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Das Buch erzählt vom Weg einer bronzezeitlichen Axt, vor über dreitausend Jahren erschaffen in einem Dorf am Rande der Karpaten, bis in die Gegenwart und berichtet von Kämpfen, Kriegen und den persönlichen Schicksalen ihrer Besitzer. Es nimmt den Leser mit an Orte, in denen Weltgeschichte geschrieben wurde und schildert die Abenteuer der vermeintlich "kleinen Leute", deren einzig wertvoller Schatz, eben diese alte Waffe, von Generation zu Generation weitergegeben wird.
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Seitenzahl: 255
Veröffentlichungsjahr: 2023
Leo M. Friedrich
Artefactum
Vermächtnis aus der Bronzezeit
© 2023 Leo M. Friedrich
ISBN Softcover: 978-3-347-90317-3
ISBN Hardcover: 978-3-347-90320-3
ISBN E-Book: 978-3-347-90324-1
ISBN Großschrift: 978-3-347-90325-8
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
„Je weiter man zurückblicken kann, desto weiter wird man vorausschauen.“
Winston Churchill
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Prolog 2016 Rostock
1.245 V.C. Südlich der Karpaten im heutigen Rumänien
2016 Rostock
331 V. Chr. Gaugamela (heute nördlicher Irak)
4 V. Chr. Jerusalem
449 n. Ch. Südliches Britannien
793 n. Ch. Kloster Lindisfarne
845 n.C. Hammaburg (heute Hamburg)
2016 Rostock
1165 Michelenburg (nahe Wismar)
2016 Rostock
1383 Uckermark
1439 Uckermark
2016 Rostock
1525 Harz
1636 nahe Lüneburg
2017 Parker Libary Cambridge
1779 Wehlingsberg / Elbe
2017 Cambridge
1813 Gottesgabe /Mecklenburg
2018 Rostock
1887 Wehlingsberg / Elbe
2018 Rocroi in den Ardennen
1929 Wehlingsberg / Elbe
2019 Amsterdam / Niederlande
1943 Wehlingsberg / Elbe
2003 Wehlingsberg / Elbe
2019 Bedum / Niederlande
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Urheberrechte
Prolog 2016 Rostock
2019 Bedum / Niederlande
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Prolog 2016 Rostock
Der Lichtstrahl der Taschenlampe huschte scheinbar ziellos durch den Raum, glitt achtlos über die mit langen Texten in verschiedenen Sprachen bedruckten Schautafeln hinweg und verharrte schließlich an einer der zahlreichen Vitrinen. In Windeseile machten sich die beiden dunkel gekleideten Gestalten über die Glaskästen her. Sie brauchten an den Bewegungsmelder, der aus einer Ecke den Raum bewachte, keinen Gedanken verschwenden. Als sie zwei Tage vorher das Museum auskundschafteten, hatten sie ihn in einem unbeobachteten Moment mit Haarlack besprüht und somit erblinden lassen, ohne dass es dem Aufsichtspersonal oder einem Wachmann aufgefallen wäre. Die beiden Einbrecher wirkten perfekt aufeinander eingespielt. Während einer mit einem Hammer die Glasscheiben der Vitrinen zerschlug, stopfte sein Kumpan deren Inhalt in einen gewaltigen schwarzen Sack. Abgesehen hatten es die Männer dabei vorrangig auf die alten Waffen, die in diesem Raum ausgestellt waren. Und so rafften sie nacheinander eine Reihe Schwerter, Säbel und Dolche zusammen, gefolgt von zwei Musketen und einigen Steinschlosspistolen. Am nächsten Exponat verharrte der Mann mit dem Hammer für einen Moment. Das Licht seiner Taschenlampe zerrte ein eigenwillig geformtes Stück Metall aus der Dunkelheit, eine Art Halbmond, der auf einem langen, mit Leder umwickelten Stiel steckte. Fragend schaute er seinen Komplizen an, der inzwischen einige Mühe hatte, den mittlerweile recht schwer gewordenen Sack durch den Raum zu bewegen.
