EUROPÄISCHE MALEREI - Prof. Charles Wentinck - E-Book

EUROPÄISCHE MALEREI E-Book

Prof. Charles Wentinck

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Beschreibung

Der Kunsthistoriker und Philosoph, Charles Wentinck, der neben seiner Tätigkeit als Autor und Kunstsachverständiger viele Jahre lang dem Niederländischen Königshaus als Berater in Sachen Kunst und Kultur diente, unternimmt in diesem Werk einen gewagten Streifzug durch die Kunstgeschichte Europas – von der Entdeckung der vorzeitlichen Höhlenmalerei in der Höhle von Altamira bei Santillana del Mar in Spanien bis zur Modernen Kunst heutiger Tage. Aber gerade das war ursprünglich gar nicht beabsichtigt. Freilich sollte dem Bild der Kunst, das nur summarisch und in Umrissen entworfen wurde, mehr entnommen werden können als nur die Entwicklung des künstlerischen Handwerks. Solange von den niederländischen Malereien des 17. Jahrhunderts, den flämischen Primitiven, der italienischen Renaissance, den griechischen Marmorbildern oder römischen Wandmalereien die Rede war, schienen alle sicher zu wissen, was unter Kunst zu verstehen sei. Je mehr wir uns freilich neueren Zeitläufen nähern, desto mehr scheint unsere Sicherheit dahinzuschwinden. Die Vielfalt moderner Erscheinungsformen von Kunst ist und bleibt verwirrend. Viele zeitgenössische Schöpfungen haben kaum mehr etwas zu tun mit dem Handwerk des Malers oder Bildhauers, mit dem jedenfalls, was man in früheren Zeiten darunter verstand. Und oft erhebt sich die Frage; Haben die Äußerungen der modernen Kunst überhaupt noch einen Sinn? Die Frage selbst ist eigentlich nur sinnvoll, wenn man bereit ist, sie auch mehr oder weniger umzukehren und zu fragen; Hatte die alte Kunst denn einen »Sinn«? Erleben Sie in diesem reich bebilderten Buch die aufschlussreich wie spannende Auflösung der Frage, die sich der Autor stellt, vor dem Hintergrund der Kunstentwicklung in Europa.

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IMPRESSUM

©Digitale Neuausgabe 2020, by Serges Medien, Solingen

©Originalausgabe by Koniglijke Smeets Offset, Weert, NL und Media Serges BV., Weert NL

©Für Werke von bildenden Künstlern, angeschlossen bei der CISAC-Organisation ist die Verwertung der Urheberrechte geregelt mit Beeldrecht Amsterdam, Niederlande

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form und ohne Genehmigung des Verlages kopiert, verwendet oder veröffentlicht werden.

Die Verwendung des Inhalts oder Teilen davon auf digitalen Plattformen oder in sozialen Medien ist ausdrücklich untersagt.

Realisierung der Digitalausgabe:

Zeilenwert GmbH., 07407 Rudolstadt und Ingenieurbüro Müller, 76228 Karlsruhe

Coverabbildung:

Wassily Kandinsky, 1903, Der Blaue Reiter, Öl auf Leinwand,, 52.1 x 54.6 cm, Stiftung Sammlung E.G. Bührle, Zürich

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

I

Vorgeschichte

II

Die Geburt Europas

III

Im Zeichen Christi

IV

Die Eroberung der Wirklichkeit

V

Die wiederentdeckte Antike

VI

Das wiedergefundene Gleichgewicht

VII

Der Norden erwacht

VIII

Ein Nachklang von Größe

IX

Der Bruch mit der Tradition

X

Kunst als Experiment

XI

Zwischen Sprache und Zeichen

Epilog

Index

Vorgeschichte

Vorgeschichtliche Malerei

Baron Sautuola, der 1868 erstmalig die Höhle von Altamira bei Santillana del Mar in Spanien erforscht hatte, unternahm 1879 abermals einen Einstieg, dieses Mal in Begleitung seiner zwölfjährigen Tochter. Und sie war es, die nach oben schaute und dort die farbenprächtigen Malereien entdeckte, die ihrem Vater 11 Jahre zuvor entgangen waren. Zuerst wurde die Echtheit der Malereien angezweifelt, aber 1902 einigte man sich darauf, dass Steinzeitmenschen diese Kunstwerke geschaffen haben mussten. Seither wurden in Nordspanien ebenso wie in Südfrankreich laufend weitere Entdeckungen gemacht, die unvermutet die Kunstgeschichte um ein neues Kapitel bereicherten.

Man sprach von einer »franko-kantabrischen Periode«, aber eine Beschränkung auf diesen Raum ließ sich nicht aufrecht erhalten. 1931 entdeckte man nämlich Höhlenmalereien auch in Skandinavien, und 1936 wurden die in Russland unterdessen gemachten Entdeckungen zum ersten Male wissenschaftlich erforscht. Ungefähr zur selben Zeit fand man auf dem Balkan, in der Tschechoslowakei, Ungarn und Russland kleine figürliche Darstellungen von Menschen. Auch die Kunst der sogenannten Hallstatt-Zeit, die im österreichischen Salzkammergut zuhause war und in die Eisenzeit, teilweise sogar in das Bronze-Zeitalter zurückreichte, wie auch die Kunst der Kelten fanden nun Eingang in das Geschichtsbewusstsein der Menschheit.

Solche und andere Entdeckungen werden seither laufend getätigt – man denke nur an den »Lepenski-Vir« in Jugoslawien – und jede dieser Entdeckungen wirft ein neues Licht auf Zivilisationen, in deren Beurteilung man sich allgemein einig gewesen war; Geschichte wurde wieder zum Gesprächsstoff, zumal ihre Anfänge immer weiter in die Vergangenheit rückten.

Die ältesten und bekanntesten Kunstwerke stammen aus der Steinzeit. Es sind weibliche Figuren, die man in den Beschreibungen gewöhnlich als »Venus …« zu bezeichnen pflegt. Sie stellen Erd- und Fruchtbarkeitsgöttinnen dar, und dementsprechend sind in der Darstellung Rumpf und Geschlechtsteile zum Zeichen der Fruchtbarkeit überbetont.

1. Lascaux, Stier und Herde, Felswandmalerei, 15000-10000 v. Chr.

2. Lascaux, Verwundeter Bison, Mann und Rhinozeros, Felswandmalerei, 15000-10000 v. Chr.

3. Altamira Stehender Bison Felswandmalerei ca. 13500 v. Chr.

4. Lascaux Kuh und kleine Pferde Felswandmalerei 15000-10000 v. Chr.

5. Die Venus von Willendorf ca. 21000 v. Chr., Kalkstein Naturhistorisches Museum, Wien

Die jüngste paläolithische Epoche (ungefähr 25000 bis 10000 v. Chr.), da die Venus-Figuren entstanden, nennt man auch nach der Höhle von La Madeleine im Gebiet der Dordogne in Frankreich das »Magdalénien«. Dieses Zeitalter mit seinem kalten und trockenen Klima zwang die Menschen dazu, in Höhlen und Felslöchern Schutz zu suchen, und rief so die Kunst der Malerei ins Leben. Auf den Höhlenwänden erscheinen nun plötzlich Tierdarstellungen, die mit primitiven Pinseln oder mit den Fingern aufgetragen wurden und nicht dekorativen Zwecken dienten, sondern Teil eines magischen Rituals waren, das zwischen dem, was auf der Wand malerisch dargestellt war und den wirklichen Geschehnissen Zusammenhänge stiftete.

Altamira

Naturgetreue Ritzzeichnungen und Malereien finden sich besonders häufig in den Höhlen Südwestfrankreichs und Nordspaniens. So sind in der schon erwähnten Höhle von Altamira Tiere wie Bisons, Hirsche und Eber dargestellt, und zwar nicht nur malerisch, sondern zugleich en relief: Natürliche Wölbungen der Höhlenwand, Felsvorsprünge u.a. werden dabei auf ingeniöse Weise genutzt. Die Farbwirkung wird durch Erdfarben erzielt; zur Anwendung gelangen heller und dunkler Ocker, schwarzes Mangan, Erden und Eisenoxyd.

Der Eindruck ist überwältigend. Diese Malereien lassen die Kluft zwischen der Kunst jenes Zeitalters und der Gegenwartskunst, lassen die Jahrtausende, die sie trennen, fast völlig vergessen, und dies nicht nur der Frische der Farbgebung halber, sondern auch formal ihrer Ausdruckskraft wegen, die sich mit der heutigen Kunst messen kann.

Lascaux

Die 1940 entdeckte Höhle von Cascaux ist mit ihren vorgeschichtlichen Tierdarstellungen die reichste, und ihre annähernd 20000 Jahre alten Kunstwerke wirken noch heute so frisch wie eh und je.

6. Die Venus von Lespugue ca. 20000 v. Chr., Elfenbein Musée de l'Homme. Paris

7. Kykladen Das Haupt von Amorgos 2600-2100 v. Chr., Marmor Louvre, Paris

In der Höhle sind Nashörner, Bisons, Rotwild, aber auch Kühe und eine kleine Rasse von Pferden dargestellt. Auf anderen Wänden erscheinen Rentiere und Stiere. Bei aller angestrebten Naturtreue finden sich gewisse Übertreibungen, die zur Steigerung des Ausdrucks und vor allem zur Verherrlichung der Zeugungskraft beitragen sollten.

Vorgeschichtliche Bildhauerkunst

Trotz der paar schon erwähnten Idole blieb die Bildhauerkunst des Steinzeitalters, gemessen an der Malerei, relativ unbekannt. Dabei fand man in der Gegend von Lascaux bei Les Eyzies in der französischen Dordogne Reliefs, die, wenn sie auch noch keine freistehenden Skulpturen waren, doch als Bildhauerarbeiten gewertet werden mussten. Den darauf abgebildeten Bison datiert man um 21 000 v. Chr. Das Pferd aus der Montespan-Höhle im Departement Haute-Garonne stammt etwa aus derselben Zeit.

Konnte man bislang eher von Zeichnungen als von dreidimensionaler Kunst sprechen, so trifft dies auf den Bison von der Tue d'Adoubert-Höhle im französischen Departement Ariege nicht mehr zu, denn er wurde in Ton modelliert, der beim Trocknen zersprang. Dass das Modell trotz seiner Brüchigkeit erhalten blieb, ist ausschließlich seiner Anreicherung mit stalagmitischen Bestandteilen zu danken, jenen Kalksteinniederschlägen also, die Tropfsteine bilden.

8. Stonehenge Megalithisches Heiligtum (?) I. Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr.

Urgestalten der Venus

Die schon erwähnten weiblichen Figuren datieren aus derselben Periode um 21000 v. Chr. wie der stehende Bison aus Les Eyzies. Diese »Venus«-Figuren mit ihrem charakteristisch breiten Gesäß wurden in Stein gehauen, aus Lehm modelliert oder in Elfenbein geschnitzt. Ihre berühmtesten Vertreterinnen sind die Venus von Lespugue und die Venus von Willendorf, deren expressionistisch akzentuierte Formen besonders beeindrucken.

Von den Pyrenäen bis Sibirien, in Norditalien und Mitteleuropa stößt man plötzlich auf technisch versierte Bildhauer, die deutlich in einer künstlerischen Tradition stehen, begegnet man freistehenden Plastiken, die ungeachtet kleiner Abweichungen in der Regel alle auf eine Urform zurückzuführen sind. Immer sind es korpulente Frauengestalten mit enormen Becken und Genitalien, massigen Brüsten und Hüften. Individuelle Züge sucht man vergebens. Der vorgeschichtliche Bildhauer würdigte das Gesicht keiner Beachtung, sondern konzentrierte sich ganz auf den Rumpf. Auch den Gliedmaßen und ihren Proportionen schenkte er wenig Aufmerksamkeit, Arme und Beine kamen dabei »zu kurz«. Diese Auffassung setzte sich bis ins Neolithikum fort und blieb auch später noch gültig. Ungefähr bis in die Bronzezeit hinein bleibt die Kunst formal derjenigen des vorgeschichtlichen Zeitalters verpflichtet. So entdeckte man in Anatolien Figuren, die um 6000 v. Chr. anzusetzen waren, aber immer noch unverkennbar Fruchtbarkeitssymbole aufwiesen mit den dazugehörigen Übertreibungen gewisser Körperpartien. So ähneln auch die Kykladen-Idole – nackte Frauenfiguren – formal ziemlich einer Violine; die untere Körperpartie ist wohlgerundet, der Kopf zylindrisch; der Frauenkörper wird hier in seiner elementarsten Form evoziert.

Und doch war ein Wandel eingetreten, der, wenn man an die vorgeschichtlichen Figuren denkt, die Bildhauerkunst allem Anschein nach aus der Tradition hatte ausbrechen lassen. Charakteristisch für diese Übergangszeit sind nicht nur die Ausgewogenheit und Plastizität der Kykladenskulpturen, in denen ein neuerwachter Sinn für Proportionen spürbar wird; der Neubeginn manifestiert sich vor allem in einer gewissen Vorliebe für Stilisierung und Abstraktion, und in dieser Hinsicht zeichnet sich in der Tat eine neue Ära der Kunstgeschichte ab.

Nun war der Einzelne nicht mehr den Mächten der Erde wie Fruchtbarkeit und Mutterschaft einfach ausgeliefert. Zwar leugnete er nicht, an sie gebunden zu sein und verlieh dem auch Gestalt – man sieht es an den Kykladen-Idolen –, aber Schaffensdrang und das Bedürfnis nach formaler Idealisierung wurden nun übermächtig.

Die Mittelmeerländer, vornehmlich diejenigen Gegenden, nach denen man Kunststile zu nennen pflegt, waren Einflüssen vielfältiger Art ausgesetzt. Lange ehe die Griechen und Phönizier sich behaupten konnten, traten Eroberer auf den Plan, die längs der Küsten plündernd und raubend zur allgemeinen kulturellen Entwicklung das Ihre beitrugen. Lange Zeit überwog der Einfluss aus dem Osten, aber von dem Augenblick an, da die Römer Karthago (202 v. Chr.) und in der Folge Spanien eroberten, schwand der griechische Einfluss im westlichen Mittelmeerbecken. Bis dahin hatten östliche Religion und Lebensart das kulturelle Klima bestimmt. Ein Beispiel dafür ist die Stierverehrung, die in vorgeschichtlichen Zeiten ihren Ursprung hatte, auf die Iberische Halbinsel übergriff und noch heute in der Form des Stierkampfes lebendig geblieben ist.

9. Kykladen Figur, gefunden bei Naxos 2600-2100 v. Chr., Marmor Louvre. Paris

10. Haupt einer Figur aus Jugoslawien ca. 5. Jahrtausend v. Chr., Terrakotta Muzej Kosova i Metohije, Pristina

Sardische Bronzen

Malta besitzt noch Denkmäler aus der Bronzezeit, Bauten, die stilistisch stark von Kreta und Mykenä beeinflusst sind. Sardinien ist besonders reich an archäologischen Fundstätten; die hier entdeckten Bronzen gehen bis in die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends zurück, und sind nach der »cireperdue«-Methode der verlorenen Form hergestellt. Nicht nur der Umstand, dass sich mit dieser Technik nur Einzelstücke herstellen lassen, macht diese Bronzen so wertvoll; eindrucksvoll ist vor allem die Ausdruckskraft, die diesen Figürchen innewohnt. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihnen und Figuren, die auf der ja eng benachbarten Iberischen Halbinsel gefunden wurden, ist nicht abzustreiten. Auch die Kunst der Phönizier ähnelt unverkennbar der aus Sardinien, was hauptsächlich auf die Handelsbeziehungen der Phönizier zurückzuführen sein dürfte, die diese mit allen an das Mittelmeer angrenzenden Nationen unterhielten. Man braucht indessen nur die Figur eines sardischen Bogenschützen neben eine iberische Bronze zu stellen, um zu erkennen, dass die Unterschiede doch größer sind als die Ähnlichkeiten, was sich, wenn auch nur zum Teil, damit erklären lässt, dass die iberischen Bronzen keine Einzelanfertigungen waren, sondern Massenprodukte.

Die Kunst der Jäger

In der Kunst der Steinzeit begegnet man Tierdarstellungen ebenso wie Darstellungen weiblicher Figuren. Kunst wurde nicht zum ästhetischen Vergnügen, sondern der magischen Kräfte wegen geschaffen, die man ihr zuschrieb. Tieropfer wurden dargebracht, um die übernatürlichen Kräfte zu beschwören, die, nach Meinung der vorgeschichtlichen Jäger, den Tieren innewohnten und sie beschützten.

11. Wagen mit Sonnenscheibe aus Trundholm ca. 1400 v. Chr., Bronze, Scheibe vergoldet (?) National Museet, Kopenhagen

Die lebendigsten Beispiele kleiner Tierdarstellungen stammen aus Südwesteuropa, jener schon erwähnten Gegend der Höhlenmalereien. Sie finden sich auf Waffen und Werkzeugen, nur werden jetzt, anders als in der Höhlenmalerei und -bildhauerei, mit Vorliebe Wildpferde dargestellt. Das in Les Espélugues aufgefundene Pferd ist ein hervorragendes Beispiel realistischer Darstellung; es vermittelt den Eindruck, als ob es ein fernes Geräusch aufhorchen ließe, als ob es mit gestrecktem Halse abwartete, dass irgend etwas passierte. Dass diese lebendige Kunst ein Beobachterdasein voraussetzt, ist unverkennbar; sie ist eine ausgesprochene Jägerkunst.

Frühkulturen und Verkehrsverbindungen

Im Neolithikum, der Jungsteinzeit also, begegnet man unterschiedlichen Kulturstufen. Alle zehren sie vom Erbe der Mittelmeerländer. Für ihre Ausbreitung spielte die Donau eine wichtige Rolle, denn auf ihr wanderten Kunst und Kultur des östlichen Mittelmeerraumes gen Norden, diese Wasserstraße entlang erreichten sie Zentraleuropa. Ein anderer Weg führte auf die Iberische Halbinsel, und von dort aus nordwärts nach Westfrankreich und auf die Britischen Inseln.

Während der Bronzezeit setzte sich dieser Einfluss auf eben diesem Wege bis nach Skandinavien fort, das sich eben erst aus der Eiszeit löste. Dass dies mit einer gewissen Verzögerung geschah, führte zu steinzeitlichen Formgebungen, die sich in Skandinavien länger hielten als anderswo. Die auf Höhlenwänden in Nordeuropa entdeckten Malereien unterscheiden sich von denen Südwesteuropas in mehr als einer Hinsicht. Es stimmt zwar, dass sie einem späteren Zeitalter, dem Neolithikum, angehören und dass sich die zeitliche Differenz aus der Verzögerung herleiten lässt, mit der die Entwicklung in diesem Teile der Welt vor sich ging, aber mit dieser Erklärung allein ist es nicht getan. Ganz wie in der urtümlichen Malerei der australischen Eingeborenen finden sich in der Jungsteinzeit Skandinaviens Szenen aus dem Alltag von Fischern und Jägern dargestellt.

Ein gutes Beispiel kultureller Durchdringung auf dem Wege über die Donau sind die Idole, die man in Strelice in Mähren gefunden hat. Der Frauentyp der paläolithischen Venus wird hier von vorklassischen mediterranen Formen überlagert. Die Tschechoslowakei wurde gleichfalls vom Mittelmeer her beeinflusst, und wieder geschah dies auf dem Donauwege, wie man den Funden aus der Gegend von Pristina entnehmen kann. Es sind Figuren von dramatischer Ausdruckskraft. Auffallend an ihnen ist die Überbetonung der Augenpartie.

Steinblockmonumente

In Frankreich wurden mehr als 6000 Gräber aus der Jungsteinzeit entdeckt, mehr als die Hälfte davon in der Bretagne. Erhalten sind aufrechtstehende Monolithen aus dem Anfang des dritten vorchristlichen Jahrtausends, wobei Standorte und Grabmäler gleichermaßen als »Menhire« bezeichnet werden. Riesige Felsstücke, die in Hufeisenform angeordnet sind, vermitteln einen Eindruck von der Macht der Götter, die man verehrte.

12. Hallstatt Krieger 8.-5. Jahrhundert v. Chr., Bronze Naturhistorisches Museum, Wien

13. Sardinien Bogenschütze 7. -5. Jahrhundert v. Chr., Bronze British Museum. London

Dreißig und mehr Jahrhunderte, so scheint es, trennen das Jungpaläolithikum mit seinen naturalistischen Wandmalereien von der neolithischen Ära um 7500 v. Chr. Damals traten Völkerschriften auf, die riesige Denkmäler auf ebenem Grunde errichteten wie etwa in Stonehenge (Wiltshire, England) – es ist eines der eindrucksvollsten und ältesten Denkmäler dieser Art – und in der Bretagne. Diese magischen Felszirkel beweisen, dass die Gesellschaft sich stärker organisiert haben musste.

Höchstwahrscheinlich dienten die dergestalt angeordneten Steinblöcke der Sonnenverehrung – nicht etwa dem Kulte lebender oder toter Wesenheiten – und stellten so einen Tempel oder eine Sonnenuhr enormen Ausmaßes dar.

Der Trundholm-Wagen

Während der Bronze- und frühen Eisenzeit (nach 3000 v. Chr.) wurden in verschiedenen Teilen Europas Pferd und Wagen, zuerst in seiner vierräderigen Ausführung, eingeführt. Natürlich hatte der berühmte Wagen von Trundholm Berührungspunkte mit Fahrzeugen anderer Art. Hier aber handelte es sich im kosmogonischen Sinne um einen symbolischen Wagen; er symbolisierte die Erscheinungen des Weltalls. Das Pferd wird als mythologisches Tier gesehen, das den Sonnenaufgang befördert. Die Sonne selbst besteht aus zwei konvexen Teilen, die durch einen Ring zusammengehalten sind. Blattgold überzieht beide Hälften. Dieses Fundstück datiert man ins 14. Jahrhundert v. Chr.

Die Hallstatt-Kultur

Im ersten vorchristlichen Jahrtausend drängten die Völkerschaften Zentral- und Nordeuropas unablässig gen Süden. Die Hallstattleute eroberten Griechenland, Norditalien und Nordostspanien. So erfuhren sie den schöpferischen Einfluss Südeuropas; nördlich der Alpen war man kaum je mit etwas Vergleichbarem in Berührung gekommen. Eine bestimmte Form ornamentaler Kunst blühte in Handwerk und Kunstgewerbe. Die Gegend nördlich der Alpen war also ursprünglich weder germanisch noch keltisch, sondern wurde von einem Stamm beherrscht, den man nach der Hauptfundstelle Hallstatt in Österreich benannte; die Macht dieses ursprünglich illyrischen Stammes hielt nicht lange vor. Offensichtlich ist er in anderen Völkerschaften auf- und damit untergegangen.

Charakteristisch für die Hallstattkultur ist, dass sie als Verbindungsglied zwischen Nord und Süd fungierte. Besonders gegen Ende der Hallstattära bestanden zwischen Nord- und Südeuropa enge Handelsbeziehungen, wobei die griechische Kolonie Massilia, das heutige Marseille, den Handel systematisch organisierte. Die Nachahmung griechischer Vorbilder führte zu einem beträchtlichen Anwachsen des Handels in Nord- und Zentraleuropa. In der Bronzeverarbeitung jedenfalls standen die Hallstattleute dem Süden nicht mehr nach.

14. Anatolien Grabmal von Antiochus I. bei Nimrud-Dagh 1. Jahrhundert v. Chr.

Die Geburt Europas

Die Gehurt des Westens

Europa wurde in – und zusammen mit – Griechenland geboren. Die neue Zivilisation, die in Athen ihren Ursprung hatte, unterschied sich von all ihren Vorgängerinnen; keine von ihnen nahm sie sich zum Muster und begründete eben deshalb, was allein westliche Zivilisation und Kultur genannt werden darf. Europäischer Geist und westliche Mentalität sind als genuin griechische Entdeckungen anzusehen. Was die griechische Welt – und hoffentlich auch die unsere! – von der Alten Welt unterschied, war die überragende Bedeutung, die bei allen menschlichen Betätigungen nun dem Geistigen beigemessen wurde. Diese Vorrangstellung hat ihren Ursprung in Hellas und schlug dort Wurzeln. In einer Welt der Irrationalität, die überall sonstwo vorherrschte, wurden die Griechen nun zu Vorkämpfern der Ratio. Was wir heute von Menschenwürde und Menschengeist halten, geht zum größten Teil auf die Griechen zurück, wenn man von dem Einfluss des alttestamentarischen Judentums einmal absieht, das die bildliche Wiedergabe der menschlichen Gestalt verbot und so kaum zur Entwicklung einer figürlichen Kunst beigetragen haben kann. Die Welt, in der Griechenland zum Leben erwachte, billigte der Vernunft nur eine Nebenrolle zu. Nur das Unsichtbare war von Belang. Für kurze Zeit begegneten sich in Hellas Ost und West; der vernunftbetonte westliche Charakter traf auf das Erbe östlicher Spiritualität und bezog seine großen schöpferischen Impulse aus der Verbindung klaren Denkens mit Gefühlstiefe. Mit den Griechen entstand die Welt, wie wir sie heute kennen. Natürlich sperrten sich die Griechen nicht gänzlich gegen die Einflüsse der Alten Welt. Kontakte mit Ägypten fanden statt, wenn nicht auf direktem Wege, so doch über Kreta. Man darf ruhig annehmen, dass sich die Griechen der Frühzeit kulturell von ägyptischen Vorbildern haben anregen lassen; wie weit sich dieser Kontakt freilich auswirkte, ist noch sehr die Frage.

Die aristokratische Welt des archaischen Griechenland hätte gar keinen anderen Stil ausbilden können als einen, der feierlich war und repräsentativ in einem, einen Darstellungsstil »en face« sozusagen: Das Bildwerk tritt dem Beschauer »frontal« gegenüber, es bietet ihm »die Stirn«.

Mykenischer und minoischer Naturalismus

In der spät-mykenischen Kunst sind zwei sich widerstreitende Tendenzen zu beobachten: Einerseits bleibt es bei der naturalistischen Anschauungsweise in Fortsetzung kretischer Traditionen, andererseits wird ein neuer Formwille spürbar. Charakteristisch sind nun Sinn für Ordnung und Einfachheit sowie ein gewisser Hang zum Abstrakten.

Daß die Kreter keine Griechen waren, erhellt schon aus ihrer Kunst. In ihrem Streben nach einer Idealform bewiesen die Griechen ihren starken Ordnungssinn, und so fiel, zumindest zu Beginn ihrer Kultur, Naturstudium weniger ins Gewicht. Die minoischen Künstler schöpften dagegen ihre Anregungen unverkennbar aus der Natur und orientierten sich sehr an der sichtbaren Wirklichkeit, was sie nicht notwendigerweise zu geistloser Nachahmung verleiten musste.

15. Attika Analatos-Maler Wagen und Reiter frühes 7. Jahrhundert v. Chr., Detail einer Amphore Louvre, Paris

16. Böotien Weibliche Figur 8. Jahrhundert v. Chr., Terrakotta Louvre, Paris

Ägyptische Todessehnsucht und griechische Liebe zum Leben

Zwischen minoischem Naturalismus und griechischer Kunst bestehen beträchtliche Unterschiede, aber noch die hierarchischste archaische, griechische Skulptur weist Züge auf, die es verbieten, sie dem ägyptischen Stile zuzurechnen. Auch aus der archaischen Plastik lassen sich noch menschliche und persönliche Züge herauslesen, wie das Menschenbild der Griechen überhaupt organisch aus ihren Sinneswahrnehmungen erwuchs. Ägyptische Skulptur hingegen war überhaupt nicht organisch, sondern völlig abstrakt konzipiert; Strenge im Ausdruck paarte sich mit zeitlosem Bewusstsein und dem Glauben nicht an das diesseitige Leben, sondern an das Leben »danach«.

Auch in ihren besten Werken lehnt sich die ägyptische Plastik mit dem Rücken an einen Block an, sie ist streng frontal ausgerichtet und im Aufbau durchaus symmetrisch. Die griechische Statue hat sich hingegen von der Wand abgetrennt und gelangt nun, da sie die Erstarrung überwunden und sozusagen den Rücken frei hat, hin zur Gelöstheit einer organischen, natürlichen Bewegung. Eine leichte, natürliche Körperdrehung, die man ihr zugesteht, führt zu einer ganz neuen Haltung.

Hinter der unterschiedlichen Formgebung steckt eine unterschiedliche Einstellung zur Gesellschaft, zu Leben und Tod. Die ägyptische Statue repräsentiert eine politische Ordnung, in welcher das Individuum sich völlig einem autoritären Staate zu unterwerfen hat und dazu noch einer Religion mit schreckenerregenden Gottheiten und einer mächtigen Priesterkaste. Die griechische Statue aber entspringt blühender Lebensfreude aus dem Wissen heraus, dass jeder Augenblick kostbar ist. Die Erfahrung, was Freiheit bedeutet und was sie wert ist, findet hier ihren Niederschlag. Griechische Plastik allein an ihrer sinnlichen Schönheit zu messen, heißt sie oberflächlich beurteilen. Im Gegensatz zur ägyptischen Plastik legt sie höchsten Wert auf menschliche Freiheit. Die ägyptische Statue dagegen repräsentiert ein Wesen, das, äußerlicher Gesetzlichkeit unterworfen, einer Macht ausgeliefert ist, die seiner spottet. Dieses Menschenwesen ist zeitlos; sein Blick richtet sich auf Tod und Ewigkeit.

Paradoxerweise machte es eben diese Vorstellung vom Totenreich als der ausschlaggebenden Bestimmung menschlicher Existenz dem Ägypter möglich, das Leben mit all seinen Widersprüchen dennoch zu akzeptieren. Als die griechische Statue sich in archaischer Zeit aus ägyptischer Starrheit löste, war dies mehr als ein formaler Prozess; es war ein Ausbrechen aus der Gesetzlichkeit und ihren rein äußerlichen Zwängen. An ihre Stelle trat nun eine Ordnung, die von innen kam und der man sich freiwillig fügte. Die Griechen waren es, die zum ersten Male in der Geschichte der Menschlichkeit und der Freiheit eine Gasse bahnten und ihnen die Welt eröffneten.

Geometrische Stilisierung und archaische Strenge

Der Niedergang der mykenischen Welt fällt in die Zeit der dorischen Einwanderung, da sich dorische Stämme in den verschiedenen mykenischen Siedlungsräumen niederließen. Die Kunst, die jetzt entstand, vornehmlich die Vasenmalerei, war geometrisch ausgerichtet und zunächst völlig ungegenständlich. Doch im frühen 7. Jahrhundert v. Chr. wird allmählich, so sehr man formal noch dem archaischen Stile verhaftet ist, der Wille zur gegenständlichen Darstellung spürbar; das lässt sich an einer Vase ablesen, auf der Wagen und Pferdelenker zu sehen sind und die dem Analatos-Maler zugeschrieben wird. Aus der frühen dorischen Periode sind uns nur wenige Zeugnisse monumentaler Plastik überkommen,– aus der mykenischen Periode ist wenigstens das Löwentor erhalten –, doch gibt es in Serienproduktion verfertigte kleine Bronze- und Terrakottafigurinen. Ein typisches Beispiel solcher Kleinbronzen ist die »Stute, ihr Fohlen säugend« aus der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts. Die kleinen Pferdebronzen aus dieser Zeit haben kurze zylindrische Leiber, fast zylindrische Köpfe, lange Beine mit sehr ausgeprägter Vorder- und Hinterhand. Die menschlichen Figuren, die in eben dieser Periode aufkommen, wie etwa die kleine Bronzeplastik des »Apollo von Boston«, erkennt man an ihrer strengen, geometrischen Stilisierung. Das Gesicht ist dreieckig, der Hals lang und zylindrisch, der Rumpf eckig, er ruht auf kräftig entwickelten Schenkeln.

