Es darf kein Abschied für immer sein - Patricia Vandenberg - E-Book

Es darf kein Abschied für immer sein E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Dr. Norden ist die erfolgreichste Arztromanserie Deutschlands, und das schon seit Jahrzehnten. Mehr als 1.000 Romane wurden bereits geschrieben. Deutlich über 200 Millionen Exemplare verkauft! Die Serie von Patricia Vandenberg befindet sich inzwischen in der zweiten Autoren- und auch Arztgeneration. Patricia Vandenberg ist die Begründerin von "Dr. Norden", der erfolgreichsten Arztromanserie deutscher Sprache, von "Dr. Laurin", "Sophienlust" und "Im Sonnenwinkel". Sie hat allein im Martin Kelter Verlag fast 1.300 Romane veröffentlicht, Hunderte Millionen Exemplare wurden bereits verkauft. In allen Romangenres ist sie zu Hause, ob es um Arzt, Adel, Familie oder auch Romantic Thriller geht. Ihre breitgefächerten, virtuosen Einfälle begeistern ihre Leser. Geniales Einfühlungsvermögen, der Blick in die Herzen der Menschen zeichnet Patricia Vandenberg aus. Sie kennt die Sorgen und Sehnsüchte ihrer Leser und beeindruckt immer wieder mit ihrer unnachahmlichen Erzählweise. Ohne ihre Pionierarbeit wäre der Roman nicht das geworden, was er heute ist. Es war nach zehn Uhr abends, als Dr. Daniel Norden in die Villa Deckert gerufen wurde. Er kannte die Familie schon ein paar Jahre und wusste gut über sie Bescheid. Sie besaßen eine Keramikfabrik und eine Ziegelei, solide Unternehmen, und der alte Martin Deckert war sehr traditionsbewusst. Eigentlich alt konnte man ihn noch nicht nennen, denn vor ein paar Tagen hatte er erst seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Er war mit vielen Ehrungen und einem Orden ausgezeichnet worden. Und nun sollte er krank sein? Dr. Norden konnte sich das gar nicht recht vorstellen, denn der Senior der Familie war eigentlich der Einzige, der seine Hilfe nie beansprucht hatte. Sein Sohn, der traditionsgemäß ebenfalls Martin hieß, hatte Dr. Norden angerufen, und seine Stimme hatte sehr besorgt und erregt geklungen. Schnell hatte Daniel nach seinem Arztkoffer gegriffen und war bald am Ziel. Das Haus der Deckerts war ein schöner alter Bau, fast ein kleines Palais, gebraucht hatten es die Deckerts, denn in jeder Generation hatte es eine beträchtliche Zahl von Kindern gegeben. Ein großer gepflegter Park, wie man ihn heute in dieser Villengegend nur noch selten sah, umschloss den zweistöckigen lang gestreckten Bau. Die Auffahrt war hell erleuchtet. Dr. Norden wurde schon erwartet. Rosalie, die Schwiegertochter des Erkrankten, war sehr blass und hatte Tränen in den Augen. »Vater geht es sehr schlecht, Herr Doktor«, flüsterte sie.

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Dr. Norden Bestseller Classic – 40 –

Es darf kein Abschied für immer sein

Patricia Vandenberg

Es war nach zehn Uhr abends, als Dr. Daniel Norden in die Villa Deckert gerufen wurde. Er kannte die Familie schon ein paar Jahre und wusste gut über sie Bescheid.

Sie besaßen eine Keramikfabrik und eine Ziegelei, solide Unternehmen, und der alte Martin Deckert war sehr traditionsbewusst.

Eigentlich alt konnte man ihn noch nicht nennen, denn vor ein paar Tagen hatte er erst seinen fünfundsechzigsten Geburtstag gefeiert. Er war mit vielen Ehrungen und einem Orden ausgezeichnet worden.

Und nun sollte er krank sein? Dr. Norden konnte sich das gar nicht recht vorstellen, denn der Senior der Familie war eigentlich der Einzige, der seine Hilfe nie beansprucht hatte.

Sein Sohn, der traditionsgemäß ebenfalls Martin hieß, hatte Dr. Norden angerufen, und seine Stimme hatte sehr besorgt und erregt geklungen. Schnell hatte Daniel nach seinem Arztkoffer gegriffen und war bald am Ziel.