„Was ist das?“
Der Lichtstrahl wanderte über das merkwürdige Objekt.
„Irgendeine Art Beil. Egal, das nehmen wir mit. Bringt vielleicht auch ein bisschen was ein. Und dann verschwinden wir.“
Mit einem Knall zerbarst die letzte Vitrine und die Axt mit der halbmondförmigen Klinge verschwand in dem schwarzen Sack.
1.245 v.C. Südlich der Karpaten im heutigen Rumänien
Der junge Krieger war soeben dabei, einige Vorräte in große lederne Taschen zu verpacken, als sein Vater ihn zu sich rufen ließ. Sidon legte die in grobe Leinentücher gewickelten Fladenbrote beiseite und begab sich auf den Weg zu der Schmiede. Auch wenn bis zur Abreise noch eine Menge zu tun blieb, so gebot der Respekt, den alten Mann nicht warten zu lassen. Durus ging bereits ungeduldig vor seiner Werkstatt auf und ab. Er war der Schmied des Dorfes, auch wenn der Begriff nicht so ganz seine eigentliche Tätigkeit wiedergab. Denn Sidons Vater verstand sich seit seiner Jugend meisterlich auf das Gießen von Bronze. So fertigte er tagein tagaus die verschiedensten Gegenstände für dieetwa einhundertzwanzig Bewohner der kleinen Siedlung am Fuße des mächtigen Gebirges, das später einmal Karpaten genannt werden würde. Er schmolz acht Teile Kupfer und zwei Teile Zinn in einem selbstgebauten Ofen über einem Holzkohlefeuer und goss dann das flüssige Metall in Formen. So produzierte er neben Schwertern und Tiegeln auch Schmuck und Werkzeuge. An den begehrten Rohstoffen für seine Arbeit herrschte kein Mangel. Das Dorf lag nahe eines der bedeutendsten Handelswege, der aus dem Südosten Europas in den Norden führte. Seine Bewohner waren bei den durchziehenden Kaufleuten gefragte Begleiter und Beschützer auf den Wegen durch das raue Gebirge. Regelmäßig führten Sidon und andere junge Männer die Händler mit ihren Waren durch die Berge, die von dichten Wäldern überzogen waren. Dafür wurden sie mit Anteilen von all den Dingen bezahlt, die auf den Rücken der Pferde und Esel verstaut waren. So galt ihr Dorf als eines derreichsten und wohlhabendsten in der Gegend.
Auch heute wollte der junge Mann mit einigen Gefährten aufbrechen, um eine gewaltige Kolonne von Händlern zu beschützen. Allerdings sollte ihr Weg dieses Mal weit in den Norden führen, bis an das große Meer. Dort würde man die Waren, vorwiegend Metalle, Schmuck und Stoffe gegen den in südlichen Ländern immer begehrter werdenden Bernstein eintauschen. Sidons Männer genossen bei den reisenden Händlern einen tadellosen Ruf. Deshalb hatte man sie durch einen Boten benachrichtigt und zu einem Treffpunkt westlich des Gebirges an einen großen Fluss beordert.
Der junge Mann trat vor seinen Vater und deutete eine Verbeugung an. Der Alte quittierte dies mit einem Nicken.
„Mein Sohn, ich habe ein Geschenk für dich.“
Er griff nach einem Gegenstand, der in ein grobes Tuch gewickelt war und hielt es mit beiden Händen in die Höhe. Sidon streifte den Stoff beiseite und bekam leuchtende Augen.
„Das… das hast du für mich gemacht?“ Fassungslos blickte er auf die Streitaxt, die sein Vater in den Händen hielt. Es war eine Waffe, wie er sie bereits bei einigen Händlern gesehen hatte, die aus dem Mittelmeerraum den beschwerlichen Weg in den Norden nahmen. Sie hatte ein schlankes, halbmondförmiges Blatt. Durch die drei Ösen, je eine am oberen und am unteren Ende sowie in der Mitte, war ein armlanger Stiel aus glänzendem Holz gezogen und mit Stiften aus Bronze befestigt worden. Das Griffstück hatte der alte Mann mit einem kunstvollen Geflecht aus Ziegenleder umwickelt, so dass es angenehm in der Hand lag.
