Euphrat - Leo M. Friedrich - E-Book

Euphrat E-Book

Leo M. Friedrich

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Beschreibung

Ein junger deutscher Arzt wird aus einem afghanischen Krankenhaus entführt. Kurz darauf rammt in Ottawa ein Lastwagen das Auto eines Ex-Agenten. Bei einer Messerstecherei in einem deutschen Auffanglager stirbt ein syrischer Flüchtling. Die angesehene Archäologin Kathrin Bohm verschwindet mitten in der Nacht aus ihrem Hotel. Deren Nichte Claudia macht sich auf die Suche. Alle Spuren führen nach Rakka, in die Hauptstadt des Islamischen Staates. Dort verfolgt der Geheimdienst ganz eigene Pläne...

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Seitenzahl: 347

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Leo M. Friedrich

Euphrat

Thriller

© 2017 Leo M. Friedrich

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7323-7269-0

e-Book:

978-3-7323-7271-3

Cover

fayefayedesign

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Es gab noch nie einen guten Krieg oder einen schlechten Frieden.

Benjamin Franklin

Rakka, Syrien Sommer 2015

Die Sonne blendete ihn so sehr, dass er für einen Moment die Augen schließen musste und stehen blieb. Sofort bekam er von einer der Wachen, die ihn ins Freie geleiteten, einen Stoß in den Rücken, der ihn lang hinstürzen ließ. Als er sich mühsam aufrichtete, sah er an der gegenüberliegenden Wand die aufgespannte schwarze Fahne des Islamischen Staates. Davor stand auf einem dreibeinigen Stativ eine Kamera. In diesem Moment wurde Professor Khaliq Al Fahad klar, dass er nur noch wenige Minuten zu leben hatte. Er war für diese Schlächter wertlos geworden, denn sie hatten in den letzten Wochen alles, was sie erfahren wollten, aus ihm herausgesogen.

Die ersten Tage war er noch standhaft geblieben. Man hatte ihn geschlagen und den Kopf in einen Eimer mit Wasser getaucht, bis er glaubte, ertrinken zu müssen. Immer wieder musste er dieselben Fragen beantworten. Professor Al Fahad war Zeit seines Lebens einer der führenden Archäologen Syriens gewesen. Es war im Wesentlichen sein Verdienst, dass die Ruinen von Palmyra, der uralten Karawanenstadt in der Wüste, erforscht, vermessen und vor allem erhalten geblieben waren. Er hatte an diesem Ort mehr als dreißig Jahre seines Lebens verbracht und kannte jeden Stein. Fahad wäre in der Lage gewesen, aus dem Gedächtnis eine genaue Karte der Ruinenstadt zu zeichnen.

Als vor drei Monaten die Wagenkolonnen mit den schwarzen Fahnen täglich näher an Palmyra heranrückten, packte er mit den letzten verbliebenen Mitarbeitern alles zusammen, was man in der Eile finden konnte, um wenigstens die jahrtausendealten archäologischen Artefakte nach Damaskus in Sicherheit zu bringen. Fieberhaft stopften sie alte Tontafeln, Pergamente und steinerne Skulpturen in Kisten und Bündel, um sie dann auf Lastwagen zu verladen, deren Fahrer es gar nicht erwarten konnten, von hier wegzukommen. Auf den letzten Truck beorderte Al Fahad dann seine Kollegen, fünf Männer und zwei Frauen, mit denen er hier über Jahre zusammengearbeitet hatte. Er selbst weigerte sich, diesen Ort zu verlassen. Ihm war klar, dass er die Ruinen nicht vor den Barbaren des Islamischen Staates schützen konnte. Aber er brachte es nicht über sich, Palmyra zu verlassen. Ihm war klar, dass er hier sterben würde.

Nur wenige Stunden, nachdem die letzten regulären syrischen Soldaten abgezogen waren, rückte eine Kolonne von sandgrau lackierten Toyota Pickups in die Wüstenstadt ein. Von jedem kletterten zehn bis zwölf schwer bewaffnete junge Männer. Sie traten die Tür des Bürocontainers ein, in dem Al Fahad sie erwartete und zerrten ihn nach draußen. Bevor man ihn auf eines der Fahrzeuge lud, musste er mit ansehen, wie einige der Islamisten begannen, die Ruinen mit Panzerfäusten zu beschießen. Dann zog man ihm einen schwarzen Sack über den Kopf und brachte ihn für immer fort aus Palmyra.

Die Verhöre in dem Verlies in Rakka bekamen eine neue Wendung, als Al Fahad eines Tages einem Mann gegenübersaß, der nicht wie einer der üblichen brutalen Fanatiker aussah, die die letzten Tage auf ihn eingeprügelt hatten. Sinan Al Omair trug nicht wie die anderen IS-Krieger einen dreckigen, vom Wüstenstaub und der Sonne gezeichneten Kampfanzug. Der Chef des Geheimdienstes des Islamischen Staates legte Wert auf ein gepflegtes, westlich anmutendes Äußeres. Er trug einen leichten, gut geschnittenen Sommeranzug, ein weißes Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. In Kontrast dazu stand die Kufya, das arabische Kopftuch auf seinem schwarzen Haar. Al Omairs Gesicht wurde von einem sorgfältig gestutzten Bart umrankt. Er erhob sich sogar, als man Al Fahad in den Raum führte.

„Professor, ich möchte mich zunächst für die Umstände entschuldigen, die man Ihnen bereitet. Aber Sie müssen verstehen, dass die Männer nicht alle an der Universität studiert haben. Deshalb fehlt ihnen der nötige Respekt vor einem akademischen Grad. Bitte setzen Sie sich und trinken Sie einen Tee mit mir. Sie werden erkennen, dass nicht alles stimmt, was man heute über die Kämpfer Allahs in den Medien hört und sieht. Wir sind nicht die tumben Barbaren, für die man uns immer hält.“

Fahad starrte den Mann gebannt an. Ihm schmerzte noch immer der Rücken von den Schlägen, die er regelmäßig bekam.

„Was wollen Sie von mir? Ich habe schon alles, was ich weiß, Ihren Männern erzählt.“

Al Omair lachte.

„Was wollten meine Männer denn von Ihnen wissen?“

„Ich sollte Ihnen sagen, wo die Schätze von Palmyra versteckt sind.“

„Aha. Und wo sind diese… Schätze?“

Al Fahad schnaufte.

„Das wissen Sie doch ganz genau. Alles, was wir evakuieren konnten, befindet sich jetzt in Damaskus. Und viele der eigentlichen Schätze haben Ihre Leute mit Panzerfäusten zerstört.“

Es schüttelte den alten Mann immer noch, wenn er an die Bilder dachte.

Al Omair trank einen Schluck Tee.

