Es will Abend werden - Dieter Lattmann - E-Book

Es will Abend werden E-Book

Dieter Lattmann

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Beschreibung

2006 zieht Dieter Lattmann mit seiner Frau aus ihrem Haus in Schwabing in eine Wohnung der Augustinum-Seniorenresidenz in München-Nord: Mit 85 Jahren, als er „einen Zentnersack nicht mehr heben und den Efeu an der Garage nicht mehr schneiden konnte“, sei es an der Zeit gewesen. Die Eingewöhnung, die Begegnungen mit anderen Bewohnern und das Erleben des hohen Alters wie des Sterbens beschreibt er in diesem Buch offen und sehr persönlich. Es sind philosophische, menschenfreundliche Betrachtungen, die Mut machen, im Alter den Schritt in ein neues Zuhause zu wagen.

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2006 zieht Dieter Lattmann mit seiner Frau aus ihrem Haus in München-Schwabing in eine Wohnung der Augustinum-Seniorenresidenz in München-Nord: Mit 85 Jahren, als er »einen Zentnersack nicht mehr heben und den Efeu an der Garage nicht mehr schneiden konnte«, sei es an der Zeit gewesen. Die Eingewöhnung, die Begegnungen mit anderen Bewohnern und das Erleben des hohen Alters wie des Sterbens beschreibt er in diesem Buch offen und sehr persönlich. Es sind philosophische, menschenfreundliche Betrachtungen, die Mut machen, im Alter den Schritt in ein neues Zuhause zu wagen.

Dieter Lattmann, 1926 geboren in Potsdam, aufgewachsen in Kassel, Bonn, Hannover, Braunschweig. Nach dem Krieg verheiratet in Stuttgart, 1952 Wechsel mit seiner Frau in die beiderseitige Wahlheimat München. Gründungsvorsitzender des Verbands deutscher Schriftsteller, 1969-1974 Mitglied des Bundestags, 1972-1980 Treibende Kraft für die Künstlersozialversicherung, 1977-1985 im Präsidium des Goethe-Instituts.

»Es war für uns wichtig, so bald nach unserem eigenen Umzug den Ablauf von ernsthaftem Krankwerden, ärztlichen Behandlungen, Krankenhaus und Wiederkehr, letzter Lebensphase, Sterben und Tod so handgreiflich miterlebt zu haben. So viel wir bisher wussten, sprachen die meisten Stiftsbewohner nicht vom Sterben, gerade weil sie davon umgeben waren und berührt wurden. Schließlich war es auch für sie der ausschlaggebende Beweggrund, im Prozess ihres Lebensendes einmal hier so sinnvoll wie menschenmöglich aufgehoben zu sein. Das zu wissen, stiftet eine Kommunität der Anwesenheit wie der voraussehbaren Zukunft. Wohl dem, der in diesem Sinn ein Zuhause hat.«

DieseGeschichtenvonMenschenundDingenberuhenaufWirklichkeit. DieNamenderFigurenhabeichmeistverändertunddieHandlungübermeinWissenhinausgehendentworfen. AlsobitteichdieLeser, diegeschildertenPersonennichtmitMenschenzuverwechseln, dietatsächlichlebenodergelebthaben. EshandeltsichumWahrheitundImagination.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2016Kösel-Verlag, München,

inderVerlagsgruppeRandomHouseGmbH

NeumarkterStr. 28, 81673München

Umschlag: WeissWerkstatt, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/GooDween123

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN978-3-641-20537-9V001

www.koesel.de

Inhalt

Der Aufbruch

Christel

Die »Altenburg« – wie mir unser Augustinum manchmal auch erscheint

Ein schöner Abend

Frauen um die Neunzig

Altenheime früher in der Provinz

Zur Geschichte der Augustinum Wohnstifte

Die Neuen und die Platzhalter

Zögernde Interessenten

Ambulante Pflege: Angst und Hoffnung

Nun hat die liebe Seele Ruh

Familien, Besuche – Freude und Traurigkeit

Zeitzeugen an Schulen

Reisen – alle Jahre wieder

Fahrt nach Meersburg

Und der Tag neigt sich zur Nacht

Dies ist der Herbst

Eindrucksvolle Ereignisse

Das Jahr geht zu Ende

Durchhalten

Herkunft und Wandel

Übergänge, Stufen

Tapferkeit im Kleinen

Tage der Abschiede

Lerchenauer See

Nun bin ich allein

Der Aufbruch

Wir hatten ein Haus in Schwabing am Englischen Garten, ein Haus mit fünf Wohnungen. Unsere Mieter waren es gewohnt, dass ich alle Arbeiten im Garten und handwerkliche Erledigungen in den Wohnungen ausführte. Als ich einen Zentnersack Erde nicht mehr heben und den Efeu auf dem Garagendach nicht mehr schneiden konnte, wurde es Zeit, dass wir unsere Vormerkung ausnutzten und ins Münchner Augustinum Nord in der Weitlstraße wechselten.

In Haus 5 war gerade eine große Wohnung im zweiten Stock nach Nordosten frei geworden. Stiftsdirektor Johannes Weigl schlug Interessentenberaterin Lydia Güth vor, sie uns als unser zukünftiges Zuhause anzubieten. Die Räume sehen und zugreifen war für meine Frau Marlen und mich ein sofortiger gemeinsamer Entschluss. Wir verkauften unser Haus, feierten ein Abschiedsfest mit Freunden und Nachbarn, regelten die Auszugstermine mit den Mietern und zogen um.

Die Möbel hatten wir auf einem Lageplan eingezeichnet. So konnten die Träger die Schränke, Tische, Sessel gleich auf den richtigen Plätzen absetzen. Sie schlossen uns auch gleich das Deckenlicht an.

Für einige Tage erhielten wir Verwandtenhilfe, aus Ostfriesland angereist. Dennoch dauerte es Wochen, bis alles bleibend eingeräumt war und die Bilder richtig hingen. Danach fühlten wir uns wieder im Lot.

Marlen lebte in Musik und Farben. Immer war sie umgeben von Klängen – Cembalo, Klavier, manchmal Altflöte – und sie musizierte mit den Kindern. Die Jungen spielten Geige und Cello. Aus allem, was meine Frau in die Hand nahm, machte sie etwas Eigenes. Ihre Kleidung, Möbel und Bezüge, Kissen, Vorhänge, bemalte Teller und die Blumen im Garten, die einzelnen Zimmer, alles kennzeichnete ihren eigenen Stil. Nun brauchte sie Zeit, um im Augustinum anzukommen. Sie wirkte zögerlich und schien sich zu fragen, was sie tun müsse, auch hier sie selber zu bleiben. Ich glaube, sie haftete in ihren Empfindungen noch am Flirren der Birken, die wir rings um unser Haus gepflanzt hatten, und sie hörte wohl weiterhin ihre Schritte auf unseren Wegen im Englischen Garten knirschen oder auf dem Holzpflaster unserer Wohndiele klopfen, sah das Prasseln der Scheite im Kamin. Manchmal versank sie in Tagträumen, als lebe sie weiter dort mit den Menschen, den Lauten, dem Duft und den Pflanzen dieser Jahrzehnte.

Mein Leben flutete in Wellen, sie warfen mich oft an neue Ufer. Da mein Vater oft versetzt wurde, ging ich in meiner Kindheit und Jugend auf sechs verschiedene Schulen.

Jede Generation nimmt vor allem sich selber wahr. Auf diese Weise geschieht etwas für mich Ungewohntes: Bei all meiner Aufmerksamkeit für die Ereignisse hierzulande wie in Europa und der Welt ergibt für mich das Loslassen einen neuen Sinn. Eines Abends, als ich während des Dunkelwerdens von Einkäufen zurückkehrte, sah ich das Licht in unseren Fenstern, und es war mir zum ersten Mal vertraut, unser neues Zuhause da oben. Ich freute mich auf unseren gemeinsamen Abend und summte beim Eintreten unser Zeichen.

Unsere Einrichtung hier im »Altenteil« mit den beiden großen Räumen und zwei Balkonen auf Höhe der Baumkronen beherbergt alles, was uns aus unserer Habe am liebsten geworden ist. Jeden Morgen schauen uns die vertrauten Dinge an und erzählen uns, was sie für Erinnerungen haben. Jeder hat seine eigene Schlafklause und Schreibtischecke. So nah wie jetzt sind wir seit unseren ersten Ehejahren in einem Untermietzimmer nicht mehr beieinander gewesen. Wer sich zurückziehen möchte, schließt die Verbindungstür.

Noch während der Phase unseres Eingewöhnens lernen wir die umliegenden Straßen und Märkte kennen. Danach erkunden wir den Bezirk Hasenbergl-Feldmoching und Milbertshofen wie in Ringen nach einem Steinwurf ins Wasser. Obwohl wir seit sechzig Jahren in München leben, ist uns das Meiste hier in der Umgebung bislang unbekannt.

Der erste Ring, der Park um das Augustinum, empfängt uns an einem leuchtenden Tag feierlich mit überquellendem Sommergrün hinter seiner Einfriedung. Es ist Rosenzeit. Und was für kräftige, noch wirklich duftende, lange blühende Rosen! Vom ersten Augenblick an spüren wir, wie überlegt hier alles auf Ruhe und Wohlbefinden eingerichtet ist. Amseln hüpfen auf dem Rasen, Schwalben schwirren über uns, Meisen picken Würmer aus dem Geäst, und Rabenkrähen flattern zu den höchsten Zweigen auf. Mitbewohner, die ohne Begleitung nicht mehr nach draußen gelangen können, ziehen hinter Rollwagen ihre Spur rings um den Gebäudekomplex. Im Südwesten ist die Rasenfläche weit ausgebuchtet. In der Nähe des Wassersprengers schöpft die Wiese frischen Atem. Ein Schwingen von Musik aus offenen Fenstern, Gesprächen, summenden Bienen und Hummeln ist eingebettet in eine Grundstille, in der nur ein paar Kinder von Besucherfamilien ihre munteren Rufe weithin hören lassen.

Von unseren Balkonen aus haben wir beobachtet, wie sorgsam der Park gepflegt wird. Ab und zu surren Rasenmäher. Gärtner gehen mit Pflanzstöcken und Eisbegonien von Beet zu Beet.

Entlang der Ittlingerstraße schirmen Tannen und Büsche den Verkehrslärm ab. Baumriesen bezeugen, dass sie älter sind als das vierzigjährige Wohnstift. Wir bewegen uns unter Licht und Schatten zwischen Ahornstämmen und Kiefern, einer Blutbuche und einer Lärche, die im Herbst mit ausschweifendem Gefieder glühen wird. In allerlei Winkeln laden Bankecken zum Rasten ein. Wir setzen uns eine Weile in die Sonne und spüren ihre Strahlen auf unseren Gesichtern.

Der schmalere Parkteil auf der Nordostseite erfreut uns mit seinen Birken, Erlen und Eschen, dazwischen Magnolien, Wacholder und einem Essigbaum. Hecken aus Hainbuchen, Thuja und Liguster parzellieren die einzelnen Übergänge und Wege. Als unser Kreis sich schließt, stehen wir am Haupteingang wieder vor dem Nashorn aus Bronze mit zwei Stoßhörnern, das dort – wie vor jedem Augustinum – als Wappentier prangt. Manchmal scheint es von der afrikanischen Savanne und schlammigen Wasserlöchern zu träumen. Wenn die Sonne scheint, sieht es lustig aus. Die abgegriffenen Hörner leuchten golden. Kinder klettern auf seine Rundungen; die kleineren werden von ihren Müttern an der Hand gehalten.

Christel

Sie hieß Christa, alle Freundinnen nannten sie nur Christel. Sie gehörte zu den seltenen Menschen, die einen Raum heller erscheinen lassen, wenn sie eintreten. Christel war im Jahr vor uns in das Augustinum München Nord eingezogen. Auf unser Nachrücken hatte sie sich gefreut, und sie war einer der ersten Menschen, die wir, neu angekommen, auf dem Weg vom Mittagessen zum Fahrstuhl von Haus 5 trafen. Wir umarmten einander. Als ich sie vor Freude, sie wiederzusehen, leicht an mich drückte, spürte ich, wie dünn, ja zerbrechlich sie inzwischen geworden war.