„Dein Weg ist weit und gefährlich, mein Sohn. Deine Mutter und ich möchten, dass du für diese Reise mit den besten Waffenausgerüstet bist, die wir haben. Deshalb habe ich diese Axt für dich angefertigt. Die Form bekam ich bereits vor langer Zeit von einem durchreisenden Schmied aus dem Süden. Das Holz stammt von sehr weit her und ist so hart, dass noch die Kinder deiner Kinder mit dieser Waffe kämpfen werden. Die Götter mögen dich heil und gesund zu uns zurückbringen.“
Er senkte den Kopf, als Sidon nach der Waffe griff. Wohl auch, damit sein Sohn nicht die Träne bemerkte, die träge über seine Wange glitt. Doch der junge Mann hatte in diesem Moment nur Augen für sein Geschenk. Er packte die Axt am Griff und ließ sie mehrmals durch die Luft wirbeln. Dann legte er seinem Vater die Hand auf die Schulter.
„Ich danke dir von ganzem Herzen. Und ich verspreche, mich dieses Geschenkes würdig zu erweisen. Diese Axt wird mich für immer an Euch und meine Heimat erinnern.“
Durus nickte und schaute ihm dann in die Augen.
„Du musst aufbrechen. Lebe wohl, mein Sohn. Und gib auf dich acht. Wir werden für deine Rückkehr eine Ziege opfern.“
Ein letztes Mal umarmte er den jungen Mann, dann drehte er sich um und stampfte mit schwerem Schritt in seine Schmiede. Er wollte jetzt allein sein.
Bevor das Dorf außer Sichtweite geriet, zügelte Sidon noch einmal sein Pferd und schaute zurück. Der Abschied von der Mutter und den Schwestern war weitaus tränenreicher vonstattengegangen als der von seinem alten Vater. Es war, als ahnte seine Familie, dass sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Sidon hatte keinerlei Vorstellung, wie lange er unterwegs sein würde. Niemand aus dem Dorf hatte jemals eine so weite Reise angetreten. Er wischte sich über das Gesicht und trieb sein Pferd an, um seine Gefährten einzuholen. Nach drei Monden sollten sie aufdie Händler treffen und sich gemeinsam mit jungen Männern anderer Dörfer auf den Weg zum großen Wasser machen.
Die Gruppe, die sie begleiten sollten, bestand zur Überraschung Sidons und seiner Gefährten neben mehren Dutzend Händlern mit ihren Packtieren auch aus etwa zwanzig jungen Frauen. Einer der Kaufleute erklärte ihnen, dass es sich um Sklavinnen aus dem Süden handelte, die man am Zielort vorzugsweise gewinnbringend gegen Bernstein eintauschen könne.
Etliche Wochen waren sie bereits unterwegs. Der Weg hatte sie über ein nicht enden wollendes Gebirge und unzählige Flüsse geführt, bis sie ein Gebiet erreichten, in dem endlose Wälder und zahllose Seen immer schneller aufeinanderfolgten. Die Kolonne kam stetig mühsamer voran, wiederholt mussten sie umkehren und nach einem anderen Weg suchen.„Die Frauen sehen erschöpft aus. Wir sollten dort unser Lager für die Nacht aufschlagen.“
Sidon deutete mit dem Kopf auf eine kleine Lichtung, die sich vor ihnen auftat. Der Anführer der Kaufleute nickte.
„Ich gebe dir recht. Wir sind schon viel zu lange unterwegs. Wenn wir die Frauen ein wenig schonen, bringen sie einen besseren Preis als ein paar völlig erschöpfte Kreaturen. Die will dann keiner mehr haben. Lass uns hier rasten.“
Sidon nickte und winkte einen seiner Gefährten heran.
„Marmak, lass uns die Gegend erkunden. Wir wollen mal schauen, wie es hinter dem Wald weitergeht.“
Zu Sidons Gewohnheiten gehörte es, jeden Abend die Umgebung des Nachtquartiers zu durchstreifen und das erste Stück des Weges für den kommenden Tag zu erkunden. So ritt er auch dieses Mal mit seinem Freund durch den Wald. Nach kurzer Zeit öffnete sich vor ihnen eine ausgedehnteLichtung mit einer üppig grünenden Wiese. In einiger Entfernung erkannten sie einen Fluss, der sich in weiten Schwüngen durch die Landschaft schlängelte. Marmak trieb sein Pferd ein paar Schritte aus dem Wald heraus. Die Hufe erzeugten schmatzende Laute. Der Reiter sprang auf in das hohe Gras und schaute zu Sidon auf.
„Hier kommen wir nicht weiter. Der Boden ist zu weich. Wir müssen einen anderen Weg suchen.“
Vorsichtig führte er sein Pferd zurück an den Waldrand und stieg wieder auf. Sidon kniff die Augen zusammen.
„Lass uns dort drüben nachschauen. Da scheint eine Art Weg zu sein.“
Tatsächlich führte nur wenige hundert Meter nördlich ein aus Stämmen und dicken Ästen gebauter Damm über die Wiese zum Fluss, den hier eine aus grob behauenen Baumstämmen errichtete Brücke überspannte. Die beiden Männer nickten zufrieden.
„Wir werden morgen hier entlang gehen und über den Damm auf das andere Ufer gelangen. Und nun komm, im Lager wartet das Essen auf uns.“
Sidon zog am Zügel und ließ sein Pferd wenden. Marmak folgte seinem Beispiel. Keiner von ihnen bemerkte die Männer, die auf der anderen Seite der Lichtung im Unterholz des Waldes hockten und aufmerksam jede Bewegung der beiden Reiter beobachteten.
Die Angreifer hatten den Zeitpunkt der Attacke geschickt gewählt. Mehrere hundert Männer stürmten mit lautem Gebrüll aus dem Wald, als der größte Teil der Handelskarawane mit einigen Bewaffneten bereits das rechte Ufer des kleinen Flusses erreicht hatte. Währenddessen befand sich Sidon mit zwanzig anderen Kriegern noch auf der anderen Seite, um das Ende der Kolonne zu beschützen. Nachdem sie bemerkten, was passierte, zogen sie ihre Waffen und stürmten los. Jedoch warendie kleine Holzbrücke und der schmale Knüppeldamm mit panisch zurückflutenden Menschen verstopft und versperrten ihnen die Möglichkeit, ihren Gefährten auf der anderen Seite des Flusses zu Hilfe zu eilen. Sidon lenkte sein Pferd in das Wasser, allerdings war die Uferböschung steiler, als er es erwartet hatte. Vergeblich versuchte er, mit seinem Ross aus dem Flussbett herauszukommen. Schließlich sprang er von dessen Rücken und rappelte sich mühsam an Land. Dort zog er seine Streitaxt und sah sich schwer atmend um. Die Kolonne der Händler war zunächst mit einem Hagel aus Pfeilen eingedeckt worden, der eine verheerende Wirkung zeigte. Dutzende Menschen lagen bereits tot oder verletzt am Boden, während sich die unbekannten Angreifer mit martialischem Geschrei auf die Überlebenden stürzten. Sidon nahm den Kampf mit zwei Männern auf, die keulenschwingend auf ihn zu kamen. Dem ersten spaltete er mit einem gewaltigen Hieb den Schädel, gingdann in die Knie und schlug dem zweiten die Beine weg, kurz bevor dieser seine Waffe auf ihn niederschmettern konnte. Vor Schmerzen schreiend klatschte der Angreifer neben ihm ins Gras. Sidon tötete ihn mit einem weiteren Hieb seiner Axt und blickte sich um. Die Schlacht war in vollem Gange. Inzwischen hatten es auch die restlichen Krieger seiner Truppe geschafft, irgendwie über den Fluss zu kommen und in das Geschehen einzugreifen. Doch die Übermacht der Feinde war zu groß und die Verluste mittlerweile so gewaltig, dass der Kampf praktisch entschieden war. In Sidon und seinen verbliebenen Männern stieg die blanke Wut auf. Laut schreiend stürzten sie sich auf ihre Gegner und streckten eine ganze Reihe von ihnen nieder, bevor die meisten selbst getötet wurden. Sidon schaffte es noch, drei oder vier nur mit Holzkeulen bewaffnete Angreifer abzuwehren, dann traf etwas seinen Kopf. Ihm wurde schwarzvor Augen und er kippte bewusstlos ins hohe Gras.
