverlässig! 20. August 1944: Russischer Großangriff. Rumänen legen die Waffen nieder. Fliehen oder gehen zu den Russen über. Russischer Durchbruch bis an den Pruth.
22. August 1944:6. deutsche Armee abgeschnitten. Allgemeiner Zusammenbruch. Hitler erteilt zu spät Erlaubnis zur Zurücknahme der Heeresgruppe Süd. 6. Armee eingekesselt. Nur Teile der 8. Armee retten sich an die Ausgänge der Ostkarpaten.
23. August 1944: Antonescu gefangen. König Michael Führer der Abfallbewegung. Hitler befiehlt: »Verräterclique festsetzen. Nationalregierung bilden. Bukarest bombardieren!« Illusion. Ganz Rumänien im Abfall. Kriegserklärung Rumäniens an Deutschland. Sowjetische Armeen marschieren ohne Widerstand durch Rumänien. Mißhandlung, Ausplünderung, Gefangennahme, Schändung und Verschleppung der durch die Ereignisse überraschten Deutschen. Russische Armeen im Rücken der deutschen Balkanfront. Zusammenbruch der militärischen und wirtschaftlichen deutschen Positionen im Südosten. Verlust der Erdölquellen. Heeresgruppe E und F auf dem Balkan gezwungen, sich in Richtung Norden zurückzuziehen. Hitler stimmt nur widerwillig einem Teilrückzug zu.
1. September 1944: Beginn des Rückzuges. Was wird das Schicksal der Siebenbürger Deutschen sein, die seit Jahrhunderten hier leben? Hitler: »Ich befehle in Siebenbürgen die Organisation des volksdeutschen Widerstandes!« Antwort der Wirklichkeit: Einbruch der russischen Armee nach Siebenbürgen; viehische Schändung, Mord, Plünderung, Vertreibung, Verschleppung, Enteignung für alle, die nicht im letzten Augenblick mit deutschen Truppen entkommen und graue, verlorene Trecks durch Ungarn nach Österreich flüchten.
14. September 1944: Russen vor dem Banat. Neue Tragödie der Deutschen, die seit Jahrhunderten im Banat leben. Hitler: »Das Banat ist zu halten!« Antwort der Wirklichkeit: Russen und Rumänen als neue Verbündete in Temeschburg. Banater Schwaben auf der Massenflucht nach Süden. Übergangsstellen über die Donau können Andrang nicht bewältigen. Amerikanische und englische Flieger werfen Minen in den Fluß, greifen den Fährbetrieb an. Werschetz verloren. Weißkirchen verloren. Tausende von Deutschen, Greise, Frauen und Kinder, erschlagen. Furchtbare Szenen in Pantschowa, wo sich Banater Deutsche auf der Flucht in einem letzten deutschen Brückenkopf versammeln.
Oktober 1944: Einbruch in uralte deutsche Siedlungsgebiete Batschka und Syrmien. Partisanenkorps. Hunderttausende in Lager gepfercht.
15. Oktober 1944: Russen in Belgrad. Deutsche Balkanarmeen auf qualvollen Rückmärschen durch feindselige Berglandschaft.
Nochmals 15. Oktober 1944: Ungarischer Reichsverweser von Horthy versucht, Waffenstillstand mit den westlichen Alliierten zu schließen. Horthy durch SD-Verbände verhaftet. Ungarische 1. Armee am rechten Flügel deutscher Heeresgruppe A versucht überzulaufen. Oberbefehlshaber Miklos auf sowjetischer Seite.
27. Oktober 1944: Heeresgruppe A im Süden bis an die Theiß und an Linie Kaschau-Jaslo zurückgedrängt.
November 1944: Stetiges russisches Vordringen in Ungarn. Vorbereitung zu Großangriff über die Donau.
23. Dezember 1944: Russen in Stuhlweißenburg.
24. Dezember 1944: Einschließung von Budapest.
Guderian erwachte gegen 9 Uhr durch ein Anrucken des Zuges, und das Traumbild, das er diesmal mit in sein waches Bewußtsein hinübernahm, war wiederum jener ewig verneinende Mund Hitlers jenes Sinnbild der Verdrängung der Wirklichkeit, das Guderian seitdem Juli 1944 so oft erlebt hatte.
Als Guderian eine halbe Stunde später über den von kalter Winterluft durchwehten Wagengang zu seinem Arbeitsraum hinüberging, hatte er nach seiner späteren Erinnerung die Bilder der Nacht verscheucht. Noch war er nicht zermürbt, noch schöpfte er aus seinen Kraftreserven. Und sein Adjutant, von Freytag-Loringhoven, der ihm an Hand der drahtlos aufgenommenen Meldungen die Morgenlage vortrug, las aus Guderians Gesicht, daß es an diesem Tage eine neue und wahrscheinlich heiße Auseinandersetzung mit Hitler geben würde. Guderian blieb, als von Freytag-Loringhoven gegangen war, noch eine halbe Stunde allein. Er sah durch das Fenster in den trüben Wintermorgen hinaus, in den sich nur ab und zu ein paar Sonnenstrahlen hineinstahlen. Es lag kein Schnee. Guderian dachte an riesige Schneeflächen, über die er am 6. Januar, also vor drei Tagen, gefahren war, als er in Krakau den Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A besuchte, die wahrscheinlich den ersten Anprall der bevorstehenden russischen Offensive erfahren würde.
Seit dem Verklingen der Sommer und Herbstschlachten 1944 hatte sich die Ostfront mühselig auf einer Linie stabilisiert, die im Norden am Kurischen Haff begann. Die Linie folgte dann der ostpreußischen Grenze, durchschnitt ostpreußisches Grenzgebiet östlich Goldap und führte in südwestlicher Richtung am Narew entlang bis in die Gegend von Modlin. In ihrem weiteren Verlauf lehnte sie sich an die Weichsel an. Sie schloß den links der Weichsel liegenden Hauptteil Warschaus ein. Sie umschloß bei Pulawy einen ziemlich großen Brückenkopf, den die Russen auf das Westufer der Weichsel vorgetrieben hatten. Dann hielt sich die Frontlinie wieder an das linke Ufer der Weichsel. Sie führte um einen kleinen russischen Brückenkopf bei Zwolen herum und fand erneut Anschluß an die Weichsel, um schließlich den größten und gefährlichsten russischen Weichselbrückenkopf im Gebiet von Baranow zu umfassen. Die Front überschritt dann die Weichsel und führte in gerader Linie nach Süden bis nach Kaschau in Ungarn, wo sie Anschluß an die Front der Heeresgruppe Süd fand. Vor dem nördlichen Teil dieser Linie lagen der abgeschnittene große baltische Brückenkopf der Heeresgruppe Nord und ein kleinerer Brückenkopf, der die Stadt Memel umschloß.
