Europas Einigung - Wilfried Loth - E-Book

Europas Einigung E-Book

Wilfried Loth

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Beschreibung

Mit dem Brexit ist ein turbulentes Jahrzehnt in der Geschichte der europäischen Integration zu Ende gegangen. Griechenland-Krise, Flüchtlingskrise und der Aufstieg des Populismus haben die Europäische Union grundlegend verändert. In dieser aktualisierten und erweiterten Neuausgabe seines Standardwerks ordnet Wilfried Loth, einer der besten Kenner der Geschichte der europäischen Integration, die dramatischen Ereignisse der vergangenen Jahre erstmals ein. Er zeichnet die Entwicklung der Europäischen Union bis zur unmittelbaren Gegenwart der Corona-Krise nach und ermöglicht den Leserinnen und Lesern ein historisch begründetes Urteil über die Zukunft der EU. .

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Wilfried Loth

Europas Einigung

Eine unvollendete Geschichte

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Mit dem Brexit ist ein turbulentes Jahrzehnt in der Geschichte der europäischen Integration zu Ende gegangen. Griechenland-Krise, Flüchtlingskrise und der Aufstieg des Populismus haben die Europäische Union grundlegend verändert. In dieser aktualisierten und erweiterten Neuausgabe seines Standardwerks ordnet Wilfried Loth, einer der besten Kenner der Geschichte der europäischen Integration, die dramatischen Ereignisse der vergangenen Jahre erstmals ein. Er zeichnet die Entwicklung der Europäischen Union damit bis zur unmittelbaren Gegenwart der Corona-Krise nach und ermöglicht den Leserinnen und Lesern ein historisch begründetes Urteil über die Zukunft der EU.

Vita

Wilfried Loth ist emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Duisburg-Essen.

Inhalt

Prolog: Churchills Kongress

Vier Antriebskräfte

Das Ringen um den Kongress

Verhandlungen und Beschlüsse

Ein Meilenstein

1.Gründerjahre 1948–1957

Das Ringen um den Europarat

Die Entstehung der Montanunion

Das Drama um die EVG

Die schwierige »Relance«

Die Verhandlungen über Euratom und EWG

2.Aufbaujahre 1958–1963

Die Europäische Kommission

Das Ringen um die Freihandelszone

Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes

Fouchet-Pläne und britisches Beitrittsgesuch

Beitrittsverhandlungen und Deutsch-Französischer Vertrag

Der Erfolg der Wirtschaftsgemeinschaft

3.Krisen der Sechser-Gemeinschaft 1963–1969

Erhards »Relance«

Hallsteins Offensive

Die Krise des »leeren Stuhls«

Die Zeit der Arrangements

Die Rückkehr der britischen Frage

Frankreich auf dem Weg zur Wende

4.Erweiterung und neue Perspektiven 1969–1975

Wendepunkt Haager Gipfel

Die Vollendung des Gemeinsamen Marktes

Die erste Erweiterung

Das Projekt der Währungsunion

Die Politische Zusammenarbeit

Krise und Neustart

5.Jahre der Konsolidierung 1976–1984

Der Weg zur Direktwahl

Das Europäische Währungssystem

Die Süderweiterung

Die Verteidigung der Détente

Thatcher, Genscher und Colombo

6.Jahre des Ausbaus 1984–1992

Die Einheitliche Europäische Akte

Das Binnenmarkt-Projekt

Das Projekt der Wirtschafts- und Währungsunion

Europäische Sicherheit und deutsche Einheit

Der Weg nach Maastricht

7.Von Maastricht nach Nizza 1992–2001

Die Umsetzung der Währungsunion

Die Norderweiterung

Der Weg nach Amsterdam

Sicherheits- und Ostpolitik

Der Nizza-Komplex

8.Verfassungsstreit und »Euro-Krise« 2001–2012

Die Osterweiterung

Der Verfassungsvertrag

Von Prodi zu Barroso

Die Verfassungskrise

Die »Euro-Krise«

9.Der Ansturm der Populisten 2012–2020

Juncker-Kommission und Griechenland-Krise

Ukraine-Krise und Flüchtlingskrise

Brexit-Referendum und »illiberale Demokratie«

»Pulse of Europe« und »La République en marche«

May, von der Leyen, Johnson

Schlussbetrachtung: Die Zukunft der Union

Nachwort zur 1. Auflage

Nachwort zur 2. Auflage

Abkürzungen

Anmerkungen

Prolog: Churchills Kongress (S. 9–25)

1.Gründerjahre 1948–1957 (S. 26–74)

2.Aufbaujahre 1958–1963 (S. 75–119)

3.Krisen der Sechser-Gemeinschaft 1963–1969 (S. 120–162)

4.Erweiterung und neue Perspektiven 1969–1975 (S. 163–210)

5.Jahre der Konsolidierung 1976–1984 (S. 211–258)

6.Jahre des Ausbaus 1984–1992 (S. 259–309)

7.Von Maastricht nach Nizza 1992–2001 (S. 310–357)

8.Verfassungsstreit und »Euro-Krise« 2001–2012 (S. 358–414)

9.Der Ansturm der Populisten 2012–2020 (S. 415–463)

Schlussbetrachtung: Die Zukunft der Union (S. 464–472)

Nachwort zur 1. Auflage (S. 473–475)

Das Europäische Parlament 1979–2019

Die Präsidenten der Hohen Behörde und der Kommissionen

Präsidenten der Hohen Behörde der EGKS

Präsidenten der EURATOM-Kommission

Präsident der EWG-Kommission

Präsidenten der EG-/EU-Kommission

Quellen und Literatur

Archivalische Quellen

Archives Diplomatiques du Ministère des Affaires Étrangères, La Courneuve (MAE)

Archives Historiques de la Commission Européenne, Brüssel (AHCE)

Bundesarchiv Koblenz (BA)

Centre Historique des Archives Nationales, Paris (AN)

Documents of the European Convention (CONV)

Documents of the European Council (EUCO)

Fondation Jean Monnet pour l’Europe, Lausanne (FJME)

Historical Archives of the European Union, Florenz (HAEU)

The National Archives/Public Record Office, Kew (PRO)

Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin (PAAA)

Interviews

Selbstständige Schriften, Erinnerungen, Editionen

Periodika

Zeitungen und Zeitschriften

Literatur

Literatur seit 2014

Personenregister

Sachregister

Prolog: Churchills Kongress

Den Haag, 7. Mai 1948: An diesem Tag trafen sich 722 repräsentative Persönlichkeiten aus 28 europäischen Ländern am niederländischen Regierungssitz, um über Wege zu einer Einigung Europas zu diskutieren. Sechs ehemalige Premierminister europäischer Länder nahmen an der Veranstaltung teil, ebenso wie 14 aktive und 45 ehemalige Minister sowie westdeutsche Ministerpräsidenten, führende Abgeordnete, Wirtschaftsführer, Gewerkschafter, Kirchenführer, zahlreiche Professoren sowie einige Intellektuelle und Künstler. Winston Churchill, der britische Premier der Kriegsjahre und nunmehrige Oppositionsführer im Londoner Unterhaus, hielt die Eröffnungsansprache; etwa 40.000 Menschen kamen zu einer öffentlichen Kundgebung am dritten Verhandlungstag. Dieser Kongress, der bis zum 10. Mai dauerte, war ein Lichtblick in der Ruinenlandschaft, die der Zweite Weltkrieg in Europa hinterlassen hatte. Er führte zur Konstituierung der Europäischen Bewegung und mittelbar auch zur Gründung des Europarates.1

Vier Antriebskräfte

Der Haager Kongress stand damit am Anfang von Verhandlungen über die Schaffung europäischer Institutionen, die – anders als die Verhandlungen über »eine Art föderativer Verbindung« zwischen den europäischen Völkern, die der französische Außenminister Aristide Briand im September 1929 der Vollversammlung des Völkerbunds vorgeschlagen hatte – erfolgreich waren und jene Gemeinschaft ins Leben riefen, die heute als »Europäische Union« das Leben der Europäer in starkem Maße beeinflusst. In ihm verdichteten sich Bewegungen, die auf die Überwindung der Funktionsdefizite der Nationalstaaten und des nationalstaatlichen Ordnungssystems in Europa zielten und die zum Teil schon in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren. Sie wurden von vier ganz unterschiedlichen Motiven angetrieben, zwischen denen freilich ein enger Zusammenhang bestand.2

Zunächst war dies das Problem der zwischenstaatlichen Anarchie, Auslöser aller »klassischen« Friedenssicherungspläne von Dante bis Kant: Als die Entwicklung der modernen Kriegstechnik Millionen von Menschen zu Kriegsopfern werden ließ und die wirtschaftlichen Schäden im Zeitalter der Kabinettskriege ungeahnte Ausmaße annahmen, wurde dieses Problem immer drängender. Die Erfahrung des verheerenden Ersten Weltkriegs führte darum zu einer Fülle europäischer Friedensinitiativen, von denen der »Paneuropa«-Feldzug des Grafen Richard Coudenhove-Kalergi und Briands Europaplan nur die spektakulärsten waren. Als die Friedensordnung von Versailles ab 1938 schrittweise zerbrach, erhielt diese Bewegung einen weiteren Schub. »Man kann es vor aller Welt mit tiefster und unbeugsamster Überzeugung aussprechen«, schrieb etwa im Frühjahr 1941 der französische Sozialistenführer Léon Blum, Ministerpräsident der Volksfront-Regierungen von 1936 bis 1938: »Aus diesem Krieg müssen endlich durch und durch starke internationale Einrichtungen und eine durch und durch wirksame internationale Macht hervorgehen, sonst wird er nicht der letzte gewesen sein.«3

Ein besonderer Aspekt des Problems der Friedenssicherung war die deutsche Frage: Wie sollte man sich Deutschland, das seit 1871 die stärkste Nation in der Mitte des europäischen Kontinents war, entfalten lassen, ohne gleichzeitig unter eine Hegemonie der Deutschen zu geraten? Oder umgekehrt: Wie ließen sich die Deutschen kontrollieren, ohne durch einseitige Diskriminierung neuen Revanchismus hervorzurufen? »Um den Widerspruch zu lösen«, so wiederum Blum stellvertretend für viele Autoren des Widerstands gegen die deutsche Besatzung und das nationalsozialistische Regime, und »um die Unschädlichkeit Deutschlands in einem friedlichen und gesicherten Statut zu erreichen, gibt es einen einzigen Weg: die Eingliederung der deutschen Nation in eine internationale Gemeinschaft.«4 Dies bedeutete also etwa nicht nur eine Kontrolle des Ruhrgebiets, sondern eine gemeinsame Lenkung der gesamten europäischen Schwerindustrie – und ebenso nicht nur eine Beschränkung der deutschen Militärhoheit, sondern ein gemeinsames Kommando für alle europäischen Streitkräfte. Nach den Erfahrungen des Scheiterns der Friedensordnung von Versailles und des Aufstiegs des Nationalsozialismus war dies ein Argument, das besonders viel Plausibilität für sich beanspruchen konnte.