Das erste, was Sidon bemerkte, als er wieder zu sich kam, war der Geruch von Rauch. Sein Schädel brummte wie ein Bienenschwarm. Vorsichtig öffnete er die Augen und erblickte über sich das niedrige Dach einer kargen Hütte. Sein Körper ruhte auf einer Unterlage aus Tierfellen und von irgendwoher schien ein Lichtstrahl auf sein Gesicht. Ohne den Kopf zu bewegen, blickte er nach rechts. Keine zwei Meter entfernt qualmte ein kleines Feuer vor sich hin. Daneben saß, mit dem Rücken zu ihm, ein Kind und stocherte mit einem Stock in den Flammen herum. Der Rest der Hütte lag im Dunkeln. Sidons Hände tasteten über seinen Körper, der gleichfalls mit einem dicken Fell zugedeckt war. Im nächsten Augenblick wurde es dunkel in dem winzigen Raum, als ein Mensch durch die Türöffnung ins Innere huschte. Sidon beobachtete, wie klapperndein Armvoll Holz auf den Boden fiel. Schemenhaft erkannte er die Gestalt einer Frau, die dem kleinen Jungen am Feuer über den Kopf strich. Der erhob sich und lief ins Freie. Die Unbekannte beugte sich zu ihm hinunter und lächelte.
„Du bist erwacht.“
Er wollte etwas sagen, doch seine Stimme versagte. Sie schüttelte den Kopf.
„Warte und bleib liegen!“
Vorsichtig führte sie eine Schale an seine Lippen. Gierig trank er das Wasser, ließ den Kopf wieder nach hinten fallen und nickte dankbar. Das Hämmern in seinem Schädel wurde schwächer.
„Wo bin ich?“
Die Frage kostete beinahe alle Kraft, die er im Moment hatte.
„In meiner Hütte. Ich habe dich zwischen den ganzen Toten gefunden. Du hast laut gestöhnt, konntest aber nicht sprechen. Mein Sohn und ich haben dich hierher gebracht. Du hast sehr viel geschlafen.“
Er dachte einen Augenblick nach und versuchte krampfhaft, sich ins Gedächtnis zu rufen, was passiert war. In seiner Erinnerung sah er Männer auf sich zu stürmen, die wütend Keulen schwangen. Dann war nichts mehr da.
„Was ist mit mir geschehen?“
Sie strich über seine Haare. Erst jetzt bemerkte er, dass irgendetwas um seinen Kopf gewickelt worden war.
„Du hattest sehr viel Blut in deinem Gesicht. Jemand hat dich geschlagen oder einen Stein nach dir geworfen. Aber du hast Glück, dass du noch lebst. Alle anderen sind gestorben. Man hat sie in den Fluss geworfen. Es gab viele Tote bei diesem Kampf.“
Stückweise kamen jetzt seine Erinnerungen zurück.
Die Schreie, fliegende Pfeile, Menschen, die in Panik in den Fluss sprangen. Mengen von Blut und Toten.
Er schaute die Frau an, die ihm erneut die Schale mit Wasser hinhielt.
„Wer bist du?“
Er griff nach dem hölzernen Gefäß. Seine Hände zitterten und er verschüttete einen Teil der Flüssigkeit.
„Mein Name ist Solina. Mein Sohn heißt Darak. Du bist hier erst einmal sicher. Viele von den Männern, die euch angegriffen haben, sind weitergezogen. Sie haben die Frauen, die bei euch waren, mitgenommen. Und meine Hütte steht weit weg vom Dorf. Die Menschen, die dort leben, wurden von den Fremden gezwungen, gegen euch zu kämpfen. Und nun sind auch viele von ihnen nicht mehr da. Niemand wird dich also hier suchen.“
Er trank die Schale leer und schaute sie an. Solina war jung, etwa in seinem Alter. Und sie hatte langes, schwarzes Haar. Wie die Frauen aus seinem Dorf.
„Wieso sprichst du meine Sprache?“
Sie lächelte und schaute ihm ins Gesicht. Erst jetzt bemerkte er ihre großen, dunklen Augen.
„Meine Mutter wurde als junges Mädchen aus ihrer Heimat entführt und hierher gebracht. Ähnlich wie die Frauen, die bei euch waren. Sie hat mir die Sprache ihrer Vorfahren beigebracht. Wahrscheinlich stammte sie aus einem Dorf, das nicht weit von deinem weg ist. Sage mir, kannst du dich jetzt wieder an deinen Namen erinnern.“
Er zog die Stirn kraus. Das bewirkte, dass ein Schmerz wie ein Pfeil durch seinen Kopf jagte.
„Ich bin Sidon, Sohn von Durus, dem Schmied.“
„Sehr schön, Sidon. Gut, dass du noch weißt, wie du heißt. Dann wirst du auch wieder gesund.“
Der kleine Junge kam in die Hütte gestürmt. In der Hand hielt er eine Axt, mit der er wild schreiend herumwirbelte. Solina hob die Arme.
„Darak, hör auf und leg das Ding weg. Du wirst noch jemandem damit weh tun.“
Sidon kniff die Augen zusammen.
„Womit spielt er da?“
Sie griff nach der Axt und legte sie auf seinen Schoß.
„Die lag unter deinem Körper, als wir dich fanden. Darak hat sie mitgenommen.“
Er legte die Hand auf die Waffe und strich beinahe zärtlich darüber.
„Mein Vater hat sie mir zum Abschied geschenkt. Er hat sie selbst geschmiedet. Danke, dass du sie mitgenommen hast. Und danke, dass Ihr mir geholfen habt. Sonst wäre ich jetzt bestimmt tot.“
Solina erhob sich.
„Hast du Hunger?“
Er nickte.
„Das ist gut. Es bedeutet, dass es dir wieder besser geht.“
Sie bückte sich zu ihrem Sohn hinunter und sagte etwas zu ihm, das er nicht verstand. Der Junge nickte und verließ eilig die Hütte.
Sidon richtete sich langsam auf und blickte ihr direkt in die Augen.
„Wie geht es jetzt weiter? Ich muss wieder zurück in mein Dorf.“
Sie hielt seinem Blick stand.
„Daraks Vater ist in dem Kampf gestorben. Er war einer der Männer aus unserem Dorf, die mit dabei waren. Sie wurden mit der Aussicht auf reiche Beute gelockt. Und nun ist er tot. Er war kein guter Mann. Hat mich und den Kleinen ständig geschlagen. Aber ich brauche einen Beschützer in diesem Haus. Und der Junge muss mit einem Vater aufwachsen.
Sie zog das Fell beiseite, unter dem er lag. Erst jetzt bemerkte Sidon, dass er nackt war. Solina schob ihr Gewand hoch und setzte sich rittlinks auf ihn.
