Europas mühsamer Weg zum Friedenskontinent - Gerd Mammitzsch - E-Book

Europas mühsamer Weg zum Friedenskontinent E-Book

Gerd Mammitzsch

0,0

Beschreibung

Über tausend Jahre hat Europa gebraucht, um vom Kriegs- zum Friedenskontinent zu werden. Den wechselvollen Weg dorthin erlebt der Leser hier in reichhaltigen Details: von Karl dem Großen über den Wiener Kongress und den Weltenbrand der beiden Weltkriege bis hin zum vereinten Europa, Brexit und Flüchtlingsproblematik. Wohlrecherchiert und kenntnisreich präsentiert Autor Gerd Mammitzsch Geschehnisse, analysiert Hintergründe und vermittelt in diesen 'Betrachtungen eines Europäers' wertvolles Wissen mit leichter Hand. Als profunder Kenner französischer Geschichte und Lebensart legt er dabei immer wieder den Fokus auf das so ganz besondere deutsch-französische Verhältnis - immer mit dem Ziel, Menschen durch größeres Verständnis einander näherzubringen, jenseits aller Grenzen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 487

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Vorwort

Betrachtungen eines Europäers

Die historische Entwicklung Europas vom Kriegszum Friedenskontinent

Die Ausgangslage

Karl der Große – Charlemagne

Der Englisch-Französische Gegensatz – Der Hundertjährige Krieg

Die Renaissance

Die Neuzeit – Das Heilige Römische Reich

Deutscher Nation

Die Habsburger

Der Beginn des Deutsch-Französischen Gegensatzes

Napoleon Bonaparte – Das Erste Kaiserreich

Der Wiener Kongress 1815

Der Versuch einer Konsolidierung 1815 – 1848

Die Vertiefung des deutsch-französischen Gegensatzes

Die Welt im Umbruch ab 1848

Die politischen Entwicklungen

Louis Napoleon III. (Le Sphinx Des Tuileries) – Das Zweite Kaiserreich

Otto von Bismarck – Der Eiserne Kanzler

Die Realpolitik richtet sich gegen sich selbst

Frankreich ab 1870 – Die Dritte Republik

Deutschland ab 1870 – das zweite Kaiserreich

Die wirtschaftlichen Entwicklungen

Der Weg in die Katastrophe

Zwischenbetrachtungen – Irrungen – Wirrungen

Der Selbstmordversuch Europas

Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918

Die Kriegsschuldfrage

Stimmungen

Gescheiterte Pläne

Kriegsziele – Der Sinn des Krieges

Der Weg ins Bittere Ende

Die Weimarer Republik

Das Interregnum

Geist und Volk

Krise und Ende der Weimarer Republik

Der Zweite Weltkrieg

Die Machtergreifung Hitlers

Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges

Charakter und Verlauf des Krieges

Amerikas Eintreten in den Krieg

Kriegsschuldfrage

Der Widerstand – Das Ende

Europa

Die Nachkriegszeit 1945 – 1957

Die Europäische Union

Das Deutsch-Französische Paar

Die Alten Deutschen Dämonen

Die Sprachlosigkeit

Die Finanzkrise – Der Euro

Die Reformresistenz und der Niedergang Frankreichs

Die Glückliche Entfremdung

Das Flüchtlingsproblem

Die Osterweiterung

Die Türkei

Der Islam

Der Brexit

Das zukünftige Europa

Welches Europa müsste es sein?

Europa und die Welt

Literatur

Personenregister

Vorwort

Betrachtungen eines Europäers

Über tausend Jahre hat Europa gebraucht, um vom Kriegs- zum Friedenskontinent zu werden. Dieser Zeitraum war geprägt vom ständigen Kampf der Staaten und Dynastien um Macht und Einfluss. Bis zur Mitte des Jahrtausends kamen noch religiöse Streitigkeiten hinzu – Konfliktstoff genug, um fast die Hälfte der Zeit Kriege zu führen.