Ein dritte Schwäche des Nationalstaatensystems ergab sich aus der Entwicklung der Produktivkräfte des industriellen Zeitalters: Die nationalen Märkte in Europa wurden – je länger, desto deutlicher – für rationale Produktionsweisen zu eng. Ihre wechselseitige Abschottung war nur temporär und sektoral sinnvoll; langfristig führte sie zu einem Verlust an Produktivität. Das hatte einen volkswirtschaftlichen und einen machtpolitischen Aspekt; vor allem in Gestalt der US-amerikanischen Konkurrenz waren beide seit den 1920er Jahren präsent. Entsprechend zahlreich waren die Einigungsinitiativen im wirtschaftlichen Bereich. Auch hier sorgte die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs für einen zusätzlichen Motivationsschub: Während die Europäer ihre Ressourcen im Zweiten Weltkrieg weitgehend verschlissen, weiteten die USA ihr Produktionsvolumen um mehr als das Doppelte aus, was durch ihre Funktion als wichtigster Materiallieferant der Anti-Hitler-Koalition ebenso begünstigt worden war wie durch die Abwesenheit der europäischen Länder vom Weltmarkt.

Ein vierter Motivationskomplex für europäische Einigungsinitiativen ist damit ebenfalls schon angesprochen: das Streben der Europäer nach Selbstbehauptung gegenüber den neuen Weltmächten. Sowohl die Sorge vor einer wirtschaftlichen und politischen Übermacht der USA als auch die Furcht vor einer Expansion der bolschewistischen Revolution waren schon in den 1920er Jahren Motive für europäische Einigungspläne. Beide wurden durch die machtpolitischen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs verstärkt. Mit den USA als Weltführungsmacht und der Sowjetunion als stärkster Militärmacht des europäischen Kontinents verloren bisherige Interessendivergenzen zwischen europäischen Nationalstaaten an Bedeutung – zugunsten des gemeinsamen Interesses an Autonomie und an der Vermeidung eines militärischen Konflikts zwischen den beiden Hauptsiegern des Krieges.

»Sich einigen oder untergehen«, wie es 1939 der Führer der britischen Labour Party, Clement Attlee, Premierminister der Jahre 1945 bis 1951, so einprägsam formulierte,5 wurde damit zu einer in mehrfacher Hinsicht plausiblen Parole – und zwar schon unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und sichtbar werdend in der Kritik an dem Ungenügen der Friedensordnung von Versailles; dann erneut, seit mit dem Münchener Abkommen deutlich wurde, dass die Ordnung von Versailles nicht mehr hielt; und schließlich verstärkt, seitdem sich 1943 der Sieg der Anti-Hitler-Koalition abzeichnete. Diese Parole faszinierte in den unterschiedlichsten politischen Lagern, sie verband über nationale Grenzen hinweg, und sie war – das muss der späteren Fixierung auf den Ost-West-Konflikt und der daraus resultierenden ahistorischen Position gegenüber den Ländern, die bis 1990 zum sowjetischen Block gehört hatten, entgegengehalten werden – auch keineswegs nur ein westeuropäisches Phänomen. Die europäischen Verbände hatten ihre Sektionen genauso in Prag und in Budapest wie in Paris oder in Brüssel.6

Die zahlreichen Einigungspläne, die in der Résistance, dem Widerstandskampf gegen den Nationalsozialismus, überall in Europa entwickelt worden waren, verdichteten sich bei Kriegsende freilich nicht sogleich zu einer konkreten Einigungspolitik. Stalin blockierte jede Art von Zusammenschlüssen im östlichen Europa (und zwar so konsequent, dass die entsprechenden Pläne ganz aus der Erinnerung verschwunden sind); gleichzeitig drohte jeder Schritt zur Einigung im Westen Europas die Spaltung des Kontinents in Ost und West zu vertiefen. Damit wurde es fragwürdig, mit Einigungsinitiativen dem Ziel der Friedenssicherung gerecht zu werden. Entsprechend schreckten jetzt viele Handlungsträger vor substanziellen Entscheidungen zurück, darunter auch – und das war angesichts der Machtverhältnisse unter Hitlers Gegnern in Europa entscheidend – die britische Regierung unter Winston Churchill. Frankreich verstrickte sich unter der Führung von Charles de Gaulle zudem in die Forderung nach Abtrennung der linksrheinischen Territorien und des Ruhrgebiets vom deutschen Staatsverband, die bei den britischen Verbündeten wenig Gegenliebe fand.

Churchill war dann aber der erste europäische Politiker von Rang, der das Thema der europäischen Einigung nach dem Ende des Krieges wieder auf die Agenda der internationalen Politik setzte. Nachdem er im Juli 1945, just nach seinem mühsam errungenen Sieg über Hitler, von den Wählern in die Opposition geschickt worden war, begann er im Winter 1945/46, sich Sorgen über die Gefahr einer Expansion des sowjetischen Machtbereichs über den »Eisernen Vorhang« hinaus zu machen. In einer spektakulären Rede in Fulton im amerikanischen Bundesstaat Missouri am 5. März 1946 warnte er zum ersten Mal öffentlich vor den »expansionistischen und Bekehrungstendenzen« Sowjetrusslands und des internationalen Kommunismus.7 Um die Gefahr einer solchen Expansion zu bannen, erschien es ihm jetzt notwendig, die Einigung jener europäischen Länder in die Wege zu leiten, die außerhalb des sowjetischen Machtbereichs verblieben waren. Ihren Zusammenschluss betrachtete er als Voraussetzung nicht nur für die wirtschaftliche Gesundung Europas, sondern auch für eine Stabilisierung der Demokratie. Darum forderte er in einer weiteren Rede am 19. Oktober 1946, diesmal vor Züricher Studenten, »eine Art Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen«, beruhend auf einer »Partnerschaft von Frankreich und Deutschland«. Großbritannien sah er dabei eher unter den »Förderern des neuen Europa« als unter seinen Mitgliedern; freilich sollte es eine höchst aktive Rolle bei seiner Konstituierung spielen.8

Um die Mobilisierung der öffentlichen Meinung voranzutreiben, beauftragte Churchill seinen Schwiegersohn und engen politischen Mitstreiter Duncan Sandys mit der Organisation einer überparteilichen Gruppe repräsentativer Persönlichkeiten, die den europäischen Einigungsgedanken in Großbritannien fördern sollten. Sandys’ Bemühungen trugen bald Früchte: Am 16. Januar 1947 konnte er ein provisorisches »British United Europe Committee« präsentieren, dem neben konservativen Abgeordneten (unter anderen Robert Boothby) auch Labour-Politiker und Gewerkschaftsvertreter (Gordon Land, George Gibson, Victor Gollancz), Vertreter der liberalen Partei, der Kirchen und der Wissenschaft (darunter Bertrand Russell) angehörten; die britischen Föderalisten waren unter anderen mit Frances L. Josephy vertreten. Allerdings sprach sich das Exekutivkomitee der regierenden Labour Party gegen das Unternehmen aus, weil es weder Churchills Idee einer westlichen Blockbildung fördern noch dem damaligen Oppositionsführer eine Plattform für innenpolitische Erfolge bieten wollte. Infolgedessen entwickelten sich die Aktivitäten der Gruppe, die sich dann am 14. Mai 1947 definitiv als »United Europe Movement« (UEM) konstituierte, vorwiegend im konservativen und liberalen Milieu.9

Parallel zum UEM organisierten der ehemalige belgische Ministerpräsident Paul van Zeeland und Joseph Retinger, langjähriger Mitarbeiter des polnischen Exilpremiers Władysław Sikorski, in Belgien, Luxemburg, Großbritannien und Frankreich eine »Independent League of European Co-operation« (ILEC), die an die europäischen Zollunions-Komitees der 1920er und 1930er Jahre anknüpfte. Am 7. März 1947 konnten sie die Konstituierung eines provisorischen Zentralkomitees auf internationaler Ebene bekannt geben. Die Gruppe versammelte einflussreiche Wirtschaftswissenschaftler, Bankiers und Manager, denen die Behinderung des Wiederaufbaus durch nationale Wirtschaftsgrenzen in Europa Sorgen machte. Sie teilten zwar keineswegs alle Churchills Furcht vor einer sowjetischen Expansion. Da sie aber auf einen raschen Beginn wirtschaftlicher Integration ohne Rücksicht auf sowjetische Vorbehalte drängten und ebenso wenig auf eine bestimmte Integrationsmethode festgelegt waren wie der britische Oppositionsführer, waren sie für eine Zusammenarbeit mit der Sandys-Gruppe geradezu prädestiniert. Manche Politiker, so der ehemalige Direktor des Internationalen Arbeitsamtes, Harold Butler, und der spätere britische Premierminister Harold Macmillan, wurden in beiden Organisationen zugleich aktiv.10Im Gefolge der Churchill-Rede wurde schließlich auch Coudenhove-Kalergi, der Begründer der Paneuropa-Bewegung, wieder in der europäischen Politik tätig. Zunächst schlug er Churchill eine Wiederbelebung der Paneuropa-Union »unter unserer gemeinsamen Führung« vor. Nachdem dieser aber zurückhaltend reagiert hatte, organisierte Coudenhove im November 1946 eine Umfrage unter den Parlamentariern des westlichen Europa. Über 4.000 Abgeordnete wurden gebeten, sich – zustimmend oder ablehnend – zu der Frage zu äußern, ob sie »eine europäische Föderation im Rahmen der Vereinten Nationen« befürworteten. Damit sollte die Einigungsbereitschaft in den Ländern des westlichen Europa demonstriert und Druck auf die Regierungen ausgeübt werden, endlich mit Initiativen zur Schaffung eines westlichen Europas zu beginnen. Die zustimmenden Abgeordneten wurden aufgefordert, in den Parlamenten überparteiliche Komitees zu bilden, die sich dann im Juni 1947 zu einem Europäischen Kongress in Genf treffen sollten.11

