"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!" - Meinhard Saremba - E-Book

"... es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!" E-Book

Meinhard Saremba

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Beschreibung

Clara Josephine Schumann (1819–1896) und Johannes Brahms (1833–1897) verband eine über vierzig Jahre währende Freundschaft, die ab 1853 unterschiedliche Phasen der Intensität durchlief. Brahms unterstützte Clara Schumann in Krisenzeiten, die sie während des Verlusts ihres Mannes Robert und durch den frühen Tod einiger ihrer Kinder durchlebte; sie wiederum beriet ihn in finanziellen und künstlerischen Fragen. Im Zentrum ihres Wirkens stand für beide immer die Musik: ihre Kompositionen und das Repertoire, für das sie sich als ausübende Künstler gegen viele Widerstände engagierten. Im Laufe ihres für die damalige Zeit überdurchschnittlich langen Lebens waren Clara Schumann und Johannes Brahms unmittelbar an der Entwicklung der Musikszene im 19. Jahrhundert beteiligt – einer Phase, in der sich die grundlegenden Mechanismen des heutigen Kulturbetriebs entwickelten. Ihr Leben lang standen Clara Schumann, die Pianistin, und Johannes Brahms, der Komponist, der sogenannten »Musik der Zukunft« der Kreise um Brendel, Liszt und Wagner kritisch gegenüber. Ihre Lebensspanne reicht von Beethoven und Robert Schumann bis zu den ersten Sinfonien von Gustav Mahler, von den Gemälden der Nazarener bis zu Böcklin und den frühen Werken von Klimt, von E.T.A. Hoffmann bis zu Theodor Fontane. Und in Brahms' Todesjahr publizierte Thomas Mann seine erste Novelle.

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Meinhard Saremba

»… es ist ein zu starker Contrastmit meinem Inneren!«

Clara Schumann, Johannes Brahmsund das moderne Musikleben

Erste Auflage 2021

© Osburg Verlag Hamburg 2021

www.osburgverlag.de

Alle Rechte vorbehalten,

insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags

sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme

verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Bernd Henninger, Heidelberg

Korrektorat: Mandy Kirchner, Weida

Umschlaggestaltung: Judith Hilgenstöhler, Hamburg

Satz: Hans-Jürgen Paasch, Oeste

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-95510-259-3

eISBN 978-3-95510-267-8

»Das Vergangene ist niemals tot. Es ist nicht einmal vergangen.«

William Faulkner (Requiem for a Nun)

»Warum glückt es dir nie, Musik mit Worten zu schildern?Weil sie, ein rein Element, Bild und Gedanken verschmäht.Selbst das Gefühl ist nur wie ein sanft durchscheinender Flußgrund,Drauf ihr klingender Strom schwellend und sinkend entrollt.«

Emanuel Geibel (Distichen, XXXVII;zitiert nach: Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen,3. Auflage, Leipzig 1865, S. ix)

Inhalt

Ein Wort zuvor …

1 Freunde und Feinde fürs Leben (1850–1856)

Erste Annäherungsversuche·Gefangen in Zeit und Raum·In der Welt zu Hause·Ungarn an der Elbe·In der Fremde·Kultur an der Leine·Zwischen Effekt und Sinngebung·Positionsbestimmungen·In der Höhle der Löwen·Unschönes und Erbauliches·Geistige Anregungen·Eine politische Rheinwanderung·Meriten, Musik und Merkantiles·Liebe auf den ersten Ton·Die Bürde der Anerkennung·Der Kampf um die Thronfolge·Melancholie mit Wahn, schöne Schwermut

2 Lange Schatten (1856–1859)

Ein Chaos von Gedanken·Mündliches nebst Schriftlichem·Schmerzen und Todessehnsucht·Ausweg mit Sinn·Selbstbesinnung und neue Ziele·Eine verschleierte Sinfonie·Kunst mit Etikette·Musikalische Erlustigung und Divertierung·Eine liebenswürdige Freundin

3 Kultur-Kriege (1859–1862)

Künstlerwürde und Disziplin·Schlachtfelder der Intellektuellen·Das Faustsche Dilemma·Wohin soll man sich wenden?·Konkurrierende Avantgarden·Im Auge des Hurrikans·Kunst und Ideologie·Die Affäre Grün und andere Kalamitäten·Wirklich beste Feinde – Gegenschlag mit Vorgeschichte·Paukenschläge und facettenreiche Zwischentöne·Die Ursünde der Moderne·Die Versöhnungs-Falle·Schönes und Gutes

4 Unheiliges, Leidenschaft, Trost (1862–1869)

Fluchtpunkt im Schwarzwald·Wenn es nicht gar so weit voneinander wäre·Der Unfehlbarkeits-Wahn·Treuer Künstlersinn·Zauber der Poesie·Zischen, Zorn und Enthusiasmus

5 Balsam und Gift (1869–1872)

Heirat in die Fremde·Der Kampf geht weiter·Provokationen und Konfrontationen·Die einen weinen, die anderen lachen·Wo wohnt Leben, Hoffnung und Glück?

6 Im Dienste des Dramas (1872–1878)

Zwischen Zukunftssicherung und Unabhängigkeit·Schmerzvolle Erfahrungen·Scharfe Frontlinien·Das neue Heiligtum·Getrennte Wege·Eine künstlerische Notwendigkeit·Klangethik und Zerschlagungsästhetik·Das neue liebliche Ungeheuer

7 Neue Bastionen, neue Konflikte (1878–1882)

Haarige Angelegenheiten·Widerstand gegen Pedal-Gerassel und unedle Kunst·Exorzismus und Weihe·Viel Lärm um Nationales·Sinfonische Konkurrenz·Neue Musik zum Lächeln·Fundamentalismus gegen Humanität

8 Eine intellektuelle Utopie (1882–1887)

Neue Bauten für die Kultur·Kulturpolitiker gegen Glaubenshelden·Die Anführer sterben, die Bewegung lebt weiter·Eine neue Moderne·Spaltung, Reformen und neue Tendenzen·Die sinfonische Tetralogie

9 Das Erbe der Poesie (1887–1891)

Versöhnungsmusik·Besorgniserregende Wende·Wenn’s richtig kracht, ist’s ordentlich·Verborgene Schönheiten entdecken·Ein kulturelles Vermächtnis·Letzte Beifallsstürme

10 Das teuer bezahlte schöne Glück (1891–1897)

Leidenschaft statt Mätzchen·Es wird immer leerer·Das letzte Duell·Finale Plaudereien·Der trauernde Genius·Eine interessante Krankheit

Literaturhinweise und Anmerkungen

Zeittafel

Bildnachweis

Danksagung

Personenregister

Ein Wort zuvor …

Menschen der heutigen Zeit würden sich in der Welt von Clara Schumann und Johannes Brahms nicht zurechtfinden. Die Organisation des Alltags, die Geschwindigkeit der Kommunikation und die Etikette der Epoche wären uns fremd. Und dennoch ist uns das 19. Jahrhundert näher, als viele glauben. Wenn ein Journalist noch im März 2019 die Geigerin Hilary Hahn in einer Schlagzeile als »Prophetin der Extreme«1 tituliert, verwendet er eine der Benennungen, die denen jener Presseschreiber vergleichbar sind, die Clara Schumann einst die (von Liszt eher spöttisch gemeinte) Bezeichnung der hohen »Priesterin« ihrer Kunst verpassten. Manche Biographen wähnen noch im 21. Jahrhundert Brahms’ erstes Klavierkonzert »von finsterer Dämonie erfüllt« oder den Komponisten »mit Dämonen ringend«. Obwohl sie in einer Zeit arbeiten, in der die Wissenschaft noch viel zügigere Fortschritte erzielt als im 19. Jahrhundert, wählen sie schablonenhafte Phrasen über »das Schicksal«, das man »gnädig« walten sehe, und »schicksalhafte« Themengestalten in der Musik.2 Formulierungen dieser Art kamen zweihundert Jahre zuvor auf, als Zeitschriften und Bücher über Musik und Musiker erstmals populär wurden. Der Epoche entsprechend verwendete natürlich auch Clara Schumann derartige Begriffe, wenn sie in ihren Briefen vom »Schicksal der Kinder«3 sprach oder Brahms von »jenen Tagen«, in denen »Großes, Erschütterndes – Erhebendes« geschah.4 Allerdings sollten diese augurenhaft-esoterischen Phrasen heutzutage kein Maßstab mehr für die Betrachtung der Welt sein. Clara Josephine Schumann (1819–1896) und Johannes Brahms (1833–1897) haben im Laufe ihrer über vierzig Jahre währenden Freundschaft sowohl erschütternde als auch erfreuliche Erfahrungen gemacht, die keineswegs von metaphysischen Kräften beeinflusst wurden. Durch persönliche Erlebnisse und ihren Freundeskreis waren sie mit den Grenzen sowie dem Erkenntnisgewinn der modernen Medizin vertraut und sie erlebten die Weiterentwicklungen der künstlichen Lichtquellen von Kerzenschimmer und Gasbeleuchtung über die Petroleumlampe bis zur Glühbirne. Zudem nutzten sie immer fortschrittlichere Fortbewegungsmittel, die dazu beitrugen, lange Distanzen zunehmend schneller zu überwinden. Nicht zuletzt bereicherten sie das sich im Aufbau befindliche Editionswesen. Eine Zeitreise zu ihnen würde man sich dennoch besser nicht wünschen, denn zu fremd wären uns ein Dasein mit eingeschränkten Verkehrsverbindungen oder auch der Möglichkeit, öffentliche Hinrichtungen zu besuchen, ein Leben ohne elektrischen Strom, Telefon und Supermärkte; zu unvertraut die unterschiedlichen Währungen und Zeitzonen in den deutschsprachigen Ländern, die Ausdrucksweisen, Bekleidungsetiketten, Verhaltensregeln und Hierarchien sowie die Art, auf den einzelnen gesellschaftlichen Ebenen zu kommunizieren.

Clara Schumann und Johannes Brahms bewegten sich virtuos durch diese Welt, inmitten eines Mahlstroms von Ereignissen, die sie nur peripher mitgestalten konnten, aber auf die sie zu reagieren wussten, um den ihnen eigenen Platz zu finden. Ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten bildeten sich heraus durch ihre Herkunft, Begegnungen mit prägenden Menschen und im Austausch mit ihren Freunden und Feinden. Im Zentrum ihres Wirkens stand für beide immer die Musik: ihre Kompositionen und das Repertoire, für das sie sich als ausübende Künstler engagierten.