Das Haus der Deckerts war ein schöner alter Bau, fast ein kleines Palais, gebraucht hatten es die Deckerts, denn in jeder Generation hatte es eine beträchtliche Zahl von Kindern gegeben. Ein großer gepflegter Park, wie man ihn heute in dieser Villengegend nur noch selten sah, umschloss den zweistöckigen lang gestreckten Bau. Die Auffahrt war hell erleuchtet.

Dr. Norden wurde schon erwartet. Rosalie, die Schwiegertochter des Erkrankten, war sehr blass und hatte Tränen in den Augen.

»Vater geht es sehr schlecht, Herr Doktor«, flüsterte sie.

Er folgte ihr durch die weitläufige Halle zu dem Raum, der am Ende des Ganges lag. Martin, Rosalies Mann, saß am Bett seines Vaters und hielt dessen Hand. Der Ältere atmete keuchend.

Dr. Norden fragte nicht viel. Er hatte sofort erfasst, wie ernst der Zustand des Kranken war. Er schloss die kleine Sauerstoffflasche an, die er für Notfälle immer dabei hatte.

»Was soll das?«, murmelte der Kranke, als er ihm die Maske leicht aufdrückte.

»Bitte durchatmen«, sagte Dr. Norden. Leise gab er Order, dass Rosalie aufpasste, während er eine Injektion aufzog, denn Martin Deckert ließ die Hand seines Sohnes nicht los. Bläulich weiß waren die Finger, die die nervige Hand des Jüngeren festhielten.

Die Injektion selbst schien der Kranke nicht zu spüren.

»Halt alles zusammen, mein Junge«, sagte er mit schwacher Stimme, als Dr. Norden die Sauerstoffmaske wieder abgenommen hatte. »Es muss weitergehen, hörst du?«

Dr. Norden tauschte einen langen Blick mit Rosalie. Martin Deckert junior machte einen völlig benommenen, geistesabwesenden Eindruck. Wer die beiden kannte und wusste, wie gut sich Vater und Sohn verstanden, konnte das verstehen. Dr. Norden wusste es, aber er sah auch, dass das Leben des Martin Deckert senior an einem hauchdünnen Faden hing.

Er gab Rosalie einen Wink, und sie folgte ihm zur Tür.

»Es ist ein Infarkt«, sagte Dr. Norden leise. »Ich halte es für dringend notwendig, dass er in die Klinik gebracht wird.«

»Das wäre sein Ende«, gab sie bebend zurück.

Ob klinische Betreuung dieses Leben retten konnte, vermochte Daniel Norden allerdings nicht zu sagen, aber jedenfalls konnte man dort immer noch mehr tun als hier.

Daniel horchte wieder das Herz ab und maß den Blutdruck. Der Kranke war jetzt bewusstlos.

»Ich bin dringend dafür, Ihren Vater in die Klinik zu bringen, Herr Deckert«, sagte Daniel mit ernstem Nachdruck. »Er wird es jetzt nicht merken.«

»Aber wenn er aufwacht«, erwiderte Martin, »und dann …, nein, daran wage ich gar nicht zu denken.«

»Der Zustand Ihres Vaters ist äußerst ernst. Es besteht akute Lebensgefahr«, sagte Daniel.

»Aber warum denn nur? Er war doch den ganzen Tag auf den Beinen. Nichts hat man ihm angemerkt.« Martin Deckert junior sah verzweifelt aus.

»Es ist ein Herzinfarkt, so wenig vorausschaubar wie ein Unfall«, sagte Daniel. »Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kann das kommen.«

»Er hat sich über Ulla aufgeregt«, stieß Martin bitter hervor.

»Er hat sich nie geschont«, sagte Rosalie leise. »Oh, mein Gott, was kann man nur tun?«

Gar nichts mehr konnte man für Martin Deckert tun, obgleich er doch noch in die Klinik gebracht wurde und sich drei Ärzte um ihn bemühten. Im Morgengrauen verlöschte sein Leben. An seinem Bett standen Martin und Rosalie und weinten. Sie hielten sich umschlungen, und ihre Tränen vermischten sich.

Die anderen Kinder des eben verstorbenen Martin Deckert, Henrik, Birgitta und Ursula tanzten auf einer Party in Salzburg.