Die riesige Frontlinie war mit nur zwei deutschen Heeresgruppen besetzt, welche beide schon die Last der Sommerschlachten in Rußland getragen hatten. Im Norden stand die Heeresgruppe Mitte, die nach dem Zusammenbruch fast völlig neu formiert werden mußte, soweit dies noch möglich war. Ihr Oberbefehlshaber war Generaloberst Reinhardt, ein äußerlich professoral wirkender Mann. Er verfügte im Norden seiner Front, an der Memel, über die schwache 3. Panzerarmee des Generalobersten Rauß, eines grauhaarigen Österreichers. Seine Armee verdiente den Namen einer Panzerarmee schon lange nicht mehr. Ihr schloß sich die 4. Armee des Generals Hoßbach an, die sich kaum von den schweren Abwehrkämpfen im Oktober erholt hatte. Sie bildete wieder einen gefährlich vorspringenden Balkon in Reinhardts Front. Nach Südwesten, am Narew, schloß sich die schwache 2. Armee des Generalobersten Weiß an, die fast nur über schwer bewegliche Infanteriedivisionen mit wenig Artillerie verfügte.
Von Modlin bis Kaschau hielt die Heeresgruppe A unter Generaloberst Harpe, einem in jahrelangen Abwehrkämpfen an der Ostfront großgewordenen, schwerblütigen Westfalen der jüngeren Generation, der aber in seinem Stabschef, dem phantasievollen General von Xylander, eine gute Ergänzung gefunden hatte. Harpe befehligte die 9. Armee, die mit wenigen unzureichend ausgerüsteten Divisionen nördlich und südlich der Stadt Warschau stand und dem General der Panzertruppen von Lüttwitz unterstellt war. Ihr schloß sich die 4. Panzerarmee des Generals der Panzertruppen Graeser an. Ihre Front umschloß vor allem den großen russischen Brückenkopf bei Baranow. Es folgten die 17. Armee des Generals Schulz zwischen Weichsel und Beskiden und die 1. Panzerar mee des Generalobersten Heinrici um Kaschau und Jaslo.
Der Aufbau dieser Front war nur möglich geworden, weil auch die russischen Angriffswellen des Sommers ihren Kulminationspunkt überschritten hatten und die sowjetischen Armeen selbst wieder aufgerüstet werden mußten. Aber schon seit November wurde gegenüber der dünnen deutschen Front der Neuaufinarsch von vier sowjetischen Heeresgruppen festgestellt: im Norden gegenüber Ostpreußen massierten sich die Heeresgruppen Rokossowski und Tscherniakowsky und an der Weichsel von Modlin bis südlich Baranow die Heeresgruppen Shukow und Konjew. Das Schwergewicht des Aufmarsches der beiden südlichen russischen Heeresgruppen lag in dem Weichselbrückenkopf von Pulawy und Baranow. Aus letzterem zielte die vermutliche Angriffsrichtung unmittelbar auf Schlesien und Sachsen. Die Angriffsrichtung aus dem Pulawybrückenkopf wies durch den Warthegau und die Neumark direkt auf Berlin.
Die Meldungen, die Gehlen seit November über die zahlenmäßige Stärke der sowjetischen Kräfte und über ihre Ausrüstung mit Artillerie, Panzern und Flugzeugen vorlegte, hatten selbst in Guderian zuerst den Eindruck der Unwahrscheinlichkeit erweckt. Aber sie ließen sich vielfach belegen, und schon im Dezember 1944 hatte das zahlenmäßige Verhältnis zwischen den russischen und deutschen Divisionen an der Weichselfront 9 zu 1, zwischen den russischen und deutschen Panzern 6 zu 1, zwischen der russischen und deutschen Artillerie 10 zu 1, an manchen Abschnitten aber auch schon 15 zu 1 betragen.
Guderian hatte in der Wirrnis der Zuständigkeiten, innerhalb deren ihm nach Hitlers Weisungen die Ostfront unterstellt war, während das Oberkommando der Wehrmacht mit Generaloberst Jodl über alle anderen Fronten gebot -, damit begonnen, die neue Ostfront für die kommenden Stürme zu rüsten. Er hatte sich dabei zunächst auf sich selbst und auf die Erfindungsgabe seiner Truppenführer und Soldaten gestellt gesehen. Sie hatten alles getan, was sie zu tun vermochten, sie hatten geschanzt und befestigt und ausgebildet und improvisiert. Sie hatten langsam aus der dünnen Front alle Panzerverbände und alle noch vorhandenen motorisierten Divisionen herausgezogen und aufgerüstet, bis die Panzerdivisionen mit 70 oder 80 Panzern wenigstens noch ein Drittel ihrer einstigen Panzerstärke zählten. Sie hatten auf diese Weise für die ganze Front von der Kurischen Nehrung bis zum südlichen Weichselknie wenigstens eine Reserve von vierzehn Divisionen heraus »gekratzt«, die im Dezember bei Krakau und Warschau sowie in Ostpreußen standen. Aber was bedeuteten vierzehn Divisionen gegenüber einem Gegner, der die Panzerkorps zu Dutzenden aufbot.
Daher hatte Guderian seinen immer wieder vergeblichen Kampf um die dreißig Divisionen der Heeresgruppe in Kurland aufgenommen, die der ganzen Ostfront mit einem Schlage eine andere Stärke geben konnten.
Außerdem hatte Guderian gehofft, für die Ostfront eine Anzahl von Verbänden zu erhalten, die im Spätherbst nach einer rücksichtslosen »Auskämmung« aller noch vorhandenen Menschen- und Waffenreserven als »Volksgrenadierdivisionen« und »Volksartilleriekorps« aufgestellt worden waren. Aber im September 1944 hatte Hitler die verzweifelte Idee geboren, an der Westfront, die nun schon zum großen Teil auf deutschem Boden stand, noch einmal die Initiative gegen eine erdrückende Übermacht an sich zu reißen. Er wollte in den Ardennen in einen Streifen der alliierten Front einbrechen, der von den Alliierten in der Annahme, Deutschland sei zu keiner größeren Offensive mehr fähig, nur schwach besetzt worden war. Er glaubte, Antwerpen nehmen und Engländern und Amerikanern einen Schlag versetzen zu können, der ihren Aufmarsch gegen Deutschland um viele Monate verzögern würde. Jodl, ein Mann, der erfahren genug war, um das drohende Debakel zu erkennen, der aber längst resigniert und sich an Hitler verloren hatte, war Hitlers Idee gefolgt. So waren die letzten Reserven nach Westen gerollt, um daraus zwei Angriffsarmeen, die 5. Panzerarmee und die 6. SS-Panzerarmee, zu formieren.