Im Laufe ihres für die damalige Zeit überdurchschnittlich langen Lebens waren Clara Schumann und Johannes Brahms unmittelbar an der Entwicklung der Musikszene im 19. Jahrhundert beteiligt – einer Phase, in der sich die grundlegenden Mechanismen und Polarisierungen des modernen Kulturlebens herausbildeten. Beide repräsentieren in der Epoche der zunehmenden Spezialisierung die unterschiedlichen Pole des Konzertlebens: Sie als reproduzierende Künstlerin, er in erster Linie als produzierender Künstler. Die Pianistin Clara Schumann gab das Komponieren nach dem Tode ihres Mannes Robert auf; ohnehin war für sie das für professionelle Komponisten unabdingbare Lesen von Partituren »nicht leicht, dazu brauche ich Zeit«, wie sie an Brahms schrieb.5 Über ihn hieß es in der Presse seinerzeit: »Herr Brahms ist ein besserer Komponist als Virtuos.«6 Beide engagierten sich für von ihnen geachtete Künstler ihrer Zeit. Sie verstanden zudem, dass sie gemeinsam auf den Schultern von Riesen tanzten, deren musikalische Traditionen sie nicht vollends negieren konnten. Deswegen leisteten sie wesentliche Beiträge, um in ihren Konzerten und durch eine rege Herausgebertätigkeit den nächsten Generationen große Musik zu überliefern. Dadurch stellten sie sich bewusst gegen die Kreise der selbsternannten »Neudeutschen Schule« um Brendel, Liszt, Wagner und ihrem Alleinvertretungsanspruch sowie ihrer ideologisch aggressiven, antisemitischen und antiliberalen Ausgrenzungspolitik.

An ihren letzten Wohnorten erlebten Clara Schumann und Brahms noch mit, wie die Opern- und Konzertsäle der Zukunft Gestalt annahmen: Im Oktober 1880 wurde das – heute für Konzerte genutzte – Opernhaus in Frankfurt eröffnet und 1890 lagen in Wien bereits erste Pläne zu einem neuen Haus für Musikfeste vor, das als Mehrzweckbau breite Bevölkerungsschichten ansprechen sollte als Ergänzung zu dem nahe gelegenen traditionsreichen Wiener Musikverein: dem heute nicht minder geschichtsträchtigen Wiener Konzerthaus.

Durch ihre Freundschaft, die ab 1853 unterschiedliche Phasen der Intensität durchlief, standen Clara Schumann und Brahms in einem regen Austausch über private, politische und kulturelle Entwicklungen: Ihre Lebensspanne reicht von Beethoven und Robert Schumann bis zu den ersten Sinfonien von Gustav Mahler, von den Gemälden der Nazarener bis zu Böcklin und den frühen Werken von Klimt, von E. T. A. Hoffmann bis zu Theodor Fontane und Thomas Mann, der in Brahms’ Todesjahr seine erste Novelle publizierte. In dieser Phase veränderte sich auch die Landkarte Europas dramatisch.

Spannender als die Spekulationen darüber, wie weit die Beziehung von Clara Schumann und Johannes Brahms ging, erscheint es mir, ihre Karrieren vor dem Hintergrund der familiären, gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnisse zu betrachten. Sie spiegeln die Grundlagen, aus denen sich der heutige ›Kulturbetrieb‹ entwickelt hat. Zu dieser Entwicklung gehören unter anderem die Aufspaltung in ›ernste‹ Musik und Unterhaltungsmusik (zu der Brahms auch Beiträge lieferte), der konfliktreiche Wandel vom Adel zum Bürgertum als Kulturförderer (Clara und Johannes pflegten entsprechende Kontakte und wirkten in beiden Sphären) sowie die Verbesserung der Infrastruktur (die den Zugang zu Kulturveranstaltungen vereinfachte, aber auch bessere Reisemöglichkeiten bot und den beiden heimatlos gewordenen Protagonisten viele Ortswechsel ermöglichte). Hinzu kommen die Herausbildung eines ›Kanons‹ durch vermehrte Rückbezüge auf Künstler früherer Generationen (z. B. Bach-Renaissance, Werkeditionen, Musikbücher unterschiedlichster Art) und die spannungsreichen, teilweise erbitterten Auseinandersetzungen über ästhetische Grundsätze (›Liszt- gegen Schumann-Schule‹, ›Neudeutsche‹ gegen ›Klassizisten‹ usw.). Nicht zuletzt gewinnt damals die Musikpublizistik zunehmend an Bedeutung (was bei der Cliquen- und Meinungsbildung wichtig wird), die Entwicklung von der Selbstorganisation hin zum professionellen Musikmanagement und die Etablierung neuer Orchester, Ensembles und Säle (was auch Folgen für die Gestaltung von Kompositionen hatte).

Für eine differenzierte Betrachtung darf nicht nur allein von Musik die Rede sein. In der Musikwissenschaft und -journalistik ist es leider zur Gewohnheit geworden, bis heute diffamierende Klischees der Kreise um Brendel, Liszt, Wagner & Co. zu übernehmen, das Wirken ihrer Zirkel als das allein seligmachende zu betrachten und andere Strömungen lächerlich zu machen. Erst die zusätzliche Berücksichtigung von parallelen kulturellen und gesellschaftspolitischen Geschehnissen ermöglicht es, Vorkommnisse besser einzuordnen. Es liegt am Leser einzuschätzen, inwiefern die Polarisierungen, denen Clara Schumann und Johannes Brahms ausgesetzt waren, die jeweilige Persönlichkeit prägten, und inwiefern sie Gestalter und nicht Getriebene der kulturellen Entwicklungen wurden. So komplex viele Tendenzen in der Musik, Kultur und Politik des 19. Jahrhunderts waren, ist es dennoch unumgänglich, maßgebliche Entwicklungsstränge zur Verdeutlichung pointiert darzustellen. Der Wink mit dem Zaunpfahl ist nicht nötig, um Parallelen zu den folgenden Jahrhunderten zu verdeutlichen, denn viele Assoziationen drängen sich einfach von selbst auf.

Eine markante Orientierung zur Darstellung der Ereignisse bietet eine Äußerung von Brahms in einem Brief an den Dirigenten Hermann Levi: »Wo man lebt, lebt man alle Verhältnisse mit, und es ist eine Einbildung, wenn man glaubt, sich aussuchen zu können was einem gefällt.«7 Das intensive künstlerische und kulturpolitische Engagement von Clara Schumann und Johannes Brahms führte zu Konflikten: Bedeutsam ist die Diskrepanz zwischen dem Privatleben und dem Mitgestalten des Kulturlebens. Gerade das Familienleben und die enge Freundschaft mit Brahms – »den ich auf Reisen gar zu schwer vermisse« – waren für Clara Schumann »die beste Erholung und Stärkung zu neuen Kämpfen, denn solche sind es vor jedem Concert, wo ich vor das Publikum muß – es ist ein zu starker Contrast mit meinem Inneren!«.8 Clara Schumanns Aussage trifft durchaus auch auf ihren Freund Johannes Brahms zu, der keineswegs mit der Attitüde des genialischen Künstlers das Rampenlicht suchte, sondern vielfach lieber im Stillen wirkte.

Auch auf die Gefahr hin, einer unbotmäßigen Kumpanei bezichtigt zu werden, ist es zuweilen leserfreundlicher, im Text einfach nur die Vornamen der beiden Protagonisten zu verwenden. Bezüglich des weiblichen Vornamens erscheint es sinnvoll, anstelle der von Robert Schumann bevorzugten deutschen Schreibweise »Klara« durchgehend das von ihr selbst genutzte »Clara« mit »C« zu setzen (es sei denn, in den Quellen steht es anders: in einem Brief aus der Anfangszeit der Freundschaft, als Brahms noch unter dem Einfluss beider stand, schrieb selbst er an Joseph Joachim zunächst von »Frau Clara«, um dann wenige Zeiten später den Namen als »Frau Klara« zu notieren9).

Alle Zitate sind entsprechend der Schreibweise in der Quelle übernommen. Die Patina von Formen wie »demüthig« oder »werth« erinnert stets daran, dass Clara und Johannes keine Menschen von heute sind, sondern ein ferner Spiegel. Im Laufe der Jahre sind umfangreiche Brief- und Quelleneditionen erschienen. Zudem gibt es die Erinnerungen von Zeitgenossen sowie Publikationen von Autoren und Herausgebern wie Joseph Victor Widmann (1842–1911), Max Kalbeck (1850–1921), Richard Heuberger (1850–1914), Berthold Litzmann (1857–1926), Florence May (1845–1923) und Andreas Moser (1859–1925), die Clara, Johannes und ihren Freundeskreis noch persönlich gekannt haben. Selbst wenn ihnen mitunter vorgeworfen wurde, sie hätten manches »beschönigt«, »bearbeitet« oder aus der »bloßen Erinnerung an Gespräche ohne Zeugen« wiedergegeben – beispielsweise traf Litzmann für seine Bücher eine von den Töchtern abgesegnete Auswahl aus Claras Tagebüchern, bevor diese dann von ihnen vernichtet wurden –, so würde der bibelfeste, aber ungläubige Brahms sicherlich sagen: Alles, was in diesen Quellen zitiert wird, ist authentischer als das Alte und das Neue Testament. Und über Kalbeck äußerte Clara gegenüber Johannes, er sei jemand, dem man »vollkommen vertrauen könne«.10 Um die Vergangenheit lebendig werden zu lassen, bleibt uns immer eine Verbindung von biografischer Wahrscheinlichkeit, Zeugenaussagen und historischen Quellen. Mit ihrer Hilfe kann man einen Blick in den fernen Spiegel werfen.