„Wissen Sie, Professor, mir ist schon klar, dass wir in Palmyra keine Schätze mehr finden werden. Sie hatten Zeit genug, alles Wertvolle wegzuschaffen. Und die besten Stücke sind sowieso seit vielen Jahren in der Hauptstadt. Ich selbst war vor einigen Jahren einmal als Tourist in Ihrer Ruinenstadt. Es war durchaus beeindruckend.“

„So beeindruckend, dass Sie jetzt alles zerstören?“

„Nein, es ist der Wille Allahs. In Palmyra werden Götzen verehrt. Das können wir nicht zulassen. Es macht auch keinen Sinn, wenn Sie sich jetzt darüber aufregen. Sie können es sowieso nicht mehr verhindern. Niemand kann uns stoppen, denn wir vollstrecken den Willen Allahs und seines Propheten.“

„Wenn Ihnen klar ist, dass in Palmyra nichts mehr zu finden ist, was wollen Sie dann noch von mir?“

Omair stand auf und begann, durch den Raum zu wandern.

„Die Verhöre der letzten Tage dienten eigentlich nur dazu, Sie, nun ja, ein wenig weichzuklopfen. Es geht mir nicht um Palmyra. Das ist eine Ansammlung alter Ruinen, die wir in der nächsten Zeit alle sprengen werden. Ich brauche von Ihnen Informationen über etwas anderes, etwas bedeutsameres.“

Der Professor griff nach dem Teeglas und trank vorsichtig einen Schluck. Dann sah er zu Al Omair auf, der nun direkt vor ihm stand.

„Und das wäre?“

„Ich suche die Überreste von Akkad.“

Al Fahad wäre beinahe das Teeglas aus den Händen geglitten.

„Akkad? Danach suchen die Wissenschaftler bereits seit über einhundertfünfzig Jahren. Wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet ich wissen soll, wo die Reste zu finden sind? Und warum ausgerechnet Akkad?“

Al Omair setzte sich wieder an den Tisch und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche seines Jacketts. Er beugte sich weit über den Tisch, nahe an das Gesicht des Professors.

„Wir sind bei unseren… Eroberungen auf ein Dokument gestoßen, dass von dem Schatz des Sargon berichtet. Sie wissen schon, dem Sargon, der Akkad zu seiner Hauptstadt machte.“

Er faltete das Blatt auseinander.

„Dies stand auf einer Tontafel, die wir in einem Museum in Mossul sichergestellt haben.“

„Und wie kommen Sie darauf, dass ausgerechnet ich weiß, wo Akkad und dieser Schatz, wenn er denn existiert, liegen soll?“

Al Omair stand wieder auf und setzte seine Wanderung fort.

„Professor, Sie sind jetzt achtzig Jahre alt und einer der bekanntesten Archäologen des Orients. Wenn Sie nicht wissen, wo diese Stadt zu finden ist, wer dann?“

„Meinen Sie nicht, dass man sie schon längst gefunden hätte, wenn ich es wüsste.“

„Ich weiß, dass Sie kein Freund Saddam Husseins waren und keine Grabungserlaubnis im Irak bekommen hätten. Und den Amerikanern trauen Sie genau so wenig. Ich glaube, Sie wissen wo Akkad zu finden ist. Oder zumindest kennen Sie jemanden, der es weiß. Und entweder Sie oder dieser Jemand wird diesen Schatz für mich finden. Ich lasse Sie jetzt wieder in Ihre Zelle bringen. Sie haben bis morgen Zeit zum Nachdenken. Dann werde ich Sie persönlich vernehmen. Stellen Sie sich das bitte nicht so vor wie das, was man in den letzten Tagen mit Ihnen veranstaltet hat. Meine Methoden sind wesentlich effektiver. Sie müssen wissen, dass ich ein sehr ungeduldiger Mensch sein kann.“

Während man den sichtlich schockierten Professor zurück in den Keller brachte, schleppte ein junger Mann, unbeachtet von den Wachen, einen großen Topf Suppe in den Zellenblock. Gleichmütig öffnete er eine Tür nach der anderen und füllte den Gefangenen eine Kelle der dünnen Plörre in die Blechnäpfe. Als er Al Fahads Zelle erreichte, verharrte er einen kurzen Moment, bis die Wache aus dem dunklen Flur verschwunden war. Dann schlüpfte er in den muffigen, dunklen Raum. Al Fahad kauerte in der Ecke auf dem Boden und blickte nicht einmal auf. Der junge Mann hockte sich direkt vor ihn.

„Professor Fahad, ich habe Sie gleich erkannt. Sie haben mal eine Vorlesung gehalten. In Damaskus.“

Der alte Mann blickte auf.

„Mein Junge, ich habe viele Vorlesungen gehalten. Was kann ich für dich tun?“

„Mein Name ist Sameh Al Kurdi. Ich habe in Damaskus Geschichte studiert und war in einigen Ihrer Vorlesungen.“

„Und was, Sameh Al Kurdi, machst du dann an diesem furchtbaren Ort?“

„Ich habe meine Mutter in Rakka besucht, als mich der Daesch geschnappt hat. Seitdem muss ich hier arbeiten. Immer noch besser als für sie kämpfen zu müssen. Warum hat man Sie verhaftet? Sie hätten doch bestimmt nach Damaskus fliehen können?“

„Sicher hätte ich fliehen können. Aber ich bin ein alter Mann. Wem kann ich noch nützlich sein? Ich habe gehofft, dass sie mich in Palmyra töten. Stattdessen hat man mich hierhergebracht.“

„Professor, ich kann Ihnen vielleicht helfen, von hier zu fliehen. Ich kenne einen Weg aus der Stadt. Lassen Sie uns heute Nacht von hier abhauen.“

Al Fahad lächelte und legte dem Jungen die Hand auf die Schulter.

„Ich bin ein alter Mann. Wahrscheinlich würde ich nicht einmal den Weg aus diesem Gebäude überleben. Aber du kannst mir helfen. Bring mir einen Stift und ein Blatt Papier. Ich muss jemanden warnen. Und du wirst die Nachricht überbringen. Tust du das für mich?“

Sameh nickte und verschwand aus dem Verlies. Zehn Minuten später war er zurück.

„Die Wachen sind alle beim Gebet. Niemand hat etwas mitbekommen. Schreiben Sie schnell, Professor. In einer halben Stunde bin ich wieder da.“

Wie Al Fahad befürchtet hatte, konnte er der Folter der IS-Schergen nicht sehr lange standhalten. Sie bearbeiteten seinen ausgezehrten Körper einige Minuten mit Elektroschocks. Der Professor wünschte sich, zu sterben, um den qualvollen Schmerzen endlich ein Ende zu bereiten. Aber immer wieder wies Al Omair, der mit ausdruckslosem Gesicht in einer Ecke des kleinen Raumes saß, seine Männer an, eine kurze Pause einzulegen, um ihr Opfer danach mit noch größerer Intensität weiter zu quälen. Al Fahad hoffte, dass Sameh es geschafft hatte, die Stadt zu verlassen und brach schließlich sein Schweigen. Er flüsterte Al Omair mit letzter Kraft einen Namen ins Ohr, bevor er das Bewusstsein verlor und wieder in seine Zelle geschleppt wurde.

Das alles war jetzt gut zwei Wochen her. Seitdem hatte man den Professor in seiner Zelle in Ruhe gelassen. Nun stieß man ihn vor die Kamera. Ein gut zwei Meter großer Kerl, der sein Gesicht mit einem Tuch verhüllt hatte, baute sich hinter ihm auf und schwenkte ein großes Messer durch die glühend heiße Luft. Das alles bekam Professor Al Fahad nicht mehr mit. Er hatte sich selbst in eine Art Trance versetzt. Seine Gedanken waren bei dem Menschen, dessen Namen er dem Geheimdienstchef des Islamischen Staates ins Ohr geflüstert hatte. Bevor die Klinge seinen Hals berührte, sprach er ein kurzes Gebet für Kathrin Bohm.

Nahe Bagdad

Zur gleichen Zeit, als ein aus Großbritannien stammender Dschihadist Professor Khaliq Al Fahad mit einem Messer den Kopf abtrennte, betrat Sinan Al Omair ein heruntergekommenes Gehöft etwa dreißig Kilometer nördlich von Bagdad. Allerdings hatte sein Äußeres keine Ähnlichkeit mehr mit der Person, die zwei Wochen zuvor im Folterkeller in Rakka das Verhör des alten Wissenschaftlers geleitet hatte.

Al Omair trug eine zerschlissene Hose, die einmal Teil eines Kampfanzuges gewesen war, dazu eine khakifarbene Jacke, die auch schon bessere Tage erlebt hatte. Sein Gesicht wurde von einem schwarzen Vollbart umrahmt, eine Baseballmütze verdeckte sein kurzgeschnittenes dunkles Haar. Wenige Augenblicke zuvor war er aus dem Fahrerhaus eines klapprigen Kleinlasters geklettert und ohne aufzublicken in den Schatten des Hauses gelaufen. Er wusste um die Gefahr der allgegenwärtigen amerikanischen Drohnen, die bereits viele seiner Mitkämpfer getötet hatten. Und ihm war klar, dass er auf der Liste der meistgesuchten Terroristenführer ziemlich weit oben stand. Deshalb hatte er es sich zum Prinzip gemacht, außerhalb von Gebäuden niemals den Blick in den Himmel zu richten und so einer Drohne oder einem Satelliten die Gelegenheit zu geben, ein erstklassiges Foto von ihm zu schießen.

Al Omair betrat die Hütte und blieb einen Moment stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. In einer Ecke flammte plötzlich ein Feuerzeug auf. Instinktiv griff er nach der Pistole, die er unter seiner Jacke verbarg.

„Ganz ruhig, mein Freund. Wir sind hier beide allein. Und ich tue dir nichts.“

Omair atmete auf und steckte die Waffe weg.

„Burlington, warum sitzt du hier im Dunkeln? Ich hätte dich beinahe erschossen.“

Der Amerikaner lachte trocken und begann im nächsten Moment zu husten. Er zündete eine Kerze an, die den Raum ein wenig erhellte. Im flackernden Schein des Feuers sah Omair eine Maschinenpistole auf dem Tisch liegen. Burlington streichelte mit der Hand darüber.

„Glaubst du wirklich, ich hätte es soweit kommen lassen? Na los, Sinan, trink einen Tee mit mir. Einfach mal so auf die alten Zeiten.“

Zögernd setzte sich Omair auf einen klapprigen Hocker, den ihm der Amerikaner mit dem Fuß herüberschob.

„Es ist lange her, Tom.“

„Sehr lange, mein Freund. Viel zu lange. Damals warst du noch ein kleines Licht in Saddams Geheimdienst. Aber inzwischen hast du ja richtig Karriere gemacht bei diesen Kopfabschneidern vom Islamischen Staat.“

„Bitte sprich nicht so über meine Brüder. Sie tun, was Allah ihnen befiehlt.“

Burlington machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Das ist doch Bullshit, mein Freund. Du hast früher nicht dran geglaubt und glaubst es auch heute nicht. Du bist doch ein Profi, nicht wahr?“

„Ich diene meiner Sache. Wir erfüllen Allahs Willen. Das werdet Ihr Westler nie verstehen.“

„Sinan, mein Freund. Jetzt hör mir mal gut zu. Wir kennen uns jetzt fast zwanzig Jahre. Du warst damals im Irak meine beste Quelle. Und dafür wurdest du von Onkel Sam fürstlich bezahlt. Jetzt haben wir beide eine neue Mission. Mein Boss möchte den bösen Mann in Damaskus weghaben. Und dafür brauchen wir Euch. Kopfabschneiden hin oder her. Und du bist der Schlüssel. Du flüsterst Eurem Kalifen die Meinung ein. Keine Anschläge in den Staaten. Und wir sorgen dafür, dass euch nicht wirklich etwas passiert. Wie findest du das?“

Ganz langsam fand Omair seine Selbstsicherheit wieder. Burlington war damals in Bagdad wie ein Vater für ihn gewesen. Für die Informationen aus der Zentrale des irakischen Geheimdienstes hatte er stets eine stattliche Geldsumme auf ein Schweizer Bankkonto überwiesen bekommen. Eigentlich könnte er sich mit dem Geld irgendwo auf der Welt zur Ruhe setzen. Aber ihn trieb noch immer diese eine Mission um, die ihn dazu gebracht hatte, sich nach der Niederlage Saddams und seines Regimes dem sunnitischen Widerstand und später dem Islamischen Staat anzuschließen. Seine Fähigkeiten als Geheimdienstoffizier und vor allem seine Skrupellosigkeit ließen ihn dabei schnell in der Hierarchie der Gotteskrieger aufsteigen. Beharrlich und fleißig baute er für das Kalifat einen Sicherheitsdienst aus alten Mitstreitern der Bagdader Zentrale auf. Seine Agenten waren inzwischen überall auf der Welt im Einsatz. In einem Keller in Rakka, vollgestopft mit modernster Computertechnik, liefen alle Fäden zusammen. Dort saß inzwischen ein Heer von Auswertern, den besten, die er in der arabischen Welt bekommen konnte, und sichtete die Flut von Meldungen und Berichten, die täglich hereinströmte. Und Sinan Al Omair war die Spinne in der Mitte des Netzes. Er entschied, welche Meldungen dem Kalifen und seinen Beratern vorgelegt wurden.

„Die Angriffe der Amerikaner sind nicht das Problem, Burlington. Die Russen machen uns Sorgen. Ihre Bomber und Hubschrauber setzen uns inzwischen massiv zu. Der Kalif wird demnächst in ein anderes Hauptquartier wechseln. Rakka wird inzwischen immer häufiger angegriffen. Und du lässt mich in dieser Frage im Stich.“

Der Amerikaner schüttelte den Kopf.

„Wir haben leider sehr wenig Einfluss auf die Russen. Die sitzen in ihrem Stützpunkt in Latakia und betreiben eine eigene Aufklärung. Die Air Force hat zwar einen Verbindungsoffizier dort, dem zeigen sie aber auch nicht alles. Tut mir leid, mein Freund. Aber in dieser Sache sind mir die Hände gebunden. Ihr hättet eben nicht ihr Flugzeug über dem Sinai runterholen sollen. Man zieht nicht einem Tiger am Schwanz.“

Omair schaute ihm direkt in die Augen.

„Burlington, unternimm etwas! Wenn die Russen so weitermachen, gerät unser gesamtes Unternehmen in Gefahr. Dann können wir auch nicht mehr garantieren, dass Assad gestürzt wird. Das ist doch noch immer euer primäres Ziel, oder nicht?“

„Unser primäres Ziel könnte sich mittelfristig verschieben, wenn eure Leute nicht damit aufhören, Gefangenen die Köpfe abzuschneiden. Die Weltöffentlichkeit verliert so langsam die Geduld mit uns. Die Frage, warum wir euch seit einem Jahr bombardieren, ohne dass sich nennenswerte Ergebnisse zeigen, wird immer lauter. Spätestens seit die Russen mitspielen und euch vor aller Welt den Arsch versohlen, sind wir ganz schön in der Bredouille. Auch wir brauchen mal Erfolgsmeldungen. Liefere mir irgendetwas, Sinan! Ein Ziel, eine Tankerkolonne, eine Panzereinheit oder einen bedeutungslosen Stützpunkt, den wir plattmachen können, um der Welt zu beweisen, dass wir ernsthaft dabei sind, den Islamischen Staat zu stoppen.“

Omair dachte nach. Dann griff er in seine Jacke, holte einen Zettel hervor und strich ihn auf der Tischplatte glatt.

„Also gut, Burlington. Hier habe ich eine Uhrzeit und ein paar Koordinaten. Dort findet in zwei Tagen ein Treffen einiger Regionalführer unserer Organisation statt. Zwei dieser Männer stehen im Verdacht, mit der Al Nusra zu kooperieren. Vielleicht werden sie mit ihren Einheiten sogar überlaufen. Eigentlich wollte ich die Angelegenheit mit meinen eigenen Leuten regeln. Aber ich gönne euch den Triumph. Dafür möchte ich aber auch etwas haben. Du erinnerst dich doch bestimmt an die Mail, die ich dir vor ein paar Tagen geschickt habe?“

Der CIA-Agent grinste und schnippte eine SD-Speicherkarte auf den Tisch.

„Klar doch, Sinan. Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Obwohl ich mich immer noch frage, was das soll.“

Der Iraker griff nach der Speicherkarte und hielt sie gegen das Licht der Kerze, als könne er so erkennen, was sich darauf

befindet.

„Gibst du mir eine Kurzfassung?“

„Kathrin Bohm, geboren 1959 in Ostdeutschland, Doktor der Archäologie. Eine echte Koryphäe in ihrem Fach. Hochangesehen, Professuren an allen bedeutenden Universitäten dieser Welt. Spezialisiert auf die Geschichte Mesopotamiens. Hat etliche Bücher geschrieben.“

Omair ließ die Speicherkarte sinken.

„Erzähle mir was Neues. Etwas, das ich noch nicht über sie weiß. Googeln kann ich selbst, Burlington.“

„Okay, das war ja auch nur die Einleitung. Derzeit hat sie eine Stelle in Berlin, wird allerdings demnächst wechseln. Wohin ist noch offen, wahrscheinlich hat sie sich noch nicht entschieden. Angebote gibt es wohl genug. Sie ist geschieden, ihr Ex-Mann, ein Arzt, der früher die ganz hohen Tiere der ostdeutschen Regierung behandelt hat, ist vor ein paar Jahren gestorben.“

„Hat sie Kinder?“

„Einen Sohn, der nach der Scheidung beim Vater aufgewachsen ist. Christoph Schwabe. Der ist ebenfalls Arzt. Hat dem Vernehmen nach kaum Kontakt zu seiner Mutter. Und nun die gute Nachricht: Er arbeitet zurzeit für Ärzte ohne Grenzen in Kunduz. Ist offenbar einer von diesen Weltverbesserern.“

Omair schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Die Kerze wackelte.

„Das sind doch mal Neuigkeiten! Ich werde…“

Burlington hob die Hand.

„Es gibt allerdings auch noch schlechte Nachrichten. Der Bruder unserer Frau Doktor ist Peter Bohm. Ehemaliger Spezialagent beim ostdeutschen Geheimdienst. Und ausgerechnet der war in den letzten Jahren an diversen Aktionen beteiligt, in denen eure Glaubensbrüder ordentlich auf die Fresse gekriegt haben. Und das meistens in privater Mission.“

Omair schaute überrascht auf.

„Ist mir da was entgangen?“

Der Amerikaner zuckte mit den Schultern.

„2011 im Südsudan. Der großangelegte Putsch, den ihr mit Hilfe der Chinesen durchziehen wolltet. Wo quasi der Vorläufer eures islamischen Staates gegründet werden sollte. Peter Bohm gehörte zu den Truppen, die eure Kämpfer bei der Landung auf dem Flughafen empfangen und restlos aufgerieben haben.“

Der Iraker erinnerte sich mit einem leichten Schauer auf dem Rücken an die damalige Aktion. Seinerzeit wurde die Idee eines Allah geweihten Staates im Kugelhagel südsudanesischer Truppen und einer privaten kenianischen Sicherheitstruppe in Blut ertränkt. Diese Niederlage schmerzte noch immer, gab aber gleichzeitig der Gründung der Bewegung des islamischen Staates im Nahen Osten neuen Nachdruck.

„Der Name sagt mir nichts. Arbeitet er als Söldner?“

„Nach unseren Erkenntnissen ist er immer mal wieder privat in diese Sachen verwickelt. Er hat in den Neunzigern mit Waffen gehandelt und kennt vor allem in Afrika eine Menge einflussreicher Leute. Und es wird gemunkelt, dass er zum Führungszirkel der African Guards gehört. Dieser Privatarmee in Kenia, die euch im Südsudan in die Suppe gespuckt hat.“

„Du meinst, er könnte Ärger machen, wenn wir Kontakt zu seiner Schwester aufnehmen?“

„Irrtum, mein Freund. Er könnte keinen Ärger machen. Er wird mit Sicherheit Ärger machen. Dieser Mann ist ein Krieger. Und mit den Kenianern ist ebenfalls nicht zu spaßen. Auf der Speicherkarte findest du noch mehr Informationen. Bohm hat eine ziemlich eindrucksvolle Vita. Und die Agency führt bereits eine ziemlich dicke Akte über seine Aktivitäten. Einige Leute in den Staaten haben auch noch eine Rechnung mit ihm offen. Ganz inoffiziell natürlich.“

„Das heißt, wir müssen uns zuerst um ihn kümmern.“

„Sinan, ich habe keine Ahnung, was du vorhast. Ich kann aber auch nicht sagen, dass es mich nicht interessiert. Dann hätte ich meinen Job verfehlt. Also rate ich dir, vorsichtig zu sein. Die Luft für euren Verein wird immer dünner. Auch wenn es derzeit nicht so aussieht. Und es wäre für uns beide nicht vorteilhaft, wenn du in den Fängen irgendeiner dubiosen Organisation landest und über unser Verhältnis auspackst. Du verstehst, was ich meine?“

Omair nickte bedächtig. Schon klar, mein Freund, dachte er. Dir geht der Arsch auf Grundeis, weil du Angst hast, die Welt könnte erfahren, dass die Vereinigten Staaten mit der größten Terrororganisation der Welt zusammenarbeiteten. Er erhob sich langsam und legte die Hand auf die Brust.

„Tom Burlington, es war mir wie immer ein Vergnügen. Wenn du noch einen guten Rat von mir annehmen möchtest? Meide in den nächsten Monaten Europa.

Dort könnte der Winter recht ungemütlich werden.“

Kunduz, Afghanistan

Die beiden Wachposten vor dem Krankenhaus bemerkten die Pickups als erste und machten sich aus dem Staub. So konnten die drei mit bärtigen Taliban-Kriegern besetzten Fahrzeuge ungehindert auf den Hof des Gebäudekomplexes rollen. Die Männer sprangen von der Ladefläche und brachten ihre Kalaschnikows in Anschlag. Ein großgewachsener Afghane, offenbar der Anführer der martialisch aussehenden Truppe, winkte einige seiner Kämpfer zu sich und marschierte zum Haupteingang der Klinik. Dort stellte sich ihm ein Arzt in den Weg, der allerdings zu dem fast zwei Köpfe größeren Taliban-Kommandeur aufblicken musste.

„Was wollen Sie hier?“ Unverkennbar war der spanische Akzent.

Der Eindringling blieb stehen und blickte ein wenig belustigt auf den Doktor hinunter.

„Wir suchen jemanden. Einen Ihrer Ärzte.“

„Darf ich Sie darauf hinweisen, dass wir hier auch verwundete Taliban behandeln? Wir sind eine neutrale Einrichtung. Sie haben hier nichts zu suchen.“

Der Kommandeur schob demonstrativ die Maschinenpistole auf den Rücken.

„Dann machen wir gleich noch einen Krankenbesuch, wenn wir schon mal hier sind. Vorher aber möchte ich einen Ihrer Ärzte sehen. Bringen Sie Doktor Schwabe her.“

„Was wollen Sie von ihm?“ Der kleine Arzt bewegte sich keinen Zentimeter aus dem Türrahmen.

Der Taliban blieb gelassen, auch wenn die Männer hinter ihm langsam unruhig wurden. Offenbar genoss er die Unterhaltung angesichts seiner Übermacht.

„Das ist eine private Angelegenheit. Und nun lassen Sie uns bitte eintreten, bevor ich überzeugendere Argumente vorbringe.“

Er wollte sich an dem Arzt vorbeidrängen. Doch der rührte sich nicht vom Fleck.

„Ich wiederhole mich ungern. Sie haben hier nichts zu suchen. Wir sind eine neutrale Einrichtung. Bitte verlassen Sie mit Ihren Männern das Gelände.“

Der Kommandeur zog eine Pistole aus dem Hosenbund und hielt sie seinem wackeren Gegenüber an die Stirn.

„Doktor, Sie lassen mich und meine Männer jetzt ins Gebäude und schaffen mir diesen Deutschen her. Sonst werde ich ihnen ein Loch in den Schädel pusten und wir stellen den ganzen Laden hier auf den Kopf.“

Schritt für Schritt schob er den Arzt in das Innere, wo bereits einige Krankenschwestern wie erstarrt auf die Eindringlinge blickten.

Der Taliban-Anführer drückte nach wie vor die Pistole auf die Stirn des kleinen Doktors und sah sich um. Seine Männer verteilten sich in der schäbigen Eingangshalle und richteten mit grimmigen Blicken ihre Waffen auf die Umstehenden.

„Verhalten Sie sich ruhig. Es wird niemandem etwas geschehen. Wir suchen Christoph Schwabe. Bitte verständigen Sie ihn und lassen ihn herbringen.“

Der kleine Arzt, immer noch mit der Mündung der Makarow an der Stirn, winkte eine der Krankenschwestern heran.

„Gehen Sie los und bringen Sie ihn her. Machen Sie schon.“

Der Taliban nickte ihm grinsend zu.

„Vielen Dank. Offenbar haben Sie mich jetzt verstanden.“

„Würden Sie dann bitte die Waffe herunternehmen?“

Ein kurzer Blick auf seine Männer, die immer noch mindestens vier verschiedene Angehörige des Krankenhauspersonals vor den Läufen ihrer Kalaschnikows hatten, dann hob der Kommandeur die Pistole in die Höhe und schob sie kurz darauf zurück in den Hosenbund.

„Keine Sorge, Doktor. Ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie hier tun. Unsere Männer, die von Ihnen behandelt wurden, sind des Lobes voll über Ihre Arbeit.“

„Warum überfallen Sie uns dann?“

„Das ist, wie ich bereits sagte, eine persönliche Sache. Nichts, was mit Ihnen zu tun hat.“

Christoph Schwabe war jetzt seit einem Monat in Kunduz und hatte es bereits mehrmals bereut, dem Aufruf der Hilfsorganisation gefolgt zu sein. Die Arbeitsbedingungen waren katastrophal, es mangelte faktisch an allem. Das einheimische Personal war schlecht ausgebildet, versuchte aber, dies durch überbordenden Eifer wettzumachen. Was immer wieder zu neuen Problemen führte. Dazu kamen die Unterbringung in einem heruntergekommenen Wohnheim, das miese Essen, die Sprachprobleme und nicht zuletzt die mehr als desolate Sicherheitslage. Seit die Bundeswehr die Region vor einigen Monaten an die afghanische Armee übergeben hatte und nach Hause gefahren war, häuften sich die Überfälle der Taliban. Die schienen nur darauf gewartet zu haben, es wieder mit den völlig überforderten einheimischen Streitkräften zu tun zu bekommen. Kurzum, Schwabe hatte die Nase voll und zählte die Tage, bis er wieder nach Deutschland zurückkehren konnte. Aber er hatte sich nun einmal verpflichtet, sechs Wochen in dieser Hölle zu arbeiten. Schließlich brauchte er einmal einen Tapetenwechsel. Nach der Trennung von seiner Freundin und den ständigen Streitereien mit seinem Chefarzt war das Angebot von „Ärzte ohne Grenzen“ gerade zur rechten Zeit gekommen, um dem verhassten Leipziger Krankenhaus für einige Zeit den Rücken zu kehren. Bei seiner Abreise aus Sachsen war er sicher, nie wieder dorthin zurückzukehren. Jetzt, nach vier Wochen in Kunduz, kam es ihm vor wie das Paradies.