Hitler hatte Guderian zugesagt, daß die Verbände wieder der Ostfront zur Verfügung gestellt werden würden, sobald ein Erfolg im Westen errungen sei oder aber sichtbar werde, daß ein solcher Erfolg nicht errungen werden könne und ein weiterer Einsatz der Panzerarmeen sinnlos sei.
Guderian hatte sich notgedrungen auf diese Zusage verlassen. Unterdessen hatte er nach anderen Wegen gesucht, um den Osten Deutschlands zu schützen Wege, die nur verzweifelte Auswege und Provisorien waren.
Guderian sah auf die graue Waldlandschaft hinaus, durch die sein Zug schon nahe am Ziel jetzt fuhr. Und er dachte an den Augusttag 1944, an dem er jenen Befehl erlassen hatte, der in den folgenden Monaten bis in diese ersten Januar tage 1945 hinein in Ostpreußen, in Westpreußen, in Pommern, im Generalgouvernement, im Warthegau und in Schlesien Hunderttausende von Menschen, Deutsche und Polen und Kriegsgefangene, in Bewegung gesetzt hatte, um von der Ostsee bis nach Oberschlesien Panzergräben auszuheben, Feldbefestigungen zu bauen, Straßensperren anzulegen und alle größeren Städte mit Rundumverteidigungen zu versehen. Dieser Befehl hatte der bis dahin niemals erschütterten These Hitlers widersprochen, daß der Bau von Befestigungslinien im Rücken der Fronten den Widerstandswillen der Soldaten lähme. Guderian hatte in jenen ersten Wochen, in denen er noch von Illusionen über Hitlers Wesen und über seine eigenen Möglichkeiten befangen war, seinen Befehl erlassen, ohne Hitler zu fragen. Er hatte ihn gezeichnet: »Adolf Hitler für die Richtigkeit: Guderian.« Es war das einzige Mal geblieben, daß ihm eine solche Eigenmächtigkeit gelang. Wenn sie ihm gelungen war, so wahrscheinlich nur deshalb, weil der Gauleiter von Ostpreußen, Erich Koch, Guderian in der Befestigung des Ostens bereits vorangegangen war. Koch hatte in dem Augenblick, in dem die russischen Armeen im Sommer 1944 zum ersten Male gegen Ostpreußen vordrangen, die Ostpreußen zu einer umfangreichen »Schanzaktion« und zugleich zu einem »Volksaufgebot in Waffen« aufgerufen.
Sein Aufruf zu den Waffen hatte inmitten eines technisierten Krieges auf alle vernünftig Denkenden wie eine gespenstische Flucht in vergangene Jahrhunderte gewirkt. Der größte Teil dessen, was Koch an Gräben und Widerstandsnestern in jenen hektischen Tagen hatte ausheben lassen, war dilettantisch und nutzlos gewesen. Aber als ein Mann, der in den Augen Hitlers die Verkörperung rücksichtslosen Kampfeswillens war, hatte er den Weg für Guderians Versuch bereitet, im Rücken der gesamten Ostfront ein tiefes System von Feldbefestigungen herzustellen.
Die Hunderttausende waren ausgezogen, und wer würde einmal die Mühe, die Opfer und den naiven Glauben aller derjenigen belohnen, welche Grabensysteme ausgehoben hatten, die in diesen Januartagen zu einem großen Teil fertig dalagen aber wahrscheinlich nichts weiter sein würden als vertaner Aufwand an Mühe und Opfern.
Guderian würde einmal zugeben müssen, daß er einem grundlegenden Irrtum verfallen war, als er sein Amt mit dem Gedanken übernommen hatte, in dem Kampf um das nackte Überleben Deutschlands könne es nur eine Devise geben: Einigkeit. Als Mann, der nur in militärischen Kategorien dachte, hatte er nicht vergessen, daß die ersten Siege Deutschlands im Zweiten Weltkrieg dadurch entstanden waren, daß sich militärisches Fachwissen und militärische Erfahrung mit der Phantasie Hitlers getroffen hatten, die das Ungewöhnliche nicht scheute.
Aber das war unwiderruflich vorbei. Die Hybris des Erfolges hatte Hitler zu Höhen emporgetragen, von denen aus es keine Verbindung mehr zu militärischer Vernunft geben konnte. Es war endgültig vorüber seit dem 20. Juli, der eine Kluft des Mißtrauens aufgerissen hatte, deren Überbrückung nicht mehr möglich war.
Schon in den ersten Wochen von Guderians Wirken waren die Gauleiter in Königsberg und Danzig, in Posen, Stettin und Breslau als »Reichsverteidigungskommissare« zu den wahren Herren im Bereich der Ostfront geworden. Ihnen vertraute Hitler mehr als den Oberbefehlshabern, und sie hatten die Macht, die ihnen gegeben war, genutzt. An ihrer Spitze Erich Koch. Sein Aufstieg vom Gauleiter Ostpreußens zum Reichskommissar in der besetzten Ukraine und damit zum König eines »Reiches« von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, hatte ihn verdorben bis ins Mark. Er hatte alles Ungute in ihm emporgeschleudert: Herrschsucht und Machtgier, Ehrgeiz und Skrupellosigkeit, geistige Beschränktheit und hemmungslosen Egoismus.
Seit Koch vor den sowjetischen Siegern aus der Ukraine geflohen war, war ihm nur noch Ostpreußen als Herrschaftsgebiet geblieben. Er war absoluter Herr bis dicht hinter die Frontlinie der Heeresgruppe Reinhardt. Er hatte die ostpreußischen Verteidigungslinien nach seinem Willen bauen lassen und sich geweigert, auf Anforderungen Reinhardts Stellungen in der Tiefe des ostpreußischen Raumes zu errichten, weil dies Defätismus sei und den Gedanken aufkommen lasse, die Russen könnten überhaupt ins Innere Ostpreußens einbrechen. Er hatte sich geweigert, die Zivilbevölkerung aus einem mehr als zehn Kilometer tiefen Landstreifen hinter der schon auf ostpreußischem Boden verlaufenden Front in Sicherheit zu bringen, weil dies ebenfalls den Anschein erwecke, als halte man einen Einbruch der Russen für möglich. Er hatte seine Verwaltungsstellen auch in dem schmalen geräumten Landstreifen belassen, um dadurch seine Herrschaft und seine Kontrollrechte zu dokumentieren. Er hatte es abgelehnt, irgendwelche Vorbereitungen für eine Evakuierung der Bevölkerung im Katastrophenfall zu treffen, da kein Deutscher den Gedanken, daß Ostpreußen in bolschewistische Hand fallen könnte, überhaupt erwäge. Ostpreußen werde stehen wie ein Mann oder fallen. Kein Meter Boden werde freiwillig preisgegeben. Er hatte sich von Hitler das Recht einräumen lassen, durch seine Funktionäre Offiziere und Soldaten zu kontrollieren und nach »Feiglingen« zu fahnden. Er hatte offen seinem Mißtrauen gegen Reinhardt Ausdruck verliehen, erklärt, daß er in erster Linie auf sein ostpreußisches Volksaufgebot baue und sich den Titel des »Führers des ostpreußischen Volkssturms« zugelegt. Er hatte sich geweigert, seinen »Volkssturm« der militärischen Führung zu unterstellen, und er hatte als Reichsverteidigungskommissar in die Waffenproduktion Ostpreußens eingegriffen, um eigene Waffenlager anzulegen, deren Bestände er den unzureichend ausgerüsteten Heeresdivisionen entzog.