1Freunde und Feinde fürs Leben (1850—1856)

Erste Annäherungsversuche · Gefangen in Zeit und Raum · In der Welt zu Hause · Ungarn an der Elbe · In der Fremde · Kultur an der Leine · Zwischen Effekt und Sinngebung · Positionsbestimmungen · In der Höhle der Löwen · Unschönes und Erbauliches · Geistige Anregungen · Eine politische Rheinwanderung · Meriten, Musik und Merkantiles · Liebe auf den ersten Ton · Die Bürde der Anerkennung · Der Kampf um die Thronfolge · Melancholie mit Wahn, schöne Schwermut

Ich kann es mir wohl denken, daß Leute, die mich nicht kennen, mich für exaltiert halten können.11

Clara Schumann

Das öffentliche Lob, das Sie mir spendeten, wird die Erwartung des Publikums auf meine Leistungen so außerordentlich gespannt haben, daß ich nicht weiß, wie ich denselben einigermaßen gerecht werden kann.12

Johannes Brahms

Erste Annäherungsversuche

Es ist nicht zuverlässig überliefert, ob der 16-jährige Johannes Brahms die Konzerte der 30-jährigen Clara Schumann besuchte, als sie im März 1850 in seiner Heimatstadt Hamburg gastierte. Für ihn war es nicht die erste Gelegenheit, die berühmteste Pianistin Europas – damals gleichbedeutend mit der ganzen Welt – zu erleben. Als sie 1835 und 1837 in der alten Hansestadt auftrat, war er noch zu jung; aber 1840 und 1842 hätte sich bei einer ihrer Tourneen in Norddeutschland durchaus die Gelegenheit geboten. Johannes war den Umgang mit Musikern von Jugend an gewohnt: Er selbst hatte bereits von seinem Vater den ersten Geigenunterricht erhalten, bevor er ab seinem siebten Lebensjahr Klavier spielte. Einer der Größten ihrer Zunft unmittelbar zu begegnen, war für viele angehende Künstler eine gewaltige Inspiration. Johannes stammte wie Clara aus einer Musikerfamilie, allerdings keiner wohlhabenden. Sein Vater war zwar mittlerweile vom Unterhaltungsmusiker an der Alster zum Kontrabassisten im Orchester aufgestiegen, dennoch wären Eintrittskarten wahrscheinlich zu kostspielig gewesen. Schon als Jugendlicher war Johannes zu stolz, seine Verbindungen in Musikerkreisen zu nutzen, um Freikarten zu ergattern – ein Grundsatz, dem er sein Leben lang treu blieb. Den Kompositionen Robert Schumanns, die Clara immer wieder in ihre Programme einschmuggelte, stand er damals äußerst skeptisch gegenüber. Seine sieben Jahre ältere Jugendfreundin Louise Japha, die er beim Klavierüben in der Pianofortefabrik Schröder in der Katharinenstraße kennengelernt hatte, schwärmte ihm von den fantasievollen, poetischen Klavierstücken des in Zwickau geborenen Sachsen vor. Doch der von dem Hamburger Komponisten und Pädagogen Eduard Marxsen geschulte Johannes fand keinen Zugang zu den in Klavierkapriolen flirrenden Papillons und Carnaval. »Bach und Beethoven waren seine obersten Götter«, erinnerte sich Louise Japha, »meine Schumann-Schwärmerei konnte er nicht teilen. Als ich ihm eines Tages entzückt Paradies und Peri und den schönen Anfang des ersten Peri-Gesanges ›Wie glücklich sie wandeln, die seligen Geister‹ zeigte, wies er das kurz ab mit der Bemerkung, es sei unrichtig, mit dem Septimenakkord anzufangen.«13

Als Lehrmeister war Eduard Marxsen für Johannes ebenso bedeutsam wie Friedrich Wieck für seine Tochter Clara. Marxsen bewunderte nicht nur die Klassiker, sondern schätzte zudem die Musik von Franz Schubert außerordentlich. Er besaß einen weiten Horizont und beschäftigte sich auch mit sinfonischen Arbeiten.14 Als Johannes fünf Jahre nach Louise Japha dann 1843 erstmals selbst vor Publikum auftrat, bestand sein Repertoire aus dem Klavierpart in Beethovens Bläserquintett op. 16 und einem der beiden Mozartschen Klavierquartette; hinzu kam als einziges Stück eines zeitgenössischen Künstlers eine Etüde von Henry Herz, einem komponierenden Klaviervirtuosen, dessen Werke auch Clara bis in die 1840er-Jahre in ihrem Repertoire behielt. Für Robert Schumanns Geschmack war Musik dieser Art zu seicht, Clara hingegen sah als Interpretin auch in der leichteren Muse eine Herausforderung, zumal sie selbst gelegentlich Präludien und Fugen, Tänze, Variationen, Piècen und Romanzen komponierte.

Als angehende Pianistin wollte sich zumindest Louise Japha im Frühjahr 1850 das Hamburger Gastspiel Clara Schumanns nicht entgehen lassen. Möglicherweise nutzte sie eine der Soireen im Rahmen des Besuchs, um die namhafte Künstlerin persönlich darauf anzusprechen, ihrer Ausbildung den letzten Schliff zu verleihen. An dem Abend im Hause des Spiritus Rector des Hamburger Musiklebens, Theodor Avé-Lallemant, mag Johannes die Schumanns persönlich erlebt haben. Allerdings blieb in den spärlichen Berichten unerwähnt, ob er mit seinem Vater oder Marxsen dort war. »Er hatte damals keinen großen Kreis musikalischer Freunde«, versicherte Louise Japha, »war meist auf seinen Lehrer angewiesen und wollte mir nicht glauben, wenn ich ihm versicherte, er gehe einer großen Zukunft entgegen.«15 An Brahms gibt es eine späte Erinnerung der damals siebenjährigen Tochter des Hausherrn, Charlotte Nölting, geborene Avé-Lallemant, die einen flüchtigen Moment schildert: »Er stand verlegen an unserem Flügel, jung wie ein Primaner aussehend, mit langem Haar. Mein Vater hatte ihn Schumann vorgestellt.«16 Da die Beteiligten später nie mehr Bezug auf dieses Ereignis nahmen, muss die Begegnung zu flüchtig gewesen sein, um Eindruck zu hinterlassen. Was hätten die Schumanns auch mit einem fast 17-jährigen Eleven inmitten des gesellschaftlichen Trubels anfangen sollen? Zudem sah Johannes jünger aus und war von seinem Status her kaum mehr als ein höfliches Zunicken wert.

Am Samstag, dem 16. März 1850, fand der erste Auftritt der Gäste beim 78. Konzert der Hamburger Philharmonischen Gesellschaft im Apollo-Saal an der Großen Drehbahn statt. Dies war die regelmäßige Auftrittsstätte, bis 1853 der Conventgarten in der Fuhlentwiete gebaut wurde. Clara Schumann galt als Liebling der Hamburger: Sie hatte sich ihren Ruhm in einer mittlerweile 20-jährigen Pianistinnenlaufbahn erworben und auf den Plakaten seit zehn Jahren den Zusatz »geborene Wieck« einfügen lassen, damit jeder wusste, dass man einen gern gesehenen Gast erlebte. Auf den Namen Schumann war sie indes sehr stolz: »Clara Schumann – oh, welch ein Name wundersüß!«, hatte sie einst ihrem Robert geschrieben.17 In dem wie seinerzeit üblich langen, gemischten Programm spielte sie Mendelssohns Variations sérieuses op. 54 und unterstützte ihren Mann als Interpretin seines Klavierkonzerts. Robert Schumann leitete das Orchester und stellte auch die Ouvertüre zu seiner Oper Genovevavor, die drei Monate später in Claras Geburtsstadt Leipzig uraufgeführt werden sollte. Seine Musik wurde mehr mit Respekt als Zuneigung aufgenommen. Falls Johannes nicht selbst dabei war, wird ihm Louise von dem Abend vorgeschwärmt haben. Sie und seine Familie ermunterten ihn auch, den Schumanns eigene Kompositionen vorzulegen. Im Hotel der namhaften Gäste am Jungfernstieg gab er ein Bündel mit seinen Manuskripten ab, in der Hoffnung, einen Kommentar, eine Rückmeldung, zumindest eine Empfangsbestätigung zu erhalten. Immerhin weilten die Schumanns längere Zeit in Hamburg. Zwei Tage nach dem großen Konzert gab Clara eine Soiree zusammen mit dem Hafner-Quartett, bei der sie das Klavierquintett ihres Mannes sowie seine Variationen für zwei Klaviere vortrug. Ihr Partner war Otto Goldschmidt, der Gatte ihrer Freundin, der Sopranistin Jenny Lind. Der Opernstar erschloss sich erst ganz allmählich den Liedgesang, aber da die gefeierte Sängerin zumeist mehr Konzertbesucher anlockte als Soloauftritte von Clara – vor allem, wenn sie Roberts Werke ansetzte – traten die beiden Künstlerinnen am 21. und 23. März noch gemeinsam auf.

Von den anregenden Erlebnissen war Louise Japha so begeistert, dass für sie endgültig feststand: Sie musste bei Clara Schumann in Düsseldorf ihre pianistische Ausbildung vervollkommnen. Johannes hingegen war entmutigt: Das berühmte Künstlerpaar ließ das Päckchen mit den Jugendwerken eines Unbekannten ungelesen an den Absender zurückgehen.

Gefangen in Zeit und Raum

Die Umwege, die Clara und Johannes zunächst gingen, machten später das intensive Kennenlernen und die lebenslange Freundschaft erst möglich. Jeder hatte für sich ausreichend Erlebnisse gesammelt, um den anderen daran teilhaben zu lassen, und es hatten sich Grundhaltungen herausgebildet, die den gemeinsamen Weg durch das weitere Leben bestimmten. Dreieinhalb Jahre nach der flüchtigen Begegnung in Hamburg mag Johannes den Schumanns von dem jugendlichen Versuch der Kontaktaufnahme erzählt haben. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, denn als Clara ihn zum ersten Mal im November 1854 in der alten Hansestadt besuchte, erinnerte er in einem Brief zur Reisevorbereitung daran, er kenne das Hotel von damals: »Sie wohnen im Viktoria-Hotel am Jungfernstieg, ich behauptete schon in Düsseldorf, Sie hätten daselbst früher gewohnt, sehen Sie ich habe recht!«18

