Eure Liebe - Sylke Richter - E-Book

Eure Liebe E-Book

Sylke Richter

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Beschreibung

Die Arbeit mit Paaren gehört zu den anstrengendsten Aufgaben in der therapeutischen Praxis. Nicht nur angehende Therapeuten brauchen hier Unterstützung und gute Orientierungshilfen. Wichtig ist vor allem, Abstand zu bewahren, um während des gesamten therapeutischen Prozesses den Überblick zu behalten, alle Bedürfnisse zu sehen und gemeinsam mit dem Paar auf die Beziehung zu schauen: Was ist gut und kann so bleiben? Was muss überprüft, neu sortiert oder umgestaltet werden? Sylke Richters praxisorientiertes Buch bietet eine Vielzahl von paradigmatischen Beispielen und Impulsen aus der systemischen Arbeit mit Paaren. Die Autorin lässt einen direkt an den Reflexionen der Paartherapeutin teilhaben und vermittelt so auf eingängige Weise das komplexe Herangehen im Therapiesetting. Sie folgt dabei dem roten Faden einer Therapiestunde – Auftragsklärung, Vertiefung, Abschluss und Aufgaben – und bietet praktische Methoden an, die in der eigenen Praxis sofort umgesetzt werden können.

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Seitenzahl: 337

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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold

Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Sylke Richter

Eure Liebe

Haltung, Methoden und Interventionen für die Paartherapie

Zweite Auflage, 2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlaggestaltung: Heinrich Eiermann

Umschlagfoto: cc pixabay

Redaktion: Veronika Licher

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Zweite Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0374-5 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8262-7 (ePUB)

© 2021, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: https://www.carl-auer.de/.Dort können Sie auch unseren Newsletter abonnieren.

Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Die Idee zum Buch

Zum Aufbau des Buches

Beratung, Therapie, Coaching?

Menschen lieben Menschen

Die Phasen einer Beziehung

Teil I: Der Beginn

1 Bevor das Paar im Raum sitzt

Erstkontakt – Gibt es etwas zu beachten?

Einzelstunden vorab?

Drei für zwei? – Systemische Haltung

Sitzordnung – wie im Film oder anders?

Eure Liebe

Kleine Aufgaben vorab?

2 Ein guter Start

3 Start bei hochstrittigen Paaren

4 Was hilft, um mich nicht auf eine Seite ziehen zu lassen?

5 Wie gehe ich mit Flirten um?

6 Unterschiedliche Aufträge – Was nun?

7 Wenn einer verschlossen bleibt

8 Wenn es zu viele Themen gibt – Wo anfangen?

Karteikarten

Über Kreuz fragen

Rollenwechsel und Motivationsabfrage

Fazit

9 Etwas scheint zu fehlen – Tabuthemen

10 Paartherapie mit Kind – oder lieber nicht?

11 Typische Fehler zu Beginn

Fazit

Teil II: Vertiefung

12 Stärker als Erklärungen – Metaphern

13 Externalisieren

Die »Beziehung« externalisieren

»Wut« externalisieren

14 Tauscht die Plätze! – Perspektivwechsel

15 Ich bin nicht deine Mutter! – Übertragungen auflösen

16 Einzelstunden in der Paarberatung – sinnvoll oder nicht?

17 Nähe, Distanz und Grenzen

Wie nah darf ich dir sein?

Wie weit weg muss ich gehen?

18 Arbeiten mit Räumen

Wie geht’s eigentlich eurem Paar-Raum?

Paare mit kleinen Kindern – Durchhalten!

Arbeiten in Als-ob-Räumen

19 Das gemeinsame Dritte – ein Dialog

Die Erweiterung der Partnerschaft

Das unsichtbare Dritte

20 Altlasten: Das habe ich dir nie verziehen!

Lebensflussmodell – zurück ins Damals

Der Weg des Verzeihens

Die Praxis der Vergebung

21 Kompromisse: Der Beziehung zuliebe

Gute Kompromisse

Schlechte Kompromisse

Besser keine Kompromisse

22 Lieben und Streiten

Streiten – das Gelernte

Streit, Konflikt und Aggression – Worum geht es?

Doch wie geht nun richtiges Streiten?

Gewaltfreie Kommunikation

23 Die Sprachen der Liebe

Komplimente, Wertschätzung und Co – ein Muss

Ich liebe dich, obwohl

24 Magic Moments – die Ressourcen

Wieso bekämpfen wir, wonach wir uns sehnen?

Arbeit mit den Schattenseiten

Loyalitäten – oder was kann weg?

25 Viel, wenig, keine Sexualität – Was braucht die Liebe?

Der systemische Blick

Wer spricht das Thema Sexualität an?

Zwischen Einladung und Grenzen

Wie gehe ich mit Scham und Peinlichkeit um?

Sex als Ressource

26 Erotische Entwicklung – Wer bin ich als erotische Person?

Zwischen Autonomie und Bindung

Sex ist Verhandlungssache

Lust und Unlust

27 Untreue, Affären und »Fremdgehen«

Ist es nur Sex?

Nach der »Affäre«

Offene Beziehungen – Kann das gutgehen?

Polyamorie

Was müssen Paartherapeuten zu den verschiedenen Beziehungsformen wissen?

28 Alles umdrehen und reframen – ein Transkript

29 Nonverbale Interventionen – mal fühlen

Augenkontakt

Herzkontakt

Schutzpanzer ablegen

Last abgeben

Halten und Gehaltenwerden

Geben und Nehmen

Mini-Aufstellungen

Führen und führen lassen

Da sein

Umarmung bis zur Entspannung

30 Bei aller Liebe doch fremd

Teil III: Der Abschluss

31 Der Abschluss von Therapiestunden

Was ist ein guter Abschluss?

Zuversicht und Skepsis beim Paar aktivieren

Und wenn sich nichts verändert?

Bilanzgespräche

Wenn Paare einfach wegbleiben?

Hausaufgaben – Was muss ich beachten?

Eine Abschlussmail

Zeitstruktur für eine Therapieeinheit

32 Der Anfang vom Ende – die Vorboten einer Trennung

Wenn Trennung im Raum ist – ansprechen oder warten?

Die Spannung des Nichtentscheidens – Stillstand

33 Bleiben oder Gehen – die Ambivalenzphase

Skalierungsfragen

Eine Seilübung

Die Trennung in Gedanken – so, als ob

Beziehungspause – unterstützen oder abraten?

Entscheidungsfindung

Futur II

34 Wenn die Wege sich trennen

Was muss geregelt werden?

Abschiedsritual

Wenn der Schmerz nicht aufhört

Wenn das Hoffen nicht aufhört

Fazit

Über die Liebe – ein Nachwort

Dank

Literatur

Filme

Podcasts

Workshops

Über die Autorin

Vorwort

»Und dann habe ich dir eines Tages geschrieben,

dass es sich schöner lebt mit dir im Leben,

und wir wurden beide, ich weiß, ganz traurig,

so froh zu sein.«

Roger Willemsen (2006)

In den vielen Jahren als systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin bin ich den unterschiedlichsten Lebens- und Liebesgeschichten begegnet. Nicht selten war ich verwundert von manchen Entscheidungen, als Paar unbedingt zusammenbleiben zu wollen, obwohl es an so vielen Stellen knirschte und nicht passte. Andersherum war ich auch ab und zu irritiert davon, wenn zwei entschieden haben, getrennter Wege zu gehen, ganz egal, wie viel Potenzial ich gesehen hatte. Doch immer wieder bin ich beruhigt und entspannt, wenn ich erlebe, wie gut die Menschen in ihrem tiefsten Inneren wissen, was sie zum Leben und Lieben brauchen und was nicht (mehr).

Wenn ich als junge Therapeutin noch dachte, dass meine Aufgabe wäre, Beziehungen zu retten, weiß ich heute, dass wir Paartherapeuten möglicherweise einiges anstoßen und in Bewegung bringen, aber keine Beziehungen retten können.

Wir können die Paare begleiten, ihnen Brücken bauen, über die sie vielleicht gehen werden. Wir können geschützte Räume öffnen und sie einladen, ehrlich miteinander zu reden. Wir können Übungen anbieten, die sie bestenfalls wieder in Kontakt bringen. Manchmal moderieren oder übersetzen wir lediglich und manchmal streuen wir neue Impulse und erzählen von den Erfahrungen und Lösungsideen anderer Paare. Manchmal klären wir auf, sortieren gemeinsam Themen und Lebensphasen, und nicht selten begleiten wir auch die Trennung des Paares.

Das alles bieten wir an, aber wir können niemanden und niemandes Beziehung retten. Das müssen die Klienten schon selbst tun.

Für die eigene therapeutische Grundhaltung schadet es nicht, große Portionen von Gelassenheit, Optimismus und Humor mitzubringen. Ebenso nützlich sind Wertschätzung und Respekt für die vielen unterschiedlichen Arten zu leben und zu lieben. Wir müssen auch nicht immer alles von Grund auf verstehen. Ich erinnere mich gern an ein sehr lebhaftes Paar, die einiges in ihrem Leben ändern wollten, um ihre Verbindung zu stärken. Sie suchten nach einem regelmäßigen Zeitfenster in der Woche, in dem sie sich zu zweit treffen wollten. Exklusive Paarzeit. Hitzig diskutierten sie, wann sie sich treffen wollten. Wo? Und überhaupt, was sollte dort passieren und was auf keinen Fall? Ich saß abseits und ließ sie miteinander reden. Selten habe ich so wenig verstanden, wie bei diesen beiden. Doch ich beobachtete ihren Kontakt, ihr einvernehmliches Nicken, ihre leuchtenden Augen, ihr Einverständnis. Sie schienen genau zu wissen, worüber sie sprachen.

Erleichtert dachte ich: Ja, es ist ihre Liebe, ihr Kontrakt, ihr Leben. Ich muss nicht alles verstehen. Diese Erkenntnis war sehr erhellend und inspirierte mich zu dem Buchtitel: Eure Liebe.

Mein Dasein als systemische Therapeutin findet an zwei Orten in Deutschland statt. Einmal in meiner alten Heimat Berlin. Dort bin ich eine der Lehrenden bei der Gesellschaft für systemische Therapie und Beratung (GST), zusätzlich arbeite ich einmal im Monat in einer Gemeinschaftspraxis in Berlin-Mitte. Seit 2023 arbeite ich vorwiegend in meiner neuen Heimat Husum/Nordfriesland in einer Privatpraxis. Im Norden biete ich inzwischen auch das in den Südeuropa-Jahren erprobte Paket von Paarberatung und Urlaub an. Der Ortswechsel, das Meer und nicht zuletzt das Gefühl, sehr viel Zeit zu haben, helfen, die Paarthemen unter die Lupe zu nehmen. Das gemächlichere mediterrane Tempo und die südeuropäische Gelassenheit sind nun auch im Norden zu finden.

Sylke Richter

Husum, im Januar 2023

Einleitung

Wenn zwei Menschen sich ineinander verlieben, leuchtet es. Zwischen ihnen, um sie herum, hinein in den Alltag, und alles, wirklich alles scheint möglich zu sein. Der Anfang kann leise sein, ein zartes Kribbeln oder laut wie ein Paukenschlag, der zum Innehalten verdonnert. Oder auch ganz vernünftig, abwägend, mit leisen Stimmen, die flüstern: Das passt. Behalt den oder die im Auge.

Für die, denen es gerade passiert, dreht sich die Welt entweder eine Spur schneller oder sie bleibt stehen – vor lauter Wonne, lauter Glückstaumel. Liebestrunken werden die beiden immer wieder in Aufruhr versetzt, geraten in einen Überschwang aus Sehnsucht und Verlangen. Fühlen sich nur in der Nähe des geliebten Menschen vollständig und begegnen durch dessen Augen der schönsten Version ihrer selbst. Genießen das Zerfließen der Grenzen von Du und Ich, das Verschmelzen zu einer symbiotischen Einheit. Einem Ganzen. Du bist ich. Ich bin du. Alles ist gut.

Doch eine ewige Symbiose würde jegliche Entwicklung verhindern und die aufkeimende Liebe sofort wieder ersticken. Es ist nur natürlich und folgerichtig, nach intensiver Nähe und Zweisamkeit wieder einen Schritt zurückzutreten. Durchzuatmen und sich in seinen individuellen Lebensraum zu begeben, um dann erneut Nähe zulassen zu können.

Das Paradoxon dieser widersprüchlichen Bedürfnisse, nach Autonomie und Freiheit bei gleichzeitiger Sehnsucht nach Verbundenheit und Geborgenheit, bringt viele Paare an die Grenzen des Machbaren. Der Freiheitswunsch des einen löst möglicherweise die Verlustangst des anderen aus und der Nähewunsch des anderen könnte als Einengung erlebt werden.

Jedes Paar, das beabsichtigt, länger zusammenzubleiben, wird einige Klippen umschiffen und fünf Entwicklungsstufen durchleben müssen. Diese verlaufen nicht unbedingt so nacheinander, wie es hier steht, sondern wechseln sich ab. Mal ist die eine Phase im Vordergrund, mal die andere. Bunt durcheinander:

1)

Du bist ich.

2)

Du bist anders.

3)

Du bist nicht richtig.

4)

Ich bin ich.

5)

Du und ich sind wir.

Nach der Zeit der Verschmelzung sehen die Verliebten wieder klarer, erkennen das Anderssein des geliebten Menschen, denken das erste »Ach, guck an, was macht sie morgens für einen Stress? Ich mag es doch viel langsamer«. Oder »Wieso muss er plötzlich so viel arbeiten? War das vor einem halben Jahr auch schon so?«. Und dann beginnt die Zeit der Kompromisse, des Angleichens, des Umerziehens, des Feststeckens. Manche ruckeln sich fast leise zurecht, andere bleiben jahrelang in einer Art Umerziehungsphase oder im Vorwurf hängen: Wenn du anders wärst, wäre ich glücklicher! Wärst du mehr wie ich, wäre alles leichter. Und wieder andere trennen sich zügig, weil sie keine Lust auf den vorhersehbaren Stress haben.

Liebesgeschichten sind die ältesten Geschichten der Welt und werden gern erzählt. Im Film, in Büchern, auf der Bühne, in Songtexten, den Freundinnen, den Kindern und Enkeln. Wie hat es angefangen? Und dann? Und dann? Werden die Hürden genommen, die Prüfungen bestanden? Bleiben sie zusammen oder trennen sie sich?

In langjährigen Beziehungen erleben Paare immer wieder den Kreislauf von Verliebtheit, Enttäuschung, Entwicklung und Neuverliebtsein.

Erst vor Kurzem traf ich in einem Seminar ein Paar wieder, von dem ich wusste, dass es sich getrennt hatte. Umso erstaunter war ich, beide im Raum zu sehen. Mehr als zwanzig Jahre waren sie ein Paar gewesen, die Kinder fast erwachsen. In einer der Phasen des Enttäuschtseins trennten sie sich schließlich, ließen sich konsequenterweise auch scheiden und zogen räumlich auseinander. Die Missverständnisse und Verletzungen der letzten Jahre schienen unüberwindbar.

Beide haben in ihren jeweiligen neuen Leben Luft geholt, durchgeatmet, sich ihre Liebe mit dem Weitwinkel angeschaut, um zu verstehen, was eigentlich passiert war. Durch die Kinder waren sie weiterhin verbunden und blieben mit einem Auge neugierig aufeinander. Es dauerte fast drei Jahre, ehe sie sich wieder aufeinander zubewegten, einander neu kennenlernten und ein neues Kapitel ihrer Geschichte aufschlugen.

Als ich sie wiedertraf, sah ich, wie verliebt sie sich anschauten. Wie es wieder zwischen ihnen leuchtete. Um sie herum, hinein in den Alltag, und wieder schien alles möglich zu sein.

Die Idee zum Buch

Die Idee, ein Buch über Paartherapie zu schreiben, entstand in einem Therapieausbildungsseminar. Nachdem wir das Fallbeispiel eines Paares nachbesprochen hatten, die Ausbildungsteilnehmer ihre Notizen machten, fragte Toni: »Sylke, du schreibst doch sowieso Bücher. Kannst du nicht ein kleines Buch für uns angehende Paartherapeuten schreiben? So, als würden wir dir beim Arbeiten über die Schulter schauen«:

nah an der Praxis

kurze Fallbeispiele

eher ein Handbuch

ein Leitfaden

Orientierungshilfe.

An jenem Tag ging ich in mich und erinnerte mich, wieso ich nie ein Fachbuch, sondern Belletristik schreiben wollte. Sehnte ich mich doch danach, fiktive Geschichten zu erzählen, mit der Schönheit der Sprache zu spielen, meiner Fantasie Raum zu geben und einen guten Spannungsbogen hinzubekommen.

In meinem Hinterkopf hatte sich jedoch die Idee eines praxisnahen Fachbuches schon festgesetzt, dennoch sollte es noch zwei Jahre dauern, ehe ich das erste Kapitel aufgeschrieben hatte. Interessiert sammelte ich Fallbeispiele, hörte den Seminarteilnehmern genau zu und notierte, was sie fragten und worüber sie laut nachdachten, wenn es um paartherapeutische Themen ging. Der Gedanke, komplexe Beziehungsmodelle für die Beginner unter uns Paartherapeuten handhabbar zu machen, ließ mich nicht mehr los.

Zum Aufbau des Buches

Mir ist bewusst, dass sich professionelles therapeutisches Arbeiten in der Regel auf drei Säulen stützt:

das theoretische Konzept

Rolle und Haltung

Interventionen.

In diesem an der Praxis orientierten Buch konzentriere ich mich hauptsächlich auf Interventionen, Rolle und Haltung. Die Grundlagen des systemischen Denkens skizziere ich an den Stellen, an denen es mir passend erscheint.

Durch das Buch zieht sich das Zwiegespräch mit Toni, einer systemisch ausgebildeten Therapeutin, die gerade begonnen hat, mit Paaren zu arbeiten. Sie ist Mitte dreißig, voller Wissensdurst und Neugier. »Weißt du«, fing sie an, »ich fühle mich nach der Ausbildung ziemlich sicher mit einzelnen Menschen, doch wenn es um Paare geht, bin ich immer noch voller Fragen und bewege mich unsicher wie eine Kuh auf Glatteis:

Wie fange ich gut an?

Was mach ich mit den hohen Erwartungen des Paares?

Wie gebe ich den Druck zurück?

Wie unterbreche ich Vorwürfe?

Wie reguliere ich die Redezeiten?

Sind Einzelsitzungen üblich oder besser nicht?

Wie finde und behalte ich den roten Faden?

Und so könnte ich ewig weiterfragen. Verstehst du?«

Ich verstand. Bei der Recherche und beim Aufschreiben der Interventionen und Übungen ist mir aufgefallen, dass ich viele praktische Übungen inzwischen so adaptiert habe, dass mir die Ursprungsquellen nicht mehr bekannt sind.

Alles, was ich schreibe und offenlege, ist meine Art, Paartherapien zu gestalten. Eine Art von vielen möglichen Arten. Nichts muss so gemacht werden, wie es hier steht. Nichts von dem ist allgemeingültig. So bunt wie das Leben ist, so bunt ist die Liebe und so bunt sollten auch Bücher zu Lebensthemen sein.

Das Buch ist aufgebaut wie eine Therapiestunde. Es gibt einen Anfang, da geht es um das Vorab und den ersten Kontakt, um die therapeutische Haltung und alles, was wichtig ist, um gut starten zu können.

Der mittlere Teil des Buches beschreibt die Vertiefungsphase, die es auch in jeder Therapiestunde gibt. Themen werden detaillierter behandelt, auseinandergenommen, analysiert oder neu betrachtet. Die Sehnsüchte hinter den Vorwürfen werden herausgefiltert. Im mittleren Teil gibt es typische Themen, mit denen Paare sich herumschlagen, viele Fallbeispiele und mögliche Interventionen.

Im dritten Teil, dem Abschluss, reden wir darüber, wie wir Therapiestunden gut beenden, und auch darüber, was es zu beachten gibt, wenn das Damoklesschwert einer Trennung über dem Paar schwebt.

Beginn, Mitte, Abschluss.

Die Kapitelüberschriften sind an die Fragen der Ausbildungsteilnehmer angelehnt und wann immer es passt, sind Tonis zusätzliche Fragen und Anmerkungen eingeflochten.

Beratung, Therapie, Coaching?

Es gibt viele Überschriften, die dem Arbeiten mit Paaren oder mehreren Menschen in Beziehungen gerecht werden. Je nach Anliegen der Klienten und Ausbildung des Paar-Profis können die Grenzen fließend sein. Der größte Unterschied liegt in der Zielorientierung und die Gemeinsamkeit liegt darin, dass sich alle Formate mit Krisen in Partnerschaften beschäftigen. Die Begriffe sind nicht geschützt und können von jedem Paar-Profi so benutzt werden, wie es sinnvoll erscheint.

Paartherapie: Die Paartherapie hat sich aus der Familientherapie entwickelt und hat ihren Ursprung in der psychoanalytischen Tradition. Im Wesentlichen geht es darum, in der persönlichen Vergangenheit nach Ursachen für aktuelle Probleme zu suchen und Bezug darauf zu nehmen. Wir gehen sozusagen an die Quelle, den Ursprung, um mehr zu verstehen und das neue Wissen dann im aktuellen Kontext zu verarbeiten, zu ändern oder zu integrieren. Hier darf etwas heilen. Wir haben die Erlaubnis, in die Vergangenheit gehen zu dürfen. Solche Prozesse sind oft zeitintensiver als Beratungsprozesse und sind auf eine längere Dauer angelegt.

Paarberatung: In Beratungsprozessen liegt das Augenmerk mehr auf eingegrenzten Themenbereichen, wofür konkrete Lösungsansätze erarbeitet werden.

Paarcoaching: Im Paarcoaching geht es nicht um frühe Beziehungserfahrungen oder direkte Lösungsvorschläge, sondern vordergründig um die Hilfe zur Selbsthilfe. Hier gräbt man eher an der Wurzel des Denkens, der eigenen Überzeugungen, Gewohnheiten und Standpunkte.

Weil die Begriffe Paartherapeut/Paarberaterin sehr das Paar im Namen betonen und alle anderen Beziehungsformen ausschließen, nennen sich viele inzwischen Beziehungstherapeut/Beziehungsberaterin.

Da ich in der Vergangenheit zu einem hohen Prozentsatz vorrangig mit Paaren zu tun hatte und diesbezüglich therapeutisch ausgebildet bin, bezeichne ich mich weiterhin als Paartherapeutin. In diesem Buch benutze ich die Begriffe Paartherapie, Paartherapeut und Paartherapeutin.

Menschen lieben Menschen

Für mich ist völlig klar, dass sich Menschen in Menschen verlieben, unabhängig von Geschlecht, Haarfarbe oder Hautfarbe – und dies prägt meine Haltung.

Durch die Anmeldung per Telefon oder Mail weiß ich in der Regel vorab, ob es sich um zwei Männer, zwei Frauen, Mann–Frau oder ganz andere Konstellationen wie zum Beispiel Dreier-Settings handelt. Da wir Paartherapeuten immer an der Beziehungsgestaltung arbeiten, ist es irrelevant, wie viele Menschen welchen Geschlechts im Praxisraum sitzen. Die Inhalte und Themen ähneln einander.

Für eine gute Lesbarkeit und eine angestrebte Gleichberechtigung habe ich mich entschieden, abwechselnd von Männern und Frauen zu schreiben.

Alles, was Toni sagt, fragt oder beschreibt, ist kursiv gedruckt.

Die Phasen einer Beziehung

Toni: Mich würden ja die fünf Phasen oder Entwicklungsstufen, die du vorhin benannt hast, noch weiter interessieren. Ich glaube, das Paar, das ich gerade berate, ist in der zweiten Phase. Sie entdeckt neuerdings Eigenarten an ihm, die ihr vorher gar nicht aufgefallen sind. Zum Beispiel schlürft er seinen heißen Kaffee so lautstark, dass sie sich am liebsten die Ohren zuhalten oder das Zimmer verlassen würde. Sie sind jetzt knapp anderthalb Jahre zusammen.

Dann ist das Paar aber in einer frühen Phase zur Beratung gekommen. Wie alt sind sie?

Sie sind Anfang dreißig und kommen so früh, weil sie Angst haben, die ersten Anhaltspunkte für eine Trennung zu übersehen, um noch gegensteuern zu können. Sie wollen alles richtig machen und praktizieren sogar jede Woche die Zwiegespräche. Einer darf eine halbe Stunde über sich und seine Befindlichkeiten reden, der andere hört zu, und dann umgekehrt. Das haben sie in einer Zeitschrift gelesen und finden das gut.

Zwiegespräche schaden nicht, nur zu. Hauptsache, sie reden von sich selbst und verharren nicht eine halbe Stunde im Vorwurf über den anderen. Aber darüber werdet ihr gesprochen haben. Und: Hauptsache, sie kommen vor lauter Reflektieren auch noch zum Leben, Lieben und Fehlermachen.

Aber zurück zu den Phasen in langen Partnerschaften. Es gibt verschiedene Überschriften zu diesen Phasen oder Entwicklungsstufen, doch am treffendsten finde ich die von Ursula Nuber (2007, S. 48–59) beschriebenen. Da lese ich die komplexe Themenvielfalt von Differenzierung, Enttäuschung und Entwicklung so schön kurz und knackig bereits in den Titelzeilen.

1. Du bist ich

Hier ist die Zeit der Verliebtheit gemeint. Endlich, endlich hat man jemanden gefunden, der einen vollständig versteht. Einen Seelenverwandten, einen Freund. Jemanden, der immer da sein wird. Meistens genügen die beiden Verliebten sich selbst, verschwinden in einer Art Kokon und leben für eine Weile in einer Melange des Gleichklangs. Die Grenzen von du und ich verwischen. Was ich fühle, fühlst auch du, was du denkst, denke auch ich. Verliebt sein ist ein wunderbarer Zustand im Leben, ganz gleich, was vorher war. Das Maß an Geborgenheit, das man in dieser Phase (noch verbunden mit einer Portion Angst vor Abhängigkeit oder Vereinnahmung) erlebt, taucht in der fünften Phase in voller Freiheit wieder auf.

2. Du bist anders

Nach einem Zeitraum von ungefähr anderthalb bis drei Jahren verabschiedet sich diese erste Phase einer Beziehung und macht dem Alltag und einer zweiten Phase Platz. Wir erkennen staunend die Andersartigkeit des Partners. Ist die große Nase nicht doch zu groß für den kleinen Kopf? Wenigstens ins Büro könnte sie einen BH anziehen! Der wöchentliche Besuch bei seinen Eltern ist ja irgendwie nett, aber hat er sich schon abgenabelt? Ihr Selbstbewusstsein in allen Ehren, aber könnte sie nicht auch mal zurückstecken?

Vieles, was man anfangs toll am anderen fand, wird jetzt skeptisch wahrgenommen. Was zunächst faszinierte, wirkt nun störend und kommt auf den Prüfstand. Paare, die sich in dieser Phase befinden, wollen oft nicht wahrhaben, dass das gerade passiert, und sind häufig irritiert. Zweifeln an sich oder noch besser am anderen. Verfallen in aberwitzige Annahmen über die Liebe: Man müsste sich mehr anstrengen. Mehr Zeit miteinander verbringen. Noch näher rücken. Ärger runterschlucken. Enttäuschung auf keinen Fall zeigen! Die Angst, den anderen zu verlieren, ist in dieser Zeit sehr groß. Einer fängt an zu klammern, der andere flüchtet in die Freiheit.

So irritierend dieser Prozess für die Liebenden ist, so wichtig ist er auch, um den anderen in seiner Ganzheit zu sehen und zu akzeptieren. Mit all seinen Facetten, den dunklen und den hellen.

3. Du bist nicht richtig

Hier kommen die Zweifel so richtig in Fahrt: Ist er der Richtige? Ist sie die Richtige? Der andere, der einen doch glücklich machen sollte, ist in Wahrheit ganz anders. Hat er sie getäuscht? Hat sie ihn getäuscht? In dieser Phase kommt es oft zu Vorwürfen und Gegenvorwürfen. Die Umerziehungsphase, wie eine Kollegin diese Zeit auch nennt. Manche Paare bleiben jahrelang auf dieser Stufe stecken, gewöhnen sich daran, dass immer einer unzufrieden ist. Kämpfen. Rechnen auf. Andere trennen sich und wieder andere versuchen es mit einer Paartherapie, weil sie einfach nicht mehr können. Krisen, Konflikte, Meinungsverschiedenheiten, Distanzierung lösen einander ab. Der Kern der Fragen, um die es bei Paaren in dieser Phase immer wieder geht, lautet: Wie nah kann ich dir kommen, ohne mich selbst zu verlieren? Und: Kannst du mich lieben und so akzeptieren, wie ich bin?

4. Ich bin ich

Die Hoffnung, dass der andere einen glücklich macht und einem alle Wünsche von den Augen abliest, ist inzwischen verflogen. Beide sind an ihre Grenzen gekommen, wissen, was der andere zu geben bereit ist und was nicht. Wissen auch von sich selbst besser, was sie zu geben bereit sind und was nicht. Eine Zeit der Ruhe tritt ein. Atemräume, wie ein Kollege so treffend diesen Zustand nennt. Jeder kümmert sich wieder mehr um die eigenen Bedürfnisse und die eigene Entwicklung. Die hohe Kunst ist es, trotz der größeren Unabhängigkeit mit dem anderen in Verbindung zu bleiben. Das Konzentrieren auf das eigene Erleben, die eigene Welt birgt die Gefahr, den Partner aus den Augen zu verlieren. Die Haltung »Ich bin ich« kann dann schnell zu »Ich kann auch ohne dich« kippen. Trennungen sind in dieser Phase nicht selten. Bestenfalls entdeckt man die Partnerin neu, sieht ihr eigenes Leben nicht als Bedrohung oder egoistisches Verhalten, sondern interessiert sich dafür. Manche Paare, die es bis hierhin schaffen, sehen sich wieder mit neuen Augen. Das Stück Fremdheit, das einige Paare brauchen, um den jeweils anderen attraktiv zu finden, blitzt wieder auf.

5. Du und ich sind wir

In dieser Phase, nach all den vorangegangenen Kämpfen, sind die Liebenden in der Lage, eine ausgewogene Balance zwischen den Bedürfnissen nach Geborgenheit und Bindung sowie dem Bedürfnis nach Unabhängigkeit zu leben. Jeder ist sich seiner selbst sicherer und die Beziehung kann nun zu dem Zufluchtsort werden, für die man sie zu Beginn der Liebe gehalten hat.

Toni: Das bedeutet doch im Grunde, entweder ich lerne seine Andersartigkeit zu akzeptieren oder es geht nicht?

Wenn es zu viel gibt, was dich stört und womit du nicht leben kannst, also zu wenig von dem, was dich anzieht, passt es in der Tat manchmal einfach nicht. Deshalb gibt es viele Trennungen bereits nach zwei bis drei Jahren. Und man darf den Tanz um die Nähe-Distanz-Themen nicht vergessen. Die müssen erst mal getanzt werden.

Wenn ich an ein befreundetes Paar denke, sie sind sechs Jahre zusammen, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass sie diese Phasen durchgemacht haben. Sie wirken super harmonisch. Da gab und gibt es keine Vorwürfe. Niemals!

Wir reden ja über Paartherapie. Paare, die sich arrangieren und einrichten in welcher Phase auch immer, werden wir in der Praxis nie sehen. Wo keine Not ist, gibt es keinen Auftrag für uns. Aber eine andere neugierige Frage: Wie findest du deine Freunde in ihrer harmonischen Beziehung?

Sie machen mich oft eine Spur aggressiv.

Da kannst du mal davon ausgehen, dass es auch bei ihnen eine Spur von Aggressionen gibt. Gut gedeckelt. Wahrscheinlich mit viel Angst davor, dass der Deckel hochgehen könnte. Zumindest sind die Gefühle in der Gegenübertragung bei dir da, die alten Gefühle (hier: Aggression) werden in aktuellen Beziehungen oft reaktiviert. Nicht nur in Beziehungen zwischen Therapeuten und Klienten, das ist auch bei anderen Kontakten möglich.

Sie kommen beide aus ziemlich wüsten Elternhäusern und wollen es auf keinen Fall so haben wie früher bei ihren Eltern. Laut, dramatisch, Türenknallen, stundenlanges Anschreien, bis einer das Haus verlässt. Aggressiv. Sie haben sich also das Gegenteil gesucht.

Hypothesen, Hypothesen. Und dennoch, trotz aller Sehnsucht nach Harmonie bekommen die beiden ihre alten Themen in einem anderen Kleid geschenkt. Die Aggressionen sind zwar nicht sichtbar, dennoch scheinen sie da zu sein.

Das heißt, sie müssten lernen, dass es zwischen bedrohlicher Aggression und deckelnder Harmonie noch ziemlich viel dazwischen gibt. Ich schick sie mal zu dir.

Mit Schicken wirst du nicht weit kommen. Das Nichtgesagte, das Ausgeblendete wird sich irgendwann einen Weg suchen. Einer von beiden wird vielleicht explodieren. Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht und sie schaffen es noch viele Jahre, ihre Themen wegzudrücken. Aber alles, was wir hier reden, ist hypothetisch. Könnte so sein oder auch ganz anders.

Hypothesen sind oft so hilfreich. Ich kann alles, was in mir auftaucht, als Hypothese formulieren und zur Verfügung stellen. Kann es sein, dass …

Genau, du kannst erst mal alles, was du denkst, zur Verfügung stellen und anschließend müssen die Hypothesen geprüft werden. Wenn sie etwas taugen, wird die Spur weiterverfolgt, wenn sie nichts taugen, fliegen sie über Bord. Und ob sie etwas taugen, wird das Paar entscheiden, nicht wir. Selbst wenn wir zutiefst davon überzeugt sind, dass unsere Hypothese stimmt. Wir müssen sie wieder loslassen, gedanklich flexibel bleiben und mit dem Paar schwingen.

Okay, soweit verstanden. Machen wir weiter. Ich habe eine erste Frage.

Teil I: Der Beginn

1 Bevor das Paar im Raum sitzt

Erstkontakt – Gibt es etwas zu beachten?

Toni: Meine Frage ist, ob es schon etwas zu beachten gib, bevor das Paar bei mir im Raum sitzt.

Aber ja. Die Kontaktaufnahme wird je nach Beratungskontext immer unterschiedlich sein. Da ich als Selbstständige in einer Gemeinschaftspraxis arbeite, erfolgen Terminanfragen entweder telefonisch oder per Mail. Am Telefon, insbesondere wenn du das Paar noch nicht kennst, ist es empfehlenswert, das Telefonat kurz und organisatorisch zu halten und den thematischen Einstieg zu verhindern. Für den Beratungsprozess ist es viel günstiger, mit beiden Partnern und einem gleichen Wissenslevel zu starten. Lass dir zügig die Mailadressen geben und schreibe beiden gleichzeitig einen Willkommensgruß.

Per Mail ist der Start noch einfacher, meistens sind die jeweiligen Partnerinnen in Kopie und du kannst mit beiden gleichzeitig kommunizieren. Das, was ausgetauscht wird, zeugt dann von Beginn an von größter Transparenz. Transparenz schützt davor, Geheimnisträgerin zu werden und eventuell in ein Muster des Paares zu tappen.

Das Ziel sollte von vornherein sein, dass alles, was zur Beziehung der beiden Menschen gehört, auf den Tisch kommt, für alle sichtbar.

An der Stelle gleich noch eine Anmerkung zur Ansprache. Mit den meisten Klienten bin ich entweder gleich von vorneherein oder spätestens nach der ersten Übung beim Du. Manchmal probieren wir mit einem Augenzwinkern schon an der Tür, was zu uns passen würde: »Kommen Sie herein.« Oder: »Kommt herein.« »Setzen Sie sich.« »Setzt euch.« Und bei einigen Menschen bleibt es die ganze Zeit beim Sie. Ich richte mich da gern nach dem, was die Klienten wollen.

Einzelstunden vorab?

Toni: Manchmal fragen Klienten ja direkt am Telefon nach, ob sie schon ein bisschen was erzählen sollen oder ob ich vor dem Beginn etwas wissen müsse. Oder auch, ob ich vorab, bevor es losgeht, mit jedem einen Einzeltermin verabrede. Wie mach ich das am besten?

Wenn man noch unerfahren ist, neigt man dazu, sich viel erzählen zu lassen. Getreu dem Motto »Viel hilft viel« und es schadet natürlich überhaupt nichts. Viele Kollegen arbeiten erfolgreich mit ausführlichen Anamnesebögen. Du musst herausfinden, was dir ein gutes, sicheres Gefühl gibt.

Mir reichen inzwischen die Informationen aus, wie lange sie ein Paar sind, ob sie zusammenleben oder jeder im eigenen Wohnraum, ob es Kinder gibt, wer noch zum Leben gehört. Die Erfahrung hat gezeigt, dass sich alles Relevante in den ersten Minuten, wenn alle zusammensitzen, zeigen wird.

»Gibt es noch etwas, was ich wissen sollte, bevor wir starten?«, ist eine meiner typischen Anfangsfragen.

Heißt das, du bietest keine Einzeltermine vorher an?

Nein, ich biete keine Einzeltermine vor dem eigentlichen Termin an, da ich darin weder für das Paar noch für mich einen Mehrwert sehe. Ich weiß aber, dass die Kollegen da sehr unterschiedlicher Meinung sind. Einige bieten standardmäßig Einzelstunden vorab an, andere tun es nur ab und zu, wenn sie das Gefühl haben, sich einen ersten Überblick verschaffen zu müssen, wieder andere verzichten ganz darauf. Da muss wohl jeder seinen eigenen Weg finden.

Gerade habe ich wieder so eine Anfrage von zwei Frauen. Die eine, die mich angeschrieben und nach einem Termin für beide gefragt hat, bittet mich vorab um ein Telefongespräch. Nur sie und ich. Ich schreibe ihr, dass ich es so handhabe, mit beiden gleichzeitig zu starten und begründe es auch:

gleicher Wissensstand für uns drei

keine Zweierbündnisse mit der Therapeutin

keine Geheimnisse

Transparenz als oberstes Gebot.

Sind die Anrufer dann nicht enttäuscht, dass du gar nichts wissen willst?

Ich erkläre hoffentlich gut, dass ich keinen Wissensvorsprung möchte und nicht schon über die Themen reden, wenn die Partnerin oder der Partner nicht dabei ist. Und ich stelle auch die Frage, wie es für sie wäre (die Frau, mit der ich gerade rede), wenn es umgedreht wäre. Ihre Partnerin würde mir am Telefon schon lang und breit ihre Sicht der Dinge erklären und mit diesem Halbwissen würde ich dann in den ersten Kontakt gehen. Meistens reicht das Beispiel, um sich einfühlen zu können. Hilfreich ist auch, darauf zu verweisen, dass es um ihre Beziehung geht, nicht um die andere Person.

Falls ich dennoch das Gefühl habe, meine Gesprächspartnerin ist enttäuscht, lasse ich mir wenigstens eine Überschrift geben. Ungefähr so: »Wenn Ihre Konflikte eine Überschrift hätten, wie hieße die aus Ihrer Sicht?«

»Die Schöne und das Biest«, antwortete die Frau von neulich lachend und wie aus der Pistole geschossen.

Toni lässt nicht locker: Aber dann weißt du ja trotzdem schon ein bisschen mehr als die Partnerin.

Stimmt. Damit steige ich dann in die Live-Paarberatung ein, indem ich es wiederhole. Erkläre der Partnerin, dass ich am Telefon nach einer Überschrift ihrer Konflikte/Themen gefragt hätte und dass die Antwort »Die Schöne und das Biest« gewesen sei. Frage weiter, ob sie das ähnlich wie ihre Partnerin sieht, oder ob ihr Titel ein anderer wäre, und so habe ich wieder Gleichstand.

Und was hat sie gesagt?

Sie hat herzhaft gelacht und ihre Partnerin gefragt, ob sie in dem Bild die Schöne sei, und glaub mir, wenn du die beiden nebeneinander gesehen hättest, war sie definitiv nicht die Schönere, aber entwaffnend sympathisch. Keck hat sie den Titel verändert in »Das Schöne im Biest und das Biestige in der Schönen«. Ein wunderbarer Einstieg. Mit Bildern und Metaphern kann man sehr gut weiterarbeiten.

Drei für zwei? – Systemische Haltung

Noch ein paar weitere Impulse für dich zu dem Vorab.

Bevor es wirklich losgeht und das Paar an der Tür klingelt, bring dich ganz bewusst in deine systemische Grundhaltung des Nichtwissens, der Neugierde und Wertschätzung. Heiße innerlich alles willkommen, was sich zeigen wird. Themen, Menschen, Macken, Eigenarten, Trauriges, Witziges, Dramatisches.

Systemische Grundhaltung meint auch, dass du alles, was du meinst zu wissen, beiseiteschieben darfst. Mach dich, so gut es geht, zu einer weißen Wand, einer unbetretenen Schneelandschaft, denn du weißt nicht, wieso ein Paar kommt, wo sie feststecken und was sie möchten. Du weißt es nicht.

Toni: Im Alltag und der Hektik der Termine vergesse ich das manchmal und denke eher: Hoffentlich kommen nicht so schwierige Themen! Verrückt, oder? Das macht mich ja schon von vornherein eng und kurzatmig. Bei Einzelterminen bin ich deutlich entspannter, denn da habe ich es nur mit einer Person zu tun. Na gut, und mit mir. Und wieso sagst du drei für zwei?

Drei Menschen denken, fühlen und arbeiten für zwei. Für das Paar. Für die Zeit der Paartherapie seid ihr ein temporäres Dreiersystem auf Augenhöhe und es bleibt offen, ob die zwei sich als Paar verabschieden werden oder sich trennen möchten.

Ich muss mir hinter die Ohren schreiben, dass ich nicht so viel für meine Klienten ackere. Mein Kopf weiß das, aber mein Wunsch, den beiden zu helfen, ist mindestens genauso stark wie die Stimme, die sagt, dass ich mich entspannen soll.

Je entspannter du bist, umso entspannter wird die Stimmung im Raum sein. Du weißt ja, entspannte Therapeuten, entspannte Klienten.

Und im Sinne der Spiegelphänomene funktioniert es auch andersherum. Manchmal übernimmt man ja die Anspannung der Klienten oder sie übernehmen meine Aufregung. Alle Emotionen können zwischen uns hin- und herwechseln. Ich sollte mir dessen nur gewahr sein, um unangenehme Emotionen stoppen zu können. Meistens schlage ich eine kurze Pause vor, um mich wieder zu sammeln.

Ein absolut wichtiger Gedanke. Sobald Menschen miteinander agieren, bilden sie ein System. Nehmen Bezug aufeinander, agieren und reagieren. Durch das Resonanzerleben können Menschen andere Menschen mit Emotionen anstecken, mit deren Begeisterung, aber auch deren Langeweile oder Ablehnung. Wenn eine Pause gerade nicht passt, hilft es auch, das eigene Erleben anzusprechen:

»Hier ist gerade viel Spannung im Raum. Vielleicht unterbrechen wir kurz, bewegen uns und treffen uns in fünf Minuten wieder.«

»Ich spüre momentan so viel Druck, geht es Ihnen auch so?«

»Aktuell scheint es so, als würden wir alle drei die Luft anhalten. Vielleicht atmen wir erst mal wieder aus.«

Also bewegen, atmen, ansprechen, Pause vorschlagen, Plätze wechseln.

Und im weiteren Verlauf könnte man das, was gerade passiert und sowieso im Raum ist, auch weiterverfolgen:

»Wie regulieren Sie sich normalerweise wieder herunter?«

»Was machst du sonst, um wieder entspannt atmen zu können?«

Sitzordnung – wie im Film oder anders?

Toni: Im Film sieht man ja immer, wie das Paar nebeneinander auf dem Sofa sitzt und den Blick geradeaus auf den Therapeuten gerichtet hat. Wie sitzen wir am besten?

Bewährt hat sich das Sitzen in einem kleinen Kreis. Meistens bereite ich den Raum schon vor und stelle den Therapeutenstuhl mittig hin, sodass ich bei Bedarf beweglich bleibe. Hin und her rutschen kann oder vor und zurück. Die Stühle des Paares sind einander etwas zugewandter, trotz des Kreises.

Da eins der therapeutischen Ziele ist, die beiden wieder in einen guten Kontakt zu bringen, ist eine Mindestvoraussetzung, dass sie sich sehen können, ohne sich den Hals zu verrenken.

Das leuchtet mir ein. Wenn ich mich zum Quatschen im Café verabrede, sitze ich auch nicht gern neben dem Freund oder der Freundin, lieber gegenüber, sodass wir uns ins Gesicht schauen können. Okay, machen wir weiter. Wir sind immer noch bei dem Davor, richtig?

Sind wir, aber gleich haben wir es geschafft. Hier noch meine Lieblingshilfe, um in meiner Rolle zu bleiben.

Eure Liebe

Ein bewährtes Hilfsmittel ist die Vorstellung, dass um die Stühle des Paares ein imaginäres Seil in leuchtender Farbe liegt. Das verdeutlicht mir, dass ich dort nichts zu suchen habe, dass es nicht mein Leben ist, nicht meine Beziehung, nicht meine Bühne. Mit allen Interventionen, Gedanken und Gefühlen bleibe ich respektvoll am Rand des Seiles.

Es ist möglich, nahe an das Seil oder auch ein Stück wegzurutschen. Wenn ich den Mann unterstütze, rutsche ich auch mal an seine Seite. Unterstütze ich die Frau, rutsche ich an ihre Seite. Doch eins ist klar: Ich gehöre nicht in den Seilkreis und lasse mich auch nicht hineinlocken.

Toni: Coole Idee, wie eine Leucht-Warnung, nicht übertreten! Nicht in fremde Betten legen!

Genau. Und du glaubst nicht, wie oft ich zu den Klienten die Sätze sage: »Schaut euch an. Sag es ihr. Sag es ihm. Nicht mir.«

Aber ist es nicht auch hilfreich, manches dem Therapeuten zu erzählen?

Bei sehr konflikthaften Themen und bei hochverstrittenen Paaren ist es sinnvoll, einen Puffer, also einen Dritten dazwischen zu haben. Ansonsten eskalieren die Gespräche sofort. Dann sag ruhig: »Erzählen Sie es zuerst mir.« Wie in der Mediation, da läuft die Kommunikation über den Mediator.

Manchmal, wenn ich merke, dass es für eine klare Struktur hilfreich ist, lege ich das Seil auch wirklich auf den Boden und erkläre kurzerhand, wofür wir das brauchen.

Kleine Aufgaben vorab?

Toni: Noch eine letzte Frage. Gibt es Aufgaben, die ich schon vorab verteilen kann? Vor dem Termin? Manchmal dauert es sehr lange, ehe ich einen freien Termin anbieten kann.

Wenn das Paar schon loslegen möchte, lohnen sich Sortier-Aufgaben. Viele Menschen mögen es, etwas für sich einordnen zu können, und nachvollziehbare Kategorien geben Sicherheit und Orientierung. Hier meine Lieblings-Vorabaufgabe.

Liebe X und lieber Y,

bitte nehmt euch (jeder für sich) Zeit und beschäftigt euch mit den vier Säulen einer Beziehung: BEWAHREN – AKZEPTIEREN – KOMPROMISSE – VERÄNDERN.

BEWAHREN: Hier bitte alles aufschreiben, was ihr in eurer Beziehung gut findet. Das, was so bleiben soll, wie es ist. Kleine Rituale, Aktivitäten, der Abschiedskuss, die Tasse Kaffee im Bett. Alles, was gut ist.

AKZEPTIEREN: Hier bitte alles notieren, was ihr am anderen akzeptieren könnt, auch wenn es total unterschiedlich zu dem eigenen Verhalten oder den eigenen Ansichten ist. Sie isst Fleisch, ich nicht. Macht nichts. Er ist morgens mufflig, ich rede gerne. Ist in Ordnung. Alles, was ihr eher mit einem Augenzwinkern registriert, ohne euch aufzuregen. Ohne euch zu verbiegen.

KOMPROMISSE: Alle Paare schließen in ihrem Zusammenleben Kompromisse. Hier unterscheiden wir in gute Kompromisse und schlechte Kompromisse.

Gute Kompromisse meint: Ich mache etwas für meine Partnerin, auch wenn es nicht mein Ding ist. Ihr zuliebe. Oder ich verzichte auf etwas, ihm zuliebe. Die guten Kompromisse sind eine Entscheidung, die ich meinem Partner zuliebe treffe, aber ihm oder ihr nicht vorwerfe oder später aufrechne.

Schlechte Kompromisse: Das sind Kompromisse, mit denen es mir nicht mehr gut geht. Die vielleicht einmal stimmig waren, aber inzwischen nicht mehr passen. Ich verzichte zu oft und zu viel auf etwas, was ich mag oder brauche, um mich wohlzufühlen. Oder ich mache schon viel zu lange den faulen Kompromiss und mache etwas für meine Partnerin, was mir zu viel abfordert.

Kompromisse müssen immer wieder an Lebensphasen angepasst werden, also habt keine Scheu, sie erst mal aufzuspüren und zu benennen. Jeder für sich