Die Aktion zeigte freilich, dass die Idee eines Zusammenschlusses, der das östliche Europa von vornherein ausschloss und so die einsetzende Spaltung Europas vertiefte, im Winter 1946/47 noch nicht sonderlich populär war. Nur wenige Abgeordnete waren bereit, sich mit einem solchen Konzept zu identifizieren. Bis Ende April 1947 gingen nur 660 Antworten bei Coudenhove ein (wovon 646 positiv waren) – kaum mehr als ein Achtel der insgesamt erbetenen Antworten. Die ambitiösen Kongresspläne mussten daher zunächst vertagt werden. Ähnlich erfolglos verliefen die Bemühungen René Courtins, des Mitherausgebers von Le Monde, in Frankreich ein Parallelkomitee zu dem britischen UEM zustande zu bringen. Die französischen Europa-Anhänger scheuten zumeist das Risiko, mit Churchills Westblock-Konzeption in Verbindung gebracht zu werden.12 Die Stimmen, die eine Einigung auch ohne sowjetische Zustimmung befürworteten, wurden zwar allmählich zahlreicher, doch überwog die negative Reaktion auf Churchills Vorstoß insgesamt bei weitem.13

Die meisten Europäer sahen ein vereintes Europa als »Dritte Kraft«, die unter der Führung des von Labour regierten Großbritannien zwischen den rivalisierenden Weltmächten USA und Sowjetunion vermitteln und so eine Spaltung Europas vermeiden sollte. Auch die Anhänger der organisierten föderalistischen Bewegung, die sich im Dezember 1946 als »Union Européenne des Fédéralistes« (UEF) konstituierte, hofften auf ein letztlich sozialdemokratisch strukturiertes Europa, das gegenüber den USA wie der Sowjetunion Eigenständigkeit bewahren konnte: »Wir wollen«, hieß es in ihrer ersten Programmerklärung, verabschiedet in Amsterdam am 15. April 1947, »nicht ein dahinsiechendes Europa als Spielball widerstreitender Interessen, beherrscht durch entweder einen angeblich liberalen Kapitalismus, der die menschlichen Werte der Macht des Geldes unterordnet, oder einen Staatstotalitarismus, dem jedes Mittel recht ist, sein Gesetz auf Kosten der Menschenrechte und der Rechte der Gemeinschaften durchzusetzen. Wir wollen ein Europa als offene Gesellschaft, d. h. dem Osten wie dem Westen gegenüber freundschaftlich gesinnt, bereit, mit allen zusammenzuarbeiten.«14

Erst nachdem der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow am 2. Juli 1947 die amerikanische Einladung zur Beteiligung am Marshall-Plan zum wirtschaftlichen Wiederaufbau Europas abgelehnt hatte, änderte sich dies. Die vielen Anhänger eines Europas der »Dritten Kraft« rangen sich jetzt zu der Einsicht durch, dass die europäische Einigung realpolitisch nur noch im Westen beginnen konnte; und allgemein wuchs die Überzeugung, dass im Hinblick auf den europäischen Wiederaufbau und die Integration des westlichen Deutschlands, die beide durch den Marshall-Plan gefördert werden sollten, nicht mehr viel Zeit zu verlieren war. Courtin konnte am 16. Juli 1947 die Gründung eines »Conseil français pour l’Europe unie« bekannt geben, der sich als französisches Pendant zu Churchills UEM verstand. Führende Vertreter der französischen Sozialisten erklärten sich zur Mitarbeit bereit, so Robert Lacoste, Francis Leenhardt, André Le Trocquer und Ministerpräsident Paul Ramadier. Die Christdemokraten waren unter anderem durch Paul Coste-Floret, François de Menthon und Pierre-Henri Teitgen vertreten, die Linksliberalen durch Paul Bastid und René Mayer, die Unabhängigen Republikaner durch Paul Reynaud, die sozialliberale UDSR durch Édouard Bonnefous, den Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Nationalversammlung. Weiter gehörten dem Rat an: Michel Debré als Vertreter der Gaullisten, Emmanuel Monick als Gouverneur der Banque de France, Gewerkschaftsführer, Vertreter der Kirchen, herausragende Publizisten und Wissenschaftler (unter anderen Raymond Aron, Paul Claudel, André Siegfried und Edmond Vermeil). Den Ehrenvorsitz übernahm Édouard Herriot, der langjährige Ministerpräsident der III. Republik.15

Coudenhoves Umfrage erhielt jetzt viel größere Resonanz. Nachdem er die Abgeordneten, die bislang noch nicht geantwortet hatten, im April 1947 noch einmal gemahnt hatte, erhöhte sich die Zahl der positiven Antworten bis Ende September auf 1.735. Damit sprachen sich insgesamt 43 Prozent der angeschriebenen Abgeordneten im Prinzip für eine »europäische Föderation« aus, darunter 64 Prozent der italienischen Abgeordneten, 53 Prozent der niederländischen Abgeordneten und jeweils 50 Prozent der französischen und belgischen Abgeordneten. Von den britischen Abgeordneten reagierten allerdings nur 26 Prozent positiv, von den skandinavischen Abgeordneten sogar nur zwölf Prozent.16 Nachdem sich in Frankreich, Belgien, Italien und Griechenland föderalistische Parlamentarier zu sammeln begonnen hatten, konnte Coudenhove-Kalergi vom 8. bis 10. September 1947 an seinem Wohnsitz in Gstaad zwar kein »Vorparlament«, aber immerhin doch eine Versammlung von 114 aktiven Abgeordneten aus zehn Ländern organisieren. Diese gründeten eine »Europäische Parlamentarier-Union« (EPU) und beschlossen, für die Einberufung einer Europäischen Verfassunggebenden Versammlung zu arbeiten.17

Für Duncan Sandys kam es nun darauf an, die Einigungsbewegung in den verschiedenen Ländern nicht nur zu stärken, sondern auch unter Kontrolle zu halten. Er war davon überzeugt, dass eine solche Bewegung nur dann erfolgreich sein konnte, wenn sie sich zunächst auf eine funktionale Zusammenarbeit der Regierungen konzentrierte: Nur dann schien ihm eine britische Beteiligung erreichbar zu sein. Ohne Großbritannien, so fürchtete er, würde es Frankreich nicht wagen, einem starken Westdeutschland in einer europäischen Gemeinschaft gegenüberzutreten. Folglich war für ihn, und zwar viel eindeutiger als für seinen Schwiegervater, ein britisches Mitwirken an dem Einigungswerk unverzichtbar.18 Schon im Vorfeld der Konstituierung des »Conseil français« lud er darum die übrigen Europa-Verbände zur Bildung eines »Verbindungskomitees« der Europa-Bewegungen ein. Sie erfolgte am 20. Juli 1947 in Paris, im Rahmen eines Mittagessens auf den Champs Elysées. Neben dem UEM, dem französischen Rat, der ILEC und der EPU waren auch die »Europa-Föderalisten« um den Niederländer Hendrik Brugmans und den Franzosen Alexandre Marc vertreten.19

Das Ringen um den Kongress

Die Föderalisten waren davon überzeugt, dass die Zeit für eine föderale Neuorganisation der Völker Europas reif war. Ihnen schwebte daher die Einberufung von »Generalständen Europas« vor, die sich gegen die nationalen Regierungen und Parlamente zur Verfassunggebenden Versammlung des Vereinten Europas entwickeln sollten. Basierend auf einer umfassenden Mobilisierungskampagne sollten dort die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vertreten sein, »etwa Angestellte, Arbeiter, Landwirte, Vertreter der Mittelklasse, Verbraucherorganisationen, politische und parlamentarische Körperschaften, Jugendbewegungen«. Die »spektakuläre Versammlung« sollte nicht nur »die öffentliche Meinung beeindrucken«, sondern auch »ständige Ausschüsse« zur Bearbeitung der anstehenden rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen einrichten. Die Vorsitzenden dieser Ausschüsse sollten »den Kern einer künftigen europäischen Regierung bilden«.20 Als Tagungsort für diese revolutionäre Manifestation wurde Versailles ins Auge gefasst.

Für Sandys waren diese Pläne eines korporatistischen Föderalismus gefährliche Hirngespinste, die geeignet waren, die europäische Einigungsbewegung zu diskreditieren und die Chancen für eine Mitwirkung Großbritanniens an dem Einigungsprozess zunichte zu machen. Noch ehe die UEF-Führer mit der organisatorischen Umsetzung ihres Vorhabens beginnen konnten, vereinbarte er darum mit der Führung der ILEC Ende September 1947 die Vorbereitung eines ganz anders gearteten Kongresses: einer »Konferenz von 500 bis 800 prominenten Europäern«, die »am ersten Wochenende nach Ostern 1948« zusammentreten sollte, um die europäischen Regierungen zu drängen und zu ermutigen, mit ersten Schritten zur Einigung Europas zu beginnen. Der niederländische Senator und ehemalige Wirtschaftsminister Pieter Kerstens, der sich um die Konstituierung einer niederländischen Sektion des ILEC bemühte, sagte zu, die nötigen Gelder für die Finanzierung eines solchen Kongresses zu besorgen. Dementsprechend wurde Den Haag als Tagungsort gewählt. Die Föderalisten wurden eingeladen, sich als Mitveranstalter an dem Kongress zu beteiligen und zu diesem Zweck auch das Verbindungskomitee auszubauen.21

Für die Föderalisten war diese Einladung ein Danaergeschenk: Nahmen sie sie an und gingen ein Bündnis mit den konservativen Spitzenpolitikern und Wirtschaftsführern ein, so drohte »die schöpferische und revolutionäre Dynamik verloren zu gehen, die die föderalistische Doktrin mit sich gebracht hatte« und deren Durchbruch sie sich von den »Generalständen« erhofften. Beharrten sie dagegen auf ihren eigenen Kongress-Plänen, so spalteten sie nicht nur die europäische Bewegung, sondern gingen auch »das Risiko rascher Destruktion und Niedergang zu einer Sekte ein«.22 Den Ausschlag gab schließlich der höhere Realitätsgehalt des britischen Projekts: Es würde auf jeden Fall durchgeführt werden und beträchtliche Resonanz haben; demgegenüber war unklar, wie die »Generalstände« finanziert werden könnten und ob sie angesichts der Konkurrenzveranstaltung der etablierten Kräfte noch die angestrebte Wirkung haben konnten. Insbesondere Brugmans warb in diesem Sinne für ein Annehmen der Einladung. Marc und auch die italienischen Föderalisten um Altiero Spinelli waren zwar im Grunde dagegen, hielten sich aber zurück. Am 15. November 1947 beschloss das Zentralkomitee der UEF, sich am Haager Kongress zu beteiligen und dem Ausbau des Verbindungskomitees zu einem »Koordinierungskomitee« zuzustimmen.23