17. Mykenä Das Löwentor ca. 1250 v. Chr.

18. Geometrisch Stute, ihr Fohlen säugend 750- 700 v. Chr., Bronze Nationalmuseum. Athen

Im Verlaufe des 7. Jahrhunderts v. Chr. kommt es zur Monumentalplastik. Für sie charakteristisch ist immer noch die geometrische Form, die schon die Kleinbronzen auszeichnete. Trotzdem war das Ende der geometrischen Ära bereits in Sicht. Die griechische Gesellschaft war in Bewegung geraten, neue historische, ökonomische und soziale Perspektiven eröffneten sich. Charakteristisch für diese Zeit sind ihre fieberhafte Aktivität und ihr Schaffensdrang auf den alten und neuen Schauplätzen der griechischen Welt, dessen Progressivität uns heute noch in Staunen versetzt.

Das griechische Volk stand damals an der Schwelle einer grandiosen Entwicklung und überschritt diese Schwelle definitiv gegen Ende des 6. Jahrhunderts. Es war die Zeit, da die Griechen in einer ganzen Reihe von Tätigkeitsbereichen aktiv wurden, die Zeit, da die Kunst unablässig neue Entwicklungen durchlief oder, wie man auch sagen könnte, neue Entdeckungen machte, deren systematische Auswertung dann später das klassische Griechenland zu einem bislang ungekannten Höhenflug befähigte.

Viele Faktoren haben dazu beigetragen, den griechischen Geist schöpferisch werden zu lassen. Zunächst ist hier die starke geographische Expansion zu erwähnen, mit deren Hilfe man innerer, sozialer und ökonomischer Spannungen Herr zu werden suchte. Hinzu kamen die immer enger werdenden Kontakte mit den alten Zivilisationen des Nahen Ostens, die in Griechenland selbst dem ausländischen technischen Fachwissen neue Märkte erschlossen. Dasselbe galt für modische Neuerungen auf vielen Gebieten, für neue Farben ebenso wie für neue Ornamentik. Schließlich entstanden neue Verkehrsverbindungen, und die griechischen Städte zeigten sich aufgeschlossen für neue Handelsmöglichkeiten wie auch für die neuen Arten des Zusammenlebens, die ja gleichzeitig den griechischen Künstlern neue Ausdrucksmöglichkeiten eröffneten.

19. Griechisch Apollo frühes 7. Jahrhundert v. Chr., Bronze Museum of Fine Arts, Boston

Das Menschenbild, um das es der griechischen Kunst vor allem zu tun war – selbst die Götter erschienen in Menschengestalt – wurde zu Beginn des 5. Jahrhunderts hauptsächlich in zwei Themengruppen behandelt: einmal als Kuros in Gestalt eines nackten Knaben und dann als Kore in Gestalt eines verhüllten Mädchens. Die archaische Zurückhaltung wurde zwar nicht aufgegeben, wurde jedoch formal weniger streng gehandhabt. Anatomische Überlegungen spielten allmählich eine umso wichtigere Rolle, je bewegter die Posen wurden. Die menschliche Erfahrung hatte nun Vorrang vor dem geometrisch-abstrakten Konzept, und neben dem Marmor als Ausgangsmaterial für Bildhauer trat nun die Bronze. Die Entdeckung des Bronzegusses war für die griechische Plastik von enormer Bedeutung.

20. Archaisch Figur eines jungen Mannes (Apollo) 615-600 v. Chr., Marmor Metropolitan Museum, New York

21. Archaisch Kuros von Piräus ca. 500 v. Chr., Bronze Nationalmuseum, Athen

22. Rhodos Laufender Mann und Pflanzenmotive ca. 540 v. Chr., Amphore aus Kamiros British Museum, London

23. Archaisch Kore 530-520 v. Chr.Marmor (polychrom) Akropolismuseum, Athen

24. Griechisch Amphore mit Tintenfisch 410 v. Chr. Nationalmuseum, Athen

Das Fehlen des »Malerischen« in der griechischen Malkunst

Die griechische Malerei manifestierte sich auf zwei Ebenen, einmal als figürliche Vasenmalerei seit dem 7. Jahrhundert, und dann, seit dem 5. Jahrhundert, als das, was wir heute Malerei schlechthin nennen würden. Von dieser zweiten Stilrichtung wissen wir wenig, wenn auch neuere Ausgrabungen in Paestum unsere Kenntnisse verbreitert haben. Einen kontinuierlichen Eindruck von griechischer Malerei vermittelt von allen Kunstgattungen allein die Keramik. Vasenmalereien sind im Grunde unsere einzige Informationsquelle für eine ganze Kunstgattung, der Rest ist bloße Konjektur. Dabei waren Malerei und Keramik zu keiner anderen Zeit so eng verschwistert wie im alten Griechenland. Die von uns verwendete Bezeichnung »Malerei« ist eine irreführende Verallgemeinerung. Malerei im heutigen Sinne gibt es erst seit den Zeiten der italienischen Renaissance und der Venetianischen Schule. Vor dieser Epoche bedienten sich die Maler der klassischen Technik plastischer Konturierung, die man auf keine Weise »malerisch« nennen konnte, wie man das von der venetianischen Bellini-Schule behaupten kann. Die griechischen Vasen – ob sie nun von Exekias, dem Arkesilas-Meister oder dem Achilles-Maler herrühren – erweisen sich alle als auf klassische Weise plastisch konturierte Arbeiten. Schon im Athen des 9. vorchristlichen Jahrhunderts hatten Menschendarstellungen Eingang gefunden in die Bildwelt der Vasen, die in früheren Jahrhunderten nur geometrische Abstraktion gekannt hatte. Zuerst fehlte jeder individuelle Ausdruck, jede Andeutung, dass es sich um eine lebende Form handelte; alles war vollkommen stilisiert. Das Menschenbild war zu einer Art kubistischer Form erstarrt. Dass es sich um einen dreidimensionalen Körper handeln könnte, wurde nicht einmal angedeutet. Darstellungen dieser Art passten genau in das geometrische Dekor, und die Bilder handelten nur vom Tode. Die menschliche Gestalt schien in die griechische Malerei Eingang gefunden zu haben, aber nur als eine Art Schriftzeichen, modern gesprochen: als Logogramm oder Graphismus, und nicht um ihrer selbst willen. Immerhin war der Weg nun geebnet für eine Entwicklung, die nun unaufhaltsam einsetzte.

Griechenland betrachtete seine Mythen und Sagen als schätzbaren Teil seines kulturellen Erbes. Sänger trugen das ihre dazu bei, um die Werke Homers unters Volk zu bringen. Im 8. Jahrhundert erfolgte vollends der Umschlag: Für Haushaltszwecke bestimmte Vasen wurden nun mit ganzen Szenen bemalt. Das Todesthema wird aufgegeben; die Vase zeugt für das Interesse der Griechen, das sie nun für sich selbst aufbringen: Ausgestaltet werden nun die Belagerung von Troja oder die Irrfahrten des Odysseus. Tiere erscheinen, zuerst Pferd und Hund, später – unter dem Einfluss besagter internationaler Kontakte – die Sphinx sowie Jagdwild. Einer plastischen Formgebung scheinen die Künstler kein Interesse abgewinnen zu können. Wenn sie sich äußern, bleiben sie streng im Bereich des Zweidimensionalen, wozu die orientalischen Einflüsse aus Syrien, Anatolien, Phönizien ihren Teil beigetragen haben mögen.