Jedoch erschien anfangs illusorisch, dass man sich überhaupt jemals wieder so nahekommen sollte wie im Frühjahr 1850. In künstlerischer Hinsicht spielten die Schumanns in einer völlig anderen Liga als jeder andere, der in Hamburg ein Instrument beherrschte. Die wirklich hochbegabten Hanseaten hatten es andernorts zu etwas gebracht: Felix Mendelssohn Bartholdy in Berlin und Leipzig sowie Carl Reinecke im Rheinland und später in Leipzig. Die Schumanns kamen aus Sachsen, arbeiteten aber seit September 1850 in Düsseldorf. Dies war für einen namenlosen Musikanten aus dem Norden ohne Kontakte in der Musikszene eine nahezu unüberwindliche Distanz, zu der sich noch persönliche und praktische Hindernisse gesellten. Johannes selbst war nicht aufdringlich. Er wurde immer wieder auf die Schumanns verwiesen und letztlich eher zu ihnen hingeleitet, als dass er den Berühmtheiten nachstellte. Zudem war das Reisen nicht nur mit hohen Kosten verbunden, sondern auch mit verkehrstechnischen und politischen Hindernissen. Johannes Brahms wurde schon in die Ära einer neuen Infrastruktur hineingeboren; hingegen hatten Robert und Clara Schumann den bisher größten Teil ihres Lebens in einer Epoche zugebracht, in der man selbst auf langen Strecken beschwerliche Kutschfahrten auf sich nehmen musste. In den Genuss der neuen Dampfeisenbahn kam man vorerst nur auf vereinzelten, kurzen Nebenstrecken wie etwa ab 1835 zwischen Nürnberg und Fürth, 1838 zwischen Potsdam und Berlin sowie 1844 zwischen Altona und Kiel. Bis das Grundkonzept eines deutschen Eisenbahnsystems, wie es dem Nationalökonomen Friedrich List vorschwebte, auch nur halbwegs Gestalt annehmen konnte, sollte mindestens eine weitere Dekade vergehen. Clara Schumann war seit ihrer Jugend mit Lists Töchtern befreundet und erlebte die Schwierigkeiten sowie die Versuche, sie zu bewältigen, unmittelbar mit. Eindringlich schilderte beispielsweise der spätere Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke, wie er auf dem Weg zur Leipziger Ikone Mendelssohn von Grasbrook in Hamburg zunächst mit einem Dampfboot auf der Elbe stromaufwärts bis Magdeburg fahren musste, was von 8 Uhr morgens bis zum übernächsten Tag um 3 Uhr nachmittags dauerte. Erst von dort konnte er die 1840 fertiggestellte Zugverbindung nach Leipzig nehmen. Bei Geschwindigkeiten von bis zu 65 Stundenkilometern bei Dampfwagen wie »Adler« und seiner Schwestermaschine »Pfeil« sowie mehreren Haltestationen dauerte die Reise etliche Stunden; ab den 1890er-Jahren fuhren Lokomotiven im Personenverkehr in Deutschland und Österreich schneller als 100 Stundenkilometer. Reinecke erschien das Tempo, mit dem man auf den Schienen dahinrollte, »geradezu märchenhaft«.19 Bei der Einrichtung dieser Verbindung gab es ein grundsätzliches Problem, das für Clara Schumann und Johannes Brahms weit über die Hälfte ihres Lebens hinweg Alltag war: die Kleinstaaterei der deutschsprachigen Länder. Die Magdeburg-Leipziger Eisenbahn-Gesellschaft entwarf eine Strecke, die mehrere Hoheitsgebiete berührte, denn neben den Königreichen Preußen (Magdeburg, Halle) und Sachsen (Leipzig) durchquerte sie auch das Herzogtum Anhalt-Köthen. Jeder Grenzübertritt bedeutete Passkontrollen, andere Währungen, andere Preise, andere Mentalitäten und andere Uhrzeiten. Bis kurz vor ihrem Lebensende kannten Clara und Johannes deutschsprachige Gebiete nur mit unterschiedlichen Zeitzonen, denn bis 1893 änderte sich die Ortszeit von West nach Ost pro Längengrad um eine Minute. Signalisierte die Turmuhr in Düsseldorf 12 Uhr mittags, war es in Baden-Baden bereits 12:07 Uhr, in Hamburg 12:12 Uhr und in Berlin 12:27 Uhr. Um Missverständnisse bei Empfängen und Konzertbesuchen sowie Verspätungen und Zusammenstöße der öffentlichen Verkehrsmittel zu vermeiden, erschien eine einheitliche Zeitregelung dringend erforderlich. Eine Einigung lag trotz des Ausbaus der Fernverbindungen allerdings in weiter Ferne – noch viele Jahrzehnte musste man in Kauf nehmen, dass durch das Ortszeitensystem die kostbare Taschenuhr mitunter schon beim Überqueren der Stadtgrenze zwei Minuten falsch ging. Gegenüber Clara meinte Johannes einmal, er sei »ein etwas altmodischer Mensch« und »kein Kosmopolit«, sondern eher jemand, der »wie an einer Mutter« an seiner »Vaterstadt hänge«.20 Kein Wunder, dass es die Familie Brahms nicht in die Ferne zog.

In der Welt zu Hause

Johannes Brahms besaß während seines ganzen Lebens, also in fast 64 Jahren, mit Hamburg und Wien nur zwei dauerhafte feste Hauptwohnsitze. Selbst wenn der Kettenraucher und Schlemmer so alt geworden wäre wie Clara Schumann, hätte ihn nichts und niemand mehr aus Wien fortlocken können. Clara hingegen lebte im Laufe ihrer Lebenszeit von über 76 Jahren in sechs sehr unterschiedlichen Städten: Leipzig, Dresden, Düsseldorf, Berlin, Baden-Baden und Frankfurt am Main. Das Ehepaar Schumann verbrachte nach der Eheschließung 1839 zunächst fünf Jahre zusammen in Claras Geburtsort Leipzig. Ihr Mann Robert versuchte nach einem Umzug in die sächsische Hauptstadt Dresden sechs Jahre lang vergeblich, dort bei einem Orchester oder Opernhaus eine feste Anstellung zu ergattern. Als Ende 1849 ein entsprechendes Angebot aus Düsseldorf kam und das Amt des Städtischen Musikdirektors winkte, zogen beide im September 1850 ins Rheinland.

Clara Schumanns Konzerttätigkeit war bis dahin die zuverlässigste Einkommensquelle der Familie. Von ihrem Ruhm, den sie sich ab dem zwölften Lebensjahr als Tochter des namhaften Klavierpädagogen Friedrich Wieck erspielt hatte, konnte sie noch neun Jahre nach der Namensänderung zehren. Bereits als junges Mädchen hatte sie einen Radius von Breslau bis Paris und von Hamburg bis Wien. In den Ehejahren beeindruckte sie bei Konzerten von Königsberg bis Köln und von Norderney bis Elberfeld sowie bei Auslandsauftritten in Kopenhagen, Mitau, Riga, Dorpat, Wien, Brünn, Prag, Sankt Petersburg und Moskau. Robert Schumann, der Komponist, stand meistens nur als ihr Anhängsel abseits, während seine Frau als begnadete Künstlerin gefeiert wurde. Seine eigene Hoffnung auf eine Pianistenlaufbahn hatte er schon zehn Jahre zuvor aufgeben müssen: Damals trainierte er wie besessen und traktierte seine Hände mit einem mechanischen Übungsgerät, das einzelne Finger zurückhalten sollte, um sie gezielt zu stärken. Allerdings waren – wie er notierte – taube Finger, »unendlichste Schmerzen im Arm« und eine »Erlahmung« der rechten Hand die Konsequenz.21

Auch wenn bei ihr zwanzig Jahre lang mit einer anderen Technik alles gut gegangen war, hätte dies Clara eine Mahnung sein können, wie verletzlich und empfindlich die Handmuskulatur ist. Aber sie stellte keinerlei Verbindungen zwischen der Methodik ihres Mannes und den oft lange anhaltenden Muskelkontraktionen her,22 die auch die Folge einer neurologischen Erkrankung wie der fokalen Dystonie sein konnten.23 Notgedrungen verlegte sich Robert vom Interpretieren auf das Entwerfen von Musik. Dadurch beeinträchtigte er Claras Konzertvorbereitungen, denn solange er in seinem Zimmer neue Sinfonien und Sonaten ersann, durfte sie im Haus nicht Klavier spielen. Ihre Reisemöglichkeiten beschnitt Robert, da kaum ein Jahr verstrich, in dem er sie nicht schwängerte. Sie als gläubige Protestantin betrachtete ihrerseits eine ansehnliche Kinderschar allerdings auch als ›Segen Gottes‹. Während der Komponist Arthur Sullivan in den Tagebüchern sich einer Beischlafbuchführung befleißigte, um mit seiner Partnerin die exakte Woche einer unbeabsichtigten Zeugung ermitteln zu können, pflegte Robert Schumann diese Methode wahrscheinlich, um zu kontrollieren, in welchem Rhythmus er Claras erfolgreichere Karriere aussetzen konnte. Aus zehn Gravitäten in nur 13 Jahren gingen acht Kinder hervor, von denen eines im Säuglingsalter verstarb. Jede Lebensstation war damit verknüpft: In Leipzig kamen Marie (1841) und Elise (1843) zur Welt; in Dresden Julie (1845), Ludwig (1848), Ferdinand (1849) und der mit nur 16 Monaten verstorbene Emil (1846); in Düsseldorf Eugenie (1851) und Felix (1854).

Clara war vorgewarnt. Kurz vor der Eheschließung bereitete der Zwanzigjährigen Sorgen, sie könne »als Künstlerin vergessen« werden.24 Roberts schriftliche Antwort hätte sie eher beunruhigen sollen, als er schrieb: »Warte, wie ich Dir die Künstlerin vergessen machen will – denn das Weib steht doch höher als die Künstlerin.«25 Doch mit ihrem Bekenntnis »Nun, mein Leben ist Dir, nur an Dich gekettet, Du bist meine Stütze, meine Hoffnung! Deine Clara« hatte sie seine Bedingungen akzeptiert.26 Ihre Zuneigungsbekundungen entsprachen völlig dem Stil ihrer Zeit. Das Bürgertum überlieferte eine Korrespondenz voll aristokratischer Würde, denn gerade Blaublütige wie etwa die rheinische Prinzessin Elisabeth zu Wied, mit der Clara Kontakt pflegte, verwendete in ihrem Schriftwechsel Formulierungen wie »O Carl, Gott segne dich tausendmal für all’ die Glückseligkeit die Du mir ins Herz gießest, für die starke Liebe mit der Du mich an Dich gekettet hast«.27 Wie Clara hatte sie auch ihren Mann »furchtbar lieb«, war voll »demüthiger Dankbarkeit«, sagte sich »wieviel hundertmal am Tage« dann »Mein Gott, wie habe ich solches Glück verdient!« und gelobte: »O Carl, ich verspreche Dir heilig, ich will Deiner werth werden, ich will es verdienen, mit Dir Eins zu sein.«28 Eine ähnlich starke Zuneigung band Clara an ihren Gemahl, die im Ton der Epoche schwärmte, »mein Herz war erfüllt von Liebe und Verehrung für Robert, und Dank dem Himmel für das hohe Glück, womit er mich überschüttet«.29

Für ihre pianistische Laufbahn erwiesen sich die Liebe und das aufwändige Familienleben allerdings als hinderlich. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis Marie alt genug war, um ihre Mutter als Begleiterin und Organisatorin zu unterstützen. Wegen des Nachwuchses musste sich Clara zunehmend darauf beschränken, als Klavierpädagogin zu wirken. Währenddessen agierte Robert als Düsseldorfer Musikdirektor wenig erfolgreich. Es kam immer wieder zu Konflikten mit dem Konzertkomitee, weil der respektierte Komponist sich nicht als begnadeter Dirigent erwies.