In der vagen Hoffnung, den Haager Kongress vielleicht doch noch »in Generalstände Europas verwandeln« zu können,24 nahmen die Föderalisten es hin, im Koordinierungskomitee mit einem Viertel der Stimmen in der Minderheit zu sein: UEM, französischer Rat und ILEC, die programmatisch auf einer Linie lagen, verfügten jeweils über die gleiche Stimmenzahl. Den Vorsitz mussten sie Sandys überlassen, den Posten eines Sekretärs Retinger.25 Notgedrungen akzeptierten sie auch die Vorgaben für die Organisation des Kongresses, die Sandys bei einer weiteren Zusammenkunft des Komitees am 13. und 14. Dezember 1947 präsentierte: Er sollte »in eindrucksvoller Weise die mächtige und weitreichende Unterstützung der europäischen Idee demonstrieren, die bereits existiert«, und »Material zur Diskussion, Propaganda und technischen Studien produzieren«. Dazu sollte er so repräsentativ wie möglich zusammengesetzt sein; die Entscheidung über die Einladungen sollte aber dem Koordinationskomitee vorbehalten bleiben. Als Name für die Veranstaltung wurde »Congress of Europe« festgelegt, und das Präsidium des Kongresses wurde Churchill angetragen.26

In der Praxis bedeutete die Entscheidung über die Einladungspolitik, dass Sandys und Retinger Vorschläge über einzuladende Persönlichkeiten sammelten, danach entschieden, an wen Einladungen ausgesprochen wurden, und schließlich die Zusagen registrierten. Was die Zahl der Delegierten pro Land betraf, so setzte Sandys eine Formel gemäßigter Repräsentativität durch: 15 Repräsentanten pro Land plus zwei weitere für je eine Million Einwohner. Für Frankreich ergab das 104 Delegierte, für Großbritannien 118, für Belgien und die Niederlande jeweils 33 und so weiter. Länder, deren Regierungen Vertretern des Koordinierungskomitees die Einreise verweigerten und keine Zusagen gaben, Bürger ihres Landes mit den nötigen Visa für die Teilnahme am Kongress auszustatten, sollten nur mit kleinen Beobachter-Gruppen vertreten sein.27 Das lief darauf hinaus, das westliche Europa so umfassend wie möglich zu sammeln und im Übrigen den Selbstausschluss der Sowjetunion und der von ihr beherrschten Länder noch einmal zu bekräftigen.

Zur organisatorischen Abwicklung ließ sich das Koordinierungskomitee von einer großen niederländischen Bank ein repräsentatives Büro einrichten. Kerstens sammelte so viele Spendengelder ein, dass den über 700 Teilnehmern des Kongresses nicht nur ein kostenloser Aufenthalt in Den Haag, sondern auch die Übernahme aller Reisekosten angeboten werden konnte. Angesichts der immer noch prekären Lebensverhältnisse in dem vom Krieg zerstörten Europa war das eine bemerkenswerte Leistung, die für den Erfolg des Unternehmens ganz entscheidend war. Als sich dennoch eine Lücke in der Finanzierung des Kongresses auftat, ließ sich Sandys von Prinz Bernhard der Niederlande beim Vorstand des Philips-Konzerns einführen. Dieser half dann mit einer sehr großzügigen Spende aus. Ende Januar 1948 wurde der Termin des Kongresses endgültig auf den 7. bis 10. Mai 1948 festgelegt; danach konnte Retinger als Sekretär die offiziellen Einladungen verschicken.28

Sandys, Retinger und auch Brugmans suchten nun prominente Persönlichkeiten in den verschiedenen Ländern auf, um sie zur Mitarbeit an dem Unternehmen zu bewegen. In den meisten Fällen waren sie damit erfolgreich. »Wir haben eine sehr große Arbeit geleistet«, konnte Retinger dem ehemaligen rumänischen Außenminister Gregor Gafencu schon zum Jahresende 1947 berichten. »Von den großen Staatsmännern (aber das ist noch vertraulich) haben uns ihre Unterstützung zugesagt: Mister Churchill und Sir Stafford Cripps aus Großbritannien, die Monsieurs Herriot und L. Blum aus Frankreich, die Herren van Zeeland und Spaak aus Belgien, sowie Sforza aus Italien. Die niederländische Regierung mit ihrem Ministerpräsidenten an der Spitze wird uns dort empfangen, wo unsere Sitzungen stattfinden werden: im historischen Rittersaal.«29

Paul Ramadier und der italienische Ministerpräsident Alcide De Gasperi sagten ihre Teilnahme ebenfalls zu. In den westdeutschen Besatzungszonen konnten die Organisatoren unter anderen den Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, und die Regierenden Bürgermeister von Hamburg und Bremen, Max Brauer und Wilhelm Kaisen, gewinnen, ebenso Konrad Adenauer als Vorsitzenden der CDU in der britischen Zone, Martin Niemöller vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gustav Heinemann als Justizminister von Nordrhein-Westfalen sowie Thomas Dehler, Heinrich von Brentano und Walter Hallstein als Vorsitzenden der Süddeutschen Rektorenkonferenz.30

Ebenso gelang es, die christdemokratischen »Nouvelles Équipes Internationales« (NEI) für die Mitarbeit an dem Kongressvorhaben zu gewinnen. Vom Februar 1948 an gehörten sie als weitere einladende Organisation dem Koordinierungskomitee an.31 Dagegen blieben alle Bemühungen der Föderalisten vergeblich, auch das sozialistische »Comité international pour les Etats-Unis socialistes d’Europe« (EUSE) mit ins Boot zu nehmen. Seine britischen Mitglieder »verfielen auf jede einfache Nennung des Namens Churchill in einen Trance-Zustand und jede Möglichkeit vernünftigen Verstehens lag in Ohnmacht«, klagte Henri Frenay von der französischen Sektion des Komitees nach einem Besuch in London. Mit neun zu sieben Stimmen lehnte der Vorstand des Komitees eine Beteiligung am Haager Kongress ab.32 Coudenhove-Kalergi weigerte sich, die Vereinbarung über die Bildung des Verbindungskomitees vom Juli 1947 zu ratifizieren, und nannte dann immer neue Bedingungen für seine Mitarbeit, die im Grunde darauf hinausliefen, dass er selbst die Führung des Unternehmens übernahm und dessen programmatische Ausrichtung kontrollierte. Erst Anfang April 1948 fand er sich zu einer Teilnahme an dem Kongress ohne Vorbedingungen bereit, freilich zu einem Zeitpunkt, als die meisten inhaltlichen Entscheidungen schon gefallen waren. Entsprechend marginal blieb sein Beitrag zur Ausrichtung des Kongresses.33

Schwererwiegend als die Absage des Sozialistenkomitees und das lange Zögern Coudenhoves und seiner Parlamentarier-Union war die Opposition des Exekutivkomitees der britischen Labour Party. Labour-Führer wie Morgan Phillips, Hugh Dalton und Denis Healey waren entschiedene Gegner einer britischen Beteiligung an einem supranationalen Europa. In dem Kongress-Plan sahen sie darum ein höchst gefährliches Unternehmen, das zudem die Handlungsfreiheit von Außenminister Ernest Bevin beeinträchtigte und der konservativen Opposition Auftrieb gab. Bei einer Konferenz der sozialistischen Parteien all jener Länder, die sich am Marshall-Plan beteiligten, am 21. und 22. März 1948 in London setzten sie die Entscheidung durch, der Einladung des Koordinierungskomitees nicht zu folgen; 40 Labour-Abgeordnete, die sich schon zur Teilnahme am Haager Kongress entschlossen hatten, wurden aufgefordert, ihre Zusage wieder rückgängig zu machen. Um die Solidarität des internationalen Sozialismus zu wahren, verboten die Parteivorstände der französischen Section française de l’Internationale ouvrière (SFIO) und der deutschen SPD ihren Funktionsträgern ebenfalls die Teilnahme.34

Nicht alle sozialistischen oder sozialdemokratischen Europapolitiker ließen sich von den Verboten beeindrucken. So hielten 23 der 40 Labour-Abgeordneten an ihrer Zusage fest, darunter Ronald W. G. Mackay, der Initiator der »All-Party Group for European Unity« im britischen Unterhaus, der unterdessen als Stellvertreter Coudenhoves auch eine führende Rolle in der Europäischen Parlamentarier-Union spielte. Léon Blum, Paul-Henri Spaak, Carlo Schmid und Max Brauer blieben dem Kongress fern; dagegen nahmen Paul Ramadier und Wilhelm Kaisen in offener Auflehnung gegen die Beschlüsse ihrer Parteivorstände teil. Sie konnten freilich nicht verhindern, dass die Veranstaltung eine liberal-konservative Schlagseite bekam. Ganz so repräsentativ, wie Sandys es mit guten Gründen angestrebt hatte,35 wurde der Haager Kongress also nicht.

Verhandlungen und Beschlüsse

Dennoch hatte die Versammlung, die am Nachmittag des 7. Mai 1948 in Anwesenheit von Prinzessin Juliane und Prinz Bernhard der Niederlande eröffnet wurde, starkes politisches Gewicht. Insgesamt 722 Delegierte waren der Einladung schließlich gefolgt, hinzu kamen etwa 250 Gäste und journalistische Beobachter. Die stärkste Delegation stellte mit 185 Mitgliedern Frankreich; ihr gehörten neben Ramadier unter anderen Édouard Bonnefous, Édouard Daladier, Edgar Faure, André François-Poncet, Edmond Giscard d’Estaing, Pierre-Olivier Lapie, François de Menthon, François Mitterrand und Paul Reynaud an. Aus Großbritannien kamen 147 Delegierte, darunter Anthony Eden und Harold Macmillan. Italien war nicht ganz so prominent vertreten: De Gasperi und andere führende Politiker mussten wegen der Regierungsneubildung im Anschluss an die Wahlen vom 18./19. April absagen. Die Vertreter Portugals, für die immerhin 20 Plätze vorgesehen waren, blieben nach einer Missfallenskundgebung Salazars ganz zu Hause. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien waren nur durch Exilpolitiker vertreten. Spanien musste sich mit einer Beobachterrolle begnügen; sie wurde von vier Delegierten wahrgenommen, an ihrer Spitze der Philosoph und Ex-Minister Salvador de Madariaga. Jeweils nur ein Delegierter kam aus Island und der Türkei.36

