Es geht um die Wurst - Wolfger Pöhlmann - E-Book

Es geht um die Wurst E-Book

Wolfger Pöhlmann

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Beschreibung

Liebeserklärung an ein großes deutsches Kulturgut: WURST

Wurst ist viel mehr als nur ein Nahrungsmittel, sie gehört zur deutschen Kultur und polarisiert in Zeiten von Veganismus und Tierschutz. Das ganze Land ist voll mit Wurstgeschichten, nicht umsonst identifiziert uns die Welt als Wurstnation. Als Kunsthistoriker und Wurst-Ethnologe rückt Wolfger Pöhlmann dem Kunstwerk aus zerkleinertem Fleisch, Speck, Salz und Gewürzen kulturgeschichtlich, ästhetisch und geschmacklich auf die Pelle und reist der Wurst auf der Deutschlandkarte hinterher. In dieser Wurstbibel findet sich alles über katholische und evangelische Bratwürste, Weißwürste mit integriertem Senf, spezielle Männer- und Frauenwürste, die Plüschwürste der Kuscheltierschlachterei, Wurstzigarren, Wursttheater, Berichte von Wurstheiligen und Wundertaten mit der Wurst im Dreißigjährigen Krieg und vieles mehr.

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Seitenzahl: 552

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»DEUTSCHE WURST. ALLES ANDERE IST KÄSE.« TITANIC

Über den Autor

Der Kunsthistoriker Wolfger Pöhlmann hat eine Karriere als Ausstellungsmacher und Kulturmanager mit leitenden Positionen u.a. am Haus der Kulturen der Welt in Berlin und fast zwanzig Jahre beim weltweit für die Präsentation deutscher Kultur im Ausland verantwortlichen Goethe-Institut hinter sich. Seit seiner Kindheit liebt Pöhlmann Würste, Wurstmacher und Wurstwissen leidenschaftlich.

Über das Buch

Wurst ist viel mehr als nur ein Nahrungsmittel. Sie ist fester Bestandteil unserer Kultur und polarisiert in Zeiten von Tierschutz und Vegetarismus. Keine andere Nation hat eine ähnliche Vielfalt an Würsten hervorgebracht wie Deutschland. Jede Region kennt ihre eigenen Spezialitäten, manch ein Metzger überrascht mit einzigartigen Kreationen. Wolfger Pöhlmann hat sie alle aufgespürt. Er ist der Wurst auf der Deutschlandkarte nachgereist und hat wahre Schätze gehoben. Von der Mutter-Kind-Wurst über den Wurstzirkus hin zu Wurstpralinen und Wurstzigarren. Er hat die Metzgerei um die Ecke besucht und die Naturdarmfabrik im Württembergischen, ein Wursthotel gefunden und mit der Thüringer Wurstkönigin gespeist. Mit viel Liebe zum Detail und Blick für das Besondere schildert er seine erstaunlichen Entdeckungen. Dabei schwingen immer auch die Assoziationen des Kunsthistorikers mit, der hier die beiden Leidenschaften seines Lebens miteinander verbindet. Entstanden ist das faszinierende Porträt einer deutschen Lieblingsspeise.

WOLFGER PÖHLMANN

Es geht um die Wurst

Eine deutsche Kulturgeschichte

KNAUS

»Wurstmemo« von Thomas Kälberloh

Inhalt

Mein Leben mittels Wurst

Bekenntnis einer Leidenschaft

Der Süden Deutschlands

Oberbayern, Niederbayern, Oberpfalz, Franken, Schwaben und Baden-Württemberg

Die Mitte Deutschlands

Rheinland-Pfalz, Saarland, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt

Der Norden Deutschlands

Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und Brandenburg

Wurstenden

Fazit einer langen Reise

Anhang

Mein Leben mittels Wurst

BEKENNTNIS EINER LEIDENSCHAFT

die schinke und das wurst, in kühlschrank drinder schöne deutsche wort, in kühlschrank drindas schönsten deutschen wort, die wört der deutschen schöndas wurst die schinke plus kühl vodka von die russ(Ernst Jandl, »kaltes gedicht«)

Der große Poet Ernst Jandl hielt das bescheidene Wort »Wurst« für eines der schönsten der deutschen Sprache. Seit 1200 Jahren hat sich die Wurst phonetisch nicht verändert, der Begriff ist damit dauerhafter als Salami und fast untrennbar mit dem verbunden, was gemeinhin als deutsch gilt. Wurst muss man nicht übersetzen, deutsche Würste sind im Ausland bekannter als Goethe, man setzt uns gewissermaßen mit Würsten gleich, was nicht heißt, dass wir arme Würstchen wären, ganz im Gegenteil. Deutschland verfügt über eine Wurstkultur, die einmalig ist auf der Welt. Es gibt über 1500 verschiedene Sorten, wobei sich Vorlieben und Geschmack von Region zu Region unterscheiden. Während die Süddeutschen Brühwürste bevorzugen, isst man im Norden gerne Rohwürste wie Salami oder Mett, im Westen Schinken und im Osten am liebsten Bratwurst. Nirgendwo im Land lässt man sich die Wurst gerne vom Brot nehmen, und überall in Deutschland zählen Wurstsemmeln und -brote zum Standard einer kalten Mahlzeit. Gut 2,5 Millionen Tonnen Wurst verzehren die Bundesbürger im Schnitt davon jährlich. Doch nicht nur kalt sind Würste für viele Deutsche ein Genuss, sie werden gebrüht, gekocht und gegrillt, sie kommen an Wurstbuden auf den Pappteller und veredelt in der Sternegastronomie auf den Tisch. So ist die Wurst Teil unserer Lebenserfahrung und Teil unserer Kultur.

Jeder hat in irgendeiner Form eine persönliche Beziehung zu Wurst, ob als kritischer Konsument, Wurstverweigerer oder -liebhaber. Ich selbst gehöre definitiv zur letzten Kategorie. Ich bin der Wurst als Nahrungsmittel hoffnungslos verfallen, aber sie war für mich immer schon viel mehr als etwas, das scheibchenweise aufs Brot oder im Ganzen auf den Teller kommt. Es ist das Phänomen Wurst, das mich mein Leben lang nicht losgelassen hat und dem ich mich auf verschiedene Weise zu nähern versuchte. Nicht nur unter dem Aspekt des fleischlichen Genusses, sondern auch unter dem der Wurst als identitätsstiftendem Kulturfaktor. Als langjähriger Kurator im Kunst- und Kulturbereich war es eine meiner zentralen Aufgaben, ein Werk, das in eine Ausstellung aufgenommen werden sollte, an bestimmten Kriterien zu messen. Bei einem Künstler untersuchte ich vor allem die Authentizität und Originalität, seine subjektive Handschrift, seine technischen Fertigkeiten, das inhaltliche Anliegen, die Übereinstimmung von Werk, Ort und Zeit. All diese Kriterien lassen sich ebenso gut auf das Phänomen Wurst übertragen. Der Fleischer ist in diesem Fall der Künstler, die Würste sind sein Werk. Die Erkenntnisse, die man bei dieser Herangehensweise gewinnen kann, gehen weit über die Wurst als solche hinaus: Die einmalige Vielfalt an unterschiedlichen Wurstsorten ergibt ein Abbild von Deutschland, seiner Geschichte, seiner Kultur und Regionalität.

Nicht nur Metzger verwursten die Wurst, auch Künstler aller Gattungen haben sich mit ihr beschäftigt. Im Phänomen Wurst spiegeln sich ökonomische, politische, gesellschaftliche wie soziale Umstände, aber auch psychologische, religiöse, moralische und ethische Fragen: das Handwerk, das sich nur noch schwer gegen die Industrie behaupten kann, die Regionalität, die durch die Globalisierung infrage gestellt wird, die sozialen Bewegungen gegen Massentierhaltung hin zu alternativen Lebens- und Essgewohnheiten und nicht zu vergessen all die rechtlichen Aspekte der immer neuen Lebensmittelverordnungen und EU-Gesetze. Der Titel »Es geht um die Wurst« ist daher wörtlich wie auch im übertragenen Sinne zu verstehen. Denn auf meiner Deutschlandreise auf den Spuren der Wurst wurde ich Zeuge des dramatischen Überlebenskampfes traditionell arbeitender Metzgereien. Gut zwei Drittel der Wurstwaren holen sich die Deutschen heute im Supermarkt, doppelt so viel wie noch 1995. Mit den örtlichen Metzgern geht mehr verloren als Qualität, regionale Rezepturen und die Vielfalt an der Wursttheke. Die Metzger mit ihren Produkten waren, um mit Goethe zu sprechen, ein Stück weit das, was die deutsche Welt im Innersten zusammenhält. Nicht zuletzt gelten wir Deutschen im Ausland als Wurstnation, zu der sich die Vielfalt der Bier- und Brotkultur als passendes kulinarisches Attribut dazugesellt.

So ein »Wurstbaum« wie dieser hier von Alix Stadtbäumer wäre früher der Traum meiner schlaflosen Nächte gewesen.

Bei meinen Reisen wollte ich genau diesem besonderen Stellenwert der Wurst nachspüren. Ich hatte die naive Vorstellung, durch Deutschland und alle seine 294 Landkreise zu fahren, überall nach den besten Wurstanbietern zu suchen, und all die vielen regional typischen Würste zu probieren – mich also quasi durch ganz Deutschland durchzufressen. Doch schon bei den ersten Versuchen geriet ich an meine Grenzen. Ich besuchte einen Gasthof mit Metzgerei und erhielt eine sehr ansehnliche Wurstplatte, die ich mit zunehmender Mühe verzehrte, während mir der Metzger stolz die verschiedenen Besonderheiten der Würste erklärte. Ich schluckte brav, auch als Ausdruck von Höflichkeit und Wertschätzung, alles herunter. Die Platte war leer und ich platzte fast. Da brachte der Wirt voller Stolz eine zweite Platte mit den gleichen, aber diesmal warm gemachten Würsten, die ich auch probieren müsse, weil sie, wie er erklärte, warm ganz anders und noch besser schmecken würden. Die Nacht war fürchterlich, ich fühlte mich schwer wie ein Stein, konnte weder schlafen noch schreiben. Der Plan, mich auf diese Weise systematisch durch jeden Winkel Deutschlands durchzubeißen, bekam plötzlich etwas Beängstigendes, sogar Lebensbedrohliches. Auch erschien mir Deutschland durch seine extreme Kleinteiligkeit als Ganzes immer unerreichbarer. Also beschloss ich, eher dem Prinzip des Zufalls folgend, etwas chaotisch hin und her zu fahren, denn auch eine systematische Ost-West- oder Nord-Süd-Reise entspricht nicht unbedingt dem Verlauf der deutschen Wursttopografie, die nicht geradlinig, sondern krumm ist. Das kleinteilige Gemenge im Innern der Deutschland-Wurst entspringt einer Mixtur von Geschichte und Gegenwart, ehemaligen Fürstentümern und freien Reichsstädten, mal protestantisch, mal katholisch dominierten Gegenden und vor allem den unterschiedlichen Landschaften von Mittel- und Hochgebirgen, Ebenen, Küstengebieten und Seenplatten mit ihren verschiedenen landwirtschaftlichen Traditionen und regionalen Zucht- und Wildtierrassen. All das wirkt sich auf die lokale Wurst- und Esskultur aus. Die Wurst hält sich nicht an Grenzen, es gibt regional typische Produkte, die orts- und länderübergreifend sind, aber auch den Fall, dass eigentlich identische Produkte je nach Bundesland ganz unterschiedliche Namen tragen. Selbst die Bezeichnungen für Wursthandwerker unterscheiden sich in der deutschen Hochsprache und viel mehr noch, wenn man die mundartlichen Begriffe dazunimmt. Südlich von Dänemark und im Grenzgebiet zu den Niederlanden spricht man vom »Slachter«, in überwiegenden Teilen von Norddeutschland vom »Schlachter«, östlich davon vom »Flescher«, in den meisten Regionen Ostdeutschlands vom »Fleischer« oder »Fleischhacker«, und im mittel- und süddeutschen Raum dominiert schließlich der »Metzger« mit Varianten, die vom »Matzger«, »Metzler«, »Mexter« und »Mexer« bis hin zum »Metzeler« reichen. In der Bodenseeregion findet auch der »Wurster« Verwendung.

Für einen Wurstbuchautor ergibt sich schon alleine daraus ein Problem, dass es in der deutschen Sprache für die Bezeichnung von Erzeugern wie auch für die unterschiedlichen Wurstprodukte keine einheitlichen Begrifflichkeiten gibt. Wenn so viele unterschiedliche Dinge zusammenkommen, wird die so häufig angegebene Zahl von 1500 verschiedenen Wurstsorten schnell erklärbar, aber niemals wirklich verifizierbar. Ich habe das Gefühl, dass ich allein schon viel mehr unterschiedliche Würste gegessen habe und sogar als sichtbarer Beweis dafür gelten könnte. Bei den Wurstnamen ist die Vielfalt schier grenzenlos. Das Tier, das Gewürz, der Ort, die Form, die Haut, die Konsistenz, die Farbe, das Herstellungsverfahren, die Zubereitungsart, die Organe – all das und noch viel mehr sind gängige Faktoren der jeweiligen Namensfindung. Wenn man bedenkt, dass ein deutscher Gewürzhersteller, noch nicht einmal der größte, allein 1500 verschiedene Wurstgewürze im Angebot hat, und dass mir ein einziger mittelgroßer Betrieb eine Übersicht seines Wurstangebots mit 800 verschiedenen Sorten übermittelte, und jeder Metzger für seine durchschnittlich achtzig bis hundert verschiedenen Würste eigene Rezepturen und Gewürze verwendet, dann kann man erahnen, dass die Zahl an Wurstsorten schier unermesslich hoch sein muss.

Formen- und Farbenspektakel auf der IFFA in Frankfurt

Um nicht ganz aus der Form zu geraten, habe ich mich letztlich darauf beschränken müssen, nur wenigstens jedes Bundesland bei meinen Wurstreisen anzusteuern. Ich fuhr über Landstraßen, und wenn mir ein Ort besonders gefiel, suchte ich ihn nach guten Würsten ab. Meine Erfahrung, dass die Würste dort besonders gut sind, wo Orte und Landschaft noch intakt sind, hat sich weitgehend bestätigt. Ich entdeckte oft gerade auf dem Land bei kleinen Familienbetrieben die köstlichsten Würste, deren Erzeuger der mittelalterlichen Tradition fast näher stehen als der Gegenwart. Andere wiederum sind hochtechnisiert, haben sich angepasst an die Anforderungen des modernen Marketings, betreiben Internetplattformen und experimentieren mit neuen Produkten.

Dem Leser möchte ich nun aber nicht in der chronologischen Form meine Irrfahrten durch Deutschlands Wurstwelt zumuten, sondern ihn langsam von München und den Höhen des Alpenvorlandes herabführen bis hin in die Niederungen des Nordens. Wobei angemerkt sei, dass Bayern aufgrund der enormen Vielfalt an Würsten nicht im Ganzen, sondern nach Regierungsbezirken vorgestellt wird. Es würde mich freuen, wenn der Leser nach der Lektüre dieses Buches, ganz ähnlich wie es mir im Zuge meiner Wurstrecherche ergangen ist, entdeckt, wie facettenreich und eng die Wurst mit der deutschen Kultur und Geschichte verbunden ist. Es gibt keine einzige wurstarme Region in Deutschland, überall finden sich besondere und wunderbare Wurstspezialitäten. Wo es die besten gibt, dafür gibt es keine objektiven Messkriterien. Das kann und soll jeder für sich entscheiden. 

Von Wurstmangel und Wurstbegehren

Meine ganz persönliche Lebenswurstreise beginnt in der Nachkriegszeit im niederbayerischen Pfarrkirchen. Die Erinnerung an meine frühe Kindheit ist vor allem mit Entbehrungen verbunden, weil wir uns oft nicht richtig satt essen konnten, schon gar nicht mit dem, was mir besonders schmeckte. Etwas neidisch war ich auf meinen Vater, der als Einziger etwas von der 100-Gramm-Wochenration an Wurst abbekam, während meine Mutter und wir uns mit selbst gekochter Marmelade und dem, was der Garten hergab, begnügen mussten. Ab und zu gab es Linsen mit einer Wiener Wurst pro Kopf, manchmal auch Wurstsalat, selten – und wenn, dann nur ganz dünn aufgeschnitten – warmen Leberkäse mit Ei und die in Niederbayern so beliebten hautlosen Wollwürste mit Sauerkraut und Kartoffelbrei. Das waren die kulinarischen Höhepunkte meiner Kindheit und Basis für meine immerwährenden geschmacklichen Vorlieben. Noch heute kann ich der Verlockung eines warmen Leberkäses oder einer niederbayerischen Bierkugel kaum widerstehen. Sehr gerne habe ich meine Mutter beim Einkaufen begleitet, denn beim Metzger bekam ich immer ein Stück Gelbwurst – der Gipfel allen Glücks. Es gab damals noch viele Metzgereien in Pfarrkirchen, die man schon von Weitem an der roten Farbe ihrer Fassaden erkennen konnte. Rot ist die Zunftfarbe der Metzger, doch diese Tradition der Inntalarchitektur ist inzwischen leider verloren gegangen. Wenn Markttag war, bekam ich schon mal eine Pferdeknackwurst für zehn Pfennige. Die Freude wurde getrübt, sobald ich in die Wurst hineinbiss, denn eigentlich mochte ich sie wegen ihres säuerlichen Geschmacks und süßlichen Geruchs nie so richtig. An Geburtstagen sehnte ich stets den Moment des »Wurstschnappens« herbei; nur hier konnte ich ein ganzes Wienerle, sogar ohne Brot, verspeisen. Und ich erinnere mich, dass wir am 1. Mai immer auf den benachbarten Reichenberg wanderten, wo ich dabei zusehen musste, wie die schon etwas älteren Jungs mit Teer an Händen und Hosen als Kletterhilfe den Maibaum emporkletterten, um sich in schwindelerregender Höhe ein Würstchen aus dem Kranz zu rupfen. Meine Eltern haben mir das leider nie erlaubt, obwohl mir die Wurst als Belohnung überaus begehrenswert erschien. Immerhin durfte ich meiner Mutter manchmal bei den Vorbereitungen zu einer Einladung helfen und die berühmten Fünfzigerjahre-Schnittchen mit Wurstscheiben belegen. Damals hatte ich natürlich noch keine Ahnung von Daniel Spoerri und seinen revolutionären Vorstößen, Essen als Teil der bildenden Kunst zu betrachten, doch aus heutiger Sicht würde ich sagen, die Canapés meiner Mutter waren meine erste Berührung mit Eat-Art.

Wem es gelang, den hohen Maibaum zu erklimmen, der wurde mit einer dicken Wurst belohnt.

Untrennbar mit meiner Kindheit verbunden sind auch Grimms Märchen und Wilhelm Busch. Hier spielt die Wurst mitunter eine recht bedrohliche Rolle, etwa in der Grimm’schen Geschichte von »Daumerlings Wanderschaft«, der von einer Kuh verschluckt, beim Schlachten und anschließenden Verwursten nur knapp den Messern entkommt, dann in einer Blutwurst landet, im Kamin geräuchert wird und gerade noch, kurz bevor man ihn verspeist hätte, aus der Wurst entfliehen kann. Ich liebte es, in der großen Wilhelm-Busch-Gesamtausgabe herumzublättern, zumal in seinen Geschichten Würste immer wieder Ausgangspunkt sündhaft begehrlicher Verlockungen sind, die niemals ungestraft bleiben. So auch beim »Wurstdieb«, wo der Täter wie bei »Max und Moritz« in grotesker Überzeichnung mit seinem Leben büßen muss.

Sehr wurstarm waren dann die ersten Jahre des Heranwachsens, die ich fern von zu Hause in einem protestantischen Internat in der schwäbischen Kleinstadt Oettingen im Ries verbrachte. Wurst bekamen wir nie, und das Taschengeld war so knapp, dass ich mir im Gegensatz zu anderen Klassenkameraden nur selten eine Wurstsemmel leisten konnte. Diese Zeit des Darbens war vorbei, als ich mit 13 Jahren nach Nürnberg kam, wohin meine Mutter nach dem Tod meines Vaters gezogen war. Kulinarisch der Eintritt ins Paradies! Etwas Besseres als Nürnberger Bratwürste und überhaupt die fränkischen Wurstwaren hatte ich noch nie erlebt. Das Äquivalent zu den niederbayerischen Wollwürsten sind in Franken die »Nackerten«, manchmal auch die »Geschwollenen« genannt. In Zwiebeln und Essig eingelegte Bratwürste heißen gar »Saure Zipfel« – für einen pubertierenden Knaben recht anregende Assoziationen.

In Nürnberg, im Herzen der fränkischen Wurstkultur, wünschte ich mir zu meiner Konfirmation ein Pfund Leberkäse. Unter einem Pfund stellte ich mir ein riesengroßes Trumm vor, mindestens mit den Ausmaßen eines Pflastersteins. »In der allergrößten Not isst man die Wurst auch ohne Brot«, war eines der gebräuchlichsten Sprichworte, es galt als große Sünde, mehr als ein Wurstrad auf eine Scheibe Brot zu legen oder sie gar über die Brotrinde lappen zu lassen. Das war alles teuflische Völlerei, die ganz im Widerspruch zur protestantischen Ethik stand, die man mir im Konfirmandenunterricht eingebläut hatte. Aber ich war bereit, mich der Völlerei hinzugeben und das Leberkäsegeschenk ganz und gar ohne Brot zu verspeisen. Nur mit Mühe konnte ich die Enttäuschung verbergen, als ich tatsächlich von meiner Mutter das ersehnte Pfund überreicht bekam. Trotz einiger zuvor verdrückter Tortenstücke kam ich noch nicht mal an die Grenze meines Schlingvermögens. Und vom ersten Bissen an begleitete mich die Angst vor dem Finale. 

Die Wurst erobert die Kunst

Dass Wurst etwas mit Kunst zu tun hat, erfuhr ich ebenfalls in Nürnberg, das gegen Ende der 1960er-Jahre zu den führenden Stätten der Kunstavantgarde in Deutschland zählte. Die Epoche war bestimmt durch die Expansion der Künste, die alle Aspekte des Lebens und des neuen kritischen Zeitgeistes einschloss. Plötzlich gerieten die Wurst als Form und Alltagsgegenstand sowie das Fett nicht nur als Geschmacksträger, sondern als skulpturales Material in den Fokus der ästhetischen Reflexion.

Zu meinen ersten großen künstlerischen Wursterlebnissen gehörte die Jahresausstellung des Deutschen Künstlerbundes 1968. Ich hatte die Aufgabe, zusammen mit zwei anderen Akademiestudenten, Joseph Beuys bei der Umsetzung seines Ausstellungsbeitrags zu betreuen. Wir sollten sämtliche vom Künstler georderten Materialien besorgen, darunter natürlich auch Fett. Es waren etwa zwei Zentner allerbilligste Industriemargarine, dazu Luftpumpen, mit denen sich Beuys einschloss, um sich zwei Tage lang ungestört mit seinem neuen Werk auseinanderzusetzen. Das Ergebnis waren Luftpumpen, die der Künstler mit einem Fettkloß an der Spitze handgranatenähnlich umgeformt hatte. Einige davon steckten im Rippenheizkörper unter dem Fenster, die meisten lagen in wirren Haufen darunter und über den Parkettboden verstreut. Zu sehen waren außerdem noch die für Beuys so typische große »Fettecke« sowie einige Stempelabdrücke auf der Wand, unter anderem mit der Aufschrift »Deutsche Studentenpartei«. Die ganze Arbeit trug den lapidaren Titel »Raum 563 x 491 x 563«.

Für die Bild-Zeitung und ihre Leser war dies eine große Provokation, die Headline lautete nach meiner Erinnerung: »Künstler schmiert 2 Zentner Fett auf den Boden und in Biafra verhungern die Kinder«. Tags darauf gab es eine Protestaktion, hauptsächlich von Rentnern, die durch die Lorenzer Straße zum Künstlerhaus zogen. Sie hatten Fotos von verhungernden Biafra-Kindern aus Zeitungen herausgeschnitten, auf Pappkartons geklebt und diese dann an dünnen Stecken befestigt. Solchermaßen gerüstet, drangen sie in den Ausstellungsraum ein, wo sie ihre Plakate in die Beuys’sche Fettecke hineinsteckten. Der Ausstellungsleiter war verreist, ich hatte Dienst und versuchte zu deeskalieren. Ich erklärte den Demonstranten, dass man mit dem Material einer Bronzeplastik viel mehr Kinder in Biafra retten könne als mit dem vergleichsweise billigen Industriefett, das Beuys verwendet hatte. Die Demonstranten zogen schließlich ab, wenn auch nicht ganz überzeugt. Die Beuys-Fotografin Ute Klophaus beseitigte rasch alle Spuren der Attacke. »Beuys darf das nie erfahren«, flehte sie mich an.

Für mich war das ein intensives Erlebnis, das mir die Bedeutung des Materials als Ausgangspunkt für Kunst vor Augen führte. Im konkreten Fall kamen noch das Osmische und etwas Metaphysisches hinzu, denn der ganze Raum sollte noch jahrelang nach ranzigem Fett riechen, obwohl die Wände x-mal überstrichen wurden. Für Wurst ist Fett entscheidender Geschmacksträger und Konservierungsmittel zugleich. Für Beuys war es eine lebenswichtige Kraft- und Energiequelle und Ausgangspunkt für seine Idee der »sozialen Plastik« und »sozialen Kreativität«, wie sie sich ganz unmittelbar auch in der Protestaktion gegen seinen Ausstellungsbeitrag ausgedrückt hatte. 

Die Entdeckung der Wurstzipfel

1972 erhielt ich eine erste Festanstellung am neu gegründeten Museumspädagogischen Zentrum und zog nach München. Im Rahmen dieser Tätigkeit betreute ich gleich in meinem ersten Jahr wieder eine Beuys-Ausstellung. In dieser frühen und großen Werkschau zeigte der Künstler unter anderem »Filz TV«, eine Arbeit, die heute zu den Pionierleistungen der Videokunst zählt: Man sieht Beuys auf einem Hocker vor einem mit Filz abgedeckten Fernsehmöbel sitzen. Er nimmt eine Blutwurst zur Hand, schneidet sie durch und hält eines der Teile an den Filz-Bildschirm. Dann schnitzt er mit einem kleinen Messer aus dem abgeschnittenen Ende eine Art rechteckigen Zapfen und drückt die abgeschnittene Wurst wie einen Stempel immer wieder gegen die Wand. Für mich brachte diese rätselhafte Aktion einen entscheidenden Erkenntnisgewinn: dass Kunst nämlich vor allem dazu dient, die Wahrnehmung zu sensibilisieren. Auch die einfachsten Gegenstände der unmittelbaren Lebenswirklichkeit können von gleichwertiger Symbolkraft wie Kunst sein. Die italienische Arte-Povera-Bewegung (»arme Kunst«) hatte dies 1967 zu ihrem Credo erhoben, Beuys stellte sich bewusst in diese Tradition und entwickelte diesen erweiterten Kunstbegriff fort. Dies war letzlich der entscheidende Schlüssel dafür, Wurst als Kunst begreifen zu können und nicht nur als Fett- oder Energielieferanten.

Skizze von Frank Herzog, die zeigt, wie Beuys die Wurst damals zugeschnitten hat.

Ich lebte damals in der Nähe der Uni in der Schwabinger Adalbertstraße in einem typischen Münchner Altbau mit einem kleinen Hof und Vorgarten. Sechs Stockwerke ohne Lift, die von Studenten in Wohngemeinschaften bevölkert wurden, bis auf zwei Originale, die aus früheren bürgerlichen Zeiten übrig geblieben waren: die uralte Kathi und der neunzigjährige Herr Bichelmaier, ein Altkommunist. Das ganze Haus war eine große Gemeinschaft, und im Sommer zelebrierten wir an schönen Wochenenden in unserem Vorgarten immer ein gemeinsames Frühstück. Ich war dabei für die Wurst zuständig. Dazu hatte es nur kommen können, weil ich von dem Bildhauer Alf Lechner gelernt hatte, wie man in einer Metzgerei einkauft.

Lechner hatte das Haus immer voller interessanter Gäste, stets gab es wunderbares Essen und kulinarische Überraschungen. Aber manchmal tischte er einfach nur eine große Platte voller Wurstzipfel auf. Jede Wurst hat ja zwei Enden, und gute Metzger schneiden sie großzügig ab, weshalb sich im Laufe des Tages, meist unter dem Ladentisch in einer Schüssel verborgen, eine große Menge dieser Abschnitte ansammelt. Durch Lechners Wurstzipfelplatten entdeckte ich viele neue, köstliche Wurstsorten. Lechner kannte die besten Münchner Quellen, und wenn er einen Laden betrat, war das ein Spektakel. Die Metzgermeister bedienten ihn stets persönlich, und am Ende des Einkaufs erstand Lechner ohne jede Peinlichkeit die preislich stark herabgesetzten Wurstzipfel. Das wollte ich auch können und hatte zu diesem Zweck in der Nähe meiner Schwabinger Wohnung auf dem Elisabethmarkt die Metzgerei Sageder als meine persönliche Wurstquelle auserkoren. Heute erst weiß ich, warum das so war: Die Wurstwaren von Sageder kamen allesamt aus Niederbayern, wo mein Wurstgeschmack fürs Leben geprägt wurde. So wie ich es von Lechner kannte, orderte ich also erst großzügig Würste, Schinken und Roastbeef, bevor ich mir ein Herz fasste und fragte, ob ich für meinen Hund nicht noch ein paar Wurstzipfel kaufen könne. Sageder ging in einen Nebenraum und kam mit einer großen Tüte zurück, die er abwog und mir für nur zwei Mark zusätzlich über die Theke reichte. Natürlich durchschaute er, dass ich in Wirklichkeit der Hund war. Aber er hatte ein Herz für Studenten und schon bald schaute ich jeden Samstag nach Ladenschluss vorbei, um für den immer gleichen Betrag von 2 Mark tütenweise Wurstzipfel zu erstehen. 

Wurst ist Leben und Leben ist Wurst

Als Wurstmann in der Schwabinger WG ging ich inzwischen nicht mehr nur einkaufen, ich sammelte auch Wurstkunst, -literatur und -nachrichten. Für meine Kinder war ich später Vater und Wurstliebhaber zugleich, die selbst gebastelten Kalender, die sie mir als Weihnachtsgeschenk überreichten, enthielten jedes Jahr neue Wurstbilder. Und ich musste für die Kinder immer neue Wurstgeschichten erfinden. Echte Erlebnisse empfanden sie dabei als genauso kurios und seltsam wie fantastische Flunkereien. Die wurstarme Nachkriegszeit und meine Enttäuschung über das zu kleine Leberkäsestück bei meiner Konfirmation waren in ihrer Lebenswirklichkeit allerdings kaum noch nachvollziehbar. So empfand ich es denn auch als sehr einfühlsam, als mir mein Sohn Moritz, kaum dass er schreiben konnte, einen handgemalten Gutschein für einen Wurstteller schenkte. Meine obsessive Beschäftigung mit Wurst ist längst zum Gegenstand gegenseitiger Frotzeleien geworden. Immer schon habe ich besondere Wurstgeschichten aus Zeitungen ausgeschnitten und Wurststellen in Büchern mit Einmerkern versehen. Überall tauchen direkte oder indirekte Assoziationen zur Wurst auf. Mein ganzes Leben wird zum Teil einer großen Wurstmaschine. Alles ist Wurst. So erblickte ich im Ultraschallbild meines jüngsten Enkelkindes nichts anderes als eine Wurst, und zur Geburt bekam der kleine Anton eine graue Leberwurst aus Plüsch geschenkt. Natürlich bin ich bei meinen Enkeln auch zuständig für allerlei Wurstspiele und Wurstbücher. Inzwischen habe ich ein anschauliches Repertoire, das von Hot-Dog-Legosteinen über das Pixi-Heft »Ich hab einen Freund, der ist Fleischermeister« und Wurstanhänger bis hin zu Kaufladenwürsten und Wurstlieder-CDs reicht. Es versteht sich von selbst, dass auch reale Würste oder essbare Wurstgebilde wie Wurstbrezen oder -ketten zu meinen Mitbringseln gehören. Erwachsenen schenke ich gerne Wurstzigarren, -pralinen oder regionale Spezialitäten, eingeschweißt oder in Dosen. 

Bis heute habe ich diesen Gutschein nicht eingelöst, und inzwischen würde mir Moritz als Vegetarier wohl kein solches Geschenk mehr machen.

Über Goethes Wurstliebe

Für das Goethe-Institut war ich Ende der 1990er-Jahre mit der Realisierung einer Reihe von Ausstellungen zum 250. Geburtstag des Dichters betraut und stellte fest, dass Goethe zu Würsten als Herzstück unserer Kultur eine ganz besondere Beziehung hatte. In einer Rückschau auf sein Leben beschrieb er in einem Brief an Frédéric Soret vom 17. Februar 1832 das Prinzip seiner Arbeit ähnlich wie die Methode des Verwurstens: »Ich sammelte alles (…) was Natur und was Menschen schufen. Alles habe ich verarbeitet; alles was ich schrieb wurde mir durch unzählige Wesen und Dinge vermittelt; (…) mein Lebenswerk ist das einer Vielheit von Wesen aus der ganzen Natur; es trägt den Namen Goethe.« Aber auch ganz konkret war er den Würsten sehr zugeneigt. Auffallend ist die besondere Verbindung zwischen seiner Wurstliebe und den Frauen, die ihn zeitlebens mit Würsten verwöhnten. Am 8. Januar 1776 dankte er Charlotte von Stein in einem Brief für ihre Wurstsendung, am 13. März 1777 bat er sie »durch Überbringen oder so etwas, eine Wurst zu schicken«, am 11. Februar 1778 verlangte er erneut nach Nachschub, und nur 14 Tage später schrieb er wieder: »Schicken Sie mir durch überbringen meinen Schwartenmagen und eine Bratwurst.« Später war Christiane Vulpius für Goethes Wurstwohl zuständig. 1798 schrieb er ihr: »Die Würste, die du mir geschickt hast, haben mir recht wohl geschmeckt.« Und 1811, bereits längst mit ihr verheiratet: »Die schönen Würste haben ein gar gutes Ansehen und so ist alles in der besten Ordnung.«

Am 17. Mai 1814 bedankte er sich bei Caroline Sartorius, der Mutter seines Patenkindes Wolfgang und Ehefrau des mit ihm eng befreundeten, in Göttingen lehrenden Historikers Georg Friedrich Sartorius in einem Brief: »Zu gleicher Zeit mit Ihrem werten Briefe kamen auch die kostbaren Würste, und bilden gegenwärtig den wichtigsten Vorath unser ländischen Speisekammer. Wer sie genießt, kann nicht in Abrede seyn, das jenes messmerische Fräulein vollkommen recht hatte, sich der gleichen als Universal-Mittel zu dictieren, wenn nicht Schlackwurst etwas anderes ist, welches ich denn dahingestellt seyn lasse.« Die guten Würste müssen also wohl aus Göttingen gestammt haben, und vielleicht waren sie neben der damaligen großen Bedeutung von Göttingen als Wissenschaftsstadt auch ein wenig der Grund, warum der junge Goethe so gerne dort studiert hätte. Interessant ist zudem die Erwähnung jenes »messmerischen Fräuleins«, handelt es sich hierbei doch um eine metaphorische Anspielung auf die heilende Kraft der Göttinger Schlackwurst als Universalmittel im Sinne der damals sehr geschätzten kurativen kosmischen Urkraft des »Animalischen Magnetismus«. Der war von dem deutschen Arzt Franz Anton Mesmer (1734–1815) entdeckt worden und nebenbei auch ein wichtiges Moment der romantischen Literatur, etwa bei E.T.A. Hoffmann, Jean Paul oder Edgar Allan Poe.

Wie existenziell Goethe mit Würsten verbunden war, erfuhr ich in einem Gespräch mit Manfred Heuser, einem Medizinprofessor auf dem Feld der Neurologie und Psychiatrie. Der Goethe-Kenner erzählte mir eine unglaubliche Geschichte und schickte mir später auch Kopien von zwei Artikeln, die er in medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht hatte. Einer trug den Titel »Goethe in der Fleischarde«. Ausgangspunkt für Heusers wissenschaftliche Untersuchung war ein Brief Bettina von Arnims, in dem diese wiederum ein Gespräch mit Goethes Mutter über die Schilderung von dessen dramatischer Geburt zitiert: »Drei Tage bedachtest Du Dich, eh’ Du ans Weltlicht kamst, und machtest der Mutter schwere Stunden. Aus Zorn, dass Dich die Not aus dem eingebornen Wohnort trieb, und durch die Misshandlung der Amme kamst Du ganz schwarz und ohne Lebenszeichen. Sie legten Dich in einen sogenannten Fleischarden und bäheten Dir die Herzgrube mit Wein, ganz an Deinem Leben verzweifelnd. Deine Großmutter stand hinter dem Bett, als Du zuerst die Augen aufschlugst, rief sie hervor: ›Rätin, er lebt!‹«

Die Reanimation erfolgte in einer »Fleischarde«, einem muldenförmigen Holzgefäß, das als eine Art Mörser für Wurstbrät, aber auch beim Transport und der Lagerung von Fleisch- und Wurstwaren Verwendung fand. Die Fleischarde, so Heuser, sei nur vorhanden gewesen, weil Goethes Großmutter Anna Margareta Textor als eine geborene Lindheimer einer weitverzweigten Frankfurter Metzger- und Juristenfamilie angehörte. Für den Goethe-Kenner ist die Fleischarde nicht nur lebensrettendes Element, sie liefert zugleich eine Begründung für dessen Vorlieben: »Fleisch, Wurst und Wein behielten auch im späteren Leben des prominenten Säuglings ihren besonderen Stellenwert.« 

Ist die deutsche Kultur ein Würstchen?

Mein Arbeitgeber, das Goethe-Institut, schickte mich von 1999 bis 2010 ins Ausland, zuerst nach Madrid und dann nach Athen. Hier habe ich oft die Erfahrung machen müssen, dass Deutschland viel stärker mit der Wurst identifiziert wird als mit Goethe. In Madrid gab es mehrere deutsche Metzger und ganz in der Nähe des Goethe-Instituts zwischen dem Plaza Colón und dem Plaza Alonso Martínez ein riesiges, stets überfülltes Restaurant namens »La Fábrica«. Es repräsentiert Deutschland und die deutsche Kultur, wie es sich die Spanier vorstellen, fast auf ähnliche Weise wie der Ballermann auf Mallorca. Kulinarische Hauptattraktion ist eine große Wurstplatte mit einer Bockwurst, einer Bratwurst, einer Berner und vier Nürnberger Bratwürsten, dazu gibt es Sauerkraut und Kartoffelbrei. Zur Vervollständigung der Glückseligkeit wird die für spanische Verhältnisse fast unvorstellbare Menge von einem Liter Bier im Maßkrug serviert. Es ist noch lauter als im Hofbräuhaus, und die Spanier fühlen sich dort wie Münchner im Himmel.

Nahe dem Parlament gibt es noch ein sehr beliebtes deutsches Restaurant, das »Edelweiß«, das ebenfalls vor allem wegen seiner Würste geschätzt wird. So ziemlich alle Parlamentarier, Minister und Staatsgäste kann man hier antreffen, und deutsche Würste waren wohl eine wirkungsvolle, würzige Zugabe bei so manchen politischen Verhandlungen, in denen es um die Wurst ging. Nicht nur in der berühmten »Cervecería alemana«, wo Hemingway am Fenster einen Stammplatz hatte, sondern auch in vielen spanischen Restaurants kann man auf den normalen Speisekarten »Bockwurst« und »Bratwurst« finden. Wie nur bei wenigen anderen deutschen Worten, wie »Blitzkrieg«, »Bunker« oder »Kindergarten«, bedarf es keiner Übersetzung.

Auch nach dem Umzug von Madrid nach Athen musste ich nicht auf deutsche Würste verzichten. Im Athener Goethe-Institut hatten wir eine beliebte Cafeteria, wo man auch etwas typisch Deutsches zum Mittagessen bekam. Die Pächterinnen kamen aus der Schweiz und verstiegen sich einmal dazu, gegrillte Weißwürste anzubieten. Für mich als Münchner natürlich eine Todsünde, aber den Griechen und auch einigen deutschen Kollegen aus dem Norden schmeckte dieses kulinarische Verbrechen richtig gut. Mich erinnerte es an den Sketch von Gerhard Polt, bei dem sein Nachbar, der Dr. Brezner, der sogar Akademiker ist, ihn zu einem Grillabend einlädt. Die Geschichte endet, und Polt macht vor dem Höhepunkt des Gags eine lange Pause, bevor er zum großen Gelächter aller verrät, dass er ansehen musste, wie sein Nachbar eine Weißwurst brät. Etwas ähnlich Kurioses erzählte Rosanna, eine italienische Freundin, die immer sehr verächtlich über die unverdaulich fette deutsche Küche lästerte, um die Überlegenheit der eigenen, italienischen Kochkunst zu betonen. Sie habe mal eine Reise nach München und die ganz schreckliche Erfahrung gemacht, dass ihr da eine Suppe vorgesetzt wurde, die nur nach purem, heißem Wasser schmeckte und in der eine dicke, fette weiße Wurst schwamm.

Das Auswärtige Amt veranstaltet Jahr für Jahr in einigen Ländern der Welt »Deutsche Kulturwochen«, und in meiner Zeit in Athen ereilte mich das Schicksal, diese organisieren zu müssen. Zusammen mit der Designagentur »pi6« kamen wir bei der Logo-Entwicklung auf die Idee, dass ein Frankfurter Würstchen gut Deutschland repräsentieren könnte. Pi6 entwarf daraufhin ein Würstchen, das wie ein Smiley auf einem eckigen weißen Pappteller drapiert war. Bei der Eröffnung überraschte uns der Botschafter und distanzierte sich explizit von unserem Logo: »Wie kann man nur auf eine solche Schnapsidee kommen, die hohe deutsche Kultur zu einem Würstchen zusammenschrumpfen zu lassen?« Mir gefiel seine Reaktion, bin ich doch bis heute vom Gegenteil überzeugt. Für mich persönlich bietet die Beschäftigung mit der Wurst, mit den Erfahrungen aus der Kunst im Hinterkopf, eine Möglichkeit, endlich mal wieder etwas Neues entdecken zu können und mich dabei gleichzeitig auf das Elementare zu besinnen. Aber der von Beuys geprägte erweiterte Kunstbegriff bewirkt natürlich, dass ich das Gebiet der Kunst gar nicht verlassen kann. Alles ist Kunst und alles ist Wurst. 

Zur Verstärkung des patriotischen Charakters war das Würstchen fast schwarz, das eine Auge des Smileys ketchuprot und das andere senfgold.

Der Süden Deutschlands

Orte der Wurstkultur

OBERBAYERN

München,Metzgerzeile am Viktualienmarkt, Vinzenzmurr, Metzgerei Vogl, Oktoberfest, »Der verrückte Eismacher«, Münchner Kammerspiele, Metzgerei Gaßner, Dallmayr, Manufactum, Wurstspezialitäten Clasen – Tegernsee,Metzgerei Trettenhann – Schliersee,Metzgerei Stadler – Bayrischzell,Metzgerei Linderer – Glonn,Herrmannsdorfer Landwerkstätten – Pfaffenwinkel,Bauernhof Zahn – Kinding,Metzgerei Bauer – Beilngries,Metzgerei Walthierer, »Der Millipp« – Meckenhausen,Metzgerei Wölfl

NIEDERBAYERN

Dingolfing – Landshut,Fleischerschule, Metzgerei Hofmair – Pfarrkirchen – Bad Birnbach,Metzgerei Wasner, Metzgerei Lang – Anzenkirchen,Landmetzgerei Schmid – Marktl am Inn,Metzgerei Alber – Passau,Metzgerei Kroiss

OBERPFALZ

Parsberg,Romantikhotel »Hirschen« – Regensburg,»Wurstkuchl« – Neumarkt,Hotelgasthof Wittmann

FRANKEN

Nürnberg,Gasthaus »Zum gulden Stern«, »Bratwursthäusle«, Spielzeugmuseum, Metzgerei Gehring – Nürnberg-Katzwang,Metzgerei Freyberger – Fürth,»Rollende Metzgerei« – Cadolzburg,Landmetzgerei List – Leonrod,Metzgerei Weinländer – Ansbach – Gefäll – Möhrendorf,»Der Dorfmetzger« – Rittersbach,Metzgerei Böbel – Thalmässing,Metzgerei Lederer – Würzburg,Bratwurststand Silvia Kling – Riedenheim,Metzgerei Weid – Geiselwind,»Murrmann«-Denkmal – Ochsenfurt,Kurt Pregnitzer – Bamberg,Metzgerei Alt, Wurstfabrik Fischer – Himmelkron,Metzgerei Pöhlmann – Coburg – Kronach,Metzgerei Kraus – Bad Berneck,Metzgerei Leipold – Zell im Fichtelgebirge,Dorfmetzgerei Hoffmann – Trebgast,Metzgerei Friedrich

SCHWABEN

Augsburg,Fleischerschule – Steindorf,Landmetzgerei Glas – Memmingen,Metzgerei Dauner, Metzgerei Kleiber – Bad Irsee,Biomarkt – Reisch/Landsberg,Metzgerei Lechle

BADEN-WÜRTTEMBERG

Weinheim,Naturin Viscofan GmbH – Crailsheim,CDS Hackner GmbH – Stuttgart,Metzgerei Bless – Schopfloch,Fleischerei Dietz – Furtwangen,Metzgerei Braun – Schwäbisch Hall – Friedrichshafen,Fleischerei Nagel – Balzheim – Ulm,Metzgerei Hörmann – Böblingen,Deutsches Fleischermuseum – Haigerloch,»Schwanen-Hotel« – Hailfingen,Metzgerei »Zum Hirsch« – Waibstadt,Metzgerei Baumeister

Oberbayern

HEILE WELT & GUTE WÜRSTE

»Wenn’s bayrisch Bier regnetund Bratwürstel schneibt,dann bitten wir ’n Herrgott,dass’s Wetter so bleibt.«

Meine Wurstreise durch Oberbayern beginnt in der Landeshauptstadt München, die wie kaum eine andere Stadt in Deutschland mit einer bestimmten Wurst verbunden ist. Der Legende nach hat die Weißwurst im Herzen von München am 22. Februar 1857 das Licht der Welt erblickt. Ihr Erfinder war ein Münchner Gastwirt und gelernter Metzger, Sepp Moser. Er hatte am Marienplatz die Gaststätte »Zum ewigen Licht« gepachtet, damals ein beliebter Brotzeitort der Droschkenkutscher. Da die Wirtschaft unter Arkaden ziemlich im Dunkeln lag, musste dort immer ein Licht brennen, welches für den doppeldeutigen Namen sorgte. Mögen ihr spezieller Geburtsort und das ewige Licht der Weißwurst zur Unsterblichkeit verhelfen!

Heute ist der Ort gegenüber dem Münchner Rathaus leider recht trostlos. Vor der schmucklosen Allerweltsfassade des heutigen Geschäftshauses gibt es zwar eine Kochfigur, die vom Typus eher einem französischen Koch ähnelt, und eine Inschrift »The Birthplace of Weißwurst Anno 1857«, die auch nicht gerade bayerisch klingt. Eine würdigere Stätte der Erinnerung hätte diese für München identitätsstiftende Wurst schon verdient. Am Faschingssonntag 1857 sollen im »Ewigen Licht« eine besonders große Menge von Kalbsbratwürsten hergestellt worden sein, um die vielen Gäste zu verköstigen, die zum Frühschoppen erwartet wurden. Als dennoch die Schafsdärme ausgingen, behalf sich der Wirt in seiner Not mit großkalibrigeren Schweinedärmen. Weil er befürchtete, dass die Haut beim Braten aufplatzen könnte, soll er die Würste nur in heißem Wasser gebrüht haben – die Weißwurst war geboren. Sie kam angeblich so gut an, dass Sepp Moser sein Experiment wiederholt und das Brät, mit Kräutern verfeinert, zur Münchner Spezialität weiterentwickelt haben soll. Ausgerechnet der ehemalige Leiter des Münchner Stadtarchivs, Richard Bauer, stellt diese Geschichte infrage. Die Münchner Weißwurst könne nicht als Neuschöpfung oder aus der Not geborene vergrößerte Bratwurst angesehen werden, sie sei lediglich die Variante einer viel älteren und dereinst längst bayernweit hochgepriesenen Wurstspezies. Nämlich der der Altmünchner »Maibock-Wurst«, die laut Bauer »in der Bocksaison zu Tausenden und Abertausenden verschlungen wurde. Ihre Hauptingredienzien waren Kalbs- und Schweinsbrät und möglichst viel Grünzeug. Sie war schon immer in weite Schweinsdärme abgefüllt, wurde vor dem Verzehr in heißes Wasser geworfen und im Lokal in großen irdenen Töpfen warmgehalten.«

Eine frische Weißwurst ist ein Genuss, auch nach zwölf, wenngleich das früher nicht gestattet war.

Bis heute gilt die traditionelle Regel, dass die Weißwurst spätestens beim Zwölf-Uhr-Läuten verzehrt sein muss. Ursache hierfür ist, dass die Weißwurst zumindest früher aus drei Teilen noch schlachtwarmem zarten Kalbfleisch und einem Teil zähem Speck bereitet wurde. Dazu kamen, nachdem alles geschlegelt und sehr fein gewolft wurde, nur etwas Salz, Pfeffer und früher Wasser, heute Eisschnee, bevor alles gekuttert und mithilfe einer Wurstspritze in Schweinedärme abgefüllt wurde. Die Würste bleiben im Gegensatz zu Wiener Würstchen oder Bockwürstchen weiß, weil bei ihnen kein Nitrit-Pökelsalz, sondern nur einfaches Kochsalz verwendet wird. Beim Brühen neutralisiert sich der Fleischfarbstoff Myoglobin, weshalb das Fleisch seine spezifische helle und nur leicht grauweiße Farbe annimmt. Mit Pökelsalz dagegen stabilisiert sich das Myoglobin und die Wurst erhält ihre spezifische rötliche Fleischfarbe. Pökelsalz hat gegenüber Kochsalz den Vorteil, die Haltbarkeit zu verlängern. Die frischen Weißwürste waren daher früher ohne Kühlung schon wenige Stunden nach der Produktion nicht mehr so schmackhaft, heute dagegen kann man sie sorglos auch noch viel später verzehren. Nur noch aus Tradition wird diese Zwölf-Uhr-Vorschrift weiter beachtet. Doch es gibt noch eine zweite ökonomische Erklärung für den Frühverzehr der Weißwürste. Sie waren bei Handwerkern eine beliebte Brotzeit für das zweite Frühstück. Bevor die einen höheren Umsatz bringenden Mittagsgäste die Gastwirtschaften füllten, sollten die Handwerker ihre Plätze wieder freigeben, und auch die Vermischung der einfachen Leute mit den »gehobenen Kreisen« sollte tunlichst vermieden werden. Die kurze Haltbarkeit der Weißwürste war also zugleich ein sehr willkommener Vorwand, um höheren Profit zu erzielen.

Zuzeln oder schneiden? An dieser Frage scheiden sich die Weißwurstgeister, die an der jeweiligen Verzehrart gleich noch den Bayern vom Nichtbayern zu unterscheiden vermögen.

Nicht nur die Frage nach dem Wann, auch die nach dem Wie spielt bei der Weißwurst eine große Rolle: Am richtigen Zuzeln einer Weißwurst kann man angeblich einen Bayern vom Nichtbayern unterscheiden, heißt es. Beim Zuzeln wird die Wurst von Hand gegessen, indem man die Haut nur an einer Kopfseite einschneidet und unter Zuhilfenahme der Zähne lustvoll das Brät in den Mund einsaugt. »Zuzel« wird in Bayern auch der Schnuller genannt; wenn ein Kind an der Milchflasche oder am Busen zuzelt, ist das immer auch ein sehr lustvoller Vorgang. Insofern ist das Zuzeln und Mit-den-Händen-Essen auch eine besondere bayerische Reminiszenz an die ödipale Phase. Aber auch die feinere Art mit Messer und Gabel will gelernt sein. Am gebräuchlichsten ist der sogenannte Kreuzschnitt, bei dem die Weißwurst längs und quer aufgeschnitten wird und die entstehenden vier Viertel sauber mit der Gabel von der Wursthaut getrennt werden. Angeblich gibt es Bayern, die den Kreuzschnitt so geschickt diagonal anwenden, dass auf dem Teller vier exakt gleiche Rauten in Form des bayerischen Wappenmusters übrig bleiben.

Immer noch wird die Weißwurst als regionales Erzeugnis betrachtet: entweder als rein Münchner Produkt, mindestens aber als bayerisch-süd-deutsches, obwohl die Weißwurstproduktion und auch der -konsum diese Grenzen längst überschritten haben. Michael Spitzauer, der oberste Lehrer der 1. Bayerischen Fleischerschule in Landshut und als solcher ausgewiesener Weißwurstexperte, erzählte mir von seiner Jurorentätigkeit bei einem Wurstwettbewerb mit weltweiter Beteiligung im Rahmen der Internationalen Fleischermesse in Frankfurt. Es war eine Blindverkostung mit fünfzig Wurstsorten, hauptsächlich Wiener Würstchen, Frankfurter in allerlei Variationen, dazu Münchner Weißwürste, Nürnberger und Thüringer Bratwürste. Sogar eine Fischwurst war dabei, mit einem Anteil Fisch und einem Anteil Schweinefleisch. Wer die Würste jeweils eingesandt hatte, war den Juroren unbekannt, sie bekamen nur die Wurstbezeichnung mitgeteilt und mussten dann ihre Wertung abgeben. Für den Münchner wenig überraschend, war der Favorit eine Weißwurst. Allerdings stammte die nicht aus München, ja noch nicht einmal aus Bayern, sondern aus Japan.

Man sieht, die Weißwurst ist weder geografisch noch historisch leicht zu fassen. Dem großen Gourmet Carl Friedrich von Rumohr (1785–1843), Kunsthistoriker und Goethe freundschaftlich verbunden, wird immer wieder zugeschrieben, er habe in Hamburg eine sehr feine Weißwurst gegessen. Rumohr starb 1843, also etliche Jahre vor jenem legendären Faschingssonntag in der Münchner Wirtschaft »Zum ewigen Licht«. Und weil ich gerade über den Münchner 8 : 0-Heimspiel-Erfolg gegen den HSV gelesen habe, wozu die Süddeutsche Zeitung am 27. Februar 2017 lobend titelte: »Der Vorwurschdler. Thomas Müllers kuriosestes und bestes Saisonspiel«, denke ich, die Hamburger Weißwurst könnte eigentlich die »Vorwurschdlerschaft« vor Bayern München für sich in Anspruch nehmen. Zuletzt rühmte sich etwa der Hamburger Spitzenkoch Michael Weißenbruch, eine Weißwurst nach der Vorgabe von Rumohr kreiert zu haben. Laut einem Artikel vom 28. Februar 2017 in der Welt wurde der historischen Hamburger Weißwurst im 19. Jahrhundert der feinsalzige Laich von Elb-Lachsen zugemischt, sogenannter Keta-Kaviar. Im Allgemeinen, so wurde Rumohr in dem Artikel zitiert, halte er es zwar für einen Fehler, das Fleisch von Land- und Meeresgetier zu vermengen. Doch die »scheinbar geckenhafte Veredelung des Wurstbräts stellt einen Gaumenschmaus besonderer Güte dar«. Mit großem Eifer habe ich immer wieder den »Geist der Kochkunst« von Rumohr gelesen, aber nie einen Nachweis für diese Stelle finden können. Doch es gibt noch andere Quellen, die nahelegen, dass Weißwürste schon vor der Münchner Geburtsstunde existiert haben müssen. In der Sagensammlung von Ludwig Bechstein aus dem Jahr 1853 berichtet dieser von einer Gespenstergeschichte, die sich 1654 in Schleiz zugetragen haben soll. Ein Gespenst namens Rungele trieb dabei allerlei Schabernack: »Als der Schuster ein Speckschwein schlachten ließ und die Würste in die Stube auf Stroh gebracht wurden, nahm Rungele eine Weißwurst und legte diese dem Fleischhauer gleich einer Krause um den Hals.« 

Der Verlauf des Weißwurstäquators

Ebenso umstritten wie die Geburtsstunde der Weißwurst ist der Grenzverlauf des Weißwurstäquators. Wer sich näher über diese Kontroverse informieren möchte, dem sei der Sammelband »Letzte Fragen« der langjährigen taz-Redakteurin Barbara Häusler empfohlen. Sie hat dort höchst unterhaltsame Leserzuschriften zusammengestellt, die auch die Problematik anreißen, ob Franken nun zu Bayern gehört und ob sich Deutschland nicht ohnehin nur in Preußen und Bayern unterteilen ließe. Gemeinhin wird der Weißwurstäquator mit der Donau gleichgesetzt, aber das Weißwurstmuseum befindet sich in Neumarkt in der Oberpfalz, und es regierten auch schon mal drei Fränkinnen in Folge als Weißwurstköniginnen. Bayern hat also in Sachen Weißwurst-Integration gute Referenzen, hin und wieder aber gibt es doch Zoff. So war gerade zu lesen, dass die niederbayerische Fleischerinnung »Arber Land« zum 160. Geburtstag der Weißwurst ins Münchner Traditionslokal »Donisl« einladen wollte. Sie hatte die Initiative für diese Jubiläumsfeier ergriffen, da in Niederbayern gerade die neue Bayerische Weißwurstkönigin Luisa I. gekrönt worden war. Diese sollte eigentlich im Zentrum der Feier im »Donisl« stehen, doch daraus wurde nichts, weil angeblich von Münchner Seite eine Durchmischung der Regionen beim Thema Weißwurst nicht erwünscht sei. Bevor die Sache eskalierte, wurde zur Klärung ein runder Tisch beschlossen. Wahrscheinlich kommt ein ähnlich salomonisches Urteil zustande wie 2009 nach dem verlorenen Rechtsstreit um den geografischen Schutz der Weißwurstgrenze. Das Bundespatentgericht hatte als letzte Instanz, ganz im Gegensatz zu dem erfolgreichen Alleinstellungsmerkmal der »Nürnberger Bratwurst«, die geschützte geografische Angabe für die »Münchner Weißwurst« abgelehnt. Jeder Metzger auf der Welt darf nun »original Münchner Weißwürste« produzieren und unter diesem Namen verkaufen. Das Gericht begründete sein Urteil damit, dass es nach Vorgabe des Europäischen Gerichtshofes beim Markenschutz auf die aktuellen Marktverhältnisse ankomme, und es sei eben so, dass der Großteil der Weißwürste außerhalb Münchens produziert werde. Dieses Urteil und die Freigabe der Münchner Weißwürste für Produzenten in aller Welt scheinen mir zwar in Japan angekommen, aber noch längst nicht in allen deutschen Provinzen. Aus Angst vor einem Rechtsverstoß las ich sehr häufig bei den Weißwurstangeboten von außerbayerischen Erzeugern die Aufschrift »Weißwurst nach Münchner Art« und hörte immer wieder, dass man bei einer anderen Bezeichnung mit schweren Strafen zu rechnen habe. 

Die Metzgerzeile am Münchner Viktualienmarkt

2015 feierte die berühmte Münchner Metzgerzeile ihren 700. Geburtstag. Sie liegt im Herzen der Altstadt unterhalb des »Petersbergls«, einer kleinen Erhebung, die von der Peterskirche mit ihrem bekannten Turm, dem »Alten Peter«, bekrönt wird. Kaiser »Ludwig IV. der Bayer« verbannte 1315 die Fleischhauerstände vom nur wenige Schritte entfernten Marienplatz, wo durch das Nebeneinander der Schlachter, Fleischhauer und des allgemeinen Marktbetriebs schreckliche Hygieneverhältnisse geherrscht haben müssen. Doch die Stadt wuchs schnell, und die Choleraepidemie von 1866 führte dazu, dass 1878 ein kommunaler Schlacht- und Viehhof in der Nähe der Isar-auen eingerichtet wurde. Die ehemaligen Fleischbänke wurden zur heutigen Metzgerzeile umgebaut und auch das übrige Marktgeschehen verlagerte sich an die Stelle des heutigen Viktualienmarkts: Fleisch und Wurst waren gewissermaßen die Keimzelle für das jetzige Feinschmecker-Eldorado. Schon damals herrschte das Prinzip »Konkurrenz belebt das Geschäft« und bis heute tut das enge Nebeneinander der acht fast demokratisch gleichdimensionierten Traditionsbetriebe dem Geschäft keinen Abbruch. Den Anfang der Zeile macht seit vierzig Jahren die Metzgerei Rudolf Maier, die vor allem durch ihre besondere Münchner Kalbsbriesmilzwurst bekannt ist. Dann kommt die Metzgerei Klobeck, zu deren Besonderheiten auch Pfälzer Saumagen und allerlei niederbayerisches Schwarzgeräuchertes zählen.

Die Metzgerzeile am Viktualienmarkt

Der dritte Laden ist die Metzgerei Wöhrmüller, in dritter Generation geführt und im Besitz eines noch größeren Ladengeschäfts in der Schwabinger Hohenzollernstraße. Hier gibt es Stockwürste, eine Wurstsorte, die früher sogar verbreiteter war als die bayerische Weißwurst. Es gibt nur noch wenige Metzger, die sie überhaupt herstellen. Stockwurst ist nur minimal kleiner, aber etwas dicker als die Weißwurst. Bei ihr fehlt die Petersilie, dafür bekommt sie durch die Zutat von Muskat ein nicht weniger interessantes Aroma. Sie enthält weniger Fett und mehr Rindfleisch, weshalb man sie auch nicht zuzeln kann. Vor der Massentierhaltung war Rindfleisch wesentlich preiswerter als Schweinefleisch. Längst hat sich dieses Verhältnis aufgrund des Überangebots an Schweinefleisch umgekehrt, was den Niedergang der Stockwurst erklärt. Bei Wöhrmüller gibt es noch jede Menge weitere weiße Wurstwaren, man findet hier die »Weiße im Ring« von ähnlicher Größe wie Lyoner, dazu weiße Bratwürste, hautlose grauweiße Wollwürste, weißen Leberkäse, Kalbskäse und -bratwürste, die weiße fränkische Stadtwurst, weißen Presssack und Gelbwürste. Außerdem eine scharfe Merguez nach marokkanischen und französischen Rezepturen fehlt nicht.

Der vierte Laden ist seit 2000 in der Nachfolge des Traditionsbetriebs der Familie Schweyer in der Hand von Johannes Leistl und Werner Müller. Der Geheimtipp: wunderbarer Bison-Leberkäse. Nebenan bei der Metzgerei Schäbitz (seit über 200 Jahren bestehend) wird ein »Bison Stangerl« neben anderen luftgetrockneten Würsten als Spezialität angeboten. Eine weitere Besonderheit stellen die ungebrühten Weißwürste dar, die wirklich frisch verzehrt werden müssen. Der sechste Laden führt die Bezeichnung »Markt Metzger«, dahinter verbirgt sich ein Weilheimer Landmetzger, der vor allem wegen der hochwertigen Fleischqualität (von Murnau-Werdenfelser Rindern und Simmentaler Fleckvieh aus dem bayerischen Voralpenland) gerühmt wird. Der vorletzte Laden ist seit über dreißig Jahren in der Hand von der aus dem fränkischen Schwabach stammenden Marianne Rühl. Der Sohn betreibt heute das Münchner Geschäft. Täglich kommen die fränkischen frischen Würste aus Schwabach; die Bratwürste, die ja ganz frisch zubereitet werden müssen, produziert Rühl in dem winzigen Hinterzimmer mit einer kleinen Wurstmaschine nach einem Originalrezept der Urgroßmutter. Dabei verwendet er keine fertigen Wurstmischungen, sondern würzt nur mit frischen Kräutern aus dem fränkischen Knoblauchland.

Georg Schlagbauer ist Inhaber des achten Geschäfts der Metzgerzeile. Seine »Weiße im Ring« finde ich besonders schmackhaft. Das Fleisch seiner Produkte stammt aus mit dem Neuland-Gütesiegel versehenen Zuchtbetrieben. Neuland, zu dessen Mitbegründern der ehemalige Präsident des deutschen Tierschutzbundes, Wolfgang Apel, zählte, ist eine Arbeitsgemeinschaft vom Deutschen Tierschutzbund, der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft und dem Bund für Umwelt und Naturschutz, der inzwischen über 200 Betriebe angehören, die sich vor allem der artgerechten Tierhaltung verpflichtet fühlen. Georg Schlagbauer war Präsident der Handwerkskammer für München und Oberbayern, Landesinnungsmeister und stellvertretender Bundesinnungsmeister des Fleischerverbandes. Als Mitglied des Münchner Stadtrats brachte er es zum Wiesn-Stadtrat, einem der begehrtesten und angesehensten Ämter, die München zu vergeben hat. Man prophezeite Schlagbauer in der CSU eine große politische Zukunft, in Bayern sind schließlich Viehhändler und Metzger von alters her prädestiniert für höchste politische Ämter. Man denke nur an den Metzgersohn Franz-Josef Strauß oder den CSU-Mitbegründer und kernigen Bundestagsabgeordneten Franz Xaver Unertl, dessen Name heute nur noch als schmackhafte Weißbiersorte bekannt ist. Im Juni 2016 trat Schlagbauer allerdings wegen einer Drogen- und Rotlichtaffäre von allen Ämtern zurück. Jetzt kann man ihn wieder selbst hinter der Theke antreffen. Bei meinem letzten Besuch betrat ein junger afghanischer Flüchtling den Laden und kaufte zwei Leberkässemmeln, die er genüsslich mit Senf verzehrte. Der nächste Kunde, ein waschechter Bayer in Tracht, bestellte sich eine Kalbskäsesemmel auf die Hand. Welch verkehrte und tolerante Welt in Schlagbauers Metzgerei: Der Bayer isst Kälbernes und der Moslem Schweinernes.

In den Läden der Metzgerzeile findet man auch noch traditionelle Münchner Sorten wie die Stockwurst, aber auch viele fränkische Spezialitäten.

In unmittelbarer Nachbarschaft zu den kleinen Parzellen der Metzgerzeile findet sich auch eine Filiale von Vinzenzmurr in dreifacher Größe. Vinzenzmurr beherrscht heute den Wurst- und Fleischmarkt im Großraum München. Gab es in München in der Nachkriegszeit noch über 3000 Metzgerbetriebe, sind es heute noch knapp hundert, davon etwa ein Drittel Vinzenzmurr-Filialen. In Relation zu anderen Schlachthöfen, wo bis zu 100 000 Schweine pro Tag geschlachtet werden, gilt der Münchner Schlachthof als ein relativ kleiner Betrieb. »Nur« circa 6500 Schweine werden hier in der Woche verarbeitet, auch Vinzenzmurr betreibt hier die Tötung und Zerlegung der Tiere, die zumindest zum Teil von ausgewählten Zuchtbetrieben aus dem näheren Umland stammen. Vinzenzmurr ist ein Paradebeispiel dafür, wie aus einem ursprünglich kleinen handwerklichen Betrieb, gegründet 1902, durch unternehmerischen Geist und Modernisierung über vier Generationen ein kleines Imperium mit über 270 Einzelfilialen entstanden ist. Vinzenzmurr pflegt dennoch das Image eines handwerklichen Betriebs, ist Innungsmitglied und zählt zu den höchstdekorierten Wursterzeugern Deutschlands. 2012 stellte das Kreisverwaltungsreferat bei Kontrollen Hygienemängel fest, die mit Bußgeldern belegt wurden. Als vorbildlich gilt das Unternehmen in der Ausbildung. Vinzenzmurr zahlt seine Lehrlinge übertariflich und hat ein zusätzliches betriebsinternes Weiterbildungsprogramm, unter anderem mit Kochkursen. Eines der größten Probleme der gesamten Branche besteht darin, qualifizierten Nachwuchs zu finden, was auch zur bedrohlichen Rate von fast fünf Prozent an jährlichen Betriebsschließungen in Deutschland beiträgt. Vielleicht bleibt bei dem anhaltenden Metzgersterben am Ende nur Vinzenzmurr übrig, und der Reim in einem Lied der »Biermösl Blosn« wird vollends Realität: »In Minga is a gsunde Struktur, unser Metzger is der Vinzenz Murr.« 

Die singenden und springenden Metzger von München

In der Nähe meiner Wohnung liegt die Altperlacher Gaststätte »Gasthof zur Post«. Dort vernahm ich einmal einen lauten Disput über die qualitative Überlegenheit der Wurst im sächsischen Vogtland gegenüber der bayerischen. Ich mischte mich in das Gespräch ein und es stellte sich heraus, dass allesamt Mitglieder des Münchner Metzgerchors waren. Als Franz Mittermüller, der sich mir als Vorsitzender des Vereins der Sängerrunde München vorstellte, erfuhr, warum ich mich für Würste interessierte, versuchte er sofort, mich als neues Chormitglied anzuwerben. Nach kurzem Zögern sagte ich zu und man stimmte mir zu Ehren den Refrain aus dem »Loblied auf die Metzgerzunft« an: »Was nutzt schon das schönste Schwein, Hammel, Stier und Öchselein, wenn sie noch am Leben sind, gibt’s kein Fleisch, das weiß ein Kind. Nur der Metzger helfen kann. Flink fängt er die Arbeit an. In der Wurstküch’ hebt sodann ein gar eifrig Werkeln an. Morgens, wenn der Tag anbricht, wird das Fleisch schon hergericht’; wird gesotten und gemengt, bis die Wurscht am Schnür’l dranhängt.«

Dann wurde mir erzählt, welch große Ehre es früher bedeutet habe, Mitglied dieses Chors zu sein. Nach einem strengen Auswahlsystem wurden nur Meister aufgenommen, erst später konnten ausnahmsweise auch Gesellen beitreten, vorausgesetzt, sie hatten herausragendes Gesangstalent. Der Metzgerchor war zu seiner Blütezeit mit über 65 Mitgliedern einer der angesehensten und größten Handwerkerchöre Münchens. Heute sind es nur noch um die zwanzig, im Alter zwischen siebzig und achtzig. Man befürchte, so erfuhr ich, dass bald schon der Zeitpunkt komme, wo man mit dem Chor der Metzgerinnen eine Fusion eingehen müsse. Für Leute, die seit über fünfzig Jahren in einem Männerchor singen, eine schwer zu verkraftende Vorstellung. Aber unterschwellig scheint mir das Problem auch in Statusfragen zu bestehen, denn die »Meistersinger« würden dann mit den Wurstfachverkäuferinnen auf eine Ebene gestellt.

Der Metzgersprung ist ein Höhepunkt des Brauchtums in der bayerischen Landeshauptstadt. Alle drei Jahre findet er am Fischbrunnen vor dem Rathaus statt.

Eine Tradition, die indes nicht gefährdet scheint, ist der Brauch des Metzgersprungs, den es in München seit dem 16. Jahrhundert gibt. Der Sage nach sollen nach Beendigung der großen Pestepidemie von 1517 die Metzger zusammen mit den Schäfflern singend durch Münchens Straßen gelaufen sein, um den Menschen wieder Mut zu machen und die Rückkehr aus der Isolation in den öffentlichen Raum und Alltag einzuleiten. Nach Ende des Umzugs sprangen alle in ausgelassener Stimmung zu einem gemeinsamen Bad in den Fischbrunnen vor dem Münchner Rathaus. Daraus entwickelte sich angeblich der Brauch, der schon bald mit dem Freisprechungsritual der Lehrlinge und Gesellen verbunden wurde.

Der Metzgersprung wurde zum Initiationsritus der Lehrlinge, die nach Abschluss ihrer Ausbildung sich von ihren Jugendsünden als eine Art Taufritual frei waschen konnten. Heute organisiert die Innung diesen Brauch nur noch alle drei Jahre mit einem großen Aufzug, der mit einer Messe in der Handwerkskirche, dem »Alten Peter«, mit Gesangseinlagen des Metzgerchors beginnt, dem ein Umzug durch die Stadt folgt. Im Beisein des Oberbürgermeisters und des Innungsmeisters erfolgt die Freisprechung. Die mit Kalbs- und Lammschwänzen behangenen Lehrlinge springen im Anschluss daran in den Fischbrunnen, um sich ausgelassen noch gegenseitig mit Kübeln voller Wasser zu überschütten. 

Die »Gordischen« aus Haidhausen:Metzgerei Vogl

Kein anderer Metzger in München scheint so viele Verehrer zu haben wie Ignaz Vogl in der Steinstraße in Haidhausen. Als ich ihn zum ersten Mal aufsuchte, wurden mir die Gründe seiner Beliebtheit sofort klar. Vom ersten Moment an war er einem mit seinem warmherzigen und so wachen Blick, seiner offenen Ausstrahlung und dem immer leichten Lächeln in den Mundwinkeln sympathisch. Und die Würste, die ich probierte, waren exzellent, mit einem intensiven natürlichen Aroma, angenehm ausgewogen gewürzt und richtig lecker. Bei einer Tasse Kaffee hinter dem Ladenbereich erzählte er mir, er und sein Bruder Josef hätten die Metzgerei vom Vater übernommen und seien gleichberechtigte Inhaber. Mir schien, dass Ignaz Vogl mehr die Rolle des Kommunikators und Lebenskünstlers innehatte und sein jüngerer Bruder Josef, den alle »Beppe« nennen, der stille Handwerker ist, der im Hintergrund an der Qualität der Vogl-Würste feilt.

Ignaz Vogl (links, im Bild mit Johann Ludwig Gildein) hat sich seine »Gordischen« patentieren lassen. Um die beiden Würste miteinander zu verschlingen, muss er eine bestimmte Wurftechnik anwenden. Die Metzgerei in der Steinstraße hat Kultcharakter in München.

Zu den originellsten Geschichten, die Ignaz Vogl mir erzählte, gehörte die Erfindung eines »Gordischen Würstchens«. Die Vorgeschichte ist selbst schon recht verknotet: Der Haidhausener Künstler und Bildhauer Johann Ludwig Gildein wollte nach einer Beziehungskrise keine beleidigte Leberwurst spielen, sondern die Trennung von seiner Freundin mit einer symbolträchtigen Aktion begehen. Seine Herzdame war Vegetarierin und aktive Feministin gewesen, und es kam einfach so viel zusammen, dass am Ende eine Wurst in Form eines Gordischen Knotens erdacht, von Vogl gefertigt und anschließend vom Künstler durchtrennt wurde.

Am 15. Juni 2003 beschlossen die beiden bei einem sehr feuchtfröhlichen Zusammensein, die Gordischen Würste weiterzuentwickeln und marktfähig zu machen. Vogl und Gildein haben dafür unter dem Aktenzeichen 302012053928.9/29 die Gordische beim Deutschen Patentamt angemeldet. Im Antrag wurde dazu folgendes Alleinstellungsmerkmal festgehalten: »Das herausstechende Merkmal der Gordischen ist der in sich symmetrisch verschlungene Wurststrang, für den eine ähnliche Wurftechnik angewandt wird wie bei der Herstellung der Münchner Brezn.« 

Das Fest der Würste

Alle zwei Jahre betreibt Vogl einen Wurststand auf der »Oidn Wiesn«, dem Traditionsbereich des Münchner Oktoberfests. Es ist der jährliche Höhepunkt dieser besonderen Form von »Liberalitas Bavariae«, bei der nicht nur alle Münchner Gesellschaftsschichten an einem Tisch in Wurst, Musik und Bier versinken, sondern die ganze Welt sich feuchtfröhlich vereint. Zuckerwatte, Würste, gebrannte Mandeln buhlen um die Gunst der Massen. Würste werden zum Augen- und Ohrenschmaus. So manche Wurstlieder, wie »Alles hat ein Ende« oder Grönemeyers »Currywurst-Song«, dröhnen aus den Lautsprechern. Nicht nur vom Geruch, sondern vor allem optisch locken Würste schon auf große Distanz, und das Anbeißen von einer großen gemeinsamen Wurst kann durchaus zu einem Sinnbild von Liebe und Lust verschmelzen.

Wer beim Oktoberfest eine gute Grundlage braucht, greift gerne zu einer der vielen herzhaften Würste – mit Semmel und Senf oder mit scharfer Sauce.

Das Oktoberfest ist nichts als eine große Wurst, in ihr vermengt sich alles, was die Welt zu bieten hat. Ein ganz ungewöhnliches Ende wird von einer Kuh erzählt, die am Schlachthof noch vor ihrer Verwurstung ausbüxen konnte, durch die halbe Stadt lief, einen Polizeiwagen demolierte, mehrere Jogger angriff, dann mehrfach die Theresienwiese umrundete, um schließlich hinter dem Schützen-Festzelt von vielen Polizeikugeln tödlich getroffen zu verenden. Es gibt aber auch viele komische Geschichten, die hier passiert sind. Immer wieder steht dabei die Weißwurst im Mittelpunkt. Sie ist geradezu eine Falle für alle Nichtbayern. Chinesen trinken ja bekanntlich gerne zu allem immer heißes Wasser. Mir wurde erzählt, dass an einem Biertisch ein Chinese seine in einer Terrine mit heißem Wasser servierten Weißwürste in Stücke schnitt, den Senf hineinrührte und das Ganze dann genüsslich auslöffelte. Die Wiesn ist auch jährlicher Austragungsort für Weißwurst-Wettbewerbe und allerlei Wettessen. Weißwürste erscheinen aber auch in Form von allerlei Devotionalien, Hüten, Anstecknadeln und Souvenirs. 

Weißwursteis aus der Maxvorstadt: »Der verrückte Eismacher«

In jeder echten Weißwurst steckt Wasser, zunächst gefroren und später in der Konsistenz des Wurstbräts aufgegangen. Vom Altbürgermeister Thomas Wimmer ist in diesem Zusammenhang der legendäre Ausspruch überliefert: »I hob dafür gsorgt, dass immer mehr Wasser in de Isar und weniger in de Weißwürst neigflossn is.« Eigentlich ist es ja ein ganz naheliegender Gedanke: Wenn in der Wurst Eis drin ist, müsste man doch aus der Wurst selbst auch wieder ein Eis zum Schlecken machen können. Matthias Münz, Erfinder dieser Kreation, startete mit einer Eisdiele in der Münchner Amalienstraße. Hier tritt er auf wie ein Magier: Er trägt Zylinder, greift mal zur Gitarre und singt seinen Kunden etwas Komisches vor, mal fährt er mit dem Hochrad vorbei oder er erschafft groteske Eisskulpturen. Bei »Conchita Wurst« zum Beispiel illustriert ein in Schokolade gestecktes Wienerle nebst zwei zweideutigen Eiskugeln das Genderspiel. Ständig probiert er Neues, ständig erlebt man Überraschendes. Das ist vielleicht auch das Geheimnis der endlos langen Warteschlangen, in die ich mich beim ersten Kontaktversuch einreihen musste. Er war schon nicht mehr da und zu meinem Unglück das Weißwursteis gerade ausverkauft. Ich bestellte daher eine Kugel Grünkohleis. Meine Geschmacksknospen leisteten zunächst etwas Widerstand, doch dann entfaltete sich auf meiner gekühlten Zunge tatsächlich das intensive Kohlaroma. Später traf ich den verrückten Eismacher an seinem neuen Stand am Viktualienmarkt und erzählte ihm von meinem Wurstprojekt und den zusätzlichen Kilos, für die es auch ohne das Weißwursteis schon gesorgt habe. Er empfahl mir eine Eisdiät, durchaus eine ernsthafte Alternative, um wirkungsvoll abzuspecken, wie er meinte. Eine Kugel Eis habe durchschnittlich 100 Kalorien, anstelle einer Pizza könne man leicht 15 Kugeln Eis essen. Zucker sei aber immer dabei, selbst beim Weißwursteis. »Beim Weißwursteis hab ich erst mal viel rumprobiert. Bei den ersten Versuchen hat ein Löffel so intensiv geschmeckt, als hätte ich sieben Würste auf einmal im Mund«, erzählt er. Weißwurst und Eis gehen aus seiner Sicht gut zusammen: »Erstens enthält die Weißwurst Zucker und zweitens wird sie mit süßem Senf gegessen!« Meine Frage, ob er auch schon mal vegetarisches Wursteis probiert habe, verneint er. Aber Pferdewurst habe er schon mal verarbeitet, die gibt‘s ja auch auf dem Viktualienmarkt, wo es nichts gibt, was es nicht gibt. »Das Eis mit PS haben wir für eine Oldtimermesse in Fürstenfeldbruck gemacht, das passte irgendwie zum Thema und war sehr lecker.«

Der »verrückte Eismacher« empfängt seine Kunden mit Zylinder. Dass Weißwürste und Eis geschmacklich ganz gut zusammengehen, davon konnte er auch mich überzeugen.

Wie seine Verkäuferinnen trägt Matthias Münz ein T-Shirt mit der Aufschrift »Leck mich«. Darauf hab ich aber gerne verzichtet und mir stattdessen nach dem Weißwursteis auch noch ein normales Pistazien- und Schokoladeneis gegönnt. Nun verstehe ich erst recht, warum die Leute bei ihm Schlange stehen. Die Münchner Universität sollte ernsthaft prüfen, ob sie nicht ähnlich wie die Universität im mittelitalienischen Gubbio auch eine Fakultät für die Eiswissenschaften gründen könnte. 

Das »Conchita-Wurst-Eis« ist eindeutig zweideutig. Und neben dem Eis am Stiel ohne Kalorien, das den Namen »Fastenzeiteis« trägt, lauern natürlich die Kalorienbomben.

Großes Münchner Wursttheater

Immer wenn ich in München das stattliche Künstlerhaus am Lenbachplatz passiere, muss ich an Wilhelm Busch denken. Es wurde auf Initiative der Münchner Künstlergesellschaft Allotria gegründet, der unter anderem die großen Münchner Malerfürsten Lenbach, Kaulbach, Stuck sowie der Karikaturist Wilhelm Busch angehörten. Kaum einer weiß es, aber Wilhelm Busch verbrachte wichtige Jahre seines Lebens in München. Hier studierte er, war Mitbegründer der Künstlergruppe »Jung München«, die unter dem Motto »Pfui Teufel ist das Leben schön« einen Stammtisch samt »Kneipzeitung« unterhielt. Eine Wurstgeschichte aus dieser »Kneipzeitung« sollte Buschs Verhältnis zu München ganz entscheidend beeinflussen. In »Kurzes Referat über die kurzen Würste des Herrn Lang« nimmt er unverhohlen seinen Studienfreund, den Schlachten- und Pferdemaler Heinrich Lang, aufs Korn. Unter anderem heißt es hier: »Das Leben ist kurz, die Wurst ist lang; aber noch kürzer als das Leben ist eine Wurst im Vergleich mit der menschlichen Gefräßigkeit, obschon diese letztere eigentlich keine Kunst ist. «