Ein Stück von Kochs Geist lebte, mit einzelnen Ausnahmen, in allen Reichsverteidigungskommissaren, am stärksten vielleicht in jenen von Stettin und Breslau, wo der Gauleiter Hanke im Zuge seiner Befestigungsarbeiten, denen er nach einer romantischen historischen Figur den Namen »Unternehmen Bartold« verlieh, ebenfalls militärischen Rat und militärische Erfahrung mißachtet hatte. Trotz alledem waren schließlich Befestigungslinien entstanden, die einige Bedeutung für den Schutz Ostdeutschlands hätten erlangen können, wenn nicht andere Umstände ihnen diese Bedeutung genommen hätten. Die Gräben und Panzersperren, Schützenlöcher und Geschützstellungen, die A-, Bund C-Linien von Ostpreußen bis an die schlesische Grenze lagen in diesen Januartagen leer und verschneit da, es sei denn an Stellen, an denen noch gebaut wurde. Viele Gräben waren bereits wieder eingefallen, denn überall fehlten die Truppen, um sie zu besetzen. Ende August 1944 hatte Guderian einhundert Festungsbataillone aus beschränkt verwendungsfähigen Männern aufstellen lassen, welche in die wichtigsten Abschnitte der im Bau befindlichen Linien einrücken sollten. Gleichzeitig hatte er 2000 schwere Beutegeschütze den Artillerieparks, zu denen er Zugang hatte, bereitgestellt, um damit Widerstandszentren zu bewaffnen.
Doch ein einziger Befehl Hitlers hatte ihm alle Bataillone und sämtliche Geschütze bis auf diejenigen entzogen, für die weniger als fünfzig Schuß Munition vorhanden waren. Alle Kräfte waren nach dem Westen gerollt, als die Front in Frankreich endgültig zerbrach und die Reste der deutschen Westarmee gegen die deutsche Westgrenze zurückfluteten. Alle Proteste und Vorstellungen über die drohende Gefahr aus dem Osten waren auch hier verhallt. Hitler hatte Guderian darauf hingewiesen, daß die eventuell zurückgehenden Fronttruppen ihren Kampf in den vorbereiteten Stellungen fortsetzen müßten. Während er sonst jederzeit bereit war, von zurückweichenden Verbänden das Schlechteste anzunehmen, hatte er hier Forderungen gestellt, die unerfüllbar waren. Denn alle Erfahrungen bewiesen, daß Divisionen, die in vorderster Linie einmal durchbrochen und zerschlagen waren, sich auch in rückwärtigen Stellungen nicht mehr fingen, wenn sie hier nicht von Stellungsbesatzungen aufgenommen werden konnten.
Aber Guderian hatte den Kampf auch dann noch nicht aufgegeben. Er hatte Hitler den Vorschlag unterbreitet, in allen bedrohten ostdeutschen Gebieten einen mehr oder weniger ortsgebundenen Landsturm einzuberufen, der militärisch ausgebildet und ausgerüstet und zur Besetzung der Befestigungslinie verwendet werden sollte. Guderian hatte nicht geahnt, daß er mit diesem Vorschlag in Hitler eine unmittelbare Gedankenverbindung mit den Volkssturmexperimenten Erich Kochs hervorrief. Dies hatte er erst erkannt, als Hitler ihm drei Tage später erklärte, seine Idee des Landsturmes werde in Gestalt eines »Volkssturmes« nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutschland verwirklicht werden. Die Durchführung habe er dem Chef der Parteikanzlei, Martin Bormann, übertragen.
Das war das Ende gewesen. Bormann, der beschränkte, gefährliche Schatten Hitlers, der unfähig war, eine politische und militärische Lage zu beurteilen, jedoch unentwegt an seiner Macht und an der Macht der Partei baute, hatte den Volkssturm zu einem propagandistischen Parteiinstrument gemacht.
Die Befestigungslinien im Osten aber, an denen Hunderttausende gearbeitet hatten und Zehntausende in diesen Wintertagen noch arbeiteten, waren leer und unbesetzt.
Guderian wurde aus seinen Gedanken aufgeschreckt, als sich die Tür des Abteils öffnete. In der Tür stand General Gehlen. Er meldete sich, um noch einmal den gemeinsamen »Führervortrag« zu besprechen.
Gehlens Gesicht war bleich, mit gelblichem Unterton. Er litt an der Berufskrankheit überarbeiteter Generalstabsoffiziere, Magen- und Gallenbeschwerden. »Herr Generaloberst«, sagte er, »ich habe noch eine Sonderaufstellung über das beiderseitige Kräfteverhältnis im Bereich des Baranowbrückenkopfes angefertigt, das die allerjüngsten Unterlagen berücksichtigt. Der Gegner ist danach auf 90 Kilometer Breite mit fünf Schützenarmeen, sechs Panzerkorps, zwei selbständigen Panzerkorps und fünf Panzerbrigaden aufmarschiert. Das Kräfteverhältnis beträgt jetzt für den Gegner 11:1,7:1 bei den Panzern und 20: 1 bei der Artillerie. Der russische Artillerieaufmarsch beträgt an vielen Stellen 250 Geschütze pro Kilometer. Die Ergebnisse … müßten auch den Führer überzeugen, daß wir am Baranowbrückenkopf einer Katastrophe gegenüberstehen, wenn nichts geschieht.« Auch Gehlen urteilte aus der Vernunft. Er hatte seinem ganzen Wesen nach keine Verbindung zu einer Welt, in der nach ideologischen Vorstellungen, Fanatismen, Illusionen oder Instinkten gehandelt wurde. Guderian stand auf und begann hin und her zu gehen. »Gehlen«, sagte er, »heute ist unsere letzte Chance. Wenn die Panzerdivisionen aus dem Westen noch heute nacht in Marsch gesetzt werden, könnten sie noch rechtzeitig eintreffen, um das Schlimmste zu verhüten.« Vor seinen Augen stand die Weihnachtsnacht 1944, in der er den Kampf um die Panzerarmeen in den Ardennen wiederaufgenommen hatte. Die Ardennenoffensive hatte am 16. Dezember begonnen. Am 22. Dezember war bereits klar, daß die Offensive gescheitert war.