Die Deutschen waren der politischen Zielsetzung entsprechend, wie sie Churchill vorgegeben hatte, als Delegierte mit vollem Status geladen. Da es darüber im Koordinierungskomitee noch einmal zu Diskussionen gekommen war, hatte sich ihre Einladung verzögert. Für manche der Eingeladenen konnten daraufhin nicht mehr rechtzeitig die erforderlichen Ausreisegenehmigungen der Besatzungsbehörden und Devisen beschafft werden, sodass die deutsche Delegation schließlich nur 51 Persönlichkeiten zählte. Sie genossen es sehr, von Churchill in seiner Eröffnungsansprache ausdrücklich als notwendige Partner beim Aufbau Europas begrüßt zu werden und zum ersten Mal seit Kriegsende auf internationaler Ebene wieder auf gleicher Augenhöhe auftreten zu können. In den Diskussionen des Kongresses hielten sie sich allerdings meistens zurück, im Bewusstsein fortdauernder Abhängigkeit von den Entscheidungen der Besatzungsmächte. Stattdessen nutzten sie die Gelegenheit, Kontakte mit den prospektiven Partnern zu knüpfen. So traf Adenauer nach der Eröffnungsveranstaltung zum ersten Mal mit Churchill zusammen und fand sich »von ihm mit gewinnender Freundlichkeit behandelt«.37 Innerhalb der deutschen Delegation lernte er Walter Hallstein kennen, der später sein engster europapolitischer Mitarbeiter werden sollte.38

Auf Churchills Eröffnungsansprache folgten Reden von Ramadier, Coudenhove-Kalergi, Brugmans39 und van Zeeland. Ein Versuch der Föderalisten, die Veranstaltung durch das Verlesen einer »Präambel«, die auf die Schaffung einer europäischen Versammlung der »lebendigen Kräfte aller unserer Nationen« zielte, gleich nach der Rede Churchills doch noch stärker in die Richtung von »Generalständen« zu bugsieren, wurde abgewiesen. Denis de Rougement, der die Proklamation einer solchen Zielsetzung des Kongresses zur Bedingung für seine Mitarbeit an der Kongressvorbereitung gemacht hatte, konnte den von ihm redigierten Text nur als »Botschaft an die Europäer« verlesen, nach Statements von Sandys, de Madariaga und Ramadier. Die den Föderalisten zunächst zugestandene Unterzeichnung der Botschaft durch alle Delegierten unterblieb, nachdem 30 Teilnehmer Einspruch gegen die Forderung nach einer gemeinsamen Verteidigung erhoben hatten.40

Auf der anderen Seite sorgte die Kongressregie aber auch dafür, dass Churchill die Veranstaltung keineswegs dominieren konnte. Die Mitglieder des Koordinierungskomitees waren schon fünf Tage vor Kongressbeginn angereist und hatten sich im Detail über den Ablauf der Veranstaltung verständigt.41 Die Berichte zu politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fragen, an denen die Komiteemitglieder seit Jahresbeginn in unterschiedlicher Zusammensetzung gearbeitet hatten, wurden nicht einfach zur Abstimmung gestellt, sondern in entsprechenden Ausschüssen des Kongresses während des ganzen zweiten Verhandlungstages und dann noch einmal am Abend des dritten Tages intensiv diskutiert und dabei zum Teil auch noch einmal substantiell verändert. Eugen Kogon, der von der UEF als deutscher Teilnehmer rekrutiert worden war, hielt gleich nach der Rückkehr aus Den Haag in seinen Frankfurter Heften fest: »Den beteiligten Sozialisten, Christlich-Sozialen, Syndikalisten und Fortschrittlichen gelang es eindeutig zu verhindern, dass Churchill, dessen Bedeutung für die Einigung Europas im Übrigen von jedermann anerkannt wird, und seine meist ebenso reichen wie stockkonservativen Gefolgsleute dem Kongress ihr Gepräge geben konnten.«42

Die Verhandlungen des Politischen Ausschusses wurden von Auseinandersetzungen um das Ziel, die Methoden und das Tempo der europäischen Einigung geprägt. Indirekt stand damit auch die Frage einer britischen Beteiligung im Raum, obwohl das vielen Teilnehmern gar nicht bewusst war. Sandys hatte in einem Rahmenentwurf für die Politische Resolution des Kongresses, den er Ende 1947 unter den Komiteemitgliedern zirkulieren ließ, verlangt, der Kongress solle sich »für das Endziel der europäischen Einheit« aussprechen, dabei aber nur »in höchst allgemeinen Formulierungen die verschiedenen Formen erläutern, die diese Einheit annehmen könnte«. Als Institution zur Förderung des Einigungsprozesses wollte er einen »Europäischen Rat« fordern, bestehend aus »einem System regelmäßiger Konferenzen europäischer Minister«, die »soweit als möglich einen gemeinsamen europäischen Standpunkt entwickeln sollten«, und einem »ständigen internationalen Sekretariat«, das die laufenden europäischen Probleme studiert und dem Rat Vorschläge unterbreitet.43

In dem Bericht, der den Delegierten nach der Abstimmung im Koordinierungskomitee vorgelegt wurde, wurde auf Drängen der Föderalisten die supranationale Dimension der zu schaffenden »Politischen Union« klarer angesprochen: »Früher oder später« müsse der schrittweise politische Zusammenschluss »den Verzicht auf, oder um genauer zu sein, die gemeinsame Ausübung gewisser Souveränitätsrechte einschließen«. Als Endziel der Entwicklung wurde »die Bildung einer vollständigen Föderation mit einem gewählten europäischen Parlament« genannt. Der Europäische Rat wurde jetzt als »Emergency Council« bezeichnet, der »für die Durchführung gemeinsamer Aktionen zur Sicherung nicht nur des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und der militärischen Verteidigung, sondern auch des Erhalts der demokratischen Freiheit verantwortlich« sein sollte. Außerdem sollte der Rat »die weiteren Stufen der politischen und wirtschaftlichen Integration Europas planen«. Hinzu kam die Forderung, eine »Europäische Beratende Versammlung« einzurichten, die den Europäischen Rat »unterstützen und beraten« sollte. Ihre Mitglieder sollten zunächst von den nationalen Parlamenten entsandt werden; »später« sollte »ein System direkter Wahl eingerichtet werden«.44

In den Verhandlungen des Ausschusses rückte unter dem Einfluss von Mackay die Idee einer Europäischen Versammlung in den Mittelpunkt des Forderungskatalogs. Sie sollte »sofortige praktische Maßnahmen empfehlen, die geeignet sind, die notwendige wirtschaftliche und politische Union Europas in fortschreitendem Maße zu verwirklichen«, und Pläne für »die rechtlichen und verfassungsmäßigen Folgerungen« ausarbeiten, »die sich aus der Schaffung einer derartigen Union oder Föderation ergeben«. Die Forderung nach Einrichtung eines Europäischen Rates entfiel. Stattdessen wurde erklärt, »dass die Zeit gekommen« sei, »zu der die europäischen Nationen einen Teil ihrer Souveränitätsrechte übertragen und verschmelzen müssen«.45 Die Forderung der italienischen Föderalisten, aus der Europäischen Versammlung gleich eine verfassunggebende Versammlung zu machen, wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Auch für einen Antrag Reynauds, die Direktwahl der Versammlung schon für die erste Wahlperiode zu verlangen, konnten sich nur wenige Delegierte begeistern. Zu Recht warnte Mackay davor, die britische und auch die französische Regierung mit einem solchen Vorschlag zu provozieren: Er würde die Chancen nur mindern, tatsächlich eine Versammlung zu bekommen, die mit der Ausarbeitung eines mehrheitsfähigen Verfassungsentwurfs beauftragt wurde. Die Resolution wurde schließlich in der Nacht zum 10. Mai verabschiedet. Von den über 300 Delegierten, die im Politischen Ausschuss mitgearbeitet hatten, stimmten weniger als ein Dutzend dagegen.46

Im Wirtschafts- und Sozialausschuss stießen die liberalen Integrationsvorstellungen der ILEC, die bei der Vorbereitung federführend gewesen war,47 auf die Kritik der Sozialisten und Gewerkschaftsvertreter. Das Bild der anzustrebenden »wirtschaftlichen Union« blieb damit notwendigerweise etwas vage. Immerhin hielt man aber fest, dass der europäische Wiederaufbau »nicht erfolgreich sein« könne, »wenn er auf der Grundlage streng geteilter nationaler Staatshoheiten durchgeführt« und nicht »auf jeder Stufe von einer gleichlaufenden Politik immer engeren politischen Zusammenschlusses begleitet wird«. Als Maßnahmen forderte man: die schrittweise Beseitigung der Handels- und Zollschranken, einen gemeinsamen, wenn auch niedrigen Außenzoll, Haushaltsstabilisierung, Angleichung von Preisen und Löhnen, freie Konvertierbarkeit der Währungen und schließlich eine Währungsunion, ebenso gemeinsame Planung zur Entwicklung der Landwirtschaft und der Grundindustrien und eine Koordinierung der Haushalts- und Kreditpolitik sowie der Sozialgesetzgebung.48

Der Kritik der Linken kam die Mehrheit der Kommission mit Bekenntnissen zu sozialstaatlichen Prinzipien entgegen. So appellierte man an die beruflichen, wirtschaftlichen und sozialen Organisationen der einzelnen Länder, »Mittel und Wege zu einer weiteren Steigerung der Erzeugung und Vereinfachung der Verteilung bei gleichzeitiger Besserung der sozialen Verhältnisse und Sicherung einer gerechten Verteilung der Erzeugnisse der wirtschaftlichen Tätigkeit gemeinsam zu untersuchen«. Die Förderung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte sollte mit der »Sicherung des Lohnstandards und der sozialen Sicherheit« verbunden werden; die Wirtschaftspolitik der einzelnen Länder sollte einander »angeglichen« werden, »um eine Vollbeschäftigung zu gewährleisten«.49 Auf konkrete Maßnahmen wie eine supranationale Kontrolle des Kapitalverkehrs und eine Europäisierung der Ruhrindustrie wollte sich die Mehrheit der Delegierten jedoch nicht festlegen. Auch für eine Unterstützung der Forderung, die Arbeiter und ihre Organisationen an den europäischen Gremien zu beteiligen, fand sich keine Mehrheit. Der Protest der Gewerkschaftsvertreter gegen diese Abfuhr konnte nur dadurch aufgefangen werden, dass der Ausschuss nach langwierigen Verhandlungen – die bis in den frühen Morgen des 10. Mai andauerten – einem »post-Congress Economic Committee« den Auftrag gaben, »eine Kompromiss-Politik für Europa auszuarbeiten, die die besten Grundzüge von Kapitalismus und Sozialismus enthalten sollte«.50

