'Es war noch einmal ein Traum von einem Leben' - Oswald Burger - E-Book

'Es war noch einmal ein Traum von einem Leben' E-Book

Oswald Burger

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Beschreibung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnete der Soziologe Werner Sombart die Juden als Motoren des Fortschritts. Ihr herausragender Anteil an der Modernisierung der Gesellschaft, die Wirtschaft und Handel ebenso betraf wie die geistigen und intellektuellen Leistungen in Forschung, Presse oder Kunst, war offenkundig und begünstigte antisemitische Stereotypen. Gegenüber den geistigen und intellektuellen Tätigkeitsfeldern waren Juden in traditionellen Berufsfeldern wie Handwerk, Gärtnerei oder Landwirtschaft nur marginal repräsentiert – am ehesten gingen die Begriffe 'Jude' und 'Landwirtschaft' noch in der Figur des Viehhändlers zusammen. Dennoch gab es jenseits des Landjudentums, das aufgrund von Emanzipation und Stadtflucht ständig an Bedeutung verlor, Juden, die sich für eine landwirtschaftliche Existenzweise entschieden. Was ihre Motive waren, wie sie die Bedrohung des Nationalsozialismus erlebten und welches ihre Schicksale waren, zeigt der vorliegende Band belegt an einem knappen Dutzend höchst unterschiedlicher Beispiele im Bereich des nördlichen Bodensees auf.

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Südseite

Kultur und Geschichte des Bodenseekreises · Band 3

Hg. von Stefan Feucht

Herausgegeben vom Kulturamt des Bodenseekreises greift die Reihe relevante Themen zur kulturellen und geschichtlichen Entwicklung der Region in und um den heutigen Bodenseekreis auf. Sie ist ein Forum für das Selbstverständnis und die Identität dieser Region. Der Schwerpunkt liegt auf der Publikation bedeutsamer Zeugnisse und entsprechender Forschungsergebnisse oder der Dokumentation wissenschaftlicher Tagungen.

Einbandmotiv: Kaffeerunde im Horner Garten von Erich Bloch, um 1935. Links Jacob Picard, stehend Bloch. (Foto: Archiv Erich Bloch)

Vorwort des Herausgebers

Seit Jahrhunderten hat die Landwirtschaft das Gesicht des Bodenseeraums entscheidend geprägt. Das ist – wie in ganz Mitteleuropa – eine Selbstverständlichkeit, ebenso wie die Vorstellung, dass dies hier in der Region durch eine christlich-katholisch geprägte Bauernschaft geschah. Dies war jedoch keineswegs durchgängig so. Dass es mancherorts ein sogenanntes Landjudentum gab, das ebenfalls seit Jahrhunderten Landwirtschaft betrieb, ist weniger bekannt. Noch mehr mag überraschen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Juden aus den Großstädten sich hier am See dem Betrieb landwirtschaftlicher Güter zugewandt haben. Mit diesem Buch erinnern wir an die Schicksale jener jüdischen Landwirte und wollen zugleich ihren Beitrag zur Entwicklung der Region aufzeigen.

Der vorliegende, nunmehr dritte Band der Reihe »Südseite« knüpft in Teilen thematisch an den Vorgängerband, die Erinnerungen von Kurt Badt an seine Zeit am Bodensee, an. Der Kunsthistoriker, Schriftsteller und Maler war in den 1920er Jahren aus Berlin an den Bodensee gekommen und hatte – wie so viele vor und nach ihm – eine starke emotionale Bindung zur Region aufgebaut. Fasziniert von Natur und Landschaft am See, erwarb Badt 1932 das Gut Rimpertsweiler bei Salem und betrieb dort Obstbau und Landwirtschaft – dies wird in diesem Band ausführlich geschildert.

Was im Falle Badts als singuläre Hinwendung eines jüdischen Intellektuellen und Großbürgers zur Landwirtschaft und zum Rückzug ins ländliche »Idyll« erscheint, zeigt sich bei näherer Betrachtung als verbreitetes und bislang nicht wahrgenommenes Phänomen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Am nördlichen Bodenseeufer und in dessen Hinterland fanden Manfred Bosch und Oswald Burger eine Reihe weiterer Beispiele jüdischer Landwirte. Die jeweilige Motivlage für deren landwirtschaftliches Wirken war ganz unterschiedlich, doch verband sie alle gemeinsam mit ihren Familien das Schicksal der Verfolgung durch die Nationalsozialisten. Aus dem »Traum von einem Leben« wurde ein »verlorenes Paradies«, wie Erich Bloch, der in Horn auf der Höri ein landwirtschaftliches Gut betrieben hatte, seine Erinnerungen betitelte.

Beim Lesen der unterschiedlichen Beiträge fällt auf, dass für die meisten der beschriebenen Landwirte die Motive für den Betrieb ihrer Höfe nichts mit ihrer jüdischen Abstammung zu tun hatten: Vielmehr waren es individuelle, gelegentlich politisch-ideologisch gespeiste oder durch den persönlichen Lebenslauf geprägte Beweggründe. Erst die antisemitische Außensicht der Nichtjuden machte sie zu einer wahrnehmbaren Gruppe. In diesem Widerspruch sind auch wir heute noch verfangen. Umso mehr gilt es, an die Besonderheit jedes Einzelnen zu erinnern und die persönliche Geschichte in den Mittelpunkt zu stellen.

Mein herzlicher Dank gilt den Autoren Manfred Bosch und Oswald Burger sowie Christoph Knüppel für seinen Beitrag zu Hugo Landauer. Für die finanzielle Förderung dieser Publikation sei einmal mehr den »Oberschwäbischen Elektrizitätswerken« (OEW) gedankt. Der UVK-Verlag hat auch diesen Band ausgezeichnet betreut. Hierfür herzlichen Dank an Frau Uta Preimesser. Den Lesern wünsche ich neue Einblicke und eine spannende Lektüre.