Völlig erschöpft kam Daniel Norden heim. Nur zwei Stunden konnte er schlafen, dann musste er wieder in seine Sprechstunde.

Fee Norden brauchte nicht zu fragen. Sie hatte ihren Mann nur angeschaut und wusste, was geschehen war.

»Ich habe es befürchtet«, sagte sie leise, dann nahm sie die Hand ihres Mannes und sagte zärtlich: »Du musst ein bisschen schlafen, Liebster.«

*

Martin und Rosalie hatten keinen Schlaf finden können.

»Was soll nun werden, Tino?«, fragte Rosalie leise.

Er verbarg sein Gesicht hinter den Händen. »Sie tanzen, während Vater stirbt. Womit hat er das verdient?«

Rosalie wollte sagen, dass sie das nicht hätten wissen können, aber sie brachte die Worte nicht über die Lippen. Sie wusste doch, dass die drei anderen sich dieses Fest auch nicht hätten entgehen lassen, wenn der Zustand des Vaters schon so beängstigend gewesen wäre.

»Ruh dich aus, Tino«, bat sie. »Es kommen anstrengende Tage.«

»Für dich etwa nicht? Du hast ihn gerngehabt.«

»Sehr gern«, erwiderte sie. »Wir werden ihn sehr vermissen. Ich weiß nicht, wie ich es den Kindern erklären soll. Micky wird es noch nicht verstehen, aber Martin und Philipp …«, ihre Stimme gehorchte ihr nicht mehr, ging in leises Schluchzen über. Aus tränenverschleierten Augen sah sie ihren Mann an. Sie sah die Verzweiflung in seinem Gesicht, und da nahm sie sich zusammen, denn sie wusste, dass sehr viel auf ihn zukommen und nun noch mehr auf seinen Schultern lasten würde.

Martin war der Älteste von fünf Geschwistern. Er hatte immer eine Sonderstellung bei seinem Vater eingenommen, und das nicht nur, weil er ihm am ähnlichsten gewesen war. Auch der jüngste Sohn Christian war ihm sehr ähnlich gewesen. Er war im Alter von sechzehn Jahren auf einer Bergtour, die er mit seiner Schulklasse machte, tödlich verunglückt. Hermine Deckert, ohnehin kränkelnd, hatte den Tod ihres Jüngsten nicht verwunden. Man konnte wohl sagen, dass sie an gebrochenem Herzen gestorben war.

Henrik hatte früh geheiratet und war nach zwei Jahren wieder geschieden worden. Kinder gab es aus dieser kurzen Ehe nicht, und das war nach Meinung des »alten« Deckert nur gut gewesen. Henrik genoss seine wiedergewonnene Freiheit und tat im Betrieb nur das Notwendigste.

Birgitta, jetzt dreißig Jahre alt, zeigte keine Neigung zur Ehe. Sie war eine bekannte Turnierreiterin und der Meinung, dass Kinder nur eine Belastung wären.

Ulla war so exzentrisch, dass sie ihrem Vater laufend Sorgen bereitet hatte, derzeit damit, dass sie sich von Constantin Baltus, mit dem sie vier Jahre lang verheiratet war, scheiden lassen wollte. Auch sie hatte keine Kinder.

Martin hatte sich nach dem Studium ganz der Firma gewidmet. Für Frauen zeigte er kein Interesse, bis er Rosalie kennenlernte. Da war er vierunddreißig Jahre alt gewesen und sie zwanzig, an diesem Tage gerade zwanzig geworden, und zur Feier dieses Tages hatte sie mit einigen Bekannten zum ersten Mal in ihrem jungen Leben in einem vornehmen Restaurant gespeist.

Rosalie war Kosmetikerin, stammte aus bescheidenen Verhältnissen, war mit der mittleren Reife von der Schule abgegangen, notgedrungen, weil es der Vater wollte, und hatte dann den Beruf ergriffen, über den sie dann am ehesten ihr Ziel erreichen konnte, nämlich Maskenbildnerin zu werden. Mit diesem Wunsch hätte sie ihren Eltern nicht kommen dürfen, und es sollte dann ja auch alles ganz anders ausgehen.

Während sie unbeschwert im Freundeskreis feierte, saß Martin mit ein paar Geschäftsfreunden am Nebentisch. Hals über Kopf hatte er sich in das reizende natürliche Mädchen verliebt, und als sie sich später an der Garderobe trafen, was von seiner Seite aus nicht unabsichtlich geschah, hatte er sich ein Herz gefasst und sie um ein Wiedersehen gebeten.