In Deutschland geboren habe ich die letzten vierzig Jahre meines Lebens in England, Holland, Belgien und vor allem in Frankreich verbracht. Die jeweiligen Landessprachen sehr gut beherrschend wurde ich oft gar nicht mehr als Deutscher wahrgenommen. Ich konnte daher den Leuten mit so unterschiedlichen Kulturen und Mentalitäten »aufs Maul schauen« und so manches aufschnappen, was nicht unbedingt für fremde Ohren bestimmt war. Dabei habe ich immer wieder feststellen müssen, dass die historischen Kenntnisse der meisten Menschen – selbst der Elite – zum Teil erschreckende Lücken aufweisen und weitgehend von Klischees und Vorurteilen geprägt sind. Doch ohne das Wissen um unsere Geschichte ist die Gegenwart nicht zu verstehen und wird falsch gedeutet. Diese Beobachtung stand Pate beim Entstehen dieses Buches.

Zur Jahrhundertwende 1900 – das Kriegsjahrtausend schien zu Ende zu gehen – war Europa durch die industrielle Revolution zu Reichtum gekommen. Die Menschen lebten in Frieden, Freiheit und Wohlstand, auch das kulturelle Leben stand in voller Blüte. Es war »die gute alte Zeit« oder »La belle Èpoque«, wie es die Franzosen nennen. Zu diesem Zeitpunkt hätte man davon ausgehen können – ja müssen –, dass sich die Völker Europas gut genug kennen und verstehen würden, um den blinden Unsinn des Krieges als Mittel zur Konfliktlösung auszuschließen.

Warum musste es aber erneut zu einem rauen Ende kommen, dem Selbstmordversuch Europas von 1914? Warum musste die Weimarer Republik scheitern? Und wie konnte es vor allem zu dieser elenden zwölfjährigen Nazi-Katastrophe kommen, die ein brutaler Angriff auf alle kulturellen und moralischen Werte des Abendlandes war? Mit meinen Betrachtungen und Anekdoten versuche ich die markantesten historiographischen Zusammenhänge aufzuzeigen und zu deuten.

Heute, hundert Jahre nach der ersten europäischen Urkatastrophe anno 1914, leben wir in Europa wieder in Frieden, Freiheit und Wohlstand. Wir haben uns an diesen Zustand gewöhnt und müssen aufpassen, dass es nicht erneut zu einem bösen Erwachen kommt. Freilich sind Kriege unter den Völkern des Friedenskontinents Europa undenkbar geworden. Aber Nationalismus und Populismus, Fremdenfeindlichkeit bis hin zum Rassismus sind immer noch latent vorhanden, erleben mancherorts gar eine Renaissance und könnten eine ernste Gefahr für die dringend notwendige Weiterentwicklung eines föderalen Europas werden.

Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten die französischen Liberalen um Victor Hugo für ein vereintes, föderalistisches Europa ein, in dem Frankreich und Deutschland die Kernmacht bilden sollten, um Russland die Waage zu halten. In seiner legendären Rede in Zürich 1946 untermauerte Winston Churchill dieselbe These. Dann übernahm Thomas Mann die Rolle des vehementen Fürsprechers für die deutsch-französische Verständigung, die Einigung Europas und die soziale Demokratie.

Die Gedanken der Dichter und Denker flossen Mitte der 1920er Jahre auch in die Politik ein. Den Anfang machten die Außenminister von Frankreich und Deutschland, Aristide Briand und Gustav Stresemann. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten die Gründungsväter der EU, der Belgier Paul-Henri Spaak, die Franzosen Jean Monnet und Robert Schumann, später Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, die unumkehrbare Entwicklung zu einem föderalen Europa in Gang. Der Wille der Völker Europas und ihrer Dichter, Denker und Staatsmänner zu einem friedlichen und freien Zusammenleben hatte sich als stärker erwiesen als alle Wahnideen einiger Tyrannen. Die beiden Urkatastrophen Europas konnten dadurch jedoch nicht verhindert werden.