Daher hatte Guderian am 24. Dezember, in der Weihnachtsnacht, versucht, bei Hitler die für diesen Fall zugesagte Überführung der Angriffsdivisionen nach dem Osten zu erwirken.
Aber Hitlers Blick war mit dem Trotz des Gescheiterten auf die Ardennen gerichtet geblieben. Er hatte behauptet, die Initiative befinde sich nach wie vor in seiner Hand. Er hatte die Größe der Gefahr aus dem Osten geleugnet. Die Zahlenangaben über den russischen Aufmarsch seien blanke Erfindungen. Hinweise auf das drohende Schicksal der ostdeutsehen Bevölkerung hatte er zuerst überhört, dann erwidert, auch die Preußen Friedrichs des Großen hätten Opfer bringen müssen, und er könne verlangen, daß auch die Deutschen Opfer brächten. Die Atmosphäre dieser Weihnachtsnacht stand noch deutlich vor Guderians Augen mit ihrer gewollten Unkenntnis der Zustände im Osten, nicht nur bei Hitler, sondern auch bei Jodl, der, sofern Guderian gefühlsmäßig urteilte, außerdem als Süddeutscher für das Schicksal Ostdeutschlands wenig Verständnis besaß.
In der Weihnachtsnacht noch war Guderian nach Zossen zurückgefahren. Unterwegs erhielt er die Nachricht, daß Budapest verlorengegangen war. In Zossen angekommen, erhielt er eine weitere Meldung, nach der auf Grund eines direkten Befehls aus Ziegenberg ein Panzerkorps Gille, das als Eingreifreserve hinter der Weichselfront gestanden hatte, nach Ungarn in Marsch gesetzt worden war, um die fremde Hauptstadt zurückzuerobern.
Guderian hatte den Sturm der Empörung, des Zornes und der machtlosen Verzweiflung überwunden und war in der Neujahrsnacht 1944/45 erneut nach Ziegenberg gefahren. Er hatte sich zuerst zu Generalfeldmarschall von Rundstedt begeben, der sich als »Oberbefehlshaber West« im Schloß Ziegenberg aufhielt. Der alte Mann, der auch in eine Welt gestellt war, die seiner ganzen Tradition und seinem Wesen widersprach, der aber auch nicht die Kraft besaß, sich dem Mißbrauch durch diese Welt zu entziehen, rettete sich in Sarkasmen. Er hatte Guderian immerhin die Divisionen genannt, die im Westen selbst dann entbehrlich waren, wenn Hitler die Panzerarmee nicht hergeben wollte.
Dann hatte der Kampf begonnen. Wie in den Weihnachtstagen stritt Hitler die Größe der Drohung aus dem Osten ab. Er wollte nicht anerkennen, daß sein erbittert gehaßter Gegner Stalin so gewaltige Kräfte aufzubieten vermochte. Er vertrat mit der Unbeherrschtheit dessen, der innerlich sein Unrecht fühlt, immer noch die Vorstellung von der Unzulänglichkeit der russischen Armee, die ihn 1941 zu seinem Angriff im Osten verführt hatte. Er hatte nie den Glauben aufgegeben, daß sich Stalins Reservoir einmal erschöpfen müsse. Er sprach wieder von »zusammengelesenem Pack« und von »Beutedivisionen«, die Stalin noch aufbieten könne. Er rief, der General Gehlen gehöre in ein Irrenhaus. Er überhörte Guderians Einwand, dann könne Hitler ihn, Guderian, mit in jenes Irrenhaus sperren, denn er teile Gehlens Meinung.
Guderian rang von neuem um die Kurlanddivisionen und wies an Hand von Berechnungen seiner Transportfachleute nach, daß der Abtransport einschließlich der schweren Waffen noch rechtzeitig möglich sei. Hitler lehnte ab. Dann begann das Ringen um die Divisionen, die laut von Rundstedt im Westen entbehrlich waren.
Er erinnerte an Nemmersdorf und Goldap, an Siebenbürgen und das Banat. Er erklärte, der Osten gehe verloren, wenn nichts geschehe. Hitler erwiderte, im Osten könne er noch Raum verlieren, im Westen nicht und wiederholte, auch die Preußen Friedrichs des Großen seien nicht gern gestorben, aber sie hätten für die Sache sterben müssen, er könne auch von den Deutschen verlangen, daß sie Opfer brächten. Als Guderian nach dem Ende der vergeblichen Auseinandersetzung, noch von Erregung geschüttelt, eine Stärkung zu sich nahm, hatte der Reichsführer der SS, Himmler, ihn gefragt: »Glauben Sie wirklich, die Russen könnten angreifen? Das ist der größte Bluff seit Dschingis-Khan.« Guderian hielt in seinem Auf und Ab inne. »Wir müssen es heute schaffen«, wiederholte er, »es bleibt die letzte Chance. Gehlen, lassen Sie sich bei unserem Vortrag durch nichts hinreißen. Bleiben Sie ruhig und kalt, auch wenn der Führer sich zu Beschimpfungen gegen den Generalstab und gegen Sie persönlich hinreißen läßt… Ich fasse noch einmal die wichtigsten Vortragspunkte zusammen: 1. sofortige Aufgabe der Kurlandfront, 2. Überführung von Panzerkräften aus dem Westen nach dem Osten noch diese Nacht, 3. im Weigerungsfälle wenigstens Zurücknahme des Frontbalkons der 4. Armee in Ostpreußen und Einsparung von einigen Divisionen als Reserve, 4. als letzte Möglichkeit, Aufgabe unseres zwischen den Weichselbrückenköpfen Pulawy und Baranow zur Weichsel vordringenden Frontbogens vor dem russischen Angriff. Einsparen von vier Divisionen als Reserve, angriffsweise Verteidigung vor dem Pulawybrückenkopf, hinhaltende Verteidigung vor dem Baranowbrückenkopf bis zur schlesischen Grenze, das heißt: der Plan ›Schlittenfahrt‹.« Eine Stunde später hielt der Zug in Lich, und im Kraftwagen legten Guderian und seine Begleitung das letzte Stück des Weges nach dem Lager Ziegenberg zurück.
Der Arbeitsraum, den Generaloberst Jodl im Lager Ziegenberg benutzte, war verhältnismäßig groß. Er bot den zahlreichen Menschen, die sich, wie in Rastenburg so auch hier, Abend für Abend zur »Führerlage« versammelten, genügend Platz.