Dem kulturellen Ausschuss wurde ein Bericht vorgelegt, den Denis de Rougement im Kontakt mit Autoren wie Étienne Gilson, Ignazio Silone und Salvador de Madariaga erarbeitet hatte. Er sprach von einem »gemeinsamen christlichen Erbe sowie anderen geistigen und kulturellen Werten« und der »gemeinsamen Verpflichtung gegenüber den menschlichen Grundrechten«, die für die Mitglieder einer »Europäischen Union« gelten sollten. Allzu föderalistische Passagen waren nach einer Intervention Retingers im letzten Moment aus der Vorlage entfernt worden. Konkret wurde dann die Einrichtung eines »europäischen Kulturzentrums« verlangt, das unabhängig von jeder Regierungsüberwachung »das Bewusstsein der europäischen Einheit fördern« und als Forum des Austauschs der »geistigen Führer« Europas dienen sollte. Weiter wurde die Schaffung einer »europäischen Zentrale für Kinder und Jugendliche« gefordert, die Kinder- und Jugendforschung betreiben sowie »den Austausch von Jugendlichen aller Schichten in Europa« fördern sollte. Zuletzt sah der Entwurf auch noch vor, einen Obersten Gerichtshof zur Einhaltung der Menschenrechte einzurichten, der sowohl von einzelnen Bürgern als auch von »kollektiven Einheiten« angerufen werden konnte und »befähigt« sein sollte, »die Einhaltung der Erklärung der Menschenrechte zu sichern«.51

Die Debatte über den kulturellen Report »entfaltete sich in der üblichen Konfusion«, wie de Rougement sarkastisch kommentierte. Während der Schriftsteller Charles Morgan die kulturellen Angelegenheiten ganz in den Händen der nationalen Regierungen lassen wollte, verlangten andere Delegierte die sofortige Einrichtung einer Körperschaft, die die Arbeit des Kongresses fortsetzen sollte. Ein Hauptmann Cheshire von der Bewegung für moralische Aufrüstung wollte die Rückkehr zu Gott in dem Dokument verankert sehen und griff den Entwurf als »anti-christlich« an. Schließlich sprach sich Bertrand Russell nachdrücklich für das vorgeschlagene Kulturzentrum aus: Es werde den Menschen der verschiedenen Länder helfen, miteinander engen Kontakt zu halten und die Standpunkte der jeweils anderen verstehen zu lernen. Seine Autorität trug dazu bei, dass die materiellen Vorschläge des Berichts schließlich alle einstimmig angenommen wurden.52

Ein Meilenstein

Einige dezidierte Föderalisten waren vom Verlauf des Kongresses so enttäuscht, dass sie kurz vor seinem Ende unter Protest abreisen wollten. Sandys musste van Zeeland als Vermittler einschalten, um einen solchen offenen Bruch zu vermeiden. Möglicherweise war das Verlesen der »Botschaft an die Europäer« der Preis, den er dafür zahlen musste – er selbst hatte sie nach den Einwänden gegen ein Bekenntnis zur europäischen Verteidigung zunächst ganz streichen wollen.53 Marc setzte dann aber eine Presseerklärung der UEF durch, in der ungenügende Repräsentativität des Kongresses und »Halbheiten« in seinen Beschlüssen kritisiert wurden.54 Auf dem zweiten Jahreskongress der UEF vom 7. bis 11. November 1948 in Rom musste Brugmans für seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem UEM heftige Kritik einstecken.55

Die Enttäuschung der radikalen Föderalisten über das Ausbleiben eines Durchbruchs zur europäischen Konstituante sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass es den Initiatoren des Haager Kongresses tatsächlich gelungen war, die europäische Einigung auf die Agenda westeuropäischer Politik zu setzen. Die Einigung einigermaßen repräsentativer Delegationen aus nahezu allen Ländern des europäischen Kontinents auf ein gemeinsames Programm erlaubte es Sandys, die unterschiedlichen Europa-Verbände in einer gemeinsamen »Europäischen Bewegung« zusammenzufassen, die dann am 25. Oktober 1948 offiziell konstituiert wurde – mit Léon Blum, Winston Churchill, Alcide De Gasperi und Paul-Henri Spaak als prestigeträchtigen Ehrenpräsidenten. Gleichzeitig suchten die Spitzenpolitiker unter den Kongressteilnehmern ihre jeweiligen Regierungschefs auf, um ihnen deutlich zu machen, dass von ihnen jetzt konkrete Initiativen zur Einberufung der Europäischen Versammlung erwartet wurden.56 Angesichts der Resonanz, die der Kongress in großen Teilen der europäischen Öffentlichkeit hatte, konnten sich die Regierungen diesem Ansinnen nicht leichthin versagen.

Wenige Wochen nach dem Haager Kongress gab sich Winston Churchill von seinem Erfolg überzeugt: »Dieser Europa-Kongress wird von den Historikern als Meilenstein in der Entwicklung unseres Kontinents hin zur Einheit gewürdigt werden.«57 Tatsächlich war in Den Haag zum ersten Mal der transnationale gesellschaftliche Konsens deutlich geworden, auf dem die späteren europäischen Gemeinschaften beruhten. Angesichts der verschlungenen Wege zu »mehr Europa«, die in den nächsten Jahrzehnten gegangen wurden, ist es bemerkenswert, dass er in erster Linie von britischen Europapolitikern organisiert worden war und dass er auf ein weit größeres Europa zielte als das »Europa der Sechs«, das dann zunächst zustande kommen sollte. Dieser Konsens war notwendigerweise unpräzise, was die institutionelle Ausgestaltung eines vereinten Europas betraf. Er umfasste aber sehr klar die Bereitschaft zur partiellen Zusammenlegung nationaler Souveränitätsrechte, zur sozialstaatlichen Ausgestaltung der Gemeinschaft und zur Festigung der demokratischen Ordnung in den beteiligten Ländern.58 Nach dem Haager Kongress ging er nicht einfach wieder verloren. Vielmehr entwickelte er sich in kritischer Auseinandersetzung mit den Erfahrungen konkreter Europapolitik, und diese wurde von ihm mitgeprägt.

1.Gründerjahre 1948–1957

Der Druck, den die europäische Bewegung bis zum Frühjahr 1948 entwickelte, war vor allem der französischen Regierung sehr willkommen. Hier hatte die Überzeugung, dass ein westeuropäischer Zusammenschluss sowohl für den Wiederaufbau als auch zur Lösung des Deutschlandproblems unabdingbar sei, unterdessen erheblich an Boden gewonnen. »Mein ganzes Denken und alle meine Beobachtungen«, schrieb etwa der Chef des französischen Planungskommissariats Jean Monnet am 18. April 1948 von Washington aus an Ministerpräsident Robert Schuman, »führen mich zu dem Schluss, der jetzt zu einer tiefen Überzeugung geworden ist: Die Anstrengung der Länder Westeuropas, sich den Umständen, der Gefahr, die uns bedroht und der amerikanischen Bemühung gewachsen zu zeigen, muss zu einer wirklichen europäischen Bemühung werden, die allein durch die Schaffung einer Föderation des Westens möglich werden wird. Ich weiß um all die Schwierigkeiten, die sich aus einer solchen Perspektive ergeben, aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns nur mit einer solchen Anstrengung retten können.«1 Die Verwirklichung der Föderation schien umso dringlicher, als die Gründung eines westdeutschen Staates, die von der Londoner Sechs-Mächte-Konferenz am 7. Juni 1948 beschlossen worden war, die Franzosen unter Zugzwang setzte: Wenn die westeuropäische Einigung jetzt nicht rasch supranationale Qualität erreichte, drohten die Deutschen wieder ihre traditionelle Großmachtpolitik aufzunehmen. Vielleicht würden sie sich sogar mit der Sowjetunion verbünden, die über den Schlüssel zur deutschen Einheit verfügte. Noch sei die Gelegenheit zur europäischen Einbindung der Deutschen da, notierte Jean Laloy, politischer Berater beim französischen Besatzungskommandanten in Deutschland am 30. August 1948, aber: »Man muss sie schnell ergreifen; in einem Jahr wird es schon zu spät sein.«2

Das Ringen um den Europarat

Auf Drängen Ramadiers und anderer Regierungsmitglieder entschloss sich Außenminister Georges Bidault, das Einigungsprojekt in jener Weise voranzubringen, wie es der Haager Kongress vorgezeichnet hatte. Während der zweiten Sitzung des Konsultativrats des Brüsseler Pakts verlangte er am 19. Juli 1948 die Einberufung einer »Europäischen Parlamentarischen Versammlung« zum »Meinungsaustausch« über die Probleme eines europäischen Zusammenschlusses und die Vorbereitung einer Wirtschafts- und Währungsunion der Fünf. Die Versammlung sollte, wie in einer Instruktion des Quai d’Orsay an den französischen Botschafter in London erläutert wurde, zunächst konsultativen Charakter haben, nach einer Verständigung über das Europa-Projekt aber bald eigene Entscheidungsvollmachten erhalten und damit »den Kern einer föderativen Organisation Europas bilden«.3 Bidault selbst glaubte zwar nicht recht daran, dass sich ein solch ehrgeiziges Projekt verwirklichen ließe; mit Rücksicht auf die Kritik an den Londoner Deutschland-Vereinbarungen, die bei seinen christdemokratischen Parteifreunden laut geworden war, hielt er es aber für angebracht, sich jetzt an die Spitze der europäischen Bewegung zu stellen.4

Der britische Außenminister Ernest Bevin, der Bidaults Ankündigungen zunächst nicht ernst genommen hatte, war über den französischen Vorstoß alles andere als begeistert: Dem ehemaligen Chef der britischen Transportarbeiter-Gewerkschaft schwebte zwar, anders als seinen Genossen an der Spitze der Labour Party, durchaus die Schaffung einer »engen Assoziation« zwischen dem Vereinigten Königreich und den Ländern »des atlantischen und Mittelmeer-Ufers Europas« vor, die der wirtschaftlichen Sanierung aller Beteiligten ebenso wie ihrer Sicherheit dienen sollte.5 Mit dieser Perspektive hatte er die Bildung des Brüsseler Paktes mit Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg betrieben, der am 17. März 1948 unterzeichnet worden war und eine automatische Beistandsverpflichtung im Falle eines Angriffs einer dritten Macht in Europa enthielt. Der Ausbau dieses Paktes zu einer »Europäischen Union« sollte jedoch seiner Meinung nach in der Hand des Konsultativrats der Paktmitglieder bleiben, der zu diesem Zweck eingerichtet worden war. Eine Parlamentarier-Versammlung erschien ihm wie »eine Pandora-Büchse voller trojanischer Pferde«.6 Sie drohte demagogisch überzogene Einigungsforderungen zu produzieren, die in der britischen Regierung nicht durchsetzbar waren, und damit die Einbindung der Westeuropäer in eine von Großbritannien geführte Ordnung zu gefährden. Außerdem bot sie natürlich Churchill ein hervorragendes Forum, von dem aus er seine Attacken auf die europapolitische Untätigkeit der Labour-Regierung noch verstärken konnte. Ungehalten über das Ausmaß an Unverantwortlichkeit, das Bidault an den Tag gelegt hatte, verlangte Bevin darum zunächst einmal genauere Vorschläge, bevor er sich auf eine Diskussion des Projekts einließ. Da Bidault schlecht vorbereitet war, stimmte Paul-Henri Spaak als belgischer Außenminister der Forderung nach Vertagung zu: Nur so ließ sich verhindern, dass das Versammlungsprojekt sofort am britischen Widerstand scheiterte.