Stefan Feucht

Kulturamt Bodenseekreis

Inhalt

Vorwort

M

ANFRED

B

OSCH

»...das Land, das uns soviel Kummer gemacht hat«

Der Oberbühlhof von Udo und Dora Rukser

M

ANFRED

B

OSCH

»Jetzt haben wir keine Ruhe und keinen Frieden mehr«

Das Horner Gut von Erich und Liesel Bloch

O

SWALD

B

URGER

»Ein durch und durch ideal veranlagter Mensch«

Werner Haberland – Landwirtschaft als Versuch eines bodenständigen Lebens

M

ANFRED

B

OSCH

»Man wollte mir unter irgend einem Vorwand den Hof wegnehmen«

Der Obere Hof von Eva und Georg Licht in Heiligenholz

M

ANFRED

B

OSCH

An der Restitution ihres Besitzes gescheitert

Der Untere Hof von Fritz und Johanna Wohlgemuth in Heiligenholz

C

HRISTOPH

K

NÜPPEL

Land

und

Geist

Hugo Landauer, sein Daisendorfer Gut und die »Bauern-Zeitung«

M

ANFRED

B

OSCH

»Ein Stück Erde sein eigen nennen«

Das Gut Rimpertsweiler des Kurt Badt

O

SWALD

B

URGER

»Unterricht unter den Pflaumenbäumen«

Der Winkelhof von Lilli und Julius Ehrlich bei Untersiggingen

O

SWALD

B

URGER

»Abschied von dem Land, das unsere Heimat war«

Der Burachhof von Ludwig und Fanny Erlanger

Bildnachweise

Dank

Register

Vorwort

1911 veröffentlichte Theodor Heuss in der »Frankfurter Zeitung« einen Beitrag unter dem Titel »Judentum und Landwirtschaft«1. Darin machte er die Leser mit einer Stiftung bekannt, die die sozialen Verhältnisse der in großer Zahl aus dem Osten zugewanderten Juden zu verbessern trachtete und diese von der Notwendigkeit körperlich-handwerklicher Arbeit zu überzeugen suchte. Zu diesem Zweck hatte der Bankier Moritz Simon 1893 in Ahlem bei Hannover eine »Israelitische Erziehungsanstalt« für Gartenbau und Handwerksberufe ins Leben gerufen – getreu seiner Überzeugung, dass »unseren armen Glaubensgenossen [...] nicht durch Almosen«, sondern nur »durch Erziehung zur Arbeit«2 geholfen werden könne.

Doch Heuss sah das Problem umfassender. Er erkannte, dass es darum gehen müsse, das Interesse von Juden aus vorwiegend intellektuellen und Händlerberufen an handwerklich-gärtnerischen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten generell zu wecken. Dabei bezog er sich auf die offenkundige jüdische Überrepräsentanz geistiger und intellektueller Berufe, wie sie der Soziologe Werner Sombart in seiner Abhandlung »Die Juden und das Wirtschaftsleben« (1911) konstatiert hatte. Sombart erkannte in den Juden – in der zuspitzenden Formulierung Theodor Heuss’– die »Erfinder und Vorwärtspeitscher« des modernen Kapitalismus, bei denen sich »Ackerinstinkte« logischerweise nicht hätten ausbilden können. Diesem Befund stimmte Heuss mit den Worten zu, die »landwirtschaftlichen Leistungen der Juden [seien] heute noch gering, wenigstens in Westeuropa«. Er beeilte sich indes, dieser unbestreitbaren Tatsache die notwendige historische Begründung nachzuschieben. Dass dem so sei, liege nämlich nicht an einer besonderen Talentlosigkeit der Juden auf diesem Gebiet, sondern gehöre ins Kapitel der Rechtsgeschichte – seien Juden doch über Jahrhunderte vom Erwerb von Grund und Boden ausgeschlossen gewesen.3

Demnach lag es weniger an der fehlenden Neigung von Juden, sich handwerklichen oder landwirtschaftlichen Berufen zuzuwenden, als an den Möglichkeiten hierzu – auch wenn es der badische Innenminister Berckheim 1828 noch ganz anders beurteilt hatte. Er sah die »milden Rücksichten [...] im Edikt von 1809«, die für die »sittliche und intellektuelle Bildung der Juden und ihre Einfügung in die staatsbürgerliche Ordnung« hätten sorgen sollen, nicht von Erfolg gekrönt: »Die große Masse« gehe »nach wie vor dem Schacher nach, die Gesamtmasse« stehe »dem Staatsverband fremd« gegenüber und betrachte sich »als Zweig der großen, über die Erde verbreiteten israelitischen Nation«. Und ebenso, fuhr Berckheim fort, sei es ihnen »mit dem Landbau und dem Handwerk wenig ernst, da sie nur solche Berufe erwählten, die entweder nicht viele Anstrengungen erforderten [...] oder die sich mit einem Handelsgeschäft verknüpften«4.

Dieser obrigkeitlichen Sicht widerspricht Ulrich Baumann in seiner Geschichte der jüdischen Landgemeinden Badens. Zwar weiß auch er, dass sich »[d]er Kreis der Landwirte und der Handwerker im Dorf [...] überwiegend aus christlichen Einwohnern« zusammensetzte und die »jüdische Bevölkerung [...] fast ausschließlich im Handelssektor beschäftigt«5 war. Doch neben dem Verbot des Landerwerbs seien Juden bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein auch viele zünftige Handwerke verschlossen geblieben, und weiter gibt Baumann zu bedenken, dass alle Ansätze der badischen Regierung, die jüdischen Untertanen aus dem beruflichen Ghetto herauszuführen, schon daran gescheitert seien, dass sie über die Köpfe der Betroffenen hinweg unternommen worden seien. So meinte noch 1860 ein Oberamtmann aus der württembergischen Nachbarschaft, bislang hätten nur ein paar wenige Feldbauern den Beweis dafür geliefert, »daß es trotz des nationalen Angeborenseyns doch möglich ist, die schlimmen Eigenschaften des Judenthums durch Bildung und allmähliche Angewöhnung an unsere Berufsarten und Sitten gänzlich auszutilgen«6.

Auch diese Klage war in Verkennung der wahren Gründe formuliert, die weniger im individuellen Belieben lagen als vielmehr in strukturellen Gegebenheiten. Da war eine Stellungnahme der israelitischen Kirchenbehörde aus dem Jahr 1846 dem eigentlichen Problem schon viel näher gekommen. Der Ackerbau sei nicht nur ein Gewerbe, hieß es dort, sondern »auch ein Beruf, und eben deshalb hält es so schwer, Klassen, welche denselben nicht von Jugend an betrieben haben und schon in der Kindheit vertraut damit wurden, dem Pfluge zuzuwenden«. Und weiter hieß es in dem Bericht zuversichtlich: »Wenn sie [die Juden, Anm. d. A.] sich jetzt auch nur allmählig daran gewöhnen, als Nebenberuf den Acker zu bebauen, so ist doch für die Zukunft eine schöne Bahn gebrochen. Des moralischen Moments, daß nichts mehr an das Vaterland knüpft und den Boden der Heimath lieb macht, als der Grundbesitz, erlauben wir uns dabei nur in aller Kürze zu erwähnen«.7

Wie bekannt, blieb der jüdische Anteil an den landwirtschaftlichen und gärtnerischen Berufen auch weiterhin unerheblich; selbst in den sogenannten Judendörfern – Dörfern mit zahlenmäßig teils großen jüdischen Minderheiten – überwogen auch weiterhin die Händlerberufe.8 Daran änderte sich schon deshalb wenig, weil das Judentum mit Emanzipation und Stadtflucht spätestens seit der Reichsgründung ganz überwiegend zu einem urbanen Phänomen wurde. Neben den pogrombedingten Zuwanderungswellen aus dem Osten war es das Reservoir der jüdischen Landgemeinden, aus dem sich das städtische Judentum immer neu ergänzte. Mit dieser Abwanderung blutete das Landjudentum, das man trotz der vorherrschenden (Symbol-)Figur des Viehhändlers noch am ehesten mit landwirtschaftlichen und kleinbäuerlichen Lebenswelten in Verbindung bringen konnte, regelrecht aus und wurde zunehmend marginalisiert. Im Spektrum der Angebote aber, die rechtliche Gleichstellung und Emanzipation für Juden bereitstellten, wurden freie und selbständige Berufe bevorzugt.