Als Brahms Ende 1853 Clara Schumann näher kennenlernte, war sie eine durch die äußeren Umstände beeinträchtigte Starpianistin, Mutter von vier Töchtern und zwei Söhnen und im ersten Monat schwanger mit ihrem letzten Sohn. Da für Brahms öffentliche Auftritte als Pianist eher Mittel zum Zweck als Erfüllung waren, lockte ihn wenig von Hamburg ins Rheinland. Aber um als Künstler aus einem kulturellen Randgebiet Verbindungen zu knüpfen, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Walz zu gehen.

Ungarn an der Elbe

Für Johannes Brahms begann die Fremde bereits vor der Haustür. Das vor den Toren der alten Hansestadt gelegene Altona wurde zwar ab 1815 Teil des Deutschen Bundes, stand aber bis 1864 unter dänischer Verwaltung. An einem anderen Ende des Ortes begann man kurz nach Brahms’ Geburt damit, die Hafenanlagen vor dem Hamburger Berg, dem heutigen St. Pauli, zu erweitern, denn durch die Industrialisierung wurden Elbe, Nordsee und Atlantik zu wesentlichen Transitlinien in alle Welt. In der damaligen Geschichtsschreibung sprach man über das »in seinen Handelsbeziehungen weltbürgerliche, in seinem innersten Wesen aber kerndeutsche Hamburg«.30 Die expandierende Stadt zog viele Auswanderer auf dem Weg in die USA an. Hamburg entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum Umschlagplatz für Waren und Kulturen: Die gescheiterten mitteleuropäischen Revolutionen von 1848/49 und etliche Missernten trieben zahllose Menschen dazu, auf einem anderen Kontinent, der ausreichend Platz bot, einen Neuanfang zu wagen. Nachdem im August 1849 der Aufstand der Ungarn gegen die Habsburger fehlgeschlagen war, strömten zudem etliche der insgesamt etwa 4000 Exilanten aus Ungarn in die Hansestadt, um von dort nach jenseits des Atlantiks auszusiedeln.

In Hamburg bildete sich eine kleine ungarische Gemeinschaft, zu der auch Eduard Reményi gehörte. Er stammte aus Nordungarn, hieß aber eigentlich Eduard Hoffmann – kaum ein Name, mit dem man feurige Rhythmen aus der Region um den Balaton verbindet. Viel eher konnte er mit einem Pseudonym wie Ede Reményi den exotischen Geigenvirtuosen mimen. Er hatte eine traditionelle Ausbildung bei Joseph Böhm am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien durchlaufen, glänzte in seinen Konzerten aber auch mit den Werken verstorbener Klassiker. Zu seinen Glanznummern zählten vor allem Stücke des magyarischen Typus »nach der Art der Zigeuner«. Durch ihn erhielt Brahms, schon lange bevor er das Land je bereiste, eine frühe Prägung und ein Faible für ungarische Melodien.

Claras berühmtester Gegenpart in der Klavierkunst kam ebenfalls aus Ungarn: Liszt Ferenc, oder wie man ihn in deutschsprachigen Gefilden nannte: Franz Liszt. Er konnte ein wenig Ungarisch, war durch seine Mutter deutschsprachig aufgewachsen und beherrschte auch fließend Französisch. Als Reményi den 19-jährigen Johannes Brahms Anfang 1853 überredete, ihn als Pianist auf einer Konzerttour zu begleiten, ahnte dieser noch nicht, dass er innerhalb von nur fünf Monaten seine Feinde und Freunde fürs Leben kennenlernen sollte.

In der Fremde

Als Johannes Brahms und Eduard Reményi am 19. April 1853 aufbrachen, um »auf die Wanderschaft« zu gehen, wie es damals hieß,31 war ihnen keineswegs klar, wo und vor wem sie musizieren könnten, ja, wohin sie der Weg letzten Endes überhaupt führen würde. Ein organisiertes Konzertwesen gab es Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht. Sofern es sich nicht um Starvirtuosen à la Paganini oder Liszt handelte, sahen sich die Interpreten selbst genötigt, Kontakte zu knüpfen, geeignete Räumlichkeiten zu organisieren, ihre Auftritte anzukündigen und mitunter sogar die Karten selbst zu verkaufen. Auch für die 20 Jahre junge Clara Wieck wurden diese Prozeduren ein wichtiger Teil ihres Abnabelungsprozesses von der väterlichen Fürsorge. »Alle Briefchen (was so zum Concert gehört) muß ich selbst schreiben, Freibillette herumschicken, Stimmer, Instrumententräger besorgen und dabei studiren? Das ist ja ein wenig viel«, klagte Clara ihrem Robert; zudem nervten sie die zur Kontaktpflege unerlässlichen »vielen uninteressanten Besuche«.32 Doch auch wenn ihr Vater hoffte, sie würde mit der Selbstorganisation ihrer Auftritte scheitern und kleinlaut an die Pleiße zurückkehren, biss sich Clara durch und fand bei ihren Auftritten in Paris zuletzt Unterstützung bei ihrer Jugendfreundin Emilie List und der Sängerin Pauline Viardot-García, die sie von Gastspielen in Leipzig kannte. »Ich sehe jetzt, daß ich ohne meinen Vater auch in der Welt dastehen kann«, erkannte sie.33

Johannes ging im gleichen Alter mit dem Segen seiner Familie in die Fremde. Sein Ehrgeiz dürfte zunächst einmal darin bestanden haben, mit handfesten Ergebnissen in den Kreis der Seinen zurückzukehren. Er hatte mit Reményi vor dieser Konzerttournee nur in Hamburg und Winsen auf der Bühne gestanden. Durch gelegentliche Auftritte in der Region weckten die beiden Musiker die Aufmerksamkeit eines gut situierten Beamten namens Blume, der als Verwalter über Kontakte in einige Bezirke nördlich der damals preußischen Provinzhauptstadt Hannover verfügte. Auf seinen Rat hin steuerten sie zunächst Lüneburg, Hildesheim und Celle an. Durchaus realistisch erscheint eine Überlieferung, derzufolge Brahms es seinem Kollegen bei einer der Darbietungen ersparen wollte, seine Geige wegen des miserablen Klaviers um einen halben Ton hinabzustimmen. Stattdessen transponierte er im Konzert selbst Beethovens Violinsonate op. 30, Nr. 2 von c nach cis-Moll. Noch als reifer Künstler ließ Johannes in einem Brief an Clara die Bemerkung fallen, das »Transponieren-Lernen« halte er für eine »Übungs- und Gewohnheitssache«, denn »wer alle Tage Sänger zu begleiten hat, wird es bald lernen«.34 Bereits sein Lehrmeister Marxsen hatte ihn stets ermutigt, bedeutende Musikstücke vom Blatt in alle möglichen Tonarten zu transponieren, um dadurch technische Flexibilität zu erlangen. Allerdings dürfte dieses Improvisationstalent den wenigsten aufgefallen sein. Was hingegen ins Auge stach, waren die unterschiedlichen Temperamente. Reményi besaß das, was dem introvertierten Brahms abging: Draufgängertum und ein Talent zur Selbstdarstellung. Der Hanseat begeisterte sich dennoch sein Leben lang für die sogenannte »Zigeunermusik« und schrieb später selbst »Ungarische Tänze« und »Zigeunerlieder«. Die für Norddeutsche exotisch anmutenden Rhythmen und der Elan dieser Musik besaßen den Hauch von Freiheit – sie schien die Musik der mutigen Außenseiter zu sein. Brahms’ eigene Musik indes, die in jener Zeit entstand, erzählte von inneren Kämpfen, wie etwa die ersten Klaviersonaten oder die frühen vom Pianoforte begleiteten Gesänge für Tenor- bzw. Sopranstimme.

Für die Reiseorganisation blieb vorerst Reményi die treibende Kraft. Große Hoffnungen setzte der Magyar in ein Wiedersehen mit seinem früheren Schulfreund Joseph Joachim, der seit Jahresbeginn Konzertmeister beim Hoforchester in Hannover war. Er ahnte nicht, dass sein Begleiter Johannes Brahms ein viel interessanterer Gesprächspartner für Joachim werden würde.

Kultur an der Leine

In dem Briefwechsel, der sich bald nach der ersten Begegnung zwischen Johannes Brahms und Joseph Joachim entwickelte, spielte Reményi nur noch eine Nebenrolle. Joachim ließ lediglich Grüße ausrichten an den »lustigen Kumpan« bzw. den »Reményi barátom«, der ungarische Ausdruck für »Freund Reményi«.35 Obwohl Joseph Joachim erst 22 Jahre alt war, nahm er bereits eine bedeutende Rolle in der obersten Liga im Kulturleben der deutschsprachigen Länder ein. Sein überragendes Talent ermöglichte ihm, als Konzertmeister der Hofkapelle in Hannover auf einen der verantwortungsvollsten Posten eines Spitzenorchesters vorzurücken. Der kunstverständige König von Hannover, Georg V. – ein Cousin ersten Grades der britischen Königin Victoria –, hatte von seinem prachtvollen Schloss aus alle Weichen gestellt, um sein Reich zu einem kulturellen Zentrum auszugestalten. Er musizierte, komponierte vor allem Lieder nebst Klavierwerken und besaß dadurch reichlich Sachverstand, um die Oper sowie das Konzertwesen zu hegen und zu pflegen. Als Johannes Brahms erstmals in die Hauptstadt an der Leine kam, war gerade das neue Hoftheater auf dem Windmühlenberg eingeweiht worden. Der Bau war nicht nur doppelt so groß, sondern auch akustisch erheblich besser als das frühere Schlosstheater an der Leinstraße.