1 Die historische Entwicklung Europas vom Kriegs- zum Friedenskontinent

Die Ausgangslage

Nach dem Zerfall des Weströmischen Reiches im 4. Jahrhundert n. Chr. fiel Zentraleuropa zunächst für 400 Jahre in ein tiefes kulturelles Loch; es kam zu keinen nennenswerten zivilisatorischen oder wissenschaftlichen Fortschritten. Bär und Auerochse besiedelten die unendlichen Wälder und die Menschen lebten in primitiven Lehmhütten. Städte kannte man noch nicht, nur Dörfer und unbedeutende Marktflecken – Aachen, die zukünftige Kaiserstadt, war so einer.

Der Rückstand zu dem muslimisch dominierten Morgenland war enorm. Im arabisch besetzten Spanien – dem Reich der Mauren »El Andalus« – waren größere Städte wie Cordoba oder Granada entstanden, die bereits Abwasserkanäle und Straßenbeleuchtung kannten. Alle Religionen durften frei praktiziert werden. Dadurch konnten Volksgruppen mit den unterschiedlichsten Kulturen ihre Talente einbringen. Arabische Medizin, Astronomie und Mathematik waren das Maß aller Dinge. Als architektonische Meisterleistung kann man noch heute die beeindruckende Alhambra in Granada bewundern. Christen und Juden sorgten für Handwerk und Handel, die Wirtschaft florierte. Ein überzeugendes Beispiel dafür, dass nur unter solch freiheitlichen Bedingungen entscheidende zivilisatorische und wissenschaftliche Fortschritte in allen Bereichen erzielt werden können. Leider blieb diese Erkenntnis den Herrschern des Abendlandes noch über tausend Jahre verschlossen – ein europäischer Friedenskontinent lag noch in weiter Ferne.

Freilich konnte es nicht ausbleiben, dass die allgemeine Prosperität Begehrlichkeiten weckte. Wie heute gab es unterschiedliche Auslegungen des Korans. Vor allem dem im Atlasgebirge ansässigen Stamm der strenggläubigen Berber gefiel das ausschweifende Leben ihrer Glaubensbrüder in »El Andalus« überhaupt nicht. Es kam zu jahrelangen, erbitterten Bruderkämpfen, und als Folge entstanden mehrere Teilstaaten, die über 700 Jahre bestanden.

Nationalismus, gepaart mit religiösem Fanatismus, verleitete die Spanier etwa ab dem 12. Jahrhundert dazu, die Mauren des Landes zu verweisen, den islamischen Glauben auszurotten und das Christentum als allein gültige Religion zu etablieren. Es war ein gnadenloser, grausamer Kreuzzug gegen alle Andersgläubigen und eine beispiellose Barbarei mit arabischen Kulturwerten. Tausende wertvolle, unersetzliche Bücher und Schriften wurden vernichtet oder verbrannt, dann kamen die Menschen an die Reihe. Wissen und Können der damals überlegenen arabischen Kultur gingen völlig verloren und mussten Jahrhunderte später im düsteren Mittelalter mühsam neu entdeckt werden.

Ein Vordringen der Mauren und ihrer Kultur nach Zentraleuropa verhinderte Karl Martell, der Großvater Karls des Großen, mit siegreichen Schlachten 732 bei Poitiers und Tours und ging damit laut christlicher Lehre als Retter der Kultur des Abendlandes gegen die arabische Barbarei in die Geschichte ein. Die Dynastie der Karolinger von Karl Martell verstand sich wie alle ihre Nachfolger als Hüter der römischen Kultur und des christlichen Glaubens. Karl Martell selbst trug noch den Purpurmantel eines römischen Feldherrn!

Bei genauem Hinschauen muss sich der Betrachter der europäischen Geschichte das erste Mal die Frage stellen: Was wäre geschehen, wenn …? Ja, wenn Karl Martell sich nicht durchgesetzt und sich die überlegenen arabischen Kulturwerte auch in Zentraleuropa etabliert hätten? Mit Sicherheit wäre es nicht zu diesem jahrhundertelangen, desaströsen kulturellen Stillstand gekommen und die Menschen hätten nicht das sehr mühsame und von Entbehrungen gezeichnete Mittelalter durchleben müssen.