Für Rosalie war es gewiss nicht Liebe auf den ersten Blick, denn sie war bisher stets nur mit Gleichaltrigen befreundet gewesen, ohne jedoch schon einen festen Freund gehabt zu haben.

Ihr imponierte der »ältere« Mann. Ihre beiden Kolleginnen redeten ihr ein, dass dies die Chance ihres Lebens sei, als sie sich dann in regelmäßigen Abständen mit Martin traf. Sie selbst zögerte. Bei ihr war die Liebe, von der sie geträumt hatte, die die Welt aus den Angeln heben konnte, nicht im Spiel, aber sie schätzte Martin doch so hoch ein, dass sie in ihm nicht nur die Chance ihres Lebens sehen wollte.

Doch sie fühlte sich geborgen in seiner Nähe, noch mehr, als ihre Mutter sich zwei Jahre nach dem Tode des Vaters wieder verheiratete.

Sie nahm Martins Heiratsantrag an, der innerhalb der Familie Deckert einen Sturm verursachte.

Für Martins Vater spielte es zwar keine Rolle, dass Rosalie aus einfachen Verhältnissen stammte, aber sie schien ihm zu jung für seinen ernsten Sohn, vielleicht fürchtete er auch, dass dieser nur wegen des Geldes geheiratet wurde.

Henrik hatte sein Ehefiasko bereits hinter sich, für Birgitta war Rosalie einfach nicht standesgemäß, während Ulla spöttisch meinte, dass sie sich ja künftig das Geld für die Kosmetikerin sparen könne, wenn man eine in der Familie hätte.

Martin hatte eine klare Grenze gezogen. Behutsam und taktvoll hatte er Rosalie erklärt, dass er selbst mit seinen Geschwistern keinen engen Kontakt hätte und sie ganz für sich leben könnten. Ja, Rosalie war so sehr beeindruckt worden von dem Lebensstil der Deckerts, dass sie sich sehr schnell anpasste. Und sehr schnell entstand dann die tiefe Zuneigung zwischen dem Senior und ihr. Vier Jahre nach dem Tod Hermine Deckerts fand die Hochzeit statt. Nach außen hin wahrten die Familienmitglieder das Gesicht. Rosalie war eine bezaubernde Braut, und es sollte sich erweisen, dass sie sehr bald einen unantastbaren Platz in diesem Haus einnahm. Dafür sorgte der Senior mehr noch als Martin, der seine junge Frau anbetete, ohne sich jedoch sicher zu sein, dass sie seine Gefühle im gleichen Maße erwiderte.

Der erste Sohn wurde geboren, und auch er wurde traditionsgemäß Martin genannt. Schon ein Jahr später kam Philipp zur Welt, dann weitere zwei Jahre später die kleine Michaela, die bald zum erklärten Liebling ihres Großvaters werden sollte, was alle verblüffte, denn Martin Deckert hatte für Mädchen nie sonderlich viel übriggehabt.

Auf den Tag genau sechs Jahre waren Martin und Rosalie verheiratet, als der Herr des Hauses die Augen für immer geschlossen hatte.

*

Rosalie lag auf ihrem Bett und dachte über den Verlauf dieses Tages nach. Ihr Herz war voller Trauer, da sie sich an das fröhliche Mittagsmahl erinnerte. Mit ihrem Mann, ihrem Schwiegervater und den drei Kindern hatten sie am Tisch gesessen. Der Opa hatte mit der kleinen Schar gelacht, er hatte Micky, wie Michaela genannt wurde, auf seinem Knie reiten lassen. Ihm war nicht anzumerken gewesen, dass ihm etwas fehlen könnte.

Er hatte Rosalie zärtlich auf die Wange geküsst, als er sich dann für eine kurze Ruhepause in seine Räume zurückzog.

»Es ist schön, dass du da bist, Rosalie«, hatte er gesagt. »Mit dir und den Kindern ist wieder Wärme in dieses Haus gekommen.«

Er machte über die andern, über Henrik, Birgitta und Ulla nie eine abfällige Bemerkung, aber Rosalie wuss­te längst, wie groß die Enttäuschung in ihm war, dass sie so gar keinen Familiensinn zeigten. Und manchmal gab Rosalie sich daran die Schuld, weil man sie wohl als einen unerwünschten Eindringling betrachtete.