„Ich wäre froh, wenn du bei mir bliebest.“
Die beiden Reiter kamen zwei Tage später. Solina war gerade dabei, auf einem Stein vor ihrer Hütte etwas Getreide zu mahlen. Erstaunt blickte sie auf. Sie kannte die Männer, die mit ernsten Gesichtern von ihren Pferden stiegen. Wortlos packten siedie junge Frau, die laut zu schreien anfing und wild um sich schlug. Augenblicke später stand Sidon in der Tür der kleinen Hütte. In der linken Hand hielt er die Axt seines Vaters.
„Was habt ihr mit ihr vor?“ Doch die Eindringlinge verstanden ihn nicht und zerrten die sich heftig wehrende Frau zu ihren Pferden. Mit einem Satz war Sidon bei ihnen. Er packte einen der Männer am Arm. Der funkelte ihn finster an und sagte etwas, das er nicht deuten konnte. Dafür hatte Solina ihn verstanden.
„Ich soll geopfert werden! Der Schamane hat befohlen, mich zu ihm zu bringen. Sie wollen mich töten!“
Sie fing noch wilder an zu strampeln und schlug um sich. Sidon selbst zögerte nicht lange und zertrümmerte den Schädel des Mannes, der ihm am nächsten stand, mit einem Hieb seiner Axt. Sein Kumpan erbleichte und ließ Solina los. Dann drehte er sich um und versuchte davonzulaufen. Doch Sidons Axt war schneller. Am Halsgetroffen sackte er blutüberströmt zu Boden. Solina schaute ihren Retter mit entsetzten Augen an.
„Das waren die Söhne des Ältesten. Wir müssen verschwinden. Sonst töten sie uns beide. Es werden andere kommen und uns holen.“
Sidon überlegte einen Augenblick und nickte dann.
„Los, pack ein paar Sachen! Wir nehmen die Pferde und verschwinden von hier. Wir kehren zurück in mein Dorf und die Heimat deiner Mutter.“
***
Die Sonne stand bereits tief und hier in den dichten Bergwäldern würde die Dunkelheit schneller einsetzen als unten in den weiten Ebenen. Banul stellte sich darauf ein, die Nacht hier draußen verbringen zu müssen. Seine Jagd war bisher nicht von Erfolg gekrönt. Statt eines ausgewachsenen Hirsches hatte er lediglich einen Hasen erlegt. Den würde er über einem Feuer braten, bevor er sich auf einem Lager aus Moos und Zweigen für einige Zeit schlafen legte. Er wusste, dass ihm eine unangenehme Nacht bevorstand. Der Sommer war in diesem Jahr kurz gewesen und wenn die Sonne vom Himmel verschwand, wurde es sofort bitterkalt. Banul prüfte zum wiederholten Male seine Habseligkeiten. Er trug eine zusammengerollte Decke aus Hirschfell bei sich, dazu Feuersteine, einen Beutel Wasser und diealte Streitaxt, die er von seinem Großvater Darak kurz vor dessen Tod bekommen hatte. Der hatte diese aus dem Norden mitgebracht, als er mit seiner Mutter und deren Begleiter vor irgendwem fliehen musste. Banul behandelte die bronzene Waffe wie ein Heiligtum. Obwohl sie sehr alt war, leistete sie ihm immer wieder gute Dienste, wenn es darum ging, Äste von Bäumen abzuschlagen oder Feuerholz zu hacken. Zu seinem Glück hatte er sie noch nie in einem Kampf einsetzen müssen. Seine Generation war bislang in Frieden aufgewachsen. Die Überfälle der Reiterstämme aus dem Osten hatten schon vor Jahren aufgehört und die Menschen im Süden des großen Gebirges konnten eher ungestört ihrer Arbeit nachgehen. Trotzdem war ihr Leben nicht leicht. Wegen der zahlreichen Konflikte im Süden zogen nicht mehr so viele Händler durch ihr Gebiet, die bei der Reise durch die Berge auf ortskundige Führer und Beschützer angewiesen waren. So musste Banul vomFrühjahr bis zum Herbst jede Woche zur Jagd aufbrechen, um Fleisch zu besorgen, dass er dann bei anderen Dorfbewohnern gegen Getreide und Milch tauschte.