Erst gegen Ende, als der Hellenismus in Verfall geriet, wich die lineare Zeichnung einer Art von clair-obscur-Malerei, und die Künstler suchten räumliche Tiefenwirkungen zu erzielen. Damit war das Schicksal der griechischen Malerei besiegelt, der Weg für die Römer freigeworden. Doch ehe diese in die Entwicklung eingriffen, traten die Etrusker auf den Plan. Mit der griechischen Kunst gemein hat die etruskische die Vorliebe für das streng Lineare und eine gewisse Eleganz der Linienführung.

Bewegung in Bronze

Im Laufe des 5. Jahrhunderts zogen es die Bildhauer mehr und mehr vor, in Bronze zu arbeiten; Stein wurde immer weniger verwendet. Hauptgrund dafür war, dass sich in Bronze freier gestalten und subtiler arbeiten ließ. Dies macht sich besonders im anatomischen Detail bemerkbar: die Figuren werden zusehends lebensechter. Je geschickter die Bildhauer wurden und je mehr sie formale Nuancen beherrschen lernten, desto individueller gerieten Haltung und Gesichtsausdruck ihrer Statuen. Der einzige, aber möglicherweise schwerwiegende Nachteil war, dass dabei die Spannung verloren ging, die einst die griechische Plastik erfüllt hatte.

25. Exekias Dionysos in seinem Boot ca. 535 v. Chr. Schale aus Vulci, Etrurien Museum antiker Kleinkunst, München

26. Klassisch Karyatide 417-409 v. Chr. Marmor Erechtheion, Athen

Schritt für Schritt brach man mit der Formstrenge archaischer Plastik. Nun verlegte man sich mehr auf die Darstellung von Bewegungen, und dieser Strukturwandel zieht einen Wandel im Ausdruck nach sich. Das archaische Lächeln weicht nun dem Ausdruck introspektiver Versunkenheit. Am Ende dieser Entwicklung steht dann der eher unverbindliche Charme eines Apollo Sauroktonos.

Etruskische Kunst

In vieler Hinsicht ist die etruskische Kunst ein noch ungelöstes Rätsel. Woher stammten die Etrusker? Wenn man Herodot, einem griechischen Historiker des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, glauben will, kamen sie übers Meer aus Lydien. Doch vier Jahrhunderte später – die etruskische Kultur war damals bereits völlig und endgültig in der römischen Kultur aufgegangen – behauptete Dionysios von Halikarnaß, es handele sich bei den Etruskern um eine autochtone Bevölkerungsgruppe. Wie dem auch sei, eine endgültige Antwort steht immer noch aus. In künstlerischen Dingen sind die Etrusker sehr dem Nahen Osten und den Griechen verpflichtet. Immerhin schufen sie aber eine recht originelle, visuell betonte Kultur, in der sich ihre religiösen Vorstellungen spiegelten. Ihre unablässige Beschäftigung mit dem Jenseits inspirierte sie zu phantastischen und recht heterogenen Schöpfungen, die aus orientalischen Quellen gespeist wurden. Ein Beispiel dafür ist die Bronze-Chimäre (aufgefunden wurde sie bei Arezzo und befindet sich jetzt im Archäologischen Museum in Florenz), ein exotisches Monstrum mit dem Leib eines Löwen, aber damit nicht genug: Dieses Produkt irrationaler Phantasievorstellungen hat außerdem noch den Kopf einer Ziege und den Schwanz in Form einer Schlange. Dass diese Bronze Heiterkeit erregen sollte, war keineswegs beabsichtigt. Etruskischer dekorativer Kunst haftet verbürgtermaßen etwas irrational Imaginäres an, und das gilt nicht nur für Vasen, sondern auch für Grabmäler. Andererseits eignet der etruskischen Mentalität Wirklichkeitssinn und Gefühl für Lebendiges. Ihre Tierbilder jedenfalls stehen in seltsamem Widerspruch zu ihren phantastischen Vorstellungen und gehören zu den genauesten und naturalistischsten Darstellungen jener Zeit. Festgehalten sind Pferde, Vögel und Fische in einer Vielzahl von ausgezeichnet beobachteten natürlichen Bewegungsabläufen. Von hier führt eine gerade Linie zu der berühmten römischen Wölfin, einer Bronzedarstellung aus dem 5. Jahrhundert. Mit ihrem schwellenden Euter, das durch eine raffinierte Anordnung der Läufe besonders gut einsehbar ist, erweist sie sich dem Betrachter als ein Meisterwerk etruskischer Bildhauerei.

27. Arkesilas-Maler Arkesilas beaufsichtigt das Abwiegen und Verpacken von Wolle 560-530 v. Chr., Trinkbecher aus Vulci, Etrurien Bibliotheque Nationale, Paris

Ihren Höhepunkt erreichte die etruskische Kultur in Italien zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert v. Chr. Die etruskische Zivilisation erstreckte sich damals von Capua im Süden bis nach Bologna, dem etruskischen »Felsina«, und den Alpen im Norden. Ihr Verfall setzte im 5. Jahrhundert ein, und um 280 v. Chr. hatte sie ihre Unabhängigkeit an Rom verloren. Eingesetzt hatte dieser Prozess im Jahre 396 mit der Eroberung der etruskischen Stadt Veji durch den Römer Camilius. Von da an wurde die etruskische Welt immer mehr von Rom absorbiert. Bis ins 6. Jahrhundert v. Chr. war Rom eine von etruskischen Königen regierte Stadt gewesen. Als die Römer schließlich die Etrusker unterwarfen, wurden die meisten ihrer Städte gnadenlos ausgeplündert. Besonders abgesehen hatte man es auf ihre Kunstwerke, vornehmlich auf die Bronze- und Stein-Statuen, für die man zur Verschönerung öffentlicher und privater Gebäude in Rom Verwendung hatte.

28. Karnea-Maler Dionysos und Mänaden ca. 410 v. Chr., Vase aus Ceglio del Campo, Apulien Museo Archeologico Nazionale, Tarent

29. Achilles-Maler Muse ca. 445 v. Chr., Lekythos aus dem Grab eines kleinen Mädchens, Attika Privatsammlung, Lugano

30. Hellenistisch Aphrodite von Melos, bekannt als »Venus von Milo« 2. oder I. Jahrhundert v. Chr., Marmor Louvre, Paris

31. Nach Praxiteles Apollo Sauroktonos ca. 350 v. Chr., Bronze Louvre, Paris

32. Etruskisch Der Kitharaspieler ca. 470 v. Chr. Wandmalerei aus dem Trikliniumgrab Museo Nazionale, Tarquinia

In der etruskischen Kunst lassen sich hellenische Einflüsse nachweisen. Etrurien bildete die Westgrenze des hellenischen Reiches, das im Osten bis nach Zypern, Lykien und Phrygien reichte, nordwärts bis nach Makedonien und Thrakien. Alle diese Gegenden waren für hellenische Kultur empfänglich und trugen gelegentlich auch selbst zu ihrer Entwicklung bei. Für Etrurien erwies sich die Bindung an Griechenland als so eng, dass die etruskische Kunst vom Beginn der archaischen Periode an bis hin zu der späthellenischen die verschiedenen Entwicklungsphasen griechischer Kunst treulich widerspiegelt. So kann es nicht verwundern, dass die Frage aufgeworfen wurde, inwieweit überhaupt und auf welche Weise von etruskischer Kunst gesprochen werden kann. Einige Autoritäten sind der Meinung, dass etruskische Kunst, wenn man vom griechischen Einfluss absehe, überhaupt nichts von Wichtigkeit zu bieten habe. Sogar dass Etrurien Jemals irgendwelche originalen Kunstwerke hervorgebracht habe, wird von ihnen bestritten. Gewiss mangelte es den Etruskern an Jenem für Hellas so charakteristischen Freiheitswillen gepaart mit Kreativität, die sich auf alle Lebensbereiche auswirken sollte. Der kraftvolle Schaffensdrang der Griechen führte zum Bruch mit der sie umgebenden Alten Welt; mit ihnen begann ein neues Kapitel in der Geschichte der Kunst. Das kann von den Etruskern nicht behauptet werden. Ursprünglich hob sich ihre Kunst nicht von derjenigen der »Ökumene« ab, deren Teil sie bildeten. Vergleiche mit östlichen Kunstprodukten, mit den Bronzen aus Sardinien und Luristan, mit kretischen, mykenischen und archaischen Kunstwerken drängen sich förmlich auf.

33. Etruskisch Liegendes Paar spätes 6. Jahrhundert v. Chr. Terrakotta des Sarkophags aus, Cervetri Museo Nazionale di Villa Giulia. Rom

34. Etruskisch Velia, Frau des Arnth Velcha ca. 400 v. Chr., Wandmalerei Orkus-Grab. Tarquinia

35. Etruskisch Badeszene ca. 520 v. Chr., Wandmalerei aus dem Grab der Jagd und des Fischfangs Museo Nazionale, Tarquinia

36. Etruskisch Trinkgelage ca. 460 v. Chr., Wandmalerei aus dem Leopardengrab Museo Nazionale, Tarquinia

Griechischer Einfluss in etruskischer Kunst

Als die etruskische Kunst später im. 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. ihre Blüte erreichte, stand sie ganz im Zeichen von Hellas. Wer wollte sich dafür verbürgen, dass die hochgepriesenen Fresken und Friese der Gräber in Tarquinia, dass der tanzende Ephebe, der Kopf von Velia und all die zechenden, musizierenden und tanzenden Figuren nicht von einem griechischen Maler aus Cumae. Capua oder Neapel stammten, dem der Auftrag dazu von einem reichen tarquinischen Kaufmann erteilt worden war?

Die großen freistehenden Statuen halten den Vergleich mit griechischen Schöpfungen nicht aus. Auch die edelsten Meisterwerke unter ihnen sind mit wenigen Ausnahmen klein und unscheinbar von Format. Die wenigen bedeutenden Stücke, die sich erhalten haben, vermitteln einen günstigen Eindruck von etruskischer Plastik. Ein gutes Beispiel dafür ist das Liegende Paar auf dem Sarkophag von Cervetri. Arbeiten dieser Art bestätigen zur Gänze die Sonderstellung etruskischer Kunst. Vergeblich suchte man in Griechenland nach vergleichbaren Werken. Auch wenn bei den Etruskern die Formen griechisch ausfallen, so lag das doch nicht in ihrer Absicht. Zu groß war der Unterschied, was das Lebensgefühl beider Völker anlangte; Die eine Kultur war zu sehr dem Leben zugewandt, die andere allzu gewahr des Todes.

Das Festhalten am Hier und Jetzt

Dabei führte die etruskische Todesbezogenheit durchaus nicht dazu, dass man die irdischen Dinge vernachlässigt hätte. In Wirklichkeit scheint das Gegenteil der Fall gewesen zu sein; Die Freude am Hier und Jetzt findet seine Fortsetzung im Dort und Danach. Das Grab eines etruskischen Aristokraten war wie ein Haus eingerichtet, in welchem der Tote residierte. So war es nur folgerichtig, dass Möbel, Schmuckgegenstände und Idole der Leiche mit ins Grab gegeben wurden. Die Fresken schildern die Freuden dieses Lebens; es ist ein üppiges, fast ausschweifendes Leben voller Bankette, Tänze und Musik. In den Jahren zwischen 530 und 500 v. Chr. inspirierten sich die etruskischen Maler hauptsächlich an jonischen Vasen; von 500 bis 470 dienten die rotfigurigen attischen Vasen als Vorbilder einer neuen Technik und einer reicheren Palette von Möglichkeiten. Es fällt auf, eine wie wichtige Rolle in der etruskischen Kunst die Natur spielt. Mit wenigen Ausnahmen war Natur für die griechische Kunst nie von großer Bedeutung gewesen. Für die Etrusker aber wurde sie zum bevorzugten Thema. Lebendigkeit und Beweglichkeit der Figuren wurden nun mehr betont. Manche Grabbilder offenbaren einen scharfen Blick für Individualität und sind im Erfassen der flüchtigen Momente von ausgesprochen dynamischer Ausdruckskraft. Von griechischem Idealismus ist in diesem Stil wenig zu spüren, doch spricht aus ihnen Lust am Realen, Lebendigkeit und Sinnenfreude.

37. Römisch Kopf eines Römers 3. Jahrhundert v. Chr., Bronze Palazzo dei Conservatori, Rom

Wahrscheinlich ließ diese unterschwellige Alltagssinnlichkeit die Etrusker für das Individuelle und Besondere empfänglich werden, während es im Gegensatz dazu den Griechen in ihrer Kunst mehr um das Allgemeingültige und Überindividuelle ging. Schon in den frühen etruskischen Grabdarstellungen, auf Kanopen und Urnen, haben die Gesichter ganz offensichtlich individuelle Züge. Zu den höchst individuellen Darstellungen von Toten kam es erst allmählich; man porträtierte sie auf Urnen, wie sie, in sitzender oder liegender Stellung, den Gastmählern der Seligen beiwohnten.

38. Altisch-Römisch Pan ca. I. Jahrhundert v. Chr., Marmor British Museum, London

39. Römisch Kopf des Antinous ca. 140 n. Chr., Marmor Museo Nazionale, Neapel

Etruskisch er Extremismus

Individuell gestaltet werden nun auch Tempelplastiken und Götterbilder; schon zur Zeit des archaischen Lächelns wirken die etruskischen Köpfe individueller und lebendiger. Ihnen eignet mehr menschliche Präsenz als den stärker idealisierten griechischen Statuen, sie »leben« mehr. Es muss an unmerklichen Nuancen liegen, dass man glaubt, ihren Herzschlag zu fühlen, ihre Gefühle zu teilen. Aber auch sonst ist mehr Dynamik, Emotionalität und Ekstatik in der etruskischen Kunst zu finden, kurz: die dionysische Komponente herrscht auffallend vor. Daher auch der Extremismus bei der Themenwahl; dargestellt werden Liebe und Tod. Diesen beiden Hauptthemen ist im etruskischen Gefühlsleben eine überragende Stellung eingeräumt, und so ist es kein Zufall, dass die einzige Gestalt, die die Etrusker der griechischen Götterwelt zugesellten, Lasa war, ein weibliches Gegenstück zu Eros.

Freundschaft, Melancholie, Liebe, Todesfurcht, Trauer, Ironie, Erwartung, Ergebung, Sehnsucht, Mutwille, Glückseligkeit –, die Gefühlsskala, die in der etruskischen Kunst anklingt, ist anders und wohl reicher als die der Griechen.

40. Pompeji Perseus und Andromeda 65 - 70«. Chr., Wandmalerei aus dem Hause der Dioskuren Museo Nazionale, Neapel

41. Alexandros von Athen Die Knöchelspieler von Herculaneum 1. Jahrhundert v. Chr., Bemaltes Marmorrelief Museo Nazionale, Neapel

42. Pompeji Wandmalerei ca. 50 v. Chr., Villa dei Misteri. Pompeji

Die Lehrmeister der Römer

Die Etrusker wurden neben den Griechen zu Lehrmeistern der Römer, Zum großen Teil waren es Griechen und Etrusker in römischen Diensten, die sich der Kunst widmeten, während sich die Römer selbst nur mit Politik und Kriegführung abgaben. In dieser Hinsicht kann man von einer zweiten griechischen Kolonisierung Italiens sprechen, einer Kolonisation im Bereiche des Ästhetischen. Aber nicht nur in Rom befriedigten griechische Künstler den Bedarf an Kunstwerken. In den alten griechischen Kolonien, vornehmlich im kleinasiatischen Jonien, verfertigte man im traditionell naturalistischen Stile oder im Geiste eines eklektischen Klassizismus Kunstwerke, die für den Export nach Italien und Rom bestimmt waren.