Als Reményi und Brahms durch die Vermittlung von Joachim bei Hofe musizierten, dürften sie auch mitbekommen haben, was man in der Öffentlichkeit zu verbergen suchte: König Georg selbst, der Erleuchtung durch Bildung und Kultur in sein Land bringen wollte, war blind. Als Zehnjähriger hatte der 1819 geborene Monarch sein linkes Augenlicht durch eine Krankheit und sein rechtes vier Jahre später durch einen Unfall verloren, der zu einer Starkapsel führte. Sein Vater bildete ihn dennoch zu einem fähigen Nachfolger heran und fegte Bedenken beiseite, indem er 1842 verfügte, dass bei der Unterzeichnung von Regierungsakten einfach nur vereidigte Zeugen zugegen sein müssen. Als Georg V. nach dem Tod seines Vaters im November 1851 selbst über die weiteren Entwicklungen bestimmen konnte, sorgte Seine Majestät dafür, dass allein der ansehnliche Etat des Orchesters in den folgenden 15 Jahren mehr als verdoppelt wurde. Die Anzahl der Orchestermitglieder stieg zunehmend von 48 (1850), 67 (1858), 71 (1861) auf 75 (1866) und weitere fünf Akzessisten. Zudem hatte eine Frau die Position an der Harfe inne, was seinerzeit selbst bei diesem Instrument ungewöhnlich war. Clara Schumann zeigte sich begeistert von der hohen Qualität der Hofkapelle und schrieb Joachim, »ein solches Orchester, das finden Sie doch in ganz Deutschland nicht mehr«.36 Sie kannte den zwölf Jahre jüngeren Joseph Joachim, seit er als Zwölfjähriger in einem von Pauline Viardot-García im Leipziger Gewandhaus organisierten Konzert aufgetreten war. Am Abend des 19. August 1843 begleitete Felix Mendelssohn Bartholdy den jungen Geiger, der an dem vom Gewandhauskapellmeister gegründeten Konservatorium ausgebildet wurde, am Klavier. Mendelssohn musizierte regelmäßig mit dem kleinen »Teufelsbraten«, wie er ihn scherzhaft bei besonders guten Leistungen nannte. Joseph Joachim besaß ein eher zurückhaltendes Temperament, denn obwohl er aus Kittsee bei Pressburg stammte – dem heutigen Köpcsény bei Bratislava – hatte er, so Brahms’ Freund Max Kalbeck, eine Art, dass er »eher für einen Schwaben oder Sachsen als für einen Magyaren gelten konnte«.37 Letztendlich wurde Joachim derjenige, mit dem Clara Schumann am meisten öffentlich und wahrscheinlich auch im privaten Kreis gemeinsam musizierte.38 Auch ihr Mann Robert arbeitete gerne mit ihm zusammen und im November 1845 sprang Joachim bei einem von ihm geleiteten Dresdner Abonnementkonzert ein, weil Clara erkrankt war.

Kurz bevor Reményi und Brahms bei Joseph Joachim ihre Aufwartung machten, hatten die Schumanns im Mai 1853 beim 31. Niederrheinischen Musikfest mit ihm zusammengearbeitet. Es wurde in diesem Jahr in Düsseldorf ausgerichtet, wo Robert Schumann noch städtischer Musikdirektor war. Clara hatte mit dem Klavierkonzert ihres Gatten brilliert und Joseph Joachim glänzte mit Beethovens Violinkonzert, das bis dahin wenig Liebhaber gefunden hatte. Es handelte sich nicht nur um eines der umfangreichsten Werke dieser Gattung, sondern auch um eines, in dem die Virtuosität klassischer Konzepte allmählich der Ausdrucksvielfalt gefühlsreicher Empfindungstiefe wich, so als ob es sich um eine Sinfonie für Orchester und Geigen-Improvisationen handele. Die gemeinsame ästhetische Grundhaltung trug zu einer überzeugenden Interpretation bei. Hatte Clara an dem jungenhaften Joachim noch gezweifelt, so gestand sie ihm nun zu, »er spielte aber auch mit einer Vollendung und einer so tiefen Poesie, so ganz Seele in jedem Tönchen, wirklich idealisch, daß ich nie solch Violinspiel gehört, und ich kann wohl sagen, nie von einem Virtuosen solch einen unvergeßlichen Eindruck empfangen habe«.39

Joseph Joachim hatte mittlerweile einen ganz anderen Anspruch an seine Kunst entwickelt als der einstige Kamerad Eduard Reményi. Von diesem Temperamentbündel, das gern und gekonnt mit virtuosen ungarischen Zigeunerweisen verblüffte, wurde zu seinem Interpretationsansatz bei Beethoven der Ausspruch überliefert: »Werd’ ich spillen heut Nocht Kraitzer-Sonate, dass sich Horre flieg’n!«40 Jahre später bezeichnete Joachim die auf Gastspielreise befindlichen Reményi und Brahms als »die ungleichen Kunstgenossen«.41 Dass er ihnen eine Auftrittsmöglichkeit bei Hofe vermittelte, hing gewiss mehr mit den Fähigkeiten des Pianisten zusammen. »Nie in meinem Künstlerleben war ich von freudigerem Staunen übermannt worden, als da mir der fast schüchtern aussehende blonde Begleiter meines Landsmannes mit edlem, verklärtem Antlitz seine Sonatensätze von ganz ungeahnter Originalität und Kraft vorspielte«, erzählte Joachim über Brahms und dessen Klavierspiel, denn es war »so zart, so phantasievoll, so frei, so feurig, daß es mich ganz in seinem Banne hielt«.42 Unmittelbar nachdem er Brahms gehört hatte, wie er seine frühen Kompositionen – etwa die fis-Moll-Sonate oder das Scherzo in es-Moll – vortrug, schwärmte Joachim in einem Empfehlungsschreiben an eine einflussreiche Hofdame, Gräfin Bernstorff, wie aufgewühlt er sei durch das »intensive Feuer, jene, ich möchte sagen fatalistische Energie und Präzision des Rhythmus, welche den Künstler prophezeien«. Nicht nur der Interpret beeindruckte ihn. Er war überzeugt, auch »seine Kompositionen zeigen jetzt schon so viel Bedeutendes, wie ich es bis jetzt noch bei keinem Kunstjünger seines Alters getroffen«. Für ein solches Talent legte Joachim gerne ein gutes Wort ein. Er ließ Brahms wissen, er habe »an Dr. Liszt geschrieben, gegen den Sie unbefangen sein können, wie man großen Naturen immer am besten begegnet«.43

In der damaligen Zeit waren Empfehlungsschreiben für Künstler der entscheidende Türöffner für das Vorankommen. Allerdings wiesen die Ratschläge von Joseph Joachim in eine andere Richtung als jene, die Brahms mit Reményi an seiner Seite einschlagen konnte. Natürlich wollte Reményi sich bei seinem Landsmann Liszt vorstellen, der als Weimarer Hofmusikdirektor in einem Haus auf der Altenburg residierte. Joachim unterstützte das Vorhaben, indem er beide mit einem Schreiben ankündigte. Brahms empfahl er indes, falls er und Reményi ihren Weg nicht gemeinsam fortsetzen sollten, dann könne er bei ihm in Göttingen vorbeischauen, wo Joachim die Sommer verbrachte.

Zwischen Effekt und Sinngebung

Erst schemenhaft deutete sich eine Entwicklung an, die sich im Laufe der folgenden Jahrzehnte durch die immer stärkere Bedeutung des Musikjournalismus und die vermehrte Professionalisierung des Konzertwesens zu aggressiv geführten Lagerkämpfen auswachsen sollte. Was zunächst vornehmlich Fragen der Interpretation betraf, berührte im weiteren Verlauf auch zunehmend Facetten des Komponierens. Der Liszt-Bewunderer Eduard Reményi gehörte zu einem Typus von Instrumentalisten, die nicht vor effektheischenden Übertreibungen zurückscheuten wie etwa der Uraufführungssolist des Beethovenschen Violinkonzerts, Franz Clement. Dieser hatte seinerzeit das Opus 61 lässig vom Blatt gespielt und bereits auf dem Anschlagzettel der Uraufführung im Theater an der Wien zusätzlich ankündigen lassen, er werde in diesem Konzert »auf der Violine phantasiren und auch eine Sonate auf einer einzigen Saite mit umgekehrter Violin spielen«. Was bei den einen die »Horre fliegen« ließ, ließ sie den anderen zu Berge stehen. Es muss nicht verwundern, wenn es in Berichten von der Premiere des Beethoven-Konzerts hieß, dass »der Zusammenhang oft ganz zerrissen scheine, und die unendlichen Wiederholungen einiger gemeinen Stellen leicht ermüden könnten«.44 Erst Joseph Joachim verstand es, dem Rhapsodischen des Werks einen Sinn zu verleihen. Er hatte Beethovens Violinkonzert zunächst als Dreizehnjähriger unter Mendelssohns Leitung in London gespielt und konnte mit Hilfe des Stardirigenten und Komponisten sowie zunehmender Erfahrung sich das schwer in allen Facetten auszulotende Opus immer mehr zu eigen machen. Liszt hegte großen Respekt vor Joachim, während er Reményis Auftreten eher »possenhaft« fand. In seiner Publikation Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn charakterisierte er Reményi als einen »gegen alle Monotonie sich auflehnenden« Künstler. »Reményis Ideal ist das des Zigeuners mit seinem ganzen Stolz, seiner tiefen Bitterkeit, seiner vielfarbigen und vielgestaltigen Träumerei, seinem lebhaften, zierdereichen Schwung«, meinte Liszt,45 wobei zwischen den Zeilen auch die Haltung mitschwang: Ganz anders als die steife und staubtrockene Clara Schumann mit ihren Traditionalistenfreunden.

Der junge Brahms musste zwischen den beiden Polen erst noch seinen Weg suchen. Sollte er als unabhängiges ›gottbegnadetes Genie‹ auftreten oder die Rolle des in der Tradition verwurzelten ›Meisters‹ geben? Konnte man als reisender Virtuose sein Auskommen finden, oder war es nicht doch sicherer, wie Joachim eine feste Anstellung anzustreben? Steht Unterhaltungsmusik im Widerspruch zu tragisch-dramatischen Kompositionen? Wo durfte man sich positionieren zwischen Äußerlichkeiten und unergründlicher Tiefe, zwischen Selbstdarstellung und einem von Herzen empfundenen expressiven Ausdruck? Johannes Brahms sollte bald herausfinden, wie er Joachim und Liszt einzuordnen hatte.