Karl der Große – Charlemagne

Erst unter der Regentschaft dieses ebenso mächtigen wie gewalttätigen Herrschers (768–814) vom germanischen Volksstamm der Franken und aus der Dynastie der Karolinger ist es zu bescheidenen kulturellen, zivilisatorischen und wissenschaftlichen Fortschritten gekommen. Obwohl die katholische Kirche unter der Schutzherrschaft Karls des Großen stand und erst durch ihn zu weltlicher Macht und Einfluss gekommen war, versuchte sie über Jahrhunderte, zum Ausbau ihrer eigenen Macht und Deutungshoheit jeden Fortschritt als Teufelszeug und Ketzerei zu verbieten. Bei Missachtung wurden drastische Strafen verhängt, auch vor Folter schreckte der Vatikan nicht zurück. Der große Galilei war eines der vielen Opfer, die ihre richtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse widerrufen mussten.

Karl der Große hatte ein Staatsgebilde geschaffen, das dem Gebiet der heutigen EU – abgesehen von den nordöstlichen Völkern – im Kern entsprach. Sein Reich hielt leider nur für die Dauer seiner Regentschaft – 47 Jahre. Obwohl aus historiographischer Sicht nur ein Wimpernschlag in der Geschichte, ist es erstaunlich, wie prägend diese für damalige Verhältnisse recht lange Regierungszeit für die folgenden Jahrhunderte war.

Dieses Riesenreich war nicht leicht zu regieren. Es setzte sich aus den unterschiedlichsten Volksstämmen zusammen, die zumeist durch Eroberungen Karls des Großen bezwungen und in sein Reich integriert worden waren. Besonders brutal und langwierig war die Unterwerfung der wehrhaften Sachsen; auch die Eroberung der Lombardei mit der Überquerung der Alpen bedurfte großer Anstrengungen. Es galt, den fränkischen und den römischen Kulturkreis zu vereinen. Aber unter der Macht eines Kaisers, der immer umherzog, irgendwo in weiter Ferne residierte und regierte, konnte sich eine gemeinsame Identität, wenn überhaupt, nur langsam entwickeln. Das einzig Gemeinsame, Verbindende war der christliche Glaube. Aber auch der war vielerorts noch nicht tief verwurzelt.

Vor allem die Kraft germanischer Vorstellungen von Freiheit und Unabhängigkeit, die noch lange die Geschichte des Mittelalters beeinflussten, wirkte sich sehr hemmend auf die Bildung eines Einheitsstaates aus.

Eine gemeinsame Verwaltung mit geordnetem Finanzwesen, zusammen mit einem Erlass zur Modernisierung der Landwirtschaft, entstand erst zwischen 792 und 803 mit dem »capitulare de villis«. Sie gilt als die erste Wirtschafts- und Sozialordnung des Mittelalters. In erster Linie bezog sie sich jedoch auf die Domänen des Herrschers selbst, denn Karl musste von nun an seinen umfangreichen Hofstaat aus eigenen Mitteln finanzieren. Bisher war der riesige Tross von Pfalz zu Pfalz gezogen, bis die Vorräte vor Ort aufgebraucht waren. Und da fast jedes Jahr ein Krieg geführt wurde, musste auch die Versorgung der Soldaten gesichert sein.

Im fortgeschrittenen Alter war Karl des ewigen Umherziehens müde geworden. Während seiner letzten 20 Regierungsjahre residierte er hauptsächlich in seiner Lieblingspfalz Aachen.