Keitels äußerlich repräsentative, füllige Gestalt überragte die zwanzig Männer, die sich in der Nacht vom 9. auf den 10. Januar zusammengefunden hatten. Jodls rotes Gesicht wirkte verschlossen. Görings breite, zerfließende Gestalt wurde zwischen der übereleganten Figur seines Verbindungsoffiziers zu Hitler, Generalmajor Christian, und dem Marineadjutanten, von Puttkamer, sichtbar. Dönitz war nicht anwesend. Auch Bormann fehlte. Das sympathische Gesicht des verhältnismäßig jungen Generals Winter, des Chefs des Führungsstabes Südraum, stach angenehm von den bleichen Zügen Himmlers ab. Die vierschrötige, krummbeinige Gestalt des Chefs des Heerespersonalamtes, Burgdorf, den viele den Totengräber des deutschen Offizierskorps nannten, stand neben dem Kartentisch.
Hitler erschien, kaum daß Guderian den Raum betreten hatte. Von Freytag-Loringhoven, der Guderian zum ersten Male auf einer Fahrt zu Hitler begleitete, erschrak ob seines äußeren Verfalls. Hitler ging vorsichtig und greisenhaft und schleifte den linken Fuß nach. Die linke Hand zitterte. Sein Rücken war gebeugt. Sein Kopf saß tief zwischen den Schultern. Sein Gesicht wirkte schlaff und bleich. Graue Fäden durchzogen sein schwarzes Haar. Sein zweireihiger grauer Rock mit goldenen Knöpfen hing formlos von seinen Schultern herab.
Hitler reichte jedem der Anwesenden seine weiche Hand. Dann ging er weiter zum Kartentisch. Einer der Adjutanten schob den Stuhl, auf dem Hitler zu sitzen pflegte, in dessen Kniekehlen, und Hitler fiel in den Stuhl hinein wie ein Mensch, der nicht mehr Herr seiner körperlichen Kräfte ist. Dann begann das merkwürdige Knistern und Rascheln, das seit Monaten alle Lagebesprechungen begleitete. Es entstand durch die Berührung zwischen Hitlers zitternder Hand und den Karten. Und es hörte nur dann auf, wenn Hitler die noch gesunde Hand auf die kranke legte.
Aber es war immer noch eine gefährliche Täuschung, von dem äußeren Verfall auf Hitlers Inneres zu schließen. Darin lebten noch Kräfte und Instinkte von geradezu manischer Gewalt: ein dämonischer Trotz, ein verbissenes Leugnen und Überhören aller bedrohlichen oder auch nur unerfreulichen Wirklichkeiten, eine panisch-besessene Flucht in den Glauben an ein Schicksal, das ihn so hoch emporgeschleudert hatte und ihn seiner Meinung nach jetzt nicht fallenlassen konnte. Sie hatten Hitler längst vergessen lassen, daß die deutschen Armeen und das deutsche Volk eine Masse fühlender und glaubender, leidender und hoffender Menschen umfaßten. Sie alle waren nur noch leblose Spielmarken in einer Hand, deren Meister nicht sehen wollte, daß das Spiel verloren war.
Guderian nahm die Stellung an Hitlers linker Seite ein, welche für Vortragende üblich geworden war, seit die Bombenexplosion am 20. Juli Hitlers rechtes Trommelfell zerstört hatte. Hitler blickte währenddessen zu Gehlen hinüber, der gerade aufgerichtet mit verschlossenem Gesicht dastand. Hitler witterte in Gehlen die Personifizierung der Wirklichkeit, die er nicht hören und nicht anerkennen wollte. Sein Gesicht nahm einen Zug feindseliger Abwehr an. »Mein Führer«, begann Guderian. »Ich bin heute nochmals hierhergekommen, um Ihnen persönlich Vortrag zu halten, weil nach allen unseren Unterlagen mit Sicherheit feststeht, daß die russische Winteroffensive mit dem Ziel Berlin am 12. Januar, also in drei Tagen, beginnen wird. Ich möchte Ihnen nochmals, wie am 24. und 31. Dezember, in völliger Offenheit über die Lage der Ostfront berichten und habe zu diesem Zweck General Gehlen selbst mitgebracht, der Ihnen sämtliche gewünschten Unterlagen vorlegen kann. Ich selbst habe am 6. Januar die Heeresgruppe A in Krakau aufgesucht und mir persönlich die Lage vortragen lassen, wie sie bei der Heeresgruppe gesehen wird. Es ist fünf Minuten vor zwölf. Ich hoffe, mein Führer, daß Sie sich auf Grund unseres heutigen Vortrages entschließen werden, der Ostfront die nötigen Verstärkungen aus dem Westen zuzuführen, und zwar noch in dieser Nacht.« Am frühen Vormittag des 10. Januar fuhr der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A, Generaloberst Harpe, auf der Straße, die von Kielce nach Krakau führt, seinem Hauptquartier Krakau entgegen. Die Ebenen beiderseits der schnurgeraden, baumlosen Straße lagen unter Schnee. Sie dehnten sich in unendlicher Weite.
Harpe kam von der 4. Panzerarmee vor dem Baranowbrückenkopf. Die Ungewißheit über die kommenden Dinge hatte ihn noch einmal an die Front getrieben. Er hatte mit General Graeser und dessen Chef besprochen, was Guderians Besuch in Krakau am 6. Januar ergeben hatte: nämlich die Zusicherung, am 9. Januar nochmals nach Ziegenberg zu fahren und den letzten Versuch zu unternehmen, entweder die notwendigen Verstärkungen aus dem Westen zu bekommen oder aber wenigstens die Genehmigung zu dem Plan »Schlittenfahrt« zu erwirken. Harpe wußte, daß das Günstigste, was damit zu erreichen war, die Verhinderung eines russischen Einbruchs in Schlesien und Oberschlesien sein würde. Aber »Schlittenfahrt« war wenigstens ein Ausweg, an den sich die Vernunft klammern konnte.
Die Kälte nahm zu, und ein schneidender Wind wehte über die Ebenen, so daß Harpe sein vollblütiges Gesicht hinter dem Pelzkragen barg. Harpe glaubte noch an Hitlers Stern. Er glaubte sogar noch an Hitlers Vernunft. Er hatte den Worten, mit denen Guderian ihn davor gewarnt hatte, daß Hitler aus dem Plan »Schlittenfahrt« sehr leicht auf Harpes mangelnden Willen, Widerstand zu leisten, schließen könne, kein zu großes Gewicht beigemessen. Er hoffte er hoffte zuversichtlich, daß Hitler die Ausweglosigkeit der Lage, wenn auch im letzten Augenblick, erkennen würde.