Wenn Bevin geglaubt haben sollte, mit der Vertagung sei das Projekt erledigt, wurde er rasch eines Besseren belehrt. Bereits am 29. Juli erklärte Spaak im belgischen Parlament seine Bereitschaft, das Vorhaben den verbündeten Regierungen zu unterbreiten, wenn das Koordinierungskomitee der Europa-Verbände dazu präzisere Vorschläge über Zusammensetzung und Aufgabenstellung mache. Wenige Tage später signalisierte Ramadier den Komitee-Führern Sandys und Retinger, dass die neue französische Regierung, der er selbst als Staatsminister angehörte, ebenso Blum und Teitgen als stellvertretende Ministerpräsidenten und Reynaud als Finanzminister, ebenfalls zu einem solchen Schritt bereit sei. Als Vorsitzender des Institutionellen Ausschusses, den das Komitee am 29. Mai eingerichtet hatte, arbeitete er daraufhin selbst zusammen mit Sandys und anderen einen Vorschlag aus, der die kurzfristige Einberufung einer Vorbereitungskonferenz aus 75 Vertretern vorsah, die von den Parlamenten der fünf Brüsseler Paktstaaten entsandt werden sollten. Am 19. August übermittelte das Exekutivkomitee diesen Vorschlag an alle OEEC-Regierungen; am 2. September verlangten die französische und die belgische Regierung gemeinsam, ihn im Ständigen Ausschuss des Brüsseler Paktes genau zu studieren, um bei der nächsten Sitzung des Konsultativrats darüber befinden zu können.

Bevin suchte zunächst auch diesen Vorstoß mit dilatorischer Taktik zu parieren: Im Ständigen Ausschuss ließ er einen Fragebogen vorlegen, der genaue Auskünfte über die Kompetenzen der Europäischen Versammlung, ihr Verhältnis zu den nationalen Regierungen, den übrigen internationalen Organisationen und den Übersee-Gebieten verlangte. Nachdem die französische Seite präzisiert hatte, die Versammlung solle zunächst nur Vorschläge ausarbeiten, über die dann die Regierungen zu befinden hätten, präsentierte er Schuman (der Bidault am 24. Juli als Außenminister abgelöst hatte) am 2. Oktober einen Gegenvorschlag: die Idee eines »Europarats«, der einmal im Jahr zusammentreten sollte, um der Öffentlichkeit die Intensität der westeuropäischen Kooperation vor Augen zu führen. Da es zu keiner weiteren Annäherung der Standpunkte kam, konnte der Konsultativrat am 25. Oktober nur einen sehr vordergründigen Kompromiss beschließen: Ein 18-köpfiges Studienkomitee wurde eingesetzt, das bis zur nächsten Sitzung des Rates über die beiden Vorschläge beraten sollte.

In diesem Studienkomitee, das seine Arbeit am 26. November aufnahm, prallten die gegensätzlichen Standpunkte erneut aufeinander. Während die Franzosen, um von der Idee der repräsentativen Vorbereitungskonferenz wenigstens noch etwas zu retten, hochrangige Europapolitiker entsandten (Herriot, Reynaud, de Menthon und Blum, der dann erkrankte und durch den SFIO-Generalsekretär Guy Mollet ersetzt wurde), stellten die Briten den dezidierten Europa-Gegner Hugh Dalton an die Spitze ihrer Delegation und schickten ansonsten nur Beamte. Ein Unterausschuss erarbeitete schließlich bis zum 16. Dezember einen Kompromissvorschlag, der von allen Delegationen im Prinzip gebilligt wurde. Danach sollte ein einstimmig beschließender »Europarat« der Minister, wie ihn die britische Delegation vorgeschlagen hatte, mit einer Konsultativversammlung kombiniert werden, die entsprechend den französischen Vorstellungen von den nationalen Parlamenten beschickt werden und in zwei vierzehntägigen Sitzungsperioden pro Jahr Vorschläge an die Regierungen erarbeiten sollte. Über die Beratungsgegenstände der Versammlung sollte der Rat mit Zweidrittelmehrheit entscheiden; weitergehende Vorschläge der Versammlung sollte er mit der gleichen Mehrheit untersagen können. Ein permanentes Sekretariat sollte die Arbeit der beiden Gremien unterstützen.

Bevin rang sich nach diesem Zwischenergebnis zu der Einsicht durch, dass eine parlamentarische Versammlung wohl unvermeidlich war, wenn er die Stabilisierung des westlichen Europas nicht ernsthaft gefährden wollte. Er bestand aber darauf, dass die Mitglieder dieser Versammlung von den Regierungen ernannt würden und in nationalen Delegationen en bloc zu stimmen hätten. Das wiederum war den kontinentalen Verhandlungspartnern entschieden zu wenig, und so ging das Studienkomitee nach heftigen Vorwürfen an die britische Seite am 20. Januar auseinander, ohne sich auf einen gemeinsamen Report geeinigt zu haben. Erst auf der Sitzung des Konsultativrats am 27. und 28. Januar 1949 sah Bevin ein, dass er nicht mehr allzu weit hinter die Kompromissformel zurückgehen konnte, die im Dezember 1948 gefunden worden war. Nachdem Schuman ihm zugestanden hatte, dass jedes Land über das Verfahren zur Ernennung der Abgeordneten selbst entscheiden sollte, willigte er ein, dass sie bei Abstimmungen frei sein sollten und auch an der Aufstellung der Tagesordnung mitwirken konnten. Auf dieser Grundlage wurde die Schaffung der neuen Organisation im Grundsatz beschlossen. Gleichzeitig kam man überein, Italien, die skandinavischen Staaten und Irland sogleich zur Beteiligung an dem Projekt einzuladen.

Über die Einzelheiten wurde danach im Ständigen Ausschuss des Brüsseler Paktes weiterverhandelt, und vom 28. März an nahmen auch die Vertreter der eingeladenen weiteren Gründungsmitglieder an den Beratungen teil. Die Delegierten akzeptierten den britischen Vorschlag, die Versammlung in Straßburg anzusiedeln – was dem Ehrgeiz der Franzosen wohl etwas entgegenkam, zugleich aber die mögliche Resonanz des neuen Organs von vornherein dämpften sollte. Als Tagungsort für den Ministerrat suchten die Franzosen vergeblich Paris durchzusetzen; Bevin beharrte auf London. Ebenso blieben alle Bemühungen Schumans fruchtlos, die Organisation »Europäische Union« zu nennen; der Name blieb bis zum letzten Moment offen. Auf der nächsten Tagung des Konsultativrats am 5. Mai, die die Satzung der neuen Organisation definitiv verabschiedete, setzte Bevin durch, dass die Bezeichnung »Europarat« nun für das Ensemble aller Organe gelten sollte. Langfristig, so hoffte er, mochte die neue Organisation, auch wenn er sie nicht gewollt hatte, dazu dienen, die wirtschaftliche Kooperation nach dem Ende der Marshall-Hilfe zu sichern und Deutschland in die westliche Gemeinschaft zu integrieren.7

Das an den Ausgangshoffnungen gemessen bescheidene und späte Ergebnis der Verhandlungen sorgte für eine gewisse Enttäuschung unter den Kontinentaleuropäern. Es konnte sie jedoch nicht davon abhalten, nun alle Energie auf den raschen Ausbau der neuen Institution zu konzentrieren. Insbesondere die kontinentalen Sozialisten, denen eine Beteiligung Großbritanniens an dem Einigungswerk besonders am Herzen lag, bestürmten ihre sichtlich zögernden britischen Parteifreunde, sich der Einsicht in die Notwendigkeit einer supranationalen »Dritten Kraft« nicht länger zu verschließen. Die sozialistische Europabewegung (MSEUE), die jetzt beträchtlichen Zulauf erhielt, schloss sich im November 1948 der Europäischen Bewegung an und korrigierte damit die taktische Fehlentscheidung gegen den Haager Kongress. Auf dem zweiten Kongress der Europäischen Bewegung vom 25. bis 28. Februar 1949 in Brüssel arbeiteten führende Sozialisten gleichberechtigt mit. Beschlüsse zur europäischen Wirtschaftsplanung und zur Schaffung gemeinsamer Institutionen der europäischen Schwerindustrie verschoben die programmatischen Aussagen der Bewegung deutlich nach links und signalisierten damit den Labour-Politikern, dass in dem künftigen Europa durchaus Platz für ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen war. Die Labour-Vertreter stimmten auf einer internationalen Sozialisten-Konferenz im niederländischen Baarn im Mai 1949 gemeinsamen Beratungen aller sozialistischen Abgeordneten in der künftigen Beratenden Versammlung zu.8

Zeitgleich dazu bemühten sich Jean Monnet und seine Mitarbeiter, die britischen Planungsexperten in Detailverhandlungen für eine britisch-französische Wirtschaftsunion zu gewinnen, die das Kernstück der künftigen europäischen Gemeinschaft bilden sollte. Da die Briten nach wie vor an der Entwicklung der Kooperation mit Frankreich interessiert waren, stimmte Schatzkanzler Cripps informellen Vorgesprächen zwischen Monnet und dem Vorsitzenden des britischen Economic Planning Board, Sir Edwin Plowden, über dieses Projekt zu. In den Verhandlungen, die Ende April 1949 im Hause Monnets stattfanden, kam es zwar kaum zu einer Annäherung der Standpunkte; da Plowden aber viel Verständnis für praktische Vorschläge wie den Austausch zwischen britischer Kohle und französischen Agrarprodukten aufbrachte, gewannen die französischen Gesprächspartner den Eindruck, dass sich die Briten – sollten sich weitere gemeinsame und reziproke Interessen auftun – schließlich doch noch für gemeinsame Lösungen gewinnen lassen würden.9

Als die erste Sitzungsperiode der Beratenden Versammlung des Europarats am 10. August 1949 in Straßburg begann, konnte es in der Tat so scheinen, als ob der Durchbruch zu einem supranationalen Europa nicht mehr weit sei. Die nationalen Parlamente hatten Spitzenpolitiker ihrer Fraktionen entsandt, und zwar oft solche, die bereits in der Europäischen Parlamentarier-Union oder der Europäischen Bewegung mitgearbeitet hatten. Selbst die britische Regierung, die als einzige von der Möglichkeit Gebrauch machte, die Abgeordneten selbst zu ernennen, ließ es sich nicht nehmen, eine repräsentative Delegation zu schicken, in der Churchill eine prominente Rolle spielen konnte. Die Versammlung wählte Spaak, der unmittelbar zuvor aus der belgischen Regierung ausgeschieden war, zu ihrem Präsidenten und zeigte dann genügend Selbstbewusstsein, ihre Kompetenzen soweit auszuweiten, wie es nach den Vorschriften des Europarat-Statuts nur eben möglich war. Sie schuf einen Ständigen Ausschuss (ebenfalls unter dem Vorsitz von Spaak), der Präsenz und Kontinuität der Versammlung zwischen den knapp bemessenen Sitzungsperioden sicherte und als Verhandlungsführer gegenüber dem Ministerrat auftreten konnte. Dann stattete sie die sechs regulären Ausschüsse (darunter einen allgemeinen »Politischen Ausschuss«) ebenfalls mit dem Recht aus, sich außerhalb der Sitzungsperioden zu treffen. Schließlich forderte sie den Ministerrat auf, sich der Einflussnahme auf die Tagesordnung zu enthalten und das Amt eines Stellvertretenden Generalsekretärs zu schaffen, der nur der Versammlung verantwortlich war.

Inhaltlich bewegte sich die Versammlung vorsichtig auf den Schritt zur Supranationalität zu. Da Sandys, die EPU und das MSEUE eifrig hinter den Kulissen agierten, Churchill die Chance nutzte, den Labour-Abgeordneten Abstimmungsniederlagen beizubringen, und diese sich bald verärgert zurückzogen, gelang es den Föderalisten, einen guten Teil ihrer Vorstellungen durchzusetzen. Die Versammlung verabschiedete zum Schluss ihrer Beratungen am 5. September mit der nötigen Zweidrittelmehrheit eine von Mackay eingebrachte Erklärung, die feststellte, »dass Zweck und Ziel des Europarats die Schaffung einer europäischen politischen Autorität mit begrenzten Funktionen, aber echten Vollmachten ist«. Der Ständige Ausschuss erhielt den Auftrag, sich mit der Frage der politischen Autorität näher zu beschäftigen und eine Sondersitzung der Versammlung zu Beginn des Jahres 1950 zu veranlassen, die über das Ergebnis dieser Prüfung beraten sollte. Der Politische Ausschuss sollte daneben einen »Europäischen Pakt« entwerfen, »der die Leitsätze des Europarates auf politischem, wirtschaftlichem, sozialem und kulturellen Gebiet definiert« und »für alle Mitglieder oder assoziierten Mitglieder bindend sein« sollte; über diesen Entwurf sollte die Versammlung dann in der nächsten ordentlichen Sitzungsperiode befinden. Der Ministerrat wurde aufgefordert, noch vor der nächsten Sitzungsperiode den Beitritt der neuen westdeutschen Bundesrepublik zu ermöglichen und für eine Stärkung des europäischen Bewusstseins zu sorgen. Außerdem erarbeiteten die Abgeordneten den Entwurf einer europäischen Menschenrechtskonvention; sie beauftragten den Wirtschaftsausschuss, sich mit der Ruhrfrage und der Koordinierung der europäischen Grundindustrien zu beschäftigen; und sie verlangten, in der nächsten Sitzungsperiode auch die Frage einer Europäischen Universität zu behandeln.100

Mit diesen Beschlüssen und Forderungen übertraf die Versammlung freilich noch Bevins schlimmste Befürchtungen. Er war ohnehin dabei, seine europapolitischen Präferenzen zu korrigieren, und sah sich nun in dem Verdacht bestätigt, dass das unabhängige Europa, wie es ihm vorschwebte, mit den hitzköpfigen und unverantwortlichen Politikern des Kontinents nicht zu verwirklichen war. Im September 1948 hatte er schon das Zollunions-Projekt aufgegeben – teils, weil er den anhaltenden Widerstand des Schatzkanzlers, des Wirtschaftsministeriums und der Commonwealth-Vertreter leid war, und teils, weil ihm die politische Instabilität und (wie er meinte) Unreife Frankreichs eine unwiderrufliche Verbindung Großbritanniens mit dem Kontinent immer weniger geraten erscheinen ließ. Wichtiger als die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraums, der offensichtlich nur schwer mit den Interessen des Commonwealth in Einklang zu bringen war, war ihm nun zunächst einmal die politische Stabilisierung der westeuropäischen Region, die er durch die Kombination von innerer Schwäche und sowjetischem Expansionsdruck gefährdet sah. Dazu musste in erster Linie ein stabiler westdeutscher Staat geschaffen und der europäische Wiederaufbau durch eine amerikanische Sicherheitsgarantie gestützt werden (was ihn bis zu den Washingtoner Vereinbarungen zum Nordatlantikpakt und zum Besatzungsstatut für die Bundesrepublik Deutschland am 4. beziehungsweise 8. April 1949 auch am meisten beschäftigte). Großbritannien musste die europäische Integration unterstützen, aber es durfte sich nicht so weit engagieren, dass es nicht auch, wie er Ende Januar 1949 in einer mit Cripps gemeinsam verfassten Kabinettsvorlage schrieb, bei einem Zusammenbruch Europas allein lebensfähig blieb.11

Die Distanzierung Bevins von dem Einigungsprojekt, die sich daraus ergab, wurde noch dadurch verstärkt, dass die amerikanischen Planer um George Kennan im Sommer 1949 zu der Einschätzung gelangten, dass sich die Briten nie zu einem solchen Grad an Integration bereitfinden würden, wie es zur Einbindung der Deutschen als unerlässlich erachtet wurde. Für Kennan folgte daraus einerseits, dass Großbritannien und das Commonwealth entsprechend ihren Wirtschaftsinteressen näher an die USA und Kanada herangezogen werden sollten. Andererseits sollte Frankreich aufgefordert werden, die Führung bei einer engeren kontinentalen Einigung zu übernehmen; dabei sollte die französische Furcht vor einer deutschen Übermacht durch die militärische Präsenz der USA in Europa aufgefangen werden. Diese Auffassung stieß zwar auf den Widerspruch von Experten des State Departments wie Charles Bohlen, die fürchteten, Frankreich werde sich ohne Großbritannien nicht zu einer Assoziation mit dem neuen Deutschland bereitfinden, und darum verstärkten Druck auf die Briten forderten. Doch fand sie die Zustimmung des anglophilen Außenministers Dean Acheson, und Kennan konnte sie daher in formellen Gesprächen in London in der zweiten Augusthälfte auch der britischen Seite übermitteln. Als Washington den Briten dann auch noch in den trilateralen Finanzgesprächen (unter Einschluss Kanadas) Anfang September entgegenkam – unter dem Einfluss von Acheson wurden ihnen im Gegenzug zur Abwertung des britischen Pfundes Importerleichterungen, Sonderrechte für die Sterling-Zone und eine spezielle amerikanisch-kanadisch-britische Finanzorganisation zugestanden –, bestärkte dies den britischen Entschluss, »sich nicht weiter in Europa hineinziehen zu lassen«.12 Bevin gab nun die Idee einer europäischen »Dritten Kraft« ganz auf, war zufrieden, dass die amerikanische Garantie wenigstens die britische Unabhängigkeit sicherte, und achtete umso mehr auf Eigenständigkeit gegenüber den Kontinentaleuropäern, als er damit rechnete, dass es mindestens noch zehn Jahre dauern würde, ehe diese in der Lage wären, einem sowjetischen Angriff standzuhalten.13

Voller Genugtuung über die Sonderrolle, die die amerikanische Kurskorrektur den Briten erlaubte, organisierte die Labour-Regierung die Pfundabwertung ohne jede Rücksicht auf die Partner in OEEC, Brüsseler Pakt und Europarat. Grundsätzlich lag sie durchaus auch in deren Interesse: Das beängstigend zunehmende Dollardefizit wirkte überall in Europa als eine Barriere gegen die wirtschaftliche Integration und verdunkelte die Aussichten auf eine dauerhafte Gesundung der europäischen Volkswirtschaften. Da sie aber Anpassungen der übrigen Währungen nach sich ziehen musste, hofften die Partner auf eine konzertierte Aktion, bei der Zeitpunkt und Umfang der Abwertungen aufeinander abgestimmt wurden. Dass die Briten nun, nachdem sie sich lange gegen die Abwertungsforderungen gesperrt hatten, am 18. September ohne weitere Konsultation einseitig eine Abwertung des Pfundes um 30 Prozent bekannt gaben, und das nach separater Verständigung mit den USA, wirkte auf dem Kontinent wie ein Fanal. Léon Blum nannte die Extratour der Briten »just in dem Moment, in dem man Europa schafft«, einen »Skandal«.14

Noch größer war die Enttäuschung, als Bevin bei der Ministerratstagung des Europarats vom 3. bis 5. November, gestützt auf die amerikanischen Zusicherungen, gegen nahezu alle Forderungen der Beratenden Versammlung Einspruch erhob. Allein der Antrag auf Zulassung der Bundesrepublik als assoziiertes Mitglied fand seine Zustimmung (da eine volle Mitgliedschaft noch nicht möglich war, solange der neue Staat noch nicht über die außenpolitische Souveränität verfügte). Alle Empfehlungen zu wirtschaftlichen Fragen wurden an die OEEC verwiesen; die Anträge, die auf einen Ausbau des Europarats hinausliefen, darunter der Antrag, eine Sondersitzung der Versammlung einzuberufen, mussten (da der Rat nur einstimmig beschließen konnte) nach Bevins Veto abgelehnt werden.15 Damit war der Weg des Europarats zu einer europäischen Konstituante gestoppt worden, noch ehe er in den Arbeiten der Kommissionen der Beratenden Versammlung recht begonnen hatte. Die Föderalisten, die sich in Straßburg darum bemüht hatten, die Briten zu überzeugen, fühlten sich brüskiert; die französische Regierung sah mit Schrecken die Last der Integration der Bundesrepublik auf sich alleine zukommen.

Die Entstehung der Montanunion

Aus der Sackgasse, in die die europäische Einigungsbewegung mit dem britischen Veto gegen die Beschlüsse der Beratenden Versammlung gelangt war, fand sich so schnell kein Ausweg. Wohl plädierten konservative Politiker wie de Gaulle und Coudenhove-Kalergi, die die Möglichkeit einer britischen Beteiligung schon immer skeptisch eingeschätzt hatten, jetzt energisch für einen kontinentalen Zusammenschluss.16