Er beugte sich gerade über ein kleines Mädchen, das heute Morgen mit hohem Fieber eingeliefert worden war. Neben ihrem Bett saß eine in eine Burka gehüllte Mutter oder Tante. So genau hatte er das nicht mitbekommen. Die Krankenschwester neben ihm versuchte verzweifelt, deren Wortschwall in schlechtes Englisch zu übersetzen. Er schnallte der Kleinen, die mittlerweile völlig teilnahmslos an die Decke schaute, eine Blutdruckmanschette um. Jetzt reagierte das Mädchen panisch und begann, sich im Bett herumzuwerfen. Gleichzeitig wurde die Stimme der verhüllten Frau lauter. Genervt drehte Schwabe seinen Kopf zur Krankenschwester.

„Sagen Sie ihr, sie muss ruhig liegenbleiben. Ich tue ihr nichts.“

Die Schwester nickte und redete auf die völlig verängstigte Patientin ein. Die ließ sich schließlich zurück in das Kissen fallen. Der Arzt blickte auf das Messgerät.

„Verdammt. Der Blutdruck ist viel zu hoch. Aber zuerst müssen wir das Fieber bekämpfen. Bereiten Sie Wadenwickel vor. Und erklären Sie der Frau da, wie man sie wechselt.“

In diesem Moment näherten sich auf dem Gang schnelle Schritte. Eine weitere Krankenschwester stürzte in das Zimmer.

„Doktor, kommen Sie schnell. Am Eingang stehen ein paar Männer, die mit Ihnen sprechen wollen.“

Schwabe runzelte die Stirn.

„Mit mir? Was für Männer?“

Sichtlich irritiert blickte er die am ganzen Körper zitternde Schwester an. Die zuckte mit den Schultern.

„Sie sind bewaffnet. Offenbar Taliban. Und sie wollen zu Ihnen.“

In Schwabe begann es zu arbeiten. Was konnten die Taliban von ihm wollen? Seit er in Kunduz angekommen war, hatte er außer mit den Patienten, keinerlei Kontakt zu Einheimischen. Er besuchte noch nicht einmal den örtlichen Markt, weil es ihm zu bedrohlich erschien, das Gelände des Krankenhauses zu verlassen. Zögernd trat Christoph auf den Flur und wandte sich in Richtung der Eingangshalle. Angesichts der finster dreinblickenden, bewaffneten Gestalten, die ihre Maschinenpistolen auf die nach wie vor erstarrten Ärzte und Schwestern richteten, blieb er wie angewurzelt stehen. Ein großgewachsener, vollbärtiger Mann, der sich gerade mit Doktor Mandrillo zu unterhalten schien, erblickte ihn und kam mit federndem Schritt auf ihn zu.

„Ich nehme an, Sie sind Christoph Schwabe?“

„Ich bin Doktor Schwabe. Was wollen Sie von mir?“

Der Kommandeur kramte ein Smartphone aus einer der Taschen seiner Militärjacke und öffnete ein Foto. Er hielt das Handy neben Schwabes Gesicht.

„Kommen Sie mit!“

Der bärtige Taliban packte ihn am Oberarm. Schwabe schlug die Hand herunter.

„Was soll das? Ich gehe nirgendwo hin.“

Statt einer Antwort zog der andere eine Pistole und richtete sie auf ihn.

„Doch Doktor. Ganz sicher werden Sie mich begleiten. Ihre Kollegen waren sehr kooperativ. Sie wollen doch diesen guten Eindruck, den wir von Ihrer Klinik haben, nicht verderben wollen?“

Er schob Schwabe in Richtung Tür. Der kleine Doktor mit dem spanischen Akzent wagte einen letzten Protest.

„Was haben Sie vor? Wo bringen Sie ihn hin?“

Der Kommandeur blieb stehen und drehte sich um. Drohend richtete er seine Pistole auf den Arzt.

„Zu viele Fragen Doktor. Tun Sie einfach so, als sei nichts passiert. Das ist am besten für alle. Allah sei mit ihnen.“

Dann versetzte er Schwabe, der ebenfalls stehen geblieben war, einen leichten Stoß und schob ihn in Richtung der Pickups, die wenig später einer nach dem anderen durch das Tor ins Freie rollten. Dort gaben sie Gas und waren innerhalb weniger Minuten aus der Stadt verschwunden. Nur wenige Passanten wagten es, genauer hinzuschauen und diejenigen, die es taten, bemerkten zwischen den Bewaffneten auf einer der Ladeflächen eine Gestalt mit einem schwarzen Sack über dem Kopf.

Schwerin, Deutschland

„Jetzt hören Sie mir mal zu, Herr Staatssekretär! Ich habe in den letzten fünfundzwanzig Jahren siebzehn Bücher und hunderte Fachartikel publiziert. Mich laden Kollegen aus aller Welt zu Ausgrabungen ein, weil sie meine Expertise brauchen. Und zu Hause auf meinem Schreibtisch liegen aktuell fünf Angebote für Professuren an den angesehensten Universitäten dieser Welt. Und Sie zweifeln meine Eignung an, weil mein Bruder in den achtziger Jahren bei der Stasi war?“

Kathrin Bohm wedelte aufgebracht mit einem Stoß Papiere vor den Augen der ihr regungslos gegenübersitzenden Männer umher. Ihr wurde in diesem Augenblick klar, dass sie die Stelle als Landesarchäologin wohl nun endgültig vergessen konnte. Sie lehnte sich zurück und stapelte sorgsam die Unterlagen, die sie eben noch herumgeschwenkt hatte, vor sich auf den Konferenztisch. Dabei beobachtete sie mit funkensprühenden Augen die Wirkung ihres Auftrittes. Der Staatssekretär fand als erster die Sprache wieder.