Aber sie war eine selbstbewusste Frau geworden, und das nicht zuletzt durch den Rückhalt, den ihr Schwiegervater ihr gegeben hatte, während ihr Mann immer den Ausgleich mit seinen Geschwistern suchte.

Rosalie fand es ungerecht, dass die drei in keiner Weise am Familienunternehmen interessiert waren, und dass Martin neben seinem Vater alle Verantwortung auf sich nahm, während von den Jüngeren das Geld für Vergnügungen ausgegeben wurde.

Ulla hatte einen vermögenden Mann gefunden. Zu Constantin hatten Martin und Rosalie einen guten Kontakt, sofern Ulla nicht dazwischenfunkte.

In letzter Zeit war das kaum noch der Fall gewesen, Constantin machte es seiner attraktiven Frau nicht mehr in allem so leicht.

Darüber dachte jetzt auch Martin nach, der am Schreibtisch seines Vaters saß und immer noch nicht die gewohnte Fassung zurückgewonnen hatte. Man konnte nicht sagen, dass der Tod seines Vaters ihn noch tiefer traf als Rosalie, er wusste nur ziemlich genau, was ihn nun erwartete.

Sein Vater war der Motor gewesen, und er hatte das Ruder in der Hand gehalten. Er war eine so unglaublich starke Persönlichkeit gewesen, dass jeder in seinem Schatten stehen musste. Zwar hatte sich Martin nicht in diesen Schatten gedrängt sehen müssen, aber nun wurde das Ruder unerwartet früh in seine Hände gelegt, und er wusste auch genau, dass er sich auf seine Geschwister nicht verlassen konnte.

Voller Bitterkeit dachte er an seine Schwester Ulla. Ungewollt war er Zeuge der Auseinandersetzung zwischen ihr und dem Vater geworden.

Hier, an diesem Schreibtisch hatte er gesessen, um sich mit ein paar wichtigen Auslandsaufträgen zu befassen. Durch eine Sprechanlage war er mit den Privaträumen seines Vaters verbunden, damit sie sich stets bei Unklarheiten verständigen konnten, ohne viel hin- und herzulaufen.

Durch diese Sprechanlage hatte er Ullas erregte Stimme vernommen. Sie musste gerade erst gekommen sein, denn er hatte den Motor ihres Sportwagens gehört, der sehr viel Geräusch verursachte. Und aus einer Intuition heraus hatte er die Sprechanlage nicht abgeschaltet.

Ulla hatte gesagt, dass sie jetzt genug hätte von dieser tristen Ehe und sich scheiden lassen wolle.

Das schien innerhalb der Familie zu einer ansteckenden Krankheit zu werden, hatte der Senior darauf noch ziemlich ruhig erwidert. Ob sie denn Henrik alles nachmachen müsse.

»So ein verblendeter Narr wie Martin kann nicht jeder sein«, erwiderte sie. »Aber eines Tages wird Rosalie auch ihre Koffer packen. Eines Tages, wenn sie ihr Schäfchen im Trockenen hat. Genug Verehrer hätte sie ja.«

Da war der alte Herr aufgebraust, hatte sie eine Intrigantin genannt. »Schmarotzer seid ihr«, hatte er ihr vorgeworfen. »Ihr lasst Martin für euch arbeiten und gönnt ihm nicht einmal sein Glück. Und wer Rosalie angreift, bekommt es mit mir zu tun!«

Wenig später war Ulla wieder davongebraust. Doch der Tag, der so schön begonnen hatte, war zerstört. Martin hatte seinem Vater nichts davon gesagt, dass er das Gespräch mitgehört hatte.

Er hatte mit Rosalie und den Kindern einen Spaziergang gemacht, und als sie heimkamen, saß sein Vater an dem Schreibtisch, an dem nun er saß.

Er machte einen völlig ruhigen, gesammelten Eindruck, aber die Worte, die er sagte, versetzten Martin einen Stich.