Waren die ersten 30 Regierungsjahre Karls vor allem kriegerisch geprägt gewesen, wollte er von nun an sein Reich nach römischem Vorbild durch christliche Bildungsnormen einigen und konsolidieren. Vor- und Meisterdenker seiner Bildungs- und Schulreform war der Gelehrte Alkuin von York. Karl selbst hatte immer wieder zu frommem Leben und Lerneifer gemahnt. Das aber konnte nur sinnvoll und erfolgversprechend sein, wenn überall gleiche Prinzipien galten. Und das fing mit dem Einfachsten – nämlich der Sprache – an. Aber gerade damit stand es schlecht. Selbst die meisten Priester beherrschten das Latein nur mangelhaft.

789 erschien die »admonitio generalis« (Allgemeine Anmahnung) zur Sicherung und zum Ausbau kirchlicher Ordnung und Bildung. Als Grundlagen sollten nur noch korrekte Bücher mit offiziell überprüften Glaubens- und Segensformeln dienen. Und nicht nur angehende Kleriker sollten lesen und schreiben lernen. Die Bibel galt nach wie vor als das maßgeblichste aller Bücher, das allen menschlichen Mühen voraus war. Karl gab den Auftrag, eine verlässliche, verständliche und von Fehlern bereinigte Fassung der Bibel zu erarbeiten. Eine Herkulesaufgabe für Alkuin und seine gelehrten Mönche, die sie mit Bravour meisterten. Rechtzeitig zur Kaiserkrönung Karls in Rom am Weihnachtstag 800 konnte die neue Bibelausgabe dem Herrscher überreicht werden.

Hintergrund dieser Kaiserkrönung war die in Rom gegen Papst Leo III. ausgebrochene Revolte. Er wurde für kurze Zeit festgenommen, konnte aber mit Karls Hilfe fliehen und seine Position wieder festigen. Als Gegenleistung erhielt der fränkische Herrscher die Krone eines römischen Kaisers durch den Papst verliehen.

Bei den gebildeten Klerikern erweckte die Erinnerung an das Römische Kaiserreich tiefe Sehnsucht. Für sie war Konstantin nicht bloß ein einfacher Kaiser, sondern stand durch seine Aufgabe als Beschützer der Christenheit Gott näher als alle gewöhnlichen Monarchen. Karl der Große entsprach diesen Vorstellungen. Für die germanischen Stämme waren dies aber unbekannte Begriffe, die nur dem römischen Gedankenkreis angehörten. Den Völkern des Abendlandes genügte ein König. Sie hatten schon seit Langem vergessen, was das Römische Kaiserreich gewesen war.

Unter Historikern ist noch heute umstritten, ob die Kirchenmänner Karl gedrängt hatten, den heiligen Kaisertitel anzunehmen. Hatten sie eine klare Vorstellung von der Notwendigkeit oder Nützlichkeit dieses Staatsaktes? Oder wollte Karl durch die Krönung das westliche Kaisertum als Institution im römischen Stil wieder etablieren? Hätten dann andere Völker – besonders die vermeintlich störrischen Sachsen – einen Vielvölkerkaiser und gottgewollten Beschützer der Christenheit auf Erden als ihren Herren eher akzeptiert? Auch dieser Gedanke lag nahe, nachdem die Verhandlungen mit Irene, der Kaiserin des noch bestehenden, blühenden »oströmischen Reiches Byzanz«, über die Wiederherstellung eines Gesamtimperiums gescheitert waren. Karl war sogar so weit gegangen, Irene einen Heiratsantrag zu machen. Man wird es wohl nie genau wissen. Wie auch immer, das »Heilige Römische Reich« mit seinem ersten Kaiser Karl dem Großen war entstanden.

Nach seinem Tod 814 und der sehr kurzen Regierungszeit von nur zwanzig Jahren seines Sohnes Ludwig des Frommen musste das Riesenreich gemäß dem fränkischen Erbrecht unter den drei Söhnen Ludwigs aufgeteilt werden. Um aber dem Reich eine dauerhafte Grundlage und den Zusammenhalt zu garantieren, räumte Ludwig der Fromme dem Einheitsgedanken Vorrecht gegenüber der Erbteilung ein. Er wollte seinen ältesten Sohn Lothar als Alleinherrscher einsetzen und die beiden jüngeren Brüder Ludwig und Karl zu Nebenkönigen machen. Diesem Gedanken widersetzten sich die beiden und es folgte ein schlimmer, blutiger Bruderkampf. Erst 842 kam es nach langen Verhandlungen zum Teilungsvertrag von Verdun.