Wenn etwas da war, was ihn bedrückte, so war es die Ahnungslosigkeit der Deutschen, der er hinter der Front seiner Heeresgruppe begegnete, gleich, ob im Generalgouvernement oder im Warthegau.
Der Wagen fuhr schnell durch die Straßen Krakaus und hielt schließlich .vor der Schule, in welcher Harpes Stab untergebracht war. Als Harpe das Gebäude betrat, kam ihm Generalleutnant von Xylander entgegen. Der jugendliche, schlanke Mann sonst stets beweglich, einfallsreich und voll südlichen Temperaments blickte bedrückt in Harpes Gesicht. »Das OKH hat soeben das Ergebnis von Guderians Vortrag im Führerhauptquartier mitgeteilt«, sagte er. »Der Führer hat alles abgelehnt: Kurland, Verstärkungen aus dem Westen, »Schlittenfahrt. Die Front bleibt stehen, wo sie ist. Und die Situation bleibt, wie sie ist. Der Führer glaubt nicht an den russischen Angriff.
In der Nacht vom 11. auf den 12. Januar wurde die unheilbrütende Stille über den weißen Schneeflächen der Baranowfront durch das aufbrüllende Trommelfeuer der sowjetischen Großbatterien zerrissen.
Es war gegen 1.30 Uhr. Von diesem Augenblick an bis gegen 6 Uhr in der Frühe trommelten ungezählte Tausende russischer Geschütze auf die deutsche Front. Sie zermalmten im wahrsten Sinne des Wortes Stellungen und Truppen. Zwischen 6 und 6.30 Uhr ließ das Feuer für kurze Zeit nach, um sich dann bis 7 Uhr noch einmal zu einer Wucht zu steigern, wie sie der zweite Weltkrieg noch nicht gekannt hatte. Dann traten die Russen in zahlreichen schmalen, tief gegliederten Regimentskolonnen zum Angriff an, die unbeirrt um Flankenbedrohung die deutsche Front durchstießen. Hinter ihnen rollten durch die aufgebrochene Front die sowjetischen Panzerarmeen, die, ebenfalls unbeirrt um das, was neben oder hinter ihnen geschah, nach Westen drangen. Unmittelbar folgten unübersehbare Schwärme von Schützendivisionen, die mit allen Mitteln der Improvisation beweglich gemacht worden waren.
Bereits am Abend waren die Linien der Stellungsdivisionen der 4. deutschen Panzerarmee an zahlreichen Stellen durchbrochen. Diejenigen Einheitenreste, die überhaupt das Artilleriefeuer überlebt hatten, ertranken förmlich in der Flut der über sie hereinbrechenden graubraunen Massen. In der Nacht knatterte in den deutschen Stellungen hier und da noch ein Maschinengewehr. Aber kein Geschütz schoß mehr, kein Gegenstoß kam, der die Verlorenen befreite. Jede Befehlsführung in vorderster Linie hatte aufgehört, aber auch jede Nachrichtengebung nach hinten. Niemand konnte genau sagen, was im einzelnen geschehen war. Kaum jemand wußte um seinen Nachbarn. Die, welche zu den Überlebenden gehörten und nicht gefangen worden waren, mußten jetzt nach eigenem Gutdünken handeln.
Zum Teil schlugen sie sich, einzeln oder in kleineren Gruppen kämpfend, von allen Seiten von der sowjetischen Flut umbrandet, bald ohne Nahrung und mit nur wenig Munition, nach Westen durch.
Am selben Morgen, an dem die Front der 4. Panzerarmee zerbrach, trat der Südflügel der Heeresgruppe Konjew zwischen den Karpaten und der Weichsel gegen die 17. deutsche Armee zum Angriff an. Konjew hatte hier schwächere Kräfte eingesetzt. Sie erzielten auch bei der 17. Armee tiefere Einbrüche. Aber ihrem Befehlshaber, dem General Schulz, gelang es, den Zusammenhalt seiner Armee zu wahren.
Am Abend des ersten Kampftages hatte Generaloberst Harpe in Krakau nur über die Verhältnisse bei der 17. Armee zutreffende Nachrichten. Für die 4. Panzerarmee fehlte ihm jegliche Übersicht. Die Verbindungen waren zerrissen. Es war nur eines klar: daß ein ungeheures, stündlich sich verbreiterndes Loch aufgerissen war, in das immer neue russische Panzer- und Infanteriemassen hineinströmten. Bevor die wenigen vorhandenen Reserven überhaupt zu einem Einsatz kommen konnten, wurden sie von russischen Panzern angegriffen und in erbitterte Kämpfe verstrickt.
An diesem Abend veranstaltete Arthur Greiser, Gauleiter, Reichsstatthalter und Reichsverteidigungskommissar des Warthegaues, in seinem Hause Mariensee einen Empfang. Mariensee lag fünfzehn Kilometer von Posen entfernt vor einer Kulisse dichter, verschneiter Wälder. Es war ein großer, einstöckiger, landhausartiger Bau. Seine Gartenseite erinnerte an die Reichskanzlei in Berlin.
Greiser hatte dieses Haus für sich erbauen lassen. Seine Gegner hatten es für untragbar gehalten, mitten im Kriege Kraft, Material und Zeit für einen solchen Neubau zu verschwenden. Greiser aber hatte sich auf eine Äußerung Hitlers berufen, wonach das »nationalsozialistische Reich auch im Kriege nach kulturellem Ausdruck im Osten zu suchen habe«. Eine neue Straße verband Posen mit Mariensee. Bei der Begründung dieses Straßenbaus hatte Greiser sich darauf berufen, daß diese Straße Teilstück einer sehr zweckmäßigen Umgehungsstraße von Posen sei. Trotzdem konnte Greiser nicht verbergen, daß auch er dem Rausch der Macht und der nach 1939 scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der deutschen Rückeroberer und Eroberer, Germanisierer oder Kolonialherren auf polnischem Boden erlegen war.
Am Abend des 12. Januar leuchteten hinter den Verdunkelungsblenden im Erdgeschoß von Mariensee strahlende Lichter. Hier lagen die Räume, in denen Greiser zu repräsentieren pflegte, sofern dies nicht im Schlosse zu Posen geschah, das er ebenfalls seit 1939 mit erheblichen Mitteln hatte ausbauen lassen.