Marlen und sie gehörten zu einem Gesprächskreis von acht Frauen, der sich seit zwei Jahrzehnten bei seiner Gründerin in deren Wohnung traf. Von Zeit zu Zeit wechselte die Rolle der Gastgeberin, und das ging reihum. Jede war ein Charakter für sich. Christel erschien mir immer als die stillste von ihnen, wenn sie auch manchmal hell auflachte oder sich energisch gegen eine Zumutung wehrte. Sie konnte von innen her leuchten. Alles an ihr war hell: das gerundete, jedem neuen Gegenüber freundlich zugewandte Gesicht, das Haar, ihre Stimme, oft auch die Kleidung. Sie war klein, gerade und zart, körperlich ein Leichtgewicht, aber mit einem großen Herzen. Ganz aus sich heraus und unvergleichbar war Christel ein sehr lieber Mensch. Sie begegnete allen, die sie kennenlernte, mit einem Vertrauen, das ihr angeboren wirkte. Bei den Gesprächen, für die in der Regel ein allseits für wichtig befundenes Thema aus dem Zeitgeschehen, sozialen Konflikten und persönlichen Empfindungen vereinbart wurde, verhielt sich Christel oft schweigend. Gleichzeitig aber behielt sie auch in der Stille ihren eigenen Kopf. Plötzlich konnte sie sagen: »Das sehe ich anders.« Was sie dann aussprach, bewies jedes Mal, wie genau sie zugehört hatte. Und sie trug eine überraschende Ansicht des eben diskutierten Themas vor.

Christel und ihr Mann erkundeten auf ihren Ferienreisen viele ferne Länder. Es war ihre gemeinsame Leidenschaft, die sie immer wieder fortzog aus ihrem Haus in der Toni-Pfülf-Straße. Sie wohnten mit ihren zwei Töchtern und einem Sohn dicht am Fasaneriesee, da schwamm die ganze Familie oft schon am frühen Morgen.

Christels Mann war vor einigen Jahren einen bitteren Tod gestorben. Auf dem Westfriedhof hatten wir uns in einer zahlreichen Trauergemeinde von ihm verabschiedet. Christel war sich ihrer bleibenden Nähe zu ihm gewiss, sie überließ sich kaum spürbar der Traurigkeit. Sie sprach immer wieder mit Freude von ihrem langen gemeinsamen Leben.

Im Augustinum wohnte Christel hoch droben im 13. Stock. Als wir sie dort zum ersten Mal besuchten, schien die Sonne zu den Fenstern herein. Der Ausblick ging über den Stadtrand und weite Grünflächen bis zu den Alpen. Hier stellte sich heraus: Christel hatte sich nicht entschließen können, ihr Haus zu verkaufen. Das war ein Fehler. Vor allem wollte sie die in ihrem gemeinsamen Lebenshaus für sie noch ständig greifbare Gegenwart ihres Mannes Willi nicht versäumen. Obendrein hing sie weiter fest an der ihr so vertrauten Nachbarschaft.

Also pendelte sie immerzu zwischen Damals und Heute hin und her. Das lief auf eine dauernde Doppelrolle hinaus, und sie wusste wohl selber nicht immer genau, wo sie sich aufhielt. Vermutlich hat diese zerissene Existenz dazu geführt, dass ihr Herz ihr zunehmend zu schaffen machte. Sie musste sich mehrfach in einem Krankenhaus behandeln lassen. Dadurch sahen wir sie für längere Zeiten nicht. Als wir ihr eines Tages wieder auf dem Weg zum Speisesaal begegneten, erschraken wir, wie verfallen sie war: Aus Christel war ein Pflegefall geworden. Sie wurde im Rollstuhl gefahren. Als sie zu uns emporschaute, lief aber doch ein freudiges Erkennen über ihr Gesicht. Nun waren wir alarmiert.

Marlen hat Christel gleich am nächsten Tag auf ihrem Zimmer besucht. Keine Klage kam über ihre Lippen. »Ich habe es gut, ich werde liebevoll gepflegt.« Christel war tief erfüllt von einer Dankbarkeit, die ihr ganzes Leben einschloss. Gewiss sah sie klar vor sich: Es ging dem Ende zu. Für uns folgte eine versiegelte Zeit. Was konnten wir tun? Immer gab es diesen Zwiespalt zwischen unserer Scheu, bei ihrer Pflege zu stören, und dem Bedürfnis, ihr zu helfen.

Christels jüngere Tochter, die in Traunstein wohnte, kam jetzt öfter und blieb über Nacht bei ihrer Mutter. Sie und ihre ältere Schwester, die entfernt im Norden lebte, wechselten sich mit ihren Besuchen ab. Manchmal war uns, als könnten wir durch die Stockwerke wahrnehmen, wie es droben um Christel stand. Rätselhafte Wartezeit.

Es war hoher Sommer, aber wie oft in Bayern, kühlte sich das Wetter plötzlich ab, als habe es auf der Zugspitze geschneit: Wieder einmal wehte über München Eisschrankluft. Ich merkte in diesen Tagen, wie das Haus für mich hellhöriger wurde. Jedes Rattern in der leer stehenden Wohnung über uns, die für Neueinziehende renoviert wurde, drang zu mir wie ein Grollen. Gespräche, auf dem Flur geführt, schienen durch die Tür hereinzuschäumen, mit einem Wellenschlag der Silben. Das Telefon läutete nicht, es dröhnte. Meine Frau und ich sahen einander oft schweigend an.

Christels Schicksalstag wurde der 10. September. Die jüngste Tochter und eine Freundin waren bei ihr, neben der Pflegerin und dem Gärtner aus ihrer früheren Nachbarschaft, der sich aus Anhänglichkeit treu um sie kümmerte. Er war ein kräftiger Mann, der sie leicht auf seinen Armen tragen konnte. Am Nachmittag war die Sonne wieder sommerlich zum Vorschein gekommen.

Als Christel sah, wie das Licht zu ihren Fenstern hereinbrach, hielt ihr geplagtes Herz sie nicht mehr zurück. »Bitte bringt mich noch einmal hinunter ins Freie«, wünschte sie sich, »ich möchte so gern die Blumen sehen.«

Die kleine Gruppe führte sie im Rollwagen in den Park. Die vier berichteten später, Christel sei beim Anblick der blühenden Pracht der Rosenstöcke und des Blätterspiels zwischen Helligkeit und Schatten und so viel sonnenvergoldetem Grün selber noch einmal aufgeblüht. Sie sah die Kinder, die auf dem Nashorn herumkrabbelten, und sie war glücklich. Sie konnte jetzt wieder etwas freier atmen und wandte ihren Blick von einer Seite zur anderen, um all das Wunderbare in der Natur zu erfassen. »Wie gut mir das tut!«

Der Nachmittag träumte, als stünden die Uhren still. Wie in die Luft gezeichnet spürten die, die um sie waren, das Überwirkliche, das auf sie einwirkte, und sie waren erstaunt, dass es auf diese Weise sein durfte, ohne Wehmut. Schließlich bat Christel: »Nun bringt mich wieder hinauf. Ich kann nicht mehr.« Oben auf dem Zimmer wollte sie nur noch liegen, und sie wurde auf ihrem Bett mit einer leichten Decke umhüllt. »Ich bin so dankbar«, hörten sie Christel sagen. Ihr Atem ging leise und stockend, bald immer langsamer. Es kam nur noch ein Laut von ihr, nicht mehr klar zu verstehen. Ihr Leben verging zuletzt wie ein Hauch. Am Abend, ein Viertel vor 6 Uhr, ist sie gestorben.

Marlen wurde hinaufgerufen, damit sie sich von Christel verabschieden konnte, ich begleitete sie. Meine Frau beugte sich nah hinunter zum Gesicht ihrer Freundin und verharrte einen Augenblick lang.

In der ersten Nacht blieb die Tote noch dort aufgehoben. Am Sonntagmorgen wurde sie von der Stiftspfarrerin ausgesegnet. Wir sahen und hörten ihr zu. Sie ist eine kluge Frau. Ihre persönlichen Worte erreichten mich stärker als das Ritual, das ich respektiere. Wir waren gemeinsam dankbar, dass es die Pfarrerin unseres Vertrauens war, die Christel den Segen gab und für sie betete, während unsere Gedanken sich um sie versammelten und wir Christel mit unserem inneren Auge noch einmal lebendig vor uns sahen.