An diesem Punkt der tausendjährigen, kriegerischen Geschichte Europas kann sich der Betrachter erneut die Frage stellen: Was wäre gekommen, wenn …? Ja, wenn Ludwig der Fromme auch nur einen Teil des Formats und der Autorität seines Vaters gehabt hätte, sich mit seinem Einheitsgedanken des Reiches gegenüber seinen Söhnen durchgesetzt hätte und diese wiederum ein wenig einsichtiger gewesen wären? Dann wäre vielleicht schon vor über tausend Jahren der Grundstein eines vereinigten Europas gelegt worden und dem Kontinent unzählige Kriege erspart geblieben.

Den Westteil des Riesenreiches erhielt Karl (der Kahle) und es entstand im 11. und 12. Jahrhundert unter der Dynastie der Kapetinger eine starke Monarchie – das Königreich Frankreich. Hilfreich dabei war die von den Römern hinterlassene moderne Infrastruktur. Die wichtigsten Städte Galliens waren bereits mit einem guten Straßennetz verbunden. Geschickt nahmen die Kapetinger das Erbe des großen Imperators für sich in Anspruch. Die rot-goldene Oriflamme – angeblich die Kaiserfahne Karls des Großen – wurde 1124 zur französischen Kriegsfahne erhoben und das Königsschwert der Kapetinger galt fortan als Waffe des fränkischen Imperators. Im Kloster von St. Denis bei Paris ließ man sich allerdings zu einer plumpen Fälschung hinreißen. In einem Machwerk aus dem 12./13. Jahrhundert findet sich die angebliche Verfügung Karls, in der er festlegte, St. Denis sei das geistige Oberhaupt seines Reiches und alle seine Nachfolger sollten dort gekrönt werden. Laut Karlstradition aber war und blieb Aachen der Krönungsort der deutschen Könige.

Der mittlere Teil des Reiches, eine Art Schlauch von Friesland, Flandern, Lothringen, Burgund bis Italien, wurde Lothar zugeschlagen. Es war das größte und auch reichste Gebiet, jedoch waren seine Grenzen viel zu ausgedehnt, als dass sie langfristig wirkungsvoll hätten verteidigt werden können. Es musste Begehren wecken – in erster Linie bei den unmittelbaren Nachbarn, Frankreich und den Habsburgern. Um Burgund, Mailand, Neapel und Sizilien lieferten sich beide Mächte zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen. Auch in Flandern gärte es ständig und das Mittelreich zerfiel. Die wichtigsten Territorien verleibten sich Frankreich und die Habsburger ein, aber auch die Italiener und Deutschen hatten mitgemischt.

Der Ostteil wurde dem jüngsten Bruder Ludwig zugeschlagen. Im Gegensatz zu Karl gelang es ihm und allen seinen Nachfolgern aber nicht, ebenfalls ein vereintes, kräftiges deutsches Königreich zu schaffen. Und dies, obwohl sie alle mit der zusätzlichen »Heiligen Römischen Kaiserkrone« den höchsten Rang unter den Herrschern ihrer Zeit innehatten. Auch für sie war Karl der Große als starke geschichtspolitische Kraftquelle zum Fixstern geworden, den man den Franzosen nicht allein überlassen wollte. Alle nachfolgenden Herrscher orientierten sich an ihm. Es begann mit Otto I. („der Große“) der sich bei seiner Krönung zum Deutschen König nach karolingischem Brauch mit heiligem Öl salben ließ und als Friedrich I. Barbarossa bei seiner Königskrönung 1165 den großen Imperator heilig sprechen ließ. Auch die späteren Kaiserkrönungen in Rom standