Essen vermag nicht nur den Hunger zu stillen, es kann auch tröstlich oder als Belohnung
wirken. Es dient also sowohl der körperlichen als auch der seelischen Bedürfnisbefriedigung
des Einzelnen. Im sozialen Leben nimmt das Essen ebenfalls eine wichtige Rolle ein,
da es Bestandteil von Zusammenkünften, Austausch und Kommunikation ist. Zum „normalen
Essen“ – dessen Definition auch kultur- und gesellschaftsabhängig ist – gehören ein
gesunder Appetit und unbeschwertes Genießen.
Körperliche Grunderkrankungen und zeitweilige Belastungen können dieses „normale Essen“
stören – der Mensch isst weniger und nimmt ab. Auch willentliche Einschränkungen beim
Essen, beispielsweise bei einer Diät, können zur Gewichtsreduktion führen. Eine solche
bewusst herbeigeführte Gewichtsabnahme wird bei übergewichtigen Menschen, deren Körpergewicht
ein medizinisches Problem darstellt, angestrebt. Aber auch viele normalgewichtige
Menschen wollen ihr Gewicht kontrollieren und reduzieren – aus kosmetischen Gründen
und weil sie sich zu dick fühlen.
Es gibt darüber hinaus aber auch Menschen, bei denen die Gewichtsreduktion ein extremes
Ausmaß annimmt und die eine Essstörung, die Anorexia Nervosa entwickeln: Die Betroffenen
– meist sind es junge Frauen – sind gedanklich ständig mit ihrem Körpergewicht und
den Möglichkeiten, dieses zu reduzieren, beschäftigt. Essen ist fortan mit Schuld-
und Schamgefühlen verbunden und die Betroffenen haben große Angst vor einer Gewichtszunahme
oder davor, trotz bestehenden Untergewichts, dick zu sein.
Erscheinungsbild der Anorexia Nervosa
Kernaussage
Das Kernmerkmal der Anorexia Nervosa ist ein selbst herbeigeführter Gewichtsverlust.
Das Körpergewicht liegt mindestens 15 Prozent unter dem zu erwartenden Gewicht, bei
Betroffenen in der Vorpubertät kann eine altersentsprechende Gewichtszunahme ausbleiben.
Das extreme Untergewicht basiert auf der Weigerung, ein minimales normales Körpergewicht
(↑ BMI < 17,5 kg/m2) zu halten. Charakteristisch für die Anorexia Nervosa ist auch, dass das angestrebte
Körpergewicht nicht nur unterhalb der medizinischen Norm liegt, sondern bei ständiger
Gewichtsabnahme immer noch weiter heruntergesetzt wird. Das heißt, die Angst vor einer
Gewichtszunahme oder davor, dick zu sein, bleibt trotz fortschreitender Abmagerung
bestehen.
Ein weiteres Merkmal der Anorexia Nervosa besteht in der ständigen gedanklichen Beschäftigung
mit dem Thema Essen. Typische Gedanken sind dabei : „Wie viele Kalorien habe ich jetzt
zu mir genommen?“, „Wie kann ich noch mehr Kalorien einsparen?“. Die Zubereitung und
Beschaffenheit von Nahrungsmitteln hat eine große Bedeutung für die Betroffenen. Besonders
zucker- und fetthaltige Lebensmittel werden vermieden; mit der Zeit werden nur noch
ganz bestimmte Esswaren verzehrt (rigide Esskontrolle), Auswahl und Menge von Nahrungsmitteln
sind stark eingeschränkt. Darüber hinaus vermeiden anorektische Patienten häufig gemeinsame
Mahlzeiten mit anderen.
Trotz bestehenden Untergewichts betonen die Betroffenen meist, sich leistungsfähig
und fit zu fühlen. Solange wie möglich wird versucht, überdurchschnittliche Leistungen
zu erbringen, sei es in Beruf, Studium oder Schule. Hingegen nehmen die sozialen Kontakte
ab und reduzieren sich häufig auf wenige Kontaktpersonen. Als längerfristige körperliche
Folgen des extremen Untergewichts entwickeln sich typischerweise ↑ Amenorrhoe, Herzrhythmusstörungen,
Unruhe, Frieren.