Die Kunst von Pompeji

Die Römer schufen als erste das psychologische Porträt; Römer und Römerinnen leben weiter in Porträtbüsten, die überraschend lebensecht wirken. In den Fresken von Pompeji geht es ähnlich realistisch zu. Pompeji ist natürlich eines der besterhaltenen Beispiele einer antiken Stadt und liefert ein vollständiges Inventar dessen, was im ersten vorchristlichen Jahrhundert im häuslichen, sozialen und kulturellen Leben von Wichtigkeit war. Pompeji war damals schon eine alte Stadt, in der sich, vielleicht schon im 8. Jahrhundert v. Chr., Griechen angesiedelt hatten. In der römischen Ära, vornehmlich während der Regierungszeit des Kaisers Augustus, wurde sie eine elegante Villenstadt. Die ersten Anzeichen des nahenden Unheils, das später die Stadt befallen sollte, zeigten sich im Jahre 62, als ein Erdbeben beträchtliche Schäden verursachte. Die Pompejaner waren noch dabei die Schäden auszubessern, als im Jahre 79 ein Ausbruch des Vesuvs stattfand, der Pompeji und allen, die dort lebten und arbeiteten, ein Ende bereitete.

Die Stadt verschwand unter Strömen von Lava und Asche, die sie für fast 1700 Jahre unter sich begruben. Eine Stadt von 12000 bis 20000 Einwohnern wurde so durch einen katastrophalen Vulkanausbruch für immer dahingerafft. Die Ausgrabungen begannen 1748 und dauern bis heute an; sie waren insofern von unschätzbarem Wert, als sie in reichem Maße Beispiele für die römische Kunstentwicklung und deren hellenistische Beeinflussung zu Tage förderten. Zwei Wesensmerkmale pompejanischer Kunst fallen sofort ins Auge; Naturliebe und ein auffallend gut entwickeltes Raumgefühl. Die Naturverbundenheit der Römer ließ sie ihre Häuser mit Garten- und Landschaftsbildern schmücken; ihr Sinn für Ordnung inspirierte sie zu Phantasiearchitekturen, die auf der Bildfläche die Illusion einer dreidimensionalen und harmonischen Welt hervorriefen. Fresken fanden sich in den Räumen und Loggien der pompejanischen Patrizierhäuser ebenso wie in den Läden und öffentlichen Gebäuden. Besonders in den Häusern der Reichen ist der akademische griechische Einfluss unverkennbar, doch existiert völlig unabhängig davon ein einheimischer Stil mit einem Hang zu größerer Expressivität, ja selbst zur Karikatur.

43. Pompeji Primavera 60 n. Chr., Wandmalerei aus Stabiae Museo Nazionale, Neapel

44. Pompeji Stilleben mit Früchten 69-70 n. Chr., Wandmalerei aus dem Hause der Julia Felix Museo Nazionale, Neapel

Schließlich gehören zum Kreis der in den verschiedenen pompejanischen Stilen dargestellten Themen nicht nur Porträts und Landschaften, sondern auch alte Sagen, so die von Homer erzählten Geschichten aus der Mythologie und die Heldentaten eines Herakles, Theseus oder Perseus. Sogar Stilleben finden sich, die Zeugnis abzulegen scheinen von einem Sinn für das Alltägliche und Gefühlsbetonte. Auch fand man eine recht satirische Darstellung des Salomonischen Urteils, von dem das Alte Testament berichtet.

45. Pompeji Bukolische Landschaft ca. 50 n. Chr. Wandmalerei Museo Nazionale, Neapel

Viele dieser berühmten Fresken sind künstlerisch von geringem Wert und bloß mechanisch ausgeführte Handwerkerarbeit. Einige darunter sind freilich von außerordentlich hoher Qualität. Am meisten berührt einen an diesen Werken die Melancholie, die sich hinter Frivolitäten verbirgt. Hier mindestens muss die römische Kunst im Zusammenhang mit den Traditionen der hellenistischen Kunst gesehen werden. Die offensichtliche Frivolität eines sinnenfrohen und sehr auf Irdisches bedachten Lebens wird von der Vorahnung des nahen Sturzes, des unausweichlichen Endes getrübt. Für manche sind diese Fresken und die in ihnen dargestellte Welt immer noch eine rein griechische Angelegenheit. Im Gegensatz zu der Einfachheit und Freiheit, derer die Griechen bedurften, um in allen Bereichen des Lebens jene Ausgewogenheit zu erreichen, die sie ersehnten, führten die Römer ein hartes, zuchtvolles und zurückgezogenes Dasein. Das erklärt, warum die griechischen Vorbilder einfach nicht verstanden wurden und ihre Nachahmungen zu bloßen mechanischen Kopien entarteten. Ein Tempel, auch wenn er oft größer und majestätischer als seine griechischen Vorbilder gerät, wirkt, wenn ihn Römer bauen, uninspiriert. Er ist schwerer, plumper, bar jeder Feinheit. Dasselbe gilt für die Malereien, die pompejanischen z.B., die in ihren griechischen Ursprüngen noch etwas von dem Charme und der Unschuld der Jugend hatten, aber ins dekorativ Frivole abglitten, sobald die Römer Hand anlegten. Die Malereien, die in Pompeji die Häuser schmücken, behandeln hauptsächlich Themen aus der Mythologie. Gleichzeitig erachtete man auch Landschaften als lohnende Malobjekte, mehr noch, als dies seinerzeit in der etruskischen Kunst der Fall war. Dabei handelte es sich weniger um Landschaften im eigentlichen Sinne als um Idyllen, in denen Schäfer und Schafe, Berge und Hütten, Landhäuser und vieles andere zum festen Bestand eines Sammelsuriums von Motiven gehörten. Absicht des Künstlers war es, ein Bild des Friedens zu vermitteln. Hierher gehören die »Bukolische Landschaft« und das reizende »Blumen pflückende Mädchen«, beide im Besitz des Museo Nazionale zu Neapel. Aber es gibt auch Beispiele für Stilleben, und manche der Details sind von großem malerischem Reiz. Die Fresken in der Villa dei Misteri gehören zum Vorzüglichsten, was die römische Malerei hervorgebracht hat, und darüber hinaus zum besten, was Malerei schlechthin zu leisten imstande ist.

Im Zeichen Christi

Katakomben, koptische Kunst, Handschriften, byzantinische, romanische und gotische Kunst

Nach erbitterten inneren Kämpfen wurde das Christentum schließlich zu Beginn des 4. Jahrhunderts von der römischen Regierung unter Kaiser Konstantin dem Großen von Staats wegen anerkannt. Man sicherte ihm sogar eine Vorzugsbehandlung zu, die auf Kosten des griechisch-römischen Heidentums ging. Der Umschlag von Heidentum zu Christentum, also von Spätantike zu christlicher Religiosität, spiegelt sich in den Künsten wider. Tempel wurden christianisiert, einschließlich des Pantheons in Rom. Neue Kirchen baute man nach dem Vorbild der klassischen Basilika.

46. Sarkophag von Junius Bassus: Christus reitet in Jerusalem ein, ca. 359 Marmor Vatikan. Rom

47. Palast des Diokletian. Split ca. 300

Das Erbe Roms

Die ersten christlichen Künstler waren Römer. Alle waren sie aus den Werkstätten heidnischer Meister hervorgegangen und unfähig, sich in einer anderen Formensprache auszudrücken als in derjenigen, die ihnen ihre heidnischen Lehrmeister vermittelt hatten. Inhaltlich bahnte sich freilich ein Wandel an, doch ist der Stil noch so sehr auf den klassischen Geschmack abgestimmt, dass man die Malereien in den Katakomben als eine Art christianisierter pompejanischer Kunst ansehen muss.

In ihren Jesusdarstellungen bedienen sich die Künstler klassischer Symbole und Embleme; so wird die klassische Darstellung von Hermes