Als wir Nichtangehörigen den Raum verließen, wussten wir, die Tote wurde nun in die Tiefe des Hauses gebracht und von dort später auf den letzten Weg geleitet, für den die Familie sich entschieden hatte. – Das Requiem wurde, ebenfalls durch unsere Pfarrerin gestaltet, auf den Freitag danach festgesetzt, damit die Angehörigen Zeit für die Anreise und alle notwendigen Vorbereitungen erhielten. Die Kapelle füllte sich mit der Familie, Verwandten, Freunden und teilnehmenden Hausbewohnern. Blumenumkränzt glänzte Christels Bild neben dem Altar im Kerzenschein. Die Predigt stellte sie noch einmal mitten unter uns. Christel in ihrer ganzen Lebensstärke und ihrer unbegrenzten Fähigkeit zu Liebe und Freundschaft. Diesen kundigen und sehr bedachten Nachruf zu hören, tat uns allen gut.

Christel war die Erste aus dieser Gruppe, die starb. Alle Freundinnen aus dem Kreis waren zur Trauerfeier erschienen. Sie kamen danach mit in unsere Wohnung, um zu erfahren, wie wir wohnten und ob wir uns schon etwas eingelebt hatten. Sie erkannten die Sitzecke aus der Wohndiele in unserem Haus wieder. Wir freuten uns, dass es ihnen bei uns gefiel.

Dieser Tod hinterließ uns beiden einen tiefen Eindruck, erwurde zu einem spirituellen Sammelpunkt. Das hatte eine geistige und eine praktische Bedeutung. Es gibt wohl keine Erfahrung eines nahen Todes, die nicht die Vorstellung des eigenen Lebensendes wachruft. In unserem Denken würde uns dieses Erleben nun immer mit der Erinnerung an Christel begleiten. Für unsere realen Überlegungen trat die Gewissheit ein, dass wir es mit zwei Entscheidungen richtig gemacht hatten: zum einen mit unserem Einzug in das Augustinum, zum anderen mit der absoluten Trennung von unserem Haus und damit dem tatsächlichen Loslassen von allem, was wir nicht mitnehmen konnten.

Es war für uns wichtig, so bald nach unserem eigenen Umzug den Ablauf von ernsthaftem Krankwerden, ärztlichen Behandlungen, Krankenhaus und Wiederkehr, letzter Lebensphase, Sterben und Tod so handgreiflich miterlebt zu haben. Soviel wir bisher wussten, sprachen die meisten Stiftsbewohner nicht vom Sterben, gerade weil sie von ihm immer wieder umgeben waren und berührt wurden. Schließlich war es auch für sie der ausschlaggebende Beweggrund, im Prozess ihres Lebensendes einmal hier so sinnvoll wie menschenmöglich aufgehoben zu sein. Das zu wissen, stiftet eine Kommunität der Anwesenheit wie der voraussehbaren Zukunft. Wohl dem, der in diesem Sinn ein Zuhause hat.

Die »Altenburg« – wie mir unser Augustinum manchmal auch erscheint

Mehrere Hundert Menschen leben in ihr oder von ihr. In der Altenburg wird das Leben mit Umsicht verteidigt. So gut es geht. Die Burg ist hoch wie ein Turm. Die Aufbauten auf dem Dach sind ihre Zinnen. In ihren Kesseln dampft das Wasser. Wer die Burg von außen betrachtet, sieht sie in fünf Häuserstufen aufragen. Kein Wassergraben umschließt sie, stattdessen Gitter und Zäune, Bäume und sperriges Grün.

Als die Menschen immer älter wurden, hat man die Altenburg errichtet, inzwischen gibt es ihrer viele, auf Städte und Länder der Republik verteilt. In ihren Mauern folgen Generationen aufeinander. Geboren wird hier nicht, aber nach Kräften gelebt, in Erinnerung an die Zeit, als man noch jung war, das Leben, die Kinder und meist auch die eigene Arbeit liebte. Viele, die in ihren Siebzigern in die Altenburg einzogen, wohnen schon ein Vierteljahrhundert in einem der vierzehn Stockwerke. Die meisten von ihnen fragen sich immer einmal wieder, wie alt sie noch werden dürfen oder müssen.

Die Altenburg ist auch eine Frauenburg. Männer sind eine kleine Minderheit. Ehepaare, die noch gemeinsam ausschreiten, vielleicht sogar wandern können, gibt es nicht allzu viele. Wer zu ihnen zählt, hat Grund, dankbar zu sein.

Wie bei historischen Festungen ist auch das Gemäuer der Altenburg stabil. Eine kriegerische Bedrohung hatte unsere Burg noch nicht zu befürchten. Die Ältesten in unserer Nachbarschaft können sich aber erinnern, wie es war, als nicht weit entfernt auf freiem Feld Fliegerabwehr-Batterien bei nächtlichen Angriffen auf Bomberpulks feuerten und der Himmel glühte.

Friedlich rücken in unseren Tagen Schulklassen bei uns ein. Sie verschwinden in den Tiefen der Altenburg und kehren nach einiger Zeit nach dem Schwimmen im Hallenbecken, gehütet von ihren Lehrerinnen, schwatzend und lachend an die Oberfläche zurück.

Wir alten Männer, die als Soldaten den Krieg überlebt haben, denken kaum noch an ihn zurück. Die Befehle, die wir damals befolgten, gehörten zu unserem früheren Leben aus falschem Gehorsam. Heute sorgen wir uns um andere Formen von Gewalt, die diffiziler zu behandeln sind; denn wir können sie nicht durch die Suche nach einem Schuldigen klären. Sie sind vielmehr tief in der humanen Existenz begründet. Und sie stehen niemals klar erkenntlich wie eine Gewissheit vor uns; umso gründlicher lernen wir sie durch unsere Gedanken, Ahnungen und Träume kennen. Falls wir uns nicht erneut in uns selber täuschen und sie überspielen.

Nur in seltenen Augenblicken, wenn eine absolute Aufrichtigkeit uns überkommt und wir uns zu unserem eigenen Erstaunen einem anderen Menschen vollständig anvertrauen, lassen wir diesen anderen den Hintergrund all unserer Vordergründe erkennen. Niemand durchbricht regelmäßig die eigene Einsamkeit.

Ich habe einen guten Freund, der mich alle paar Wochen zu einem längeren Gang mit Einkehr bei einem Italiener abholt. Als er neulich vor dem Eingang auf mich wartete, begrüßte er mich mit den Worten: »Wenn ich hier stehe, sehe ich das Augustinum aus drei Blickwinkeln: hier habe ich meine Mutter besucht, bis sie starb, hier treffe ich dich, und hier werde ich eines Tages selber wohnen.«

In dem Maß, in dem ich mich mit den Verästelungen – den persönlichen und den räumlichen – besser auskenne, nehme ich Herkunft und Charakter der Menschen, mit denen ich hier umgehe, aufschlussreicher wahr. Das gilt für eine Reihe von Mitbewohnern wie auch für einige unter den Betreuern, die für uns sorgen und sich damit eine freundliche Mühe geben.

Inzwischen hege ich eine gewisse Bewunderung für diejenigen, die mit ihrer Tagesarbeit die Maschinerie der Altenburg in Gang halten. Es ist ja nicht selbstverständlich, dass für alle Duschbäder morgens reichlich heißes Wasser fließt und im Winterhalbjahr wie an kalten Sommertagen die Heizkörper eine wohlige Wärme verbreiten. Was für eine organisatorische Energie und was für ein Überblick müssen regelmäßig aufgebracht werden, damit die Tagesabläufe und die nächtliche Wartung aller Einrichtungen wie die Rund-um-die-Uhr-Pflege funktionieren. Nicht zu übergehen die wöchentliche Reinigung aller Zimmer, zweimal drei warme Mahlzeiten pro Tag zur Auswahl und die unüberbietbare Salat-Theke.

ENDE DER LESEPROBE