Solche in historischen Erfahrungen begründeten Präferenzen, die ein hohes Maß an Unabhängigkeit garantierten, bildeten einen wichtigen Grund für die weit überdurchschnittliche jüdische Beisteuer zum publizistischen, wissenschaftlich-universitären und künstlerisch-literarischen Leben. Die Faszination, die von dieser Elite ausging, verstellte »den Blick auf die anderen Juden, die sich nur partiell anglichen [...], die zudem fernab von den Salons, Ateliers und Laboratorien in kleinen ländlichen Gemeinden, den sogenannten Judendörfern, als Händler, Kaufleute, Bauern und Handwerker lebten«9. So wurde das Landjudentum zum historischen Verlierer, mehr noch: Es erschien den Stadtjuden, die sich den Anforderungen der Assimilation ausgesetzt sahen, mehr und mehr als eine überholte Lebensform; ja, diese wurde »vom jüdischen Bürgertum vielfach mit Unbildung, Armut und Mangel an Akkulturation gleichgesetzt«10. Dem assimilationsbereiten Stadtjuden wurde sein ländlicher Glaubensgenosse vielfach zur ungeliebten Erinnerung an seine eigene Herkunft; der Landjude wurde zum »Juden des Judentums«. Auch deshalb konnte die abgefeimte Propaganda der Nationalsozialisten »greifen«, wie sie etwa in Gailingen in den frühen dreißiger Jahren in Form von Hetzzetteln auftauchte: »Das gibt’s, daß ein Jud mit Getreide handelt, aber beim Mistfahren, da hat noch keiner einen Juden gesehn! Warum drücken sich die Juden von [!] der Arbeit??«.11

Dem geschilderten Niedergang des Landjudentums zum Trotz kam es – parallel und in vermeintlichem Widerspruch zu Verstädterung, gesellschaftlicher Modernisierung und Beschleunigung aller Lebensprozesse – im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem erstaunlichen Phänomen: Auch in jüdischen Kreisen erhielt nicht nur das Land, sondern auch landwirtschaftliche Arbeit einen neuen Stellenwert und eine neue Wertschätzung, und dies bemerkenswerter Weise nicht selten bei Juden mit akademisch-intellektuell geprägter Biographie. Inwieweit diese Neigung zu ländlichen Lebensweisen und Erwerbsformen noch weiter zurückzudatieren ist, müsste eingehender erforscht werden. Immerhin lassen sich bereits für das 19. Jahrhundert in Oberschwaben die sogenannten Hopfenjuden nachweisen, die nicht allein Handel trieben, sondern auch Hopfenplantagen anlegten.12 So erwarb etwa Israel Friedrich Wirth – der durch sein Buch über den Hopfenbau als Pionier auf diesem Gebiet in der Region galt – 1866 das Gut Kaltenberg nördlich von Tettnang.13 Mag man die Wiederentdeckung agrarischen Wirtschaftens durch Juden für wenig mehr als eine Arabeske an der Gesamtheit ihrer Erwerbsformen halten, so erstaunt es doch, den Wegbereitern und Motoren von Modernisierung und Kapitalismus plötzlich in solchen Bereichen »überholten Wirtschaftens« wieder zu begegnen.

Da es sich dabei auch um bildungsbürgerlich und akademisch geprägte Juden handelte, lassen sich ihre Motive umso weniger von einem allgemeinen Unbehagen und von den geistigen und mentalen Umbrüchen trennen, die die gesellschaftlichen Zustände um die Jahrhundertwende insgesamt mitbestimmten und beeinflussten. Industrialisierung, Verstädterung und aufkommende Massengesellschaft verbanden sich damals mit der Erfahrung von Anonymisierung und sozialer Kälte, riefen Verunsicherung und unbestimmte Ängste hervor, die offenbarten, wie unzureichend das wilhelminische Kaiserreich mit seinen parvenuehaften und hohlen Repräsentationsformen spirituell fundiert war. So brachte das zweite Deutsche Reich mit einem breiten Spektrum alternativer Bewegungen, Konzepte und Modelle, von denen mit Jugendbewegung und Wandervogel, Lebensreform und Vegetarismus, Naturschutz und Siedlungsgedanken nur einige benannt seien, seine eigene Antithese hervor. Zu einem ihrer wichtigsten Orte wurde, da man die Quelle des Übels mit der Großstadt in Verbindung brachte, konsequenterweise das »flache Land«: Es wurde zur Projektionsfläche vielfältiger Erwartungen und Sehnsüchte, mit ihm verbanden sich Hoffnungen auf eine neue Ursprünglichkeit und agrarromantische Vorstellungen, Möglichkeiten individuell-eskapistischen Rückzugs so gut wie kollektiv-utopische Projektionen.

Diese Bewegung reichte bis tief in bürgerliche Schichten hinein. Ihnen kann man auch manche Beispiele zurechnen, die in unserem Buch dargestellt sind. Im breiten Spektrum der Alternativen bilden sie indes nur einen sehr schmalen Ausschnitt: So bleibt etwa die Absicht gesellschaftlicher Transformation auf den anarchistisch inspirierten Siedlungsversuch Hugo Landauers beschränkt, und wenn man von dem Landkinderheim Luise Ehrlichs absieht, das sich dem Gedanken einer »pädagogischen Provinz« zuordnen ließe, bilden die anderen Fälle Beispiele eines rein individuellen Rückzugs – so unterschiedlich die Motive im einzelnen auch sein mochten.