Ein Teil der anorektischen Patienten verliert allein durch eine stark reduzierte Nahrungsaufnahme
– oft in Verbindung mit deutlich gesteigerter körperlicher Aktivität – an Körpergewicht
(„restriktiver Typ“ der Anorexia Nervosa; siehe dazu auch die Diagnosekriterien im
Abschnitt „Klassifikation und Diagnostik“). Ein anderer Teil der Betroffenen greift
zu weiteren gewichtsreduzierenden Maßnahmen wie Einnahme von Abführmitteln und selbst
herbeigeführtes Erbrechen. Letzteres geschieht
oft im Anschluss an einen Essanfall („Binge-Eating/Purging“-Typ der Anorexia Nervosa;
siehe auch dazu die Diagnosekriterien).
Fallbeispiel: Etablierung anorektischen Verhaltens bei einer 17-jährigen jungen Frau
„Angefangen hat alles mit dem Wunsch, ein paar Kilo an Gewicht zu reduzieren (Ausgangs-BMI:
22), um meiner Vorstellung eines idealen Körpers näher zu kommen. Mittels Diäthalten
gelang es mir in relativ kurzer Zeit mein ursprüngliches Zielgewicht zu erreichen.
Trotz der erfolgreichen Gewichtsreduktion fühlte ich mich aber im Umgang mit anderen
Menschen nach wie vor unsicher, und verhielt mich eher zurückhaltend und scheu und
war der Meinung, dass ich mit weniger Körpergewicht erfolgreicher und sicherer im
Umgang mit anderen würde. Gleichzeitig erlebte ich jedoch mit der Veränderung meines
Essverhaltens und der daraus resultierenden Gewichtsabnahme ein Gefühl der Kontrolle,
das für mich immer mehr zum Beweis wurde, wie effektiv und einflussreich ich sein
kann. Die kontinuierliche Einschränkung der Nahrungszufuhr und das Aushalten des Hungers
wurde zu einer immer zentraleren Aufgabe, die ich – analog zu meinen Schulleistungen
– erfolgreich bewältigen wollte. Je länger ich mich darum bemühte, desto mehr kreisten
meine Gedanken ums Essen. Keine „Mahlzeit“ ohne langes vorheriges Abwägen, ob ich
jetzt tatsächlich essen muss oder nicht noch warten sollte, ob ich nicht noch weniger
essen könnte, was ich an diesem Tag schon gegessen habe usw. Genau so dominant wurden
die Gedanken darum, wie ich die zugeführte Energie auch möglichst effizient und rasch
wieder abbauen könnte. Dazu diente tägliches Joggen, im Minimum 1,5 Stunden, wenn
immer möglich mehr. Obwohl ich mein Gewicht bis auf einen BMI von 16,5 reduzierte,
war ich nach wie vor der Meinung, zu dick zu sein und sehr unzufrieden mit meinem
Körper. Das über einen längeren Zeitraum hinweg sehr eingeschränkte Essverhalten (ich
aß praktisch nur noch Gemüse, Früchte und Salat, möglichst fettfrei zubereitet) kippte
plötzlich in phasenweise anfallsartiges Essen: innert kurzer Zeit aß ich – vorausgesetzt
ich war alleine zu Hause – eine Unmenge all jener Nahrungsmittel, die ich mir seit
längerer Zeit verboten hatte zu essen. Nach einem solchen Essanfall bemühte ich mich
wiederum noch verstärkt, das Essen einzuschränken. Meine sozialen Kontakte habe ich
über kurz oder lang auf ein Minimum reduziert: Ich habe vermieden, mich mit anderen
zum Essen zu treffen; zu Hause habe ich versucht, wann immer möglich, nicht mit der
Familie essen zu müssen,
und habe mir dafür immer wieder neue Ausreden oder Begründungen für mein geringes
Essen ausgedacht; aufgrund meines hohen Einsatzes für die Schule und das tägliche
Joggen blieb mir auch gar nicht mehr viel Zeit für Verabredungen. Mit der Zeit interessierte
ich mich auch gar nicht mehr dafür, etwas zu unternehmen oder etwas zu machen, was
mir vor einem Jahr noch Freude bereitet hatte. Körperlich traten nebst Erschöpfung
weitere Veränderungen ein, wie das Ausbleiben der Menstruation, ständiges Frieren,
trockene Haut.“
Epidemiologie und Komorbidität
Wie häufig tritt die Anorexia Nervosa auf?