„Frau Bohm…“

„Frau Professor Bohm bitte, Herr Staatssekretär. Soviel Zeit wird doch wohl noch sein.“

Ihr Gegenüber schluckte und sie hatte sich wieder ein Stück von ihrem Ziel entfernt. Aber Kathrin Bohm begann das Spiel jetzt zu genießen. Die Bewerbung war nicht ihre Idee gewesen. Der derzeitige Landesarchäologe war ein alter Freund, der ihr bei einem guten Essen in einem langen Gespräch zugeraten hatte, sich um seine Stelle, die er demnächst aus Altersgründen räumen würde, zu bemühen. Sie hatte lange gezögert. Schließlich sah sie ihren Platz seit jeher bei Ausgrabungen irgendwo draußen in den entlegensten Ecken der Welt. Dort, wo sie in Zelten, schlechten Hotels oder einfach unter freiem Himmel übernachten musste, sich wochenlang von Tütensuppen ernährte und einen Großteil der Zeit damit verbrachte, handtellergroße Spinnen, neugierige Skorpione und giftige Schlangen zu vertreiben. Natürlich liebte sie es genauso, im Hörsaal zu stehen und zu beobachten, wie die Studenten jedes ihrer Worte aufsogen. Professor Kathrin Bohm war eine Legende in der Welt der Archäologie. Als erste Frau wurde sie in den Vorstand des World Archaological Congress gewählt, einer Organisation der bekanntesten praktizierenden Vertreter ihrer Wissenschaft. Sie galt als Expertin für die Vorbereitung und Planung von Grabungen, deren Rat sich Kollegen aus aller Welt einholten. Ihr eigentliches Spezialgebiet aber war die Erforschung der Geschichte Mesopotamiens. In den achtziger und neunziger Jahren verbrachte sie viele Monate in den Wüsten des Irak und Syriens. Sie sprach fließend arabisch sowie kurdisch. Seit jeher pflegte sie vielfältige Freundschaften in dieser Region.

Der Staatssekretär hob abwehrend die Hände.

„Frau Professor Bohm, Sie werden verstehen, dass wir bei der Besetzung der Position des Landesarchäologen absolute Sorgfalt walten lassen müssen. Schließlich ist das auch irgendwo eine politische Funktion. Und wenn die Presse davon Wind bekommt, dass wir jemanden mit unklarer Vergangenheit in so ein Amt hieven, droht uns eine Menge Ungemach.“

Kathrin Bohms Augen verengten sich zu Schlitzen. Ihr Gesicht war braungebrannt und von den unzähligen Aufenthalten in der rauen Natur gezeichnet. Sie verzichtete bewusst auf den Einsatz von Makeup und setzte ganz und gar auf die natürliche Ausstrahlung einer agilen Mitfünfzigerin.

„Wenn ich Sie richtig verstehe, suchen Sie also nicht jemanden mit Kompetenz. Sie möchten einen Bewerber mit sauberem Vorleben, richtig?“

„Nicht unbedingt…“

„Herr Staatssekretär, reden wir doch mal ganz offen.“

Kathrin Bohm beugte sich ein wenig über den Konferenztisch.

„Sie wollen jemanden haben, der brav und ordentlich im Westen studiert hat, immer treu die richtige Partei wählt und auch sonst nach Ihrer Pfeife tanzt, nicht wahr?“

Der Staatssekretär hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. Seine Augen weiteten sich.

„Jetzt ist es genug, Frau Professor. Ihre Verdienste in Ehren. Aber das muss ich mir von Ihnen nicht bieten lassen. Es geht bei der Besetzung dieser Position nicht darum, woher jemand kommt. Professor Schwalm, unser derzeitiger Landesarchäologe, ist schließlich auch aus dem Osten, wie Sie ja sehr genau wissen dürften. Ich verwahre mich also gegen derartige Unterstellungen. Im Übrigen betrachte ich dieses Gespräch hiermit als beendet.“

Er sprang auf und verließ so schnell den Raum, dass sein Referent erschreckt zusammenzuckte. Kathrin Bohm lehnte sich entspannt zurück und trank ihren Kaffee aus. Dann legte sie ihren Aktenkoffer vor sich auf den Tisch und begann langsam, die Unterlagen hineinzuschichten. Der Referent, ein junger, noch nicht einmal dreißigjähriger Mann, blickte sie an.

„Sie wollten die Stelle gar nicht, habe ich recht?“

Sie schloss ihren Aktenkoffer und erhob sich langsam.

„Junger Mann, ich brauche so einen Job nicht. Und außerdem bin ich es gar nicht gewohnt, mich irgendwo zu bewerben. So ein Gespräch habe ich noch nie führen müssen. Eigentlich versucht man immer, mich zu überzeugen, für ihn tätig zu werden. Vielleicht hatte Ihr Boss auch nur einen schlechten Tag.“

Eine halbe Stunde später nippte Kathrin Bohm im Büro des Landesarchäologen an einem Wasserglas.

„Du hättest sein Gesicht sehen sollen, Henning. Der hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.“

Henning Schwalm hatte sichtlich Mühe, ihre gute Laune zu teilen.

„Kathrin, ich habe dich nicht umsonst in das Rennen geschickt. Dies hätte dein Büro werden können. Aber nach allem, was ich nun höre, hast du es wohl verbockt.“

Kathrin Bohm schüttelte den Kopf.

„Da war nichts zu verbocken. Du bist ja noch von seinem Vorgänger eingestellt worden. Aber jetzt suchen sie einen Arschkriecher, der ihnen immer wieder bestätigt, wie wichtig sie sind. Darauf habe ich nun mal überhaupt keine Lust. Wer ist denn nun der heißeste Kandidat auf den Posten?“

„Nachdem du dich ja selbst ausgeknockt hast, wird es wohl Professor Katzmann werden.“

Kathrin Bohm, die gerade wieder einen Schluck Wasser trinken wollte, musste sich zusammenreißen, um nicht loszuprusten.

„Katzmann? Das ist nicht dein Ernst. Der würde doch eine Grabungsstelle nicht mal erkennen, wenn er direkt reinstürzt. Ich glaube nicht, dass der in den letzten zwanzig Jahren einmal seinen Schreibtisch verlassen hat.“

Schwalm wiegte den Kopf.

„Das ist ja das Problem. Deshalb wollte ich ja auch, dass du den Posten bekommst. Wir wissen beide, dass Katzmann eine komplette Fehlbesetzung wird.“

„Wenn der den Job bekommt, kann ich mich hier in MecPom nicht mehr sehen lassen.“ Kathrin gluckste. „Ich habe zwei oder drei Mal nachgewiesen, dass er mit ein paar seiner Theorien auf dem Holzweg war. Immer kam dann ein Anruf von ihm, dass ich seinen Ruf zerstören würde. Dabei ist der doch sowieso schon lange hinüber.“

Schwalm goss sich einen Kaffee ein.