»Ich denke, es ist doch besser, wenn ich ein Testament mache. Man weiß nie, was kommt. Meine Hoffnung, dass meine Kinder sich eines Tages einig werden würden, wird wohl unerfüllt bleiben, und ich habe drei Enkelkinder, die ich liebe.«

»Musst du heute davon sprechen, Vater?«, fragte Martin, »ausgerechnet heute?«

»Für euch ist es ein schöner Tag, mein Junge. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mit euch beisammen zu sein. Ihr braucht ja auch mal ab und zu ein paar Stunden für euch. Ich meine, dass ihr etwas zu viel Rücksicht auf den Großpapa nehmt.«

»Du gehörst zu uns, Vater«, erwiderte Martin. »Rosalie ist der gleichen Ansicht.«

»Ja, ich weiß. Ich danke euch. Ihr macht mir das Leben lebenswert, aber dennoch muss man an die Zukunft denken.«

»Ulla war hier«, sagte Martin vorsichtig.

»Ja, sie war hier. Darüber wollen wir jetzt nicht sprechen. Ihr seid jetzt sechs Jahre verheiratet, das siebente Jahr beginnt. Man nennt es das kritische Jahr, aber um euch brauche ich mir wohl keine Sorgen zu machen.«

»Gewiss nicht, Vater«, hatte Martin erwidert.

Und warum tönten jetzt Ullas Worte in seinen Ohren fort? Liebte ihn Rosalie denn so, dass er nicht um den Fortbestand seiner Ehe fürchten musste? Hatte sie ihn je so geliebt, wie er sie liebte?

Sie war so jung und so bezaubernd schön. Er hatte oft so wenig Zeit für sie gehabt, aber sie hatten drei Kinder und war eine vorbildliche Mutter.

Was ist nur mit mir los?, fragte sich Martin. Warum kommen solche Gedanken und lassen sich nicht vertreiben?

Hatte es während der sechs Ehejahre jemals Zweifel gegeben? War er nicht eifersüchtig gewesen, wenn Rosalie bewundert und umschwärmt wurde, wo immer sie auch in Erscheinung trat, immer an seiner Seite?

Gegen sechs Uhr war Birgitta gekommen, die ihre Wohnung im Obergeschoss hatte. Sie hatte bei ihnen hereingeschaut. Da spielten sie gerade mit den Kindern.

»Trautes Heim, Glück allein«, hatte sie ironisch gesagt. »Kannst du dich nicht mal von deiner Familie trennen, Martin? Konsul Kordas gibt eine Party in Salzburg. Du hast doch eine Einladung bekommen.«

»Wir haben eine bekommen«, erwiderte Martin, »aber wir haben heute unseren sechsten Hochzeitstag.«

»Wie aufregend«, spottete Birgitta. »Na, dann kommt ja das siebente verflixte Jahr. Was sagst du, Rosalie? Du fühlst dich doch in unseren Kreisen recht wohl. Kordas ist ein Verehrer von dir.«

Martin entging es nicht, dass sie »ein« betonte. Boshaft konnte sie sein, aber Rosalie hörte darüber hinweg.

Wie hatte sie überhaupt die Anzüglichkeiten ertragen können in all den Jahren? Das fragte er sich jetzt auch.

Aus Zuneigung zu ihm, oder war es sein Vater gewesen, der ihr noch mehr bedeutete?

Mit einem Stöhnen erhob er sich und ging hinüber zu ihren Räumen.

»Endlich kommst du, Tino«, sagte Rosalie verhalten. »Es ist doch alles schwer genug, Lieber. Mach es dir nicht noch schwerer. Ich möchte dir helfen.«

Er lag neben ihr, ihre Hand lag an seiner Wange. »Ich liebe dich, Rosalie«, sagte er leise.

»Ich liebe dich auch, Tino«, erwiderte sie. »Vater wird uns sehr fehlen, aber er wusste doch, dass er sich auf dich verlassen kann. Er war ein wunderbarer Mann. Er bleibt lebendig in mir. Ich liebte ihn mehr als meinen eigenen Vater. Es hat mich immer geschmerzt, dass ich nicht auch deine Mutter kennenlernen durfte.«

»Sie liebte Christian am meisten«, sagte er leise. »Wäre er doch am Leben! Wir verstanden uns so gut. Ich weiß nicht, wie ich es ohne Vater schaffen soll. Mit Christian wäre es leichter gewesen.«

»Du hast doch auch mich, Tino. Wa­rum kannst du nicht mit mir über all deine Sorgen sprechen?«, fragte Rosalie.