Am Nachmittag desselben Tages hatte Goebbels’ Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Naumann, vor einer vielköpfigen deutschen Menge in Posen eine Rede gehalten. Er hatte im Schatten der eben begonnenen sowjetischen Offensive gesprochen. Und für das, was er gesagt hatte, konnte ihn an diesem Tage nur eines entschuldigen: daß er noch nicht wußte, was bei Baranow geschehen war. Naumann hatte den Deutschen in Posen und im ganzen Warthegau verkündet, daß die Ostfront unter gar keinen Umständen zerbrechen werde. Er hatte wiederholt, was die Propaganda seit Monaten von Tilsit bis nach Kattowitz verkündete, nämlich daß die Ostfront noch nie so stark gewesen sei wie jetzt und daß man bisher zwar noch Raum im Osten preisgegeben habe, um Kräfte zu schonen, daß vor der jetzigen Front aber das russische Vordringen ein Ende finden werde. Er hatte von neuen Armeen und geheimnisvollen Wunderwaffen gesprochen und erklärt, daß der Endsieg sicher sei.
Nun, einige Stunden später, saß Greiser in Mariensee inmitten einer kleinen Schar von Gästen, die er zu sich geladen hatte, um das Ereignis von Naumanns Besuch in so entscheidender Stunde würdig zu beschließen. Und die Woge des Optimismus, die Naumann um sich verbreitet hatte, beherrschte wenigstens dem äußeren Anschein nach die Gäste. Sie beherrschte aber vor allen Dingen Greiser.
Er sagte: »Wir haben niemals, zu keiner Stunde, daran gezweifelt, daß der Sieg am Ende unser sein wird. Wir haben niemals daran gezweifelt, daß die bolschewistische Flut vor den Grenzen des Warthegaues verbluten und ihre entscheidende Niederlage erfahren wird. Niemand hat daher auch den Warthegau verlassen. Alle haben in unerschütterlichem Vertrauen auf den Führer und den Endsieg ausgeharrt und auf die Stunde dieses Entscheidungskampfes gewartet, bereit, wenn es sein müßte, sich wie ein einziger Wall von Leibern dem Bolschewismus entgegenzuwerfen und Deutschland und Europa vor der Barbarei des Ostens zu retten. Wir haben dem Staatssekretär Naumann dafür zu danken, daß durch ihn noch einmal allen Einwohnern des Warthegaues versichert wurde, daß nach dem festen Willen des Führers kein Fuß der bolschewistischen Soldateska dieses Land betreten wird. Wir haben ihm dafür zu danken, daß er uns noch einmal vor Augen geführt hat, wie nahe der Endsieg ist.« Er unterbrach sich für einen Augenblick, dann fuhr er fort: »Es lebe der Führer! Es lebe unser Großdeutsches Reich! Es lebe die Stunde, in welcher der Bolschewismus endgültig zerschmettert zu Boden sinken wird und wir ungehindert unsere deutsche Sendung im Osten erfüllen können und erfüllen werden! Draußen vor den Fenstern von Mariensee fiel Schnee. Er breitete sich immer höher über die weiten Ebenen des Reichsgaues, der 1939 nach dem schnellen Sieg über Polen und dessen Teilung zwischen Deutschland und der Sowjetunion entstanden war und den Namen Warthegau erhalten hatte.
Vor mehr als fünf Jahren, im September 1939, hatte Arthur Greiser als Reichskommissar Einzug gehalten. Kurz darauf war die neue Ostgrenze abgesteckt worden, die Deutschland in Zukunft haben sollte.
So wie Ostpreußen jenseits der Gebiete, die bis zum Ende des Ersten Weltkrieges und der deutschen Niederlagen von 1918 deutsch gewesen waren, nach Süden erweitert wurde; so wie zu dem neuen Gau Danzig-Westpreußen Gebiete geschlagen wurden, die ausgesprochen polnisch waren, so umfaßte der Warthegau neben Landstrichen, die im Wandel der Geschichte deutscher Kulturbereich gewesen waren, jahrhundertealte polnische Gebiete mit polnischer Bevölkerung.
Arthur Greiser war ein Sohn des Landes. In Schroda, in der alten preußisch-deutschen Provinz Posen, war er 1897 geboren worden, in Hohensalza zur Schule gegangen. Er hatte alte historische Ressentiments, die zwischen Deutschen und Polen bestanden, mit auf seinen Weg bekommen. Im Ersten Weltkrieg war er Seeflieger gewesen. Später hatte er sich als Taxichauffeur und Veranstalter von Motorbootfahrten in der Freien Stadt Danzig betätigt, die als deutscher »Fleck« in jenem Korridor liegengeblieben war, den der Versailler Friedensvertrag von 1918 nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg aus deutschem Gebiet herausgeschnitten hatte, um Polen einen Weg an die See zu öffnen.
Greiser war ein gewandter Mann. Als er 1928 in die Partei Hitlers eintrat, stieg er schnell empor. Unter Rauschning, dem Senatspräsidenten der Freien Stadt, übernahm er das Innenministerium. Gleichzeitig wurde er Stellvertreter des Danziger Gauleiters Albert Forster. Als Rauschning sich von Hitler losgesagt hatte, wurde Greiser sein Nachfolger.
Aber gleichzeitig hatte er sich seinen zukünftigen politischen Weg vorgeschrieben. Auf dem innenpolitischen Parkett Danzigs war er in starken Gegensatz zu der SA geraten, welche Anspruch darauf erhob, den Innenminister aus ihren Reihen zu stellen. Greiser hatte sich, um einen Rückhalt in diesem Kampf zu gewinnen, der SS -, Himmler und dessen Hitler ergebenen antijüdischen, antibolschewistischen, germanisch-kolonisatorischen Ideen für die Weiten des Ostens, von Polen bis zum Ural, verschrieben.
Als Gauleiter des Warthegaues war er Herr eines Königreiches geworden. Herr über Deutsche, vor allem aber Herr über Polen, unter denen er festzustellen gedachte, wer »deutsches« Blut in seinen Adern hatte und wer nicht, um Listen verschiedener Volkstumsgrade anzulegen und die »reinen« Polen Zug um Zug in ein polnisches Generalgouvernement zwischen der deutsch-sowjetischen Grenze und dem Warthegau abzuschieben. An ihre Stelle sollten »Volksdeutsche« treten, welche ihre jahrhundertealte Heimat in den baltischen Ländern, in Galizien, in Bessarabien, aufgegeben hatten, als sich die Sowjetunion diese Gebiete bei der Teilung Polens angeeignet hatte. Später sollten Reichsdeutsche hinzukommen, vor allem verdiente und verwundete Soldaten. Nach Himmlers und Greisers Plänen sollten Polen nur untergeordnete Arbeit verrichten. Sie sollten ohne, wie es hieß, überflüssige Schulbildung bleiben und als Menschen zweiter Klasse betrachtet und behandelt werden. Und so war es geschehen, soweit die Jahre seit 1939 Zeit dazu geboten hatten.
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