Es gab geschicktere Jäger als ihn. Doch er fügte sich in sein Schicksal und war darauf vorbereitet, immer einmal wieder eine Nacht im Freien zu verbringen. Seine Frau und die drei Töchter waren daran gewöhnt und akzeptierten es, solange er genug Fleisch und Felle heranschaffte.
Banul beschloss, die Suche nach Wild für heute zu beenden und sich ein Lager zu bauen, bevor es endgültig dunkel werden würde. Er fand eine geschützte Stelle unter einem Felsvorsprung, legte seinen Bogen und die Hirschfelldecke auf den Boden und zog die Streitaxt aus dem Gürtel. Solange er noch genug Licht hatte, wollte er genügend Holz herbeischaffen, um die ganze Nacht ein kleines Feuer brennen zu lassen. Meistens reichte dies, um wildeTiere auf Abstand zu halten und etwas Wärme gespendet zu bekommen.
Wenige Meter neben seinem Lagerplatz entdeckte er einen umgestürzten Baum und nickte zufrieden. Der würde ihm soviel Holz liefern, wie er für die Nacht bräuchte. Mit Eifer machte sich Banul an die Arbeit. Dabei bemerkte er nicht, dass sich wenige Meter hinter ihm eine riesige dunkle Gestalt erhob. Er nahm den Bären erst wahr, als dieser, keine drei Armlängen von ihm entfernt, mit lautem Brüllen seine Tatzen in die Luft reckte. Banul fuhr herum. Geistesgegenwärtig schlug er mit der Axt nach dem Angreifer. Doch die streifte nur den Bauch des Tieres und machte es noch wütender. Urplötzlich stürzte sich der Bär auf den Jäger. Der schlug ein zweites Mal zu, allerdings mit etwas weniger Kraft, weil ihm die Zeit zum Ausholen fehlte. Die Axt blieb zwischen den Rippen des gewaltigen Raubtieres stecken, das den zwei Köpfe kleineren Mann mit einem mörderischenPrankenhieb niederstreckte. Noch bevor sich Banul besinnen konnte, hatte sich der Bär auf ihn gestürzt und schlug ihm die Zähne in seinen Hals. Besessen von den Qualen, die dem Tier die in ihm steckende Axt verursachte, biss er wie im Rausch wieder und wieder zu, bis aus dem Menschen nur noch ein blutiges Knäuel aus Fleisch und gebrochenen Knochen übrig war. Dann wandte er sich ab und rannte, noch immer von rasenden Schmerzen gepeinigt, durch den Wald davon, hin zu einem Platz, an dem er sich Schutz und ein Ende der Pein erhoffte.
Nach einer Stunde anstrengender Flucht durch die Berge war der Bär schließlich so geschwächt, dass er sich nur noch mühsam fortbewegen konnte. Zudem hatte ein Rudel Wölfe die Spur des Blutes aufgenommen, dass er seit dem Kampf mit dem Jäger verlor. Der alte Bär erreichte letztendlich eine Klippe, unter der sich reichlich einhundert Meter tiefer eine Schlucht ausbreitete. Hier würde seine Fluchtenden. Schwer atmend blickte der Bär in den Abgrund. Die Axt steckte immer noch zwischen seinen Rippen. Jede Bewegung bereitete ihm mittlerweile unendliche Schmerzen. Direkt hinter sich hörte er das Gebell seiner Verfolger. Er drehte sich um und richtete sich ein letztes Mal zu voller Größe auf. Gerade noch rechtzeitig, denn einige der Wölfe hatten bereits zum Sprung angesetzt. Einen schlug er mit einem Tatzenhieb zur Seite. Jaulend landete das Jungtier im Gras. Doch die anderen hatten nur darauf gewartet und stürzten sich auf ihn. Wie in Zeitlupe kippte der alte Bär über die Klippe und fiel, gemeinsam mit vier Wölfen, die sich in ihm festgebissen hatten, in die Tiefe.
2016 Rostock