Hinsichtlich der ↑ Epidemiologie der Anorexia Nervosa lassen sich folgende Aussagen
treffen: Die ↑ Prävalenzrate der Anorexia Nervosa bei jungen Frauen im Alter zwischen
vierzehn und zwanzig Jahren schwankt zwischen 0 und 0,9% und beträgt im Durchschnitt
0,3%.Die ↑ Inzidenzrate der Anorexia Nervosa umfasst acht Neuerkrankungen pro Jahr
bezogen auf 100 000 Einwohner (Hoek 2006). Die Prävalenz der Anorexia Nervosa ist
seit den 1970er Jahren stabil, stieg in den Jahrzehnten davor jedoch stetig an. Damit
tritt die Anorexia Nervosa deutlich weniger häufig auf als die Bulimia Nervosa (Kapitel
2) und die Binge Eating Disorder (Kapitel 3).
Kernaussage
Die Anorexia Nervosa tritt in ihrer ↑ klinisch relevanten Ausprägung relativ selten auf. Hingegen sind entsprechende einzelne
Symptome eines gestörten Essverhaltens in der Bevölkerung relativ häufig. Zu diesen
Symptomen gehören beispielsweise rigides oder gezügeltes Essverhalten, Unzufriedenheit
mit Figur und Gewicht, das Durchführen von Diäten. Auch sie sind wiederum vor allem
unter jungen Frauen in der ↑ Adoleszenz verbreitet (Hoek/van Hoeken 2003).
Wer erkrankt an der Anorexia Nervosa?
Die höchsten Inzidenzraten der Anorexia Nervosa treten bei jungen Frauen im Alter
zwischen fünfzehn und neunzehn Jahren auf. Aus dieser
Altersgruppe stammen ca. 40 % der Neuerkrankungen. Pubertät und Adoleszenz mit den
dazugehörenden Veränderungen hinsichtlich Körpergewicht und Figur stellen besondere
Risikozeiten für die Entstehung dieser Essstörung dar. Mit zunehmendem Alter nimmt
die Inzidenz der Anorexia Nervosa hingegen kontinuierlich ab. Die Anorexia Nervosa
tritt vorwiegend bei Frauen auf, wobei auch Männer von der Essstörung betroffen sein
können. Das Geschlechtsverhältnis Frauen: Männer beträgt 10:1 (Hoek/van Hoeken 2003).
Gehäuft tritt die Anorexia Nervosa in Bevölkerungsschichten mit einem höheren sozioökonomischen
Status auf.
Welchen Verlauf nimmt die Anorexia Nervosa und wie ist die Prognose?
Eine Übersichtsarbeit von Steinhausen (2002) beschreibt folgenden Verlauf des Störungsbildes
der Anorexia Nervosa:
• Bei weniger als der Hälfte remittierte (↑ Remission) die Symptomatik.
• Bei einem Drittel verbesserte sich die Symptomatik.
• Circa 20 % der Betroffenen wiesen eine Chronifizierung der Essstörung auf.
• Durchschnittlich 5 % der Betroffenen starben aufgrund der Essstörung.
Eine Verlaufsuntersuchung von Fichter et al. (2006) zeigt, dass zwölf Jahre nach Behandlungsabschluss
• rund 52 % der Patientinnen unter keiner Essstörung mehr litten,
• knapp 20 % noch die Kriterien einer Anorexia Nervosa erfüllten,
• 9,5 % die Symptomatik einer Bulimia Nervosa (Kapitel 2) aufwiesen,