„Aber wir werden es jetzt nicht mehr verhindern können. Armes MecPom. Wie sehen deine Pläne für die nächste Zeit aus?“

„Um mich mach dir mal keine Sorgen. Ich habe noch bis Ende des Jahres die Honorarprofessuren in Berlin und Hamburg. Danach werde ich wohl das Angebot aus San Diego annehmen. Vorher fliege ich noch ein paar Wochen nach Mexiko. Dort hat mir eine Uni ein First-Class-Ticket spendiert, damit ich mal einen Blick auf einen Maya-Tempel werfe, den sie dort irgendwo im Regenwald gefunden haben.“

Schwalm lächelte. „Ich glaube auch, dass dich dieser Job hier komplett unterfordert hätte. Du brauchst wirklich immer den Wind um die Nase.“

„Naja, eigentlich würde ich aber auch gern mal zur Ruhe kommen. Irgendwo einen Festpunkt haben, verstehst du? Ich jage seit dreißig Jahren um die Welt, ohne jemals anzukommen. Schau dich an. Du hast ein nettes Häuschen, eine Frau, Kinder, Enkel.“

„Was ist mit deinem Sohn? Hast du mal wieder was von ihm gehört?“

„Soweit ich weiß, ist er jetzt mit Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan und rettet die Welt. Der Tod seines Vaters vor zwei Jahren hat ihn wohl ganzschön mitgenommen. Mich ruft er nur zum Geburtstag an. Und diese Telefonate sind dann auch reichlich kurz. Es war eben Scheiße, dass sein Vater damals das Sorgerecht bekommen hat und ich ihn nur alle paar Monate sehen durfte. Aber der Herr Doktor aus dem Regierungskrankenhaus hatte eben die besseren politischen Beziehungen und ich war damals nur eine kleine wissenschaftliche Assistentin an der Uni.“

Kathrins Handy klingelte. Sie warf einen kurzen Blick auf das Display und drückte den Anruf weg. Schwalm schüttelte den Kopf.

„Komm heute Abend zu uns nach Hause. Meine Frau kocht uns was Schönes und wir können noch ein bisschen quatschen. Ich glaube, meine taffe Lara Croft braucht mal ein wenig Seelenmassage.“

Kathrin Bohm schüttelte den Kopf.

„Das ist verdammt nett von dir, Henning. Aber ich bin heute Abend mit meiner Nichte verabredet. Die studiert in Rostock und ich habe sie schon einige Zeit nicht mehr gesehen.“

Schwalm zog die Augenbrauen hoch.

„Das wusste ich gar nicht. Du bist ernsthaft Tante?“

„Die Tochter meines Bruders, der in Kanada wohnt. Du weißt schon, der, dessen Vergangenheit mir jetzt meine Karriere ruiniert. Und Claudia ist seit einigen Monaten hier in Deutschland. Sie wohnt bei ihrem Freund, einem Journalisten, und studiert an der Uni Medienwissenschaft und Geschichte. Da kann ich ihr sogar ein bisschen behilflich sein.“

„Interessant. Dann hast du ja doch so etwas wie eine Familie.“

Kathrin Bohm wiegte den Kopf.

„Leider sehe ich sie viel zu selten. Wie gesagt, Peter, mein Bruder wohnt mit seiner Frau, einer Brasilianerin, in Kanada. Neben Claudia haben sie noch einen Sohn, Ramon. Der ist inzwischen Profi-Eishockeytorwart in der NHL und verdient dort ein Schweinegeld. Dafür ist er kaum noch zu Hause.“

Schwalm fuchtelte mit der Hand durch die Luft.

„Warte mal. Waren das nicht die Kinder von deinem Bruder, die vor einigen Jahren entführt wurden? Ich erinnere mich an den riesigen Presserummel, den es damals gab.“

„Richtig. Das waren Ramon und Claudia. Peter hat sie wiedergefunden und so ganz nebenbei eine gigantische Verschwörung aufgedeckt.“

„Du hast eine interessante Familie. Da ist richtig was los.“

„Henning, wenn du wüsstest. Das ist ja noch lange nicht alles. Die Abenteuer meines Bruders würden inzwischen Bücher füllen. Der lässt wirklich nichts aus. Aber ich muss jetzt los. Vielleicht erzähle ich dir später mal davon. Vielen Dank für deine Unterstützung. Es tut mir leid, dass es mit deiner Nachfolge wohl nichts wird. Und grüß mir deine Frau recht herzlich. Ich besuche euch, sobald ich wieder mal im Lande bin.“

Die beiden Wissenschaftler umarmten sich kurz, dann verließ Kathrin Bohm eilig das Büro. Henning Schwalm beobachtete, wie sie auf dem Parkplatz unter seinem Fenster in ihren Mercedes stieg. Nur Sekunden später war der Wagen bereits verschwunden.

Seufzend setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch.

„Pass auf dich auf, Mädel.“

Ottawa, Kanada

Der morgendliche Berufsverkehr auf den Straßen der kanadischen Hauptstadt begann allmählich abzuflauen. Dave Bower rutschte nervös auf dem Beifahrersitz des schwarzen Mercedes Geländewagens herum. Die ganze Sache war ihm immer noch peinlich. Schließlich wurde er, Chefarzt einer der angesehensten Privatkliniken Kanadas, wie ein Schulkind von seinem Freund und Nachbarn zur Arbeit gefahren. Aber sein eigener Wagen wollte an diesem Morgen einfach nicht anspringen und seine Frau war mit ihrem kleinen Porsche bereits sehr zeitig zum Flughafen gefahren, um an einer dieser unzähligen Tagungen irgendwo in Florida teilzunehmen. So blieb ihm nichts weiter übrig, als Peter Bohm anzurufen, den diese Fahrt sichtlich zu amüsieren schien. Bower wollte gerade zu einer erneuten Entschuldigung ansetzen, als Bohm in den Rückspiegel blickte und die Hand hob.

„Ich glaube, wir werden verfolgt.“

Der Arzt riss ruckartig den Kopf herum und versuchte, durch die Heckscheibe etwas zu erspähen.

„Ich kann nichts erkennen. Bist du dir sicher?“

Bohm nickte und blickte weiter angestrengt in den Außenspiegel.

„Ein weißer Toyota. Im Moment ist er zwei Autos hinter uns. Der folgt uns schon, seit wir aus unserem Viertel auf die Hauptstraße abgebogen sind. Er macht das ziemlich geschickt. Allerdings ist sein Wagen zu auffällig.“

Bower schaute wieder nach hinten.

„Ich würde das nicht einmal bemerken, wenn er die ganze Zeit direkt an meiner Stoßstange kleben würde. Du bist immer noch ein echter Spion.“

Bohm lächelte.

„Gelernt ist eben gelernt. Dafür kann ich keine Herzklappen transplantieren.“

„Was mag der Kerl da hinter uns vorhaben? Hast du das Auto schon einmal gesehen?“