Vor diesem Hintergrund mag es nicht mehr ganz so erstaunlich erscheinen, dass auch das weithin idyllische (Nord-)Ufer des Bodensees und sein Hinterland eine erkleckliche Anzahl solcher Rückzüge in agrarisches Wirtschaften in Form jüdischer Gutshöfe aufzuweisen hat. Deren »Dichte« musste sich den beiden Autoren aufgrund ihrer Beschäftigung mit jüdischer Geschichte eines Tages geradezu aufdrängen. Die Frage, weshalb sich gerade hier eine größere Anzahl jüdischer Gutshöfe finden lässt, reizt freilich zur Spekulation. Ein nahe liegendes Motiv ist sicher die landschaftliche Schönheit, wenn man nicht die Fruchtbarkeit der Gegend und ihre Eignung zum Obstbau als Hauptgrund für eine Ansiedlung ansehen will. Doch ebenso sehr dürfte die nationale Randlage dieser Region eine Rolle spielen. Diese Vermutung drängt sich umso mehr auf, als einige der behandelten jüdischen Landwirte ihre Höfe erst in den frühen 30er Jahren oder – wie im Fall Udo Rukser – sogar erst 1934 erwarben. Hier mag ein, auf die Erfahrungen einer langen Verfolgungsgeschichte zurückgehender Rest von »Fluchtreflexen« vorliegen, der diese Peripherie allein schon durch ihre Nähe zur Schweiz als Ansiedlungsort in Frage kommen ließ.

Ihrer Art nach sind die in diesem Buch beschriebenen neun Beispiele recht verschieden. Da ist der »Verlegenheitslandwirt«, der sich auf ein ererbtes Grundstück zurückzieht, um hier Obst- und Gemüsebau zu betreiben; da ist der durch die Machtergreifung der Nazis aus seiner beruflichen Bahn geworfene Jurist, der erkennt, dass es unter den neuen politischen Vorzeichen mit der freien Advokatur zu Ende geht; da stehen die beruflichen Frühaussteiger, die der akademischen Karriere Lebewohl sagen und in der Landwirtschaft einen vollgültigen Ersatz finden, neben der lebens- und sozialreformerisch inspirierten Pädagogin, die sich ihr Erziehungsideal nur in Verbindung mit Landleben und landwirtschaftlicher Produktion vorstellen kann. Da ist der zivilisationsmüde Großstadtflüchter, der sein ferneres Leben in einer abgeschiedenen Landschaft verbringen möchte und das Betreiben eines Landguts als letztgültige Möglichkeit versteht, sich in einer zur zweiten Heimat gewordenen Landschaft einzuwurzeln, oder der jüdische Kaufmann, der nach verschiedenen Anläufen mit Warenhäusern zum Landwirt mutiert und daraus den Impuls bezieht, eine Sozialisierung der Landwirtschaft zu propagieren.

Eine Typologie lässt sich aus diesen Beispielen nicht ableiten, und dies zu versuchen, wäre aufgrund der schmalen Basis auch wenig sinnvoll. Auch deshalb muss eine historische und soziologische Ausdeutung dieses Phänomens hinter einer bloßen Beschreibung von Einzelfällen zurückstehen. Nur eines haben alle Beispiele gemeinsam: ihr Scheitern, dessen Gründe jenseits von individuellen Bedingungen und Voraussetzungen lagen. Insofern stellen unsere Porträts eine notwendigerweise unsystematische Überblicksdarstellung dar, zugleich aber eine erste regionale Annäherung an ein Thema, das bislang ein Desiderat soziologischer Judentumsforschung ist.

Dankbar sind wir Christoph Knüppel, dass er uns seinen Aufsatz über Hugo Landauer als Gastbeitrag zu Verfügung gestellt hat.

Manfred Bosch / Oswald Burger

Konstanz / Überlingen Juli 2015

Anmerkungen

1 Ausgabe vom 20. August; Wiederabdruck in: Theodor Heuss, An und über Juden. Zus.gest. und hg. von Hans Lamm. Düsseldorf/Wien 1964, S. 31-40.

2 Nach Wikipedia-Artikel über Moritz Simon. – Eine weitere Stiftung in diesem Sinne rief der deutsch-jüdische Philanthrop Moritz von Hirsch auf Gereuth in den 1890er Jahren mit der Jewish Colonization Association ins Leben. Er erwarb in Südamerika mit seinem Vermögen, das er mit dem Bau des Orient-Express erworben hatte, im großem Stile Ländereien und stellte sie russischen Juden als Siedlungsland zur Verfügung.

3 Theodor Heuss, wie Anm. 1, S. 31.

4 Zit. nach Selma Täubler-Stern, Die Emanzipation der Juden in Baden, in: Gedenkbuch zum hundertfünfundzwanzigjährigen Bestehen des Oberrats der Israeliten Badens. Frankfurt 1934; S. 94.

5 Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862-1940. Hamburg 2000, S. 29.

6 Zit. nach Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg (2. erw. Aufl.). Tübingen 1999, S. 150 f.

7 Zit. nach ebd., S. 151.

8 Vgl. hierzu die Zahlen bei Baumann (wie Anm. 5) für mehrere badische Gemeinden, insbesondere S. 30 f.

9 Vgl. Jeggle, wie Anm. 6, S. 17.

10 Vgl. Monika Richartz, Die Entdeckung der Landjuden – Stand und Probleme ihrer Erforschung am Beispiel Südwestdeutschlands, in: Karl-Heinz Burmeister (Hg.), Landjudentum im Süddeutschen und Bodenseeraum. Dornbirn 1992, S. 65-87.

11 Zit. nach Eckhardt Friedrich und Dagmar Schmieder-Friedrich (Hg.), Die Gailinger Juden. Materialien zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Gailingen aus ihrer Blütezeit und den Jahren der gewaltsamen Auflösung. Konstanz 1981, S. 58.

12 Vgl. das Kapitel »Die Tettnanger Hopfenjuden« in Helmut Fidler, Jüdisches Leben am Bodensee. Frauenfeld/Stuttgart/Wien 2011, S. 112-114.

13 Siehe hierzu Michael Goer, Die »Hopfenburg« des Hofguts Kaltenberg – ein Wahrzeichen des Tettnanger Hopfenanbaus, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 16 (1987), H. 4, S. 180-183 und Hanna Hoffmann, Roland Weiß, Hopfenburg steht für den Aufstieg des »grünen Goldes«, in: Schwäbische Zeitung (Ausgabe Tettnang), 22. August 2013.

Villa des Oberbühlhofs in Schienen

»… das Land, das uns soviel Kummer gemacht hat«

Der Oberbühlhof von Udo und Dora Rukser in Schienen

Um 1970 schuf der Dadaist und Filmpionier Hans Richter eine Collage mit dem Titel »Die Welt des Udo Rukser«, die zentrale Stationen und wichtige geistige Bezüge aus dem Leben des Juristen und Obstzüchters, Zeitschriftenherausgebers und Schriftstellers in Erinnerung ruft. Beherrschend darin ein kubistisch aufgefasstes Porträt des jungen Rukser, der nach dem Ersten Weltkrieg in den Bann avantgardistischer Kunst geraten und zum Sammler geworden war. Ringsherum gruppierte Richter Fotografien und Schriftzüge; sie zeigen Rukser zusammen mit seiner Frau Dora bei der Redaktionsarbeit an den »Deutschen Blättern« und in privater Gesellschaft; daneben sind die Namen Goethe, Nietzsche und Ortega aufgeklebt sowie Schriftmotive aus jener Zeitschrift, die Rukser zwischen 1943 und 1946 im chilenischen Exil mit herausgab. Ihr programmatisches Motto, über viele Ausgaben hinweg integraler Bestandteil der Titelgestaltung: »Wir wollen keine Verstaatlichung des Menschen, sondern eine Vermenschlichung des Staates«.

Schon diese wenigen Namen, Zitate und Verweise lassen etwas von Ruksers Biographie und humanistischer Orientierung erkennen. Wollte man Richters Collage vervollständigen, dürfte die Erinnerung an eine kurze, aber wichtige Episode in Ruksers Leben, das in Posen begann und in Südamerika endete, nicht fehlen: seine Zeit als Gutsbesitzer und Obstzüchter auf dem Schienerberg bei Radolfzell. Der Weg dorthin lag freilich nicht in der »Logik« seines Werdegangs, sondern war Folge der gewaltsamen Umbrüche und Verwerfungen eines mörderischen Jahrhunderts. 1892 geboren, hatte sich Rukser, einer alten Juristenfamilie entstammend, ebenfalls auf ein Studium der Rechte verpflichten lassen. Eigentlich hatte sein Sinn eher nach einer Beschäftigung mit den Künsten gestanden – ihnen sollte er später noch, ausgerechnet durch seinen eher kunstfernen Beruf, näher kommen.

Hans Richter: Die Welt des Udo Rukser. Collage

Zunächst aber stürzte sich Rukser auf Internationales Recht und gründete zusammen mit seinem Schwager Dr. Otto Blumenthal in Berlin eine Kanzlei. Sie spezialisierte sich auf die Vertretung von Rechtsansprüchen, die sich aus dem Verlust von Gebiets- und Sachwerten im Ersten Weltkrieg namentlich im »Korridor« ergeben hatten. Zu diesem Zweck hatte Rukser nicht nur Polnisch gelernt, sondern sich auch in Polnisches Recht eingearbeitet, und als die erwähnten Ansprüche vom Reichstag mit dem sogenannten »Polenschädengesetz« anerkannt wurden, wurde Rukser zum gemachten Mann. Sein Reichtum gestattete ihm nun einen »Zugang zur Kunst«, wie er sich ihn zuvor allenfalls erträumt haben mochte, seit er um 1910 seinen ersten Chagall erworben hatte: Er floss in den Aufbau einer hochwertigen Kunstsammlung, die vor allem Werke der klassischen Moderne umfasste und von Sisley, Derain und Marées über Corinth, Lehmbruck und Hofer bis zu Rohlfs, Heckel, Kokoschka und Archipenko reichte.

Es waren freilich keine bloßen Launen des Geldes, die hinter dieser Leidenschaft standen, sondern eine elementare Beziehung zu Kunst und Literatur. Rukser publizierte in Zeitschriften wie »Feuer« und »Der Einzige«, über die er mit Salomo Friedländer in Verbindung gekommen war, schrieb über Richard Janthur, dessen Bekanntschaft er ebenso machte wie die mit Ludwig Meidner, Heinrich Nauen, Ewald Mataré und Walter Trier. Auch im legendären Dada-Almanach von Richard Huelsenbeck stößt man auf Ruksers Namen. Am engsten war seine Verbindung zu Hans Richter, dem Schöpfer der erwähnten Collage; seine Schwester, Dora Richter-Rothschild, hatte Rukser 1922 in zweiter Ehe geheiratet.

Aufgrund der Verbindung mit einer Jüdin war Rukser dem grassierenden Antisemitismus gegenüber hellhörig, und die zahlreichen Fälle von Rechtshilfeverweigerungen, von denen er durch Otto Blumenthal erfuhr, bestärkten ihn zusätzlich in seiner kompromisslosen Ablehnung des Nationalsozialismus. Zusammen mit Heinrich Freund und Erwin Loewenfeld hatte er 1925 die Zeitschrift »Ostrecht« gegründet1, und als Rukser 1933 durch das Preußische Kultusministerium gedrängt wurde, seine beiden jüdischen Mitherausgeber fallen zu lassen, war er in diesem »Ehrenpunkt« zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Mehr noch: Rukser war sich darüber klar, dass mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten das »Ende der freien Advokatur«2 gekommen war und ließ sich aus der Anwaltsliste streichen.

Entscheidung für die innere Emigration

Eine Emigration wäre Rukser zu diesem Zeitpunkt als feiges Ausweichen vor seiner Pflicht erschienen, das Seine zur Verteidigung der Demokratie beizutragen3. So entschied er sich zusammen mit seinem Sozius Otto Blumenthal für den Versuch, ein landwirtschaftliches Gut zu übernehmen – am besten abseits der Machtzentren, irgendwo in Süddeutschland und möglichst nahe der Schweizer Grenze. Über den befreundeten Agrarwissenschaftler Friedrich Aereboe erfuhr Rukser vom Oberbühlhof, der zum Verkauf stand. Zugleich verwies ihn Aereboe an den Bodmaner Obstbauern Paul Weber, der schon Kurt Badt beim Kauf eines Gutshofes beraten hatte. »Im Winter 1933/34«, erinnerte sich Weber später dieser Angelegenheit, »bekam ich einen Brief von einem Berliner Rechtsanwalt, worin er mich ersuchte, ihm doch ein Gutachten anzufertigen über das Gut Oberbühl, Gemeinde Schienen«. Rukser, der ein Obstbaudiplom anstrebte, wollte wissen, ob sich der Hof für Obstbau eigne. »Er hatte es sehr eilig«, so Weber weiter, »und deshalb ließ ich mich von einem Taxi durch den tiefen Schnee nach dem Oberbühlhof bringen. Man sah natürlich den Boden nicht, aber man sah, was das Wichtigste ist, das Vegetationsbild und die Lage. Ich hielt den Hof für geeignet für den Anbau härterer Sorten. In diesem Sinne schrieb ich Dr. Rukser; auf einer Schreibmaschinenseite hatte das ganze Gutachten Platz [...]. Sehr bald hörte ich, daß Dr. Rukser den Hof gekauft habe«4.

Mit seiner Lage an der äußersten Peripherie des Reiches, mit grandiosem Blick über den Untersee bis hinüber nach Konstanz und in die zum Greifen nahe Schweiz hinein, entsprach dieser Hof in idealer Weise dem, was Rukser sich vorgestellt haben mochte. Einst adliger Besitz und nach der Reformation für wenige Jahrzehnte Nachfolgekloster von St. Georg in Stein am Rhein5, war der Oberbühlhof nach Jahrhunderten unscheinbarer Existenz um 1920 durch das kinderreiche Leipziger Ehepaar Polich, das in Leipzig ein großes Warenhaus besaß, zu neuem Leben erwacht. Durch mäzenatische Beziehungen zu Künstlern wie Eugen Segewitz und Walter Waentig war es auf die Höri aufmerksam geworden und beschloss, sich hier anzusiedeln6. Man erwarb den Oberbühlhof, erweiterte ihn um ein stattliches villenartiges Haupthaus und verpachtete die Landwirtschaft, bis die Folgen der Weltwirtschaftskrise die Aufgabe des Hofs erzwangen.

Mit dem Gutachten Webers war es nicht getan. Rukser zog ihn auch weiterhin als Berater hinzu; die bedeutende Gartenarchitektin Herta Hammerbacher wurde mit der landschaftlichen Gestaltung der weiträumigen Flächen rund um das Haupthaus beauftragt. Inzwischen, so Weber in seinem Erinnerungsbericht weiter, hatte Rukser damit begonnen, »rund zehn Obstanlagen« zu erstellen. [...]. Ich kam jeweils einen Tag im Monat auf den Oberbühl zur Besprechung aller Fragen [...]. Die Anlagen wurden gut gepflegt, sie entwickelten sich sehr schön«7. Ruksers Plan bestand in der betrieblichen Nutzung eines Konservierungsverfahrens für Obstsäfte, das damals bekanntgeworden war. Er ließ auf elf Hektar 2.500 Obstbäume pflanzen und weiträumige Beerenplantagen anlegen, sodass sich der heruntergekommene Gutshof mit den Jahren zu einem Mustergut entwickelte, auf dem sich Otto Blumenthal als Kellereileiter bewährte. Unter dem Motto »Trinkt den Apfel, trinkt die Beeren« warb das »Obstgut Oberbühl« für seine erfolgreichen Produkte Apfel klar, Apfel naturtrüb, Johannisbeer rot und schwarz, Sauerkirsche, Brombeere sowie Erdbeer- und Himbeermischung. 1938 wurden die Produkte des Oberbühlhofs mit einer Goldenen Medaille der »Internationalen Industrie- und Fachausstellung Luxemburg« prämiert. Die bisherige Basis des Hofes, die Viehwirtschaft, wurde gegenüber dem Obstbau nicht vernachlässigt.

So wenig Rukser zuvor als Jurist in seinem Beruf aufgegangen war, so wenig tat er es als Obstbauer. Auch Otto Blumenthal hatte es nie mit der Juristerei allein gehalten, er übersetzte Swinburne und schrieb selber Gedichte. Beide Ehepaare liebten Gesellschaft, und das Haus war stets voller Gäste, die mit einer eigenen Hausordnung – nach Juristenart in Paragrafen gegliedert – auf das Erwünschte eingestimmt wurden. Die ersten drei von elf Paragrafen lauteten:

§ 1Wir sind hier nicht auf Sommerferien Ihr müsst Euch um Euch selber scherien.§ 2Der Oberbühl ist kein Hotel: »Bedien Dich selbst«, kapier das schnell!§ 3Wenn Du am Morgen liegst bis Zehn, bist Du als Gast nicht gern gesehn: Frühstück Glock acht, Vesper um sieben; Den Pünktlichen wird man stets lieben. Wenn mittags eins die Glocke läutet, Merkst Du sehr bald, was das bedeutet.

Dieses so humorvolle wie als Aufforderung zu strikter Einhaltung gemeinte Reglement galt in erster Linie für die zahlreichen Ferienkinder, die meist aus Berlin kamen und zu jeder Jahreszeit den Hof bevölkerten. Das kinderlose Ehepaar Rukser liebte solche Umtriebe und baute oberhalb des Gutes für die jungen Gäste eine Holzhütte, die sich im Sommer auch zum Übernachten eignete. Die von den Kindern besonders geliebte Dora Rukser erwies sich auch in diesem Punkt als ideale Partnerin. Des Weiteren gab es auf dem Gut Praktikanten, die landwirtschaftliche Grundkenntnisse erwarben, um nach ihrer Emigration bessere Startchancen in ihren Zielländern zu haben. Eine dritte Gruppe Gäste bildeten Künstlerbekanntschaften. Neben dem Kunsthistoriker Walter Kaesbach, der als Direktor der Düsseldorfer Kunstakademie abgesetzt worden war und sich ins nahe Hemmenhofen zurückgezogen hatte, sah der Oberbühlhof Künstler wie Heinrich Nauen und Ewald Mataré. Eine Kuhplastik Matarés schmückte den Treppenaufgang zum Haupthaus. Auch der jüdische Kästner-Illustrator Walter Trier und seine Tochter Gretl genossen Ruksers Gastrecht; 1934 lebten sie ein Vierteljahr auf dem Oberbühlhof, bevor sie zwei Jahre später über Frankreich nach England flüchteten. Trier schmückte die zum Aushang bestimmte Hausordnung mit seinem humorvollen Strich und hinterließ als Dank für seinen Aufenthalt die Mappe »Der Oberbühlhof. Glückliche Tage verlebt und festgehalten von Walter Trier«8 mit 14 großformatigen Bildern, deren zauberhaft aufgefasste Motive Leben und Arbeit auf dem Hof illustrieren. Sie reichen von Gebäudeansichten, einer Gruppe junger Kälber oder Ruksers Ziehsohn Nils Billo bis hin zu Szenen in der Kellerei. Ein Blatt zeigt Rukser, wie er mit Lupe einen Apfel auf Würmer untersucht; ein anderes, wie er mit Otto Blumenthal um einen Riesenapfel tanzt, in dem ein Zapfhahn steckt: Es galt den ersten gewonnenen Apfelsaft zu feiern9. 1938 fand auch Karl Schmidt-Rottluff den Weg in die abgelegene Gegend.

Die Hausordnung des Oberbühlhofs, ironisch glossiert von Walter Trier.

Der erste Apfelsaft. Zeichnung von Walter Trier, 1934

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Die Schlinge zieht sich zusammen

So hätte es sich »abseits der Politik« wohl aushalten lassen, hätte sie eines Tages nicht auch nach dieser schieren Idylle gegriffen. Bis Frühjahr 1938 hinein hatte Rukser noch auf eine politische Wende gehofft10 und Gedanken an eine Emigration von sich gewiesen. Er hätte sonst kaum noch 1937 zusammen mit Paul Weber den Rimpertsweiler Hof und Teile der Tafelobst-Verwertungsfirma Taosta-G.m.b.H. übernommen, die Kurt Badt aus Gründen seiner Emigration nach wenigen Jahren wieder abstieß11; und ebenso wenig hätten Rukser Pläne zum Umbau des Haupthauses beschäftigt, die auf Vorarbeiten des Bauhaus-Architekten Ludwig Hilberseimer zurückgehen12. 1938 jedoch verdunkelte sich der Horizont zusehends. Bereits 1936 war das Gut einmal ergebnislos durchsucht worden, während sich das Ehepaar Rukser auf einer Griechenlandreise befand; nun jedoch, im November 1938, räumte die SS-Truppe Germania aus Radolfzell mit den Resten jüdischen Lebens auf der Höri auf, die bis dahin von Antisemitismus weitgehend verschont geblieben war. In Wangen, Randegg und Gailingen wurden die Synagogen geschändet und zerstört, das Horner Landgut von Erich Bloch überfallen, die männlichen Juden zusammengetrieben, geschunden und nach Dachau verschleppt.

Für den Oberbühlhof hat Otto Blumenthal die Ereignisse festgehalten. »Ein Lastauto kommt«, heißt es in seinem Bericht »Die Verhaftung«, »und ich weiß es nun mit tödlicher Gewißheit: sie holen dich! Das Lastauto hält, eine Bewegung kommt in die patrouillierenden Posten, mich überfällt grenzenlose Angst. [...] Jetzt heißt es, sein Herz fest in die Hand zu nehmen und gewappnet sein. Ein Korporal mit zwei Mann sind im Korridor, mit Stahlhelm und Karabiner. ›Wir suchen Dr. B. Er ist verhaftet‹. Udo versucht sich vor mich zu stellen, verlangt Vorlage von Verhaftungsbefehlen und erntet damit nur höhnisches Lachen. Nun gehe ich zwischen zwei SS-Männern wie ein zum Tode Verurteilter und fühle alles Leben von mir abfallen. [...]. Lorenz, mein Junge, steht mit Udo am Haustor. Dicke Tränen laufen über sein Gesicht. Udos Gesicht ist spitz und weiß. Ich klettere auf den Lastwagen«13. Vorerst ging die Fahrt in den Ortsarrest, wo Blumenthal auf die paar zusammengetriebenen männlichen Juden stieß, die noch in Wangen lebten. Von dort wurde er zwar bald entlassen, um abermals verhaftet und nach Dachau gebracht zu werden. Bei dieser zweiten Verhaftung wäre Rukser aufgrund einer Verwechslung mit Blumenthal beinahe erschossen worden.

Für Rukser, der seine Frau in Vorahnung des Kommenden bereits bei Schweizer Freunden in Sicherheit gebracht hatte, stand nun der Entschluss einer raschen Emigration fest. Nach den Erinnerungen Paul Webers bereitete er mit Hilfe des Stockacher Volksbankdirektors, dessen Ehefrau ebenfalls Jüdin war, die Ausreise nach Chile vor. Rukser soll sich für das Land entschieden haben, weil es neutral war und Ähnlichkeit mit dem Tessin hatte, das Rukser besonders liebte. Neutralität und Tessin? ließe sich fragen – weshalb dann nicht gleich »das Original«? Besaß Rukser in Carabietta am Luganer See nicht auch ein eigenes Haus? Doch ein Leben als Landwirt, wie es ihm vorschwebte und das ihm inzwischen offenbar zum Bedürfnis geworden war, hätte sich im Tesssin nicht so leicht verwirklichen lassen. So verließen Udo und Dora Rukser an Ostern 1939 die Höri. »Ich war mit den Töchtern Pia und Asta drüben auf dem Oberbühl am letzten Tag, bevor er abreiste«, notierte Paul Weber. »Als es ans Abschiednehmen ging, da drückte mir Udo Rukser die Generalvollmacht über seine gesamten Vermögenswerte in die Hand. Es handelte sich um Vermögenswerte von über einer Million und uneingeschränkte Vollmacht darüber, also auch der Geschäfte mit sich selbst. Ich war erschüttert über dieses Maß an Vertrauen [...]. So war er, groß und kühn und rasch in seinen Entschlüssen, wenn es nötig wurde«14. Nach der Einschiffung in Genua erhielten seine Freunde und Bekannten folgenden hektographierten Rundbrief:

An unsere Freunde!

»Ostern 39 auf See

Jetzt wo wir auf See sind und plötzlich mit all der fieberhaften Tätigkeit der letzten Monate aufhören – jetzt, Ihr Lieben, wo die letzte Küste Europas uns entschwunden ist, können wir uns sammeln und zurück blicken. Nun tritt uns vor die Seele, wie viel wir Eurer Hilfe seelisch und materiell verdanken, was Geschwister- und Freundeshand bedeutet, haben wir aufs Schönste erlebt. Um so schwerer – ach wie schwer! – der Abschied von allem, was wir an Liebe und Freundschaft zurück lassen. Wir winken Euch allen Gruß und Gedenken übers Meer. Bleibt uns!

Dieser kostbare Besitz bindet ja erst recht an das Europa, das wir in grimmiger Entschlossenheit nicht schnell genug verlassen konnten. Es wird uns erst recht in der Ferne teuer sein u. weiter haften. Habt Dank! Wie waren die letzten Wochen?

Am 15. 3. bekamen wir endlich das chilenische Visum – am gleichen Tage, wo Böhmen besetzt wurde und düstere Möglichkeiten erneut auftauchten. Abschied von denen, die in Berlin anrufbar waren. Letzte geschäftliche Dispositionen. Am 18. 3. packten wir das Schiffsgepäck – 13 Koffer! [...]. Am 19. Übergabe des Oberbühls an den Pächter u. Abschied von Schienen genommen, wo wir noch das besondere Bürgerrecht erworben haben. Bürgermeister und Pfarrer und viele andere sehr herzlich! Wir gehen in der Gewissheit, dass wir dort eine Spur hinterlassen. Am 20. 3. Packen des großen Gepäcks – 43 Kisten, 1 Koffer, 2 Verschläge, 2 ½ Lastautos voll! Alles ging glatt und wunschgemäß dank der trefflichen Vorbereitung.

Am 21. endlich Abfahrt vom Oberbühl im schwersten Schneesturm, den ich dort erlebt habe. Im Nu war alles dick verschneit; unser Gespann mußte das Auto aus dem Hof ziehen und erst dann kam ich mit eigener Kraft weiter. Welch ein Abschied! Am Zoll glatte Abfertigung und ehrenvolle Behandlung mit allen guten Wünschen! Auch die Schweizer waren großzügig und machten nicht die geringste Schwierigkeit – ich hatte gefürchtet, dass man etwa ein Sondervisum von mir verlange. So kam ich dann am 21. um 13.30 in Basel bei Dora an. Wieder vereint nach 5monatiger Trennung – 5 Monate voller Sorgen und Probleme!

Alles ist schließlich besser gegangen als vorhergesehen: denn nach all den großen Zahlungen an Finanzamt und Devisenstelle ging schließlich alles glatt; wir behielten alles, was wir mitnehmen wollten, Schmuck u. Auto, Kunstsachen usw. Keine Gestapo, keine Zollfahndung im Haus u. erst am 21. wurden meine Konten gesperrt.