Positionsbestimmungen

Mitte Juni 1853 zog Reményi mit Brahms im Schlepptau vom Königreich Hannover weiter zum Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach. Der Ungar versprach sich viel von einer Protektion durch seinen Landsmann Ferenc Liszt, ebenso wie der Weimarer Hof 1842 hohe Erwartungen mit dem Engagement eines der führenden Musiker Europas verband. Dass dieser sich überhaupt herabließ, sich an den spartanisch ausgestatteten Weimarer Hof zu begeben, hing zusammen mit der leidenschaftlichen Zuneigung zu einer Frau und der Passion für die Kultur. Im Februar 1847 hatte Liszt bei einem Gastspiel in Kiew die wohlhabende polnisch-russische Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein kennengelernt. Beide fühlten sich miteinander geistesverwandt und Liszt betrachtete sich bald als »Seeleneigener« der Fürstin, wie er es in einer Analogiebildung zum ›Leibeigenen‹ in einem Brief formulierte.46 Der Musiker und die Adelige konnten stundenlang über Philosophie, Religion und Kunst debattieren, was dann auch ihr praktisches Engagement beförderte. Ihr dreistöckiges Domizil in der Jenaer Straße in Weimar war die sogenannte ›Altenburg‹ (nach dem einstigen Flurnamen »Die Alte Burg«), in der man ab 1848 für dreizehn Jahre residierte. Sie wurde zum Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle. Die Atmosphäre beschrieb der Dichter Friedrich Hebbel als »traumhaft-phantastisch«, insbesondere wenn bei großen Abendgesellschaften Liszt am Klavier »Zigeuner-Rhapsodien« anstimmte, mit denen er selbst den Poeten »elektrisierte«. »Am Klavier ist er ein Heros«, erinnerte sich Hebbel bewundernd, »hinter ihm, in polnisch-russischer Nationaltracht mit Halbdiadem und goldenen Troddeln die junge Fürstin, die ihm die Blätter umschlug und ihm dabei zuweilen durch die langen, in der Hitze des Spiels wild flatternden Haare fuhr.«47 Die Welt, in die Brahms hier eintauchen sollte, bot einen beinahe surrealen Kontrast zum Umfeld der Schumanns, von dem er bei Joachim schon einen Vorgeschmack bekommen hatte. »Joachim ist einzig«, meinte der Leipziger Thomaskantor und Konservatoriumsmitbegründer Moritz Hauptmann einmal über den Geiger, denn »bei dem ist nicht die Technik und nicht der Ton und nichts von allem, was man sagen kann, sondern daß das alles zurücktritt, sich gar nicht bemerkbar macht, daß man eben nur die Musik hört.« Dabei machte sich Joseph Joachim die Kompositionen so zu eigen, dass er selbst komplexe Beethoven-Sonaten auswendig vortragen konnte, und zwar, wie Beobachter feststellten, »so geistreich in der Auffassung, mit einer Übereinstimmung und Vollendung der Auffassung, wie man sie nicht leicht finden wird«.48 Damit bildete er ein Pendant zu Clara Schumann, die in Konzerten ebenfalls ohne Noten antrat. Doch nicht nur das: »Sie übte meist ohne Noten«, erzählte ihre Tochter Eugenie, »und ich erinnere mich einzelner Gelegenheiten, wo sie mir, als ich während des Übens in ihr Zimmer kam, zurief, ich möge ihr das Stück, welches sie gerade spielte, heraussuchen, sie müsse etwas nachsehen.«49

Wie Clara beeindruckte Joseph Joachim neben seinem musikalischen Können als »ein äußerst angenehmer Mensch von liebenswürdigem Wesen«.50 Mochte diese »gedrungene, nachlässig gekleidete Gestalt mit ihren wirren, emporstehenden Haaren« auch wenig optische Reize bieten, so beeindruckten der »Adel und die Fülle des Tons, die vollendete Technik, die geistvolle Auffassung«, wie ein Presserezensent feststellte. »Da gab es nichts Müßiges, keinen eitlen Virtuosenschmuck, sondern alles, jedes sforzato, crescendo, staccato fand in dem Ganzen seine Rechtfertigung.«51 Dieser Mann mit »der hohen Stirn, auf der die erhabensten Gedanken ihre leuchtenden Spuren hinterlassen«, wirkte wie ein unprätentiöser Künstler, aus dessen tiefliegenden Augen »der kühnste Geist und die wärmste Menschenliebe hervorschauten« und um dessen Lippen »der Schmerz seine schärfsten Linien und Falten gezogen« hatte.52

Bei Franz Liszt hingegen fielen nicht nur Robert Schumann Vokabeln wie »Flitterwesen« ein. Den Schumanns stand die künstlerische Haltung von Joachim erheblich näher. Der Musikpädagoge und Joachim-Vertraute Andreas Moser meinte, der »durch seine unerhörten Triumphe als Virtuose so verwöhnte Liszt« sei stets geneigt gewesen, »den äußerlichen Erfolg und Glanz über das eigentliche Wesen der Kunst zu stellen«. Wenn ihm nach dem Vortrag einer Beethovenschen Sonate der Applaus nicht die gewohnte Stärke zu haben schien, ließ er »unmittelbar darauf ein nichtssagendes Tonstück folgen«, um seine »pianistischen Hexenkünste« zur Schau zu stellen, mit dem Ergebnis: »der Erfolg war da, die Virtuosenehre gerettet!«53

Was Brahms im Sommer 1853 drei Wochen lang in Weimar erleben sollte, hatten die Schumanns schon hinter sich: Die Begegnung und Auseinandersetzung mit Liszt. Robert Schumann pflegte einige Jahre lang ein von respektvoller Anerkennung getragenes Verhältnis zu Liszt, zumal beide in Zeitungsbeiträgen Wohlwollendes übereinander schrieben. Doch die Kollegialität wich zunehmender Distanz. »Aber Klärchen, diese Welt ist meine nicht mehr, ich meine seine«, schrieb Robert Schumann an seine Braut. »Die Kunst, wie Du sie übst, wie ich auch oft am Clavier beim Componieren, diese schöne Gemütlichkeit geb’ ich doch nicht hin für all seine Pracht.«54 Der hier verwendete bürgerliche Begriff des »Gemütlichen« wurde zu diesem Zeitpunkt noch als ausgesprochen positiv empfunden: Im 18. Jahrhundert verband man ihn mit Herzenswärme, später mit Menschlichkeit, Besinnung, Innigkeit, Konzentration, Hingabe, Privatheit. Verglichen mit Clara Schumanns subtilen Interpretationen waren Liszts Darbietungen selbst in den kleinsten Kammern öffentliche Spektakel. Dass »Liszts Vorbild und Unterweisung auf dem Gebiet der rein technischen Seite des Klavierspiels außerordentlich fördernd sein musste, versteht sich von selbst«, konstatierte der Komponist Ernst Rudorff. »Um die Bildung des Anschlags scheint er sich weniger bemüht zu haben.« Das »Rüstzeug«, um »aufzufallen und geistreich zu erscheinen«, bestand laut Rudorff »in unmotivierten Temporückungen, in Übertreibungen der Stärkegrade nach oben und unten hin, Übertreibungen der Kontraste sowohl in dynamischer wie in rhythmischer Beziehung, ungebührlicher Anwendung der Verschiebung und ähnlichen Dingen«. Nach seiner Auffassung hat Liszt »eine Schule der Willkür, der Affektation, der effektvollen Pose hinterlassen, der es leider gelungen ist, Boden im Überfluss zu gewinnen«.55 Clara und Johannes konnten überaus aggressiv reagieren auf Entwicklungen im Konzertleben, die ihrer Meinung nach den Ereignischarakter überbetonten und den Gehalt von Kunst vernachlässigten. Einmal meinte Brahms zu Clara Schumann, »das ganze Wien wird einem immer gemütlicher«, aber »die Menschen und gar die Künstler immer widerlicher, die Art, wie sie sich zum Publikum und zur Kritik stellen, vor ihm spielen und von ihm abhängen, nimmt einem alle Luft, als Kollege den Schwindel mitzumachen«.56 Auch Clara zeigte ihm viel »Unerquickliches« an: »So wie Du neulich auch von Wien schriebst, ist es überall. Die Unverschämtheit mancher Künstler geht ins Unglaubliche, so z. B. hier die eines Herrn Dr. Satter – solche Reklame war in Deutschland noch nie da, und – gelitten!!! Gehört habe ich den Zeitungshelden nicht, ich mag solche Klavierspieler gar nicht hören!«57

Künstler wie Johannes Brahms, Clara und Robert Schumann sowie Joseph Joachim bildeten dazu einen Gegenpol. Franz Liszt hätte sie nur allzu gerne für seine Anliegen gewonnen: Wir sind die Speerspitze der Moderne, suggerierte er, wir haben die künstlerischen und intellektuellen Fähigkeiten, die Geisteszwerge und die Gegenwart zu dominieren. Zum Teufel mit dem Gestrigen – wir sind das Jetzt und die Zukunft! Schließt Euch uns an!! Seine Einflüsterungen boten verlockende Aussichten: Ist Musik wie Schumanns poetische Klavierwerke und Joachims literarisch geprägte Konzertouvertüren nicht die unsrige? Und war Roberts d-Moll-Sinfonie nicht verkannt worden? Welcher Zukunftsmusiker wäre nicht verkannt gewesen …

Es gab durchaus Überschneidungspunkte. Clara und Johannes engagierten sich für das Werk Robert Schumanns, das zumindest teilweise zeitgenössische Musik im Sinne von Liszts damaliger Haltung darstellte. Zudem lagen ihnen Kunst und Kultur aus deutschsprachigen Ländern am Herzen. Und Liszt stürzte sich in den 1850er-Jahren voller Verve in ein Projekt, bei dem genau diese im Mittelpunkt standen. Dafür erschien ihm Weimar als der geeignete Ort, denn die im thüringischen Becken gelegene Stadt galt dem Musiker und seiner Fürstin als das geistige Zentrum Mitteleuropas. Im nur achtzig Kilometer westlich gelegenen Eisenach hatte auf der Wartburg nicht nur Luther die Bibel übersetzt, dort spielt auch Wagners Oper Tannhäuser (die Liszt in seiner Eröffnungsspielzeit in Weimar ins Programm nahm). Zudem hatte Moritz von Schwind 1854/55 eine Reihe neuer Fresken im Palas der Wartburg geschaffen, die Momente aus der thüringischen Geschichte zeigen, insbesondere ikonische Szenen aus dem Leben der Heiligen Elisabeth sowie den »Sängerkrieg«. Auf Initiative des Deutschritterordens war Elisabeth von Thüringen kanonisiert worden und schon bald sollte Liszt beginnen, mit seiner Legende von der Heiligen Elisabeth eine verklärende Kantate über sie zu schreiben. Der Ungar streckte – wie der Orden und die katholische Kirche – seine Fühler überallhin aus. Kurz vor seinem Amtsantritt versicherte er, »bescheiden meine Bestrebungen an Weymars ruhmreiche Überlieferung anzuknüpfen«.58 Damit reihte er sich – ein willkommener Nebeneffekt – in eine glorreiche Tradition ein: Zwei Jahrzehnte nach Goethes Ableben sah man es als dringend erforderlich an, sein Wirken sowie jenes von Schiller, Herder und Wieland weiterzuführen. Eine geplante Nationalstiftung der Künste sollte die finanziellen und konzeptionellen Grundlagen liefern. Dass ein ungarischer Komponist, eine in der Ukraine geborene Fürstin und die russische Zarentochter Maria Pawlowna Romanowa als Großherzogin von Sachsen-Weimar-Eisenach sich für die deutsche Kultur einsetzten, erklärt sich durch die gewaltige Wertschätzung, die diese genoss. Deutschland »liegt in der Mitte Europas«, hieß es in einer 1851 in der ostthüringischen Residenzstadt Altenburg erschienenen Enzyklopädie. »Macht man für Europa als Charakter die Mäßigung, Vermittlung u. Vielseitigkeit geltend, so erscheint D. in allen Verhältnissen als der eigentliche Repräsentant Europas.«59 Der Mitherausgeber Heinrich August Pierer war 1813 an der Völkerschlacht bei Leipzig und 1815 an der Schlacht bei Waterloo beteiligt, um Europa von dem napoleonischen Terror zu befreien. Seine Generation beschwor die Idee eines geeinten Deutschlands, lange bevor es ein solches Staatsgebilde wurde. Dies waren Ideale, die auch die Schumanns und Brahms teilten.

An sich wären sie zusammen mit Joachim für Liszt die geeigneten Gesinnungsgenossen gewesen. Doch ästhetisch trennten diese so unterschiedlichen Künstlertemperamente letzten Endes Welten. Ermuntert von Carolyne zu Sayn-Wittgenstein begann Franz Liszt in Weimar damit, vage Ideen zu großen sinfonischen und geistlichen Werken auszuarbeiten. Dabei erschien ihm die »sinfonische Dichtung« am ehesten geeignet. Seine caesarische Sinfonik, die sich mit monolithischen Werkungetümen in Themenkompositionen wie einer Faust- und einer Dante-Sinfonie sowie Prometheus, Mazeppa und Orpheus manifestierte, inspirierte einen Komponisten wie Felix Draeseke 1860 sogar zu einer gewaltigen Tondichtung mit dem Titel Julius Cäsar. Brahms stellte Werken dieser Art im Laufe seines Lebens eine von der Philosophie und Literatur der Antike inspirierte »panta rhei«-Dramaturgie gegenüber: Alles fließt, oder wie Platon es in dem Dialog Kratylos (402a) umriss, »alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln«. Im achten Lied seines Opus 57 vertonte Brahms die für ihn programmatischen Zeilen »in den Adern quillt / Leben und verlangt nach Leben« – auch in seiner Musik pulsiert alles und wird mit unablässigen Bewegungsimpulsen lebendig erhalten. Nach diesen Prinzipien gestaltete er die Themenwahl und -verarbeitung in allen seinen Werken, in denen es nur die Dinge an sich gibt – Variationen aller Art, Ouvertüren zu den Themen Fest und Tragik, Vokalwerke über Liebe, Schicksal, Triumph und Tod –, dazu viel Humor und Drama, aber nie hohles Pathos. Brahms bevorzugte eine Kunst, die Clara Schumann einmal als »hübsche, fließende Musik« charakterisierte.60 In einem Brief an Joachim beschrieb er in seiner Stellungnahme zu dessen neuer Konzertouvertüre einmal seine Vorstellungen damit, dass Musik nicht »schwerfällig« sein dürfe, sondern man »so Schlankes, schön Gegliedertes« schreiben solle, denn: »Muß man nicht dahin kommen, auch das Tiefsinnigste schön und dem künstlerischen Ohr angenehm auszusprechen?«61

Auch Joseph Joachim, am Beginn seiner Laufbahn noch Konzertmeister in Liszts Weimarer Orchester und mit dem Maestro per Du, spürte eine zunehmende Entfremdung und überwarf sich mit dem selbstverliebten Virtuosen. Joachim vermochte zwar der Musik von Berlioz und Wagner noch etwas abzugewinnen, allerdings brachte er den »sinfonischen Dichtungen« von Liszt eher Skepsis entgegen. Aufgrund seiner führenden Rolle im Orchester hatte Liszt Joachim aktuelle Kompositionen gezeigt und vorgespielt, um seine Meinung zu hören. »Trotz oftmaligen Hörens konnte er ihnen nicht nur keine Sympathien abgewinnen, sondern die Abneigung vor denselben steigerte sich im Laufe der Zeit bis zum Widerwillen«, schilderte der Joachim-Vertraute Andreas Moser die Einstellung seines Lehrmeisters. »Über Liszts musikalische Impotenz, die Armut seiner Erfindung und den gänzlichen Mangel an schöpferischer Kraft würde er schliesslich noch weggesehen haben, denn Gedankenreichtum, musikalische Erfindung und schöpferische Gestaltungskraft müssen angeboren sein; sie können durch Studium, Erziehung und Ausbildung nur weiter entwickelt, zu künstlerischer Reife gebracht werden. Dass aber das Nichtvorhandensein dieser notwendigen Eigenschaften durch den raffiniertesten Aufwand von blendenden Orchestereffekten verdeckt werden, eine unerhört prätenziöse mise en scene den Hörer anweisen sollte, innere Hohlheit und Gedankenlehre für höhere künstlerische Offenbarungen zu nehmen, das war es, was Joachim so heftig von den Lisztschen Kompositionen zurückstiess.«62 Man darf davon ausgehen, dass diese drastischen Ausdrücke auch bei den persönlichen Gesprächen über andere Musiker verwendet wurden. Joseph Joachim, Clara Schumann und Johannes Brahms waren im privaten Kreis in ihrer Wortwahl nie zimperlich. Die drei hatten es mit Musikerkreisen zu tun, die ihre Sache mit einem beinahe sektenhaften Eiferertum vorantrieben. Brahms’ Bezeichnung von Liszt »mit all seinen Aposteln (auch Reményi)«63 brachte die Sache auf den Punkt. Nach außen wahrte man zumeist eine Fassade des gesitteten Betragens, doch wie es im Inneren aussah, das offenbarte sich erst, wenn die angestauten Emotionen sich wie in den Klaviertrios von Johannes Brahms und Clara Schumann oder Joseph Joachims Konzertouvertüre zu Hamlet entluden. Als Brahms Joachim kennenlernte, feilte dieser gerade an der Fertigstellung dieses Werks, das die Schumanns durch ihren »tiefen Kompositionsernst« beeindruckte.64 Den Freunden dürfte in den kommenden Jahren sicherlich aufgefallen sein, dass Liszt mit zunehmender Entfremdung kompositorisch aufrüstete: Bei der Themenwahl konterte er fünf Jahre nach Robert Schumanns Uraufführung von Joachims Opus 4 in Düsseldorf mit seiner eigenen »Sinfonischen Dichtung« Hamlet und auch Brahms’ Œuvre sollte der Katholik Liszt nicht unwidersprochen hinnehmen. In einem Bericht über ein Konzerterlebnis in Berlin, den Joseph Joachim an Gisela von Arnim schickte, fand er deutliche Worte: »Noch neulich empfand ich in ganzer Stärke, was das heisst, als mir der Schmerz ward (ich besuchte das Liszt-Concert), einen Menschen, den ich oft Freund genannt hatte, dem ich kolossale Irrthümer gerne in Ehrfurcht vor seiner Kraft, vor seinem Genie verziehen hätte, in niedrigster Kriecherei vor dem Publikum, in ekler Heuchelei vor sich selbst zu erkennen. Pfui über den, der sich bessern will und’s nicht lassen kann, sein Stöhnen, sein kriechend Weh vor der Gottheit im Bewusstsein missbrauchter Gewalt wieder eitel zum Effekt auszufeilschen.«65 Liszt blieb stets gelassen und süffisant. »Na, lieber Freund, ich sehe schon, dass Ihnen meine Sachen keine Freude machen«, soll er bei einer Besprechung geäußert haben.66 Sein späterer Schwiegersohn Richard Wagner nahm es ihm ab, den Höflichen zu mimen und lästerte in der Neuen Zeitschrift für Musiküber Joachim, »das Komponieren scheint ihn mehr verbittert, als Andere erfreut zu haben«.67

Der Verlauf der Fronten zwischen Progressiven und Klassizisten, Modernisten und Stilbewussten, Revolutionären und Traditionalisten, Zerstörern und Bewahrern, jenen, für die Musik ein Mittel zum Zweck war und jenen, die ihre Schönheit wertschätzten, war in den kommenden Jahrzehnten nie eindeutig. Jedoch blieb die Hochachtung oder Ablehnung im Hinblick auf Mendelssohn ein – oft unausgesprochener – Gradmesser. Der Leiter des Leipziger Konservatoriums, Conrad Schleinitz, dem ein wesentlicher Anteil an der Entstehung des Instituts zukam und der dem Direktorium bis zu seinem Tod 1881 insgesamt 47 Jahre lang angehörte, hielt die Werke seines Freundes in Ehren. »Brahms, Berlioz und nun gar erst Wagner und Liszt verabscheute er und unterließ es nie«, so ein Lehrer des Instituts, »bei der alljährlichen Prämienverteilung die prämiierten Schüler, die halbwegs im Verdacht fortschrittlicher Gesinnung standen, zu ermahnen, sich nicht vom Verführer umgarnen zu lassen, sondern immer nur der ›reinen‹, das heißt der in seinem Sinne reinen Sache zu dienen«.68