Dora hatte mit Hilfe von Hans (Richter, M. B.) und Schweizer Freunden einiges verkauft und versilbert, sodaß wir Geld vorfanden und Verkäufe einleiten konnten. Wie schwer das ist, muß man erlebt haben. Die schöne Briefmarkensammlung brachte nur 500 frs! Wegen übergroßen Angebots! Die Marées und Rohlfsblätter übernahm Dr. Raeber sehr liebenswürdig zum Verkauf. Das Bild von Corinth Dr. Nathan aus St. Gallen. Anderes wie den Sisley müssen wir nach Amerika geben. Am 23. fuhren wir nach komplizierter Packerei nach Zürich zu Häfelis heraus nach Herrliberg, die uns in ihrem kleinen Haus herzlichst unterbrachten und viele Wege abnehmen halfen. Wir ordneten an geschäftlichen Dingen, was möglich war [...]. Alles bei großer Aufregung der Schweiz, die mit Besetzung durch Deutschland und Italien rechnete! Am 29. 3. Abfahrt nach Carabietta. Das Auto grotesk vollgepackt, daß wir kaum zu sitzen hatten. Reizende Abschiedstage in dem entzückenden Häuschen u. dieser einzigartigen Landschaft ...«

Über die politische Entwicklung zeigten sich Udo und Dora Rukser tief besorgt. Dass es zu einem neuen Krieg kommen würde, galt ihnen seit Längerem als ausgemacht; Dora Rukser schien er gar als Vorbedingung für ein Ende des Dritten Reichs: »Ich denke und hoffe es gibt ihn«, schrieb sie an ihren Bruder Hans Richter, »wenn auch dadurch für uns alle materiellen Werte in Europa flöten gehen, Oberbühl, das andere Gut [gemeint: Rimpertsweiler, M. B.], und Cara [gemeint: das Haus in Carabietta, M.B.]. Wir also sehr sehr bescheiden leben werden. Ich sehe im Krieg die sichere Aussicht auf Sturz. Wenn England endlich aus seinem Gentlemandream erwacht ...«15. Und im Frühjahr 1940 bedauerte Udo Rukser gegenüber seinem Schwager den späten Entschluss zur Emigration: »Ich sehe jetzt, welch grossen Fehler wir gemacht haben, in diesem dumpfen Europa so lange geblieben zu sein, wos hier so viele neue & interessante Möglichkeiten gibt«16, um wenige Tage darauf nachzusetzen: »Gestern, mein Lieber, war es genau ein Jahr, dass ich die deutsche Grenze überschritten habe & bei Euch in Basel angekommen bin! Seitdem haben wir genug erlebt & können unserem Schicksal nur dankbar sein! Sowohl das Erlebnis soviel Zuneigung & Hilfe zu finden, wie auch die Verjüngung & Erweiterung unseres Gesichtskreises. Welch ein Jahr alles in allem! Und dass wir in dieses Land gekommen sind, scheint uns heute erst recht ein besonderes Glück«17.

Als Farmer in Chile

Doch ohne Probleme war Ruksers Neubeginn in Südamerika nicht verlaufen. Von seinen Versuchen mit Bienenzucht musste er wieder lassen, weil es in Südamerika keinen Markt für Honig gab. So beteiligte er sich zunächst an einer großen Schaffarm im Norden des Landes, um nach einem Jahr intensiver Suche im Aconcaguatal bei Quillota 15 ha Land der ehemaligen Hacienda San Isidro zu erwerben. Als Ausdruck seines Dankes an das Land, das ihn aufgenommen hatte, gab er seiner Farm den Namen »Las Gracias«. Erleichtert wurden die Anfänge durch Ruksers staunenswerte Fähigkeit, sich in neue Gebiete einzuarbeiten, und Spanisch lernte er so rasch, dass sich seine Freunde nur wundern konnten, wie bald er in Fachzeitschriften landwirtschaftliche Beiträge veröffentlichte. Wirtschaftlich und finanziell dagegen war der Neubeginn schwierig. Zum Aufbau seiner Farm, die sich nach drei Jahren allmählich zu rentieren begann, war Rukser auf Transferleistungen angewiesen, die Weber durch Ankauf von Ruksers Taosta-Anteilen möglich machte. Um zu verhindern, dass er eines Tages bei der Taosta G.m.b.H. »den Nazifiskus als Teilhaber«18 neben sich haben würde, übernahm Weber bis Herbst 1942 Ruksers gesamte Anteile; allein 1941 überwies er 35.000 RM nach Chile. »Der Groschen, den Sie mir heute überweisen können«, hatte ihn Rukser angesichts dahinschmelzender Reserven und zunehmender Devisenprobleme gedrängt, »ist mir lieber als die Mark von morgen«.

Wie gut Weber an dieser Übernahme getan hatte, zeigte sich Anfang 1944. Damals sperrte die Gestapo sämtliche Konten Ruksers und beschlagnahmte sein Vermögen als »reichsfeindlich«. »Ich mußte sagen, was ich Dir schulde und wie die zugrundeliegenden Vereinbarungen wären«, berichtete Weber seinem Freund Ende 1945. »Die Abteilung reichsfeindliche Vermögen machte mich darauf aufmerksam, dass nach unserer Abmachung am 1. 1. 44 der ganze Betrag ohne besondere Kündigungsfrist fällig sei. Ich solle Vorschläge machen, wie ich dieser Abmachung nachkommen wolle. Daraufhin habe ich am 13.6.44 an die Hardybank in Berlin eine Rate in Höhe von RM 21.000.–, am 20. 6. die fälligen Zinsen an das Finanzamt Konstanz 1025.–, am 10.11. die 2. Rate in Höhe von 20.000.– zuzügl. der Zinsen vom 15.5.bis 10.11. in Höhe von 480.55 bezahlt. Du hast demnach vom Reich zu fordern RM 42.505.55«.19

Die »Deutschen Blätter«

Der Grund dafür, dass Rukser zum Reichsfeind erklärt wurde, was die Ausbürgerung aus dem Deutschen Reich zur Folge hatte, war sein Engagement für die »Deutschen Blätter«. Udo Rukser gab sie von 1943 an zusammen mit dem emigrierten Schriftsteller Albert Theile in Santiago als Monatszeitschrift heraus. Die insgesamt 34 Hefte hatten jeweils eine Auflage von 2.000 bis 5.000 Exemplaren; finanziert wurden sie von dem Deutsch-Chilenen Nikolaus Freiherr von Nagel und Udo Rukser, der zu diesem Zweck einen Teil seiner Kunstwerke in die USA verkaufte. Mit ihren beiden programmatischen Aussagen »Gegen ein deutsches Europa, für ein europäisches Deutschland« und »Wir wollen keine Verstaatlichung des Menschen, sondern eine Vermenschlichung des Staates« stand die Zeitschrift dem nationalsozialistischen Selbstverständnis diametral entgegen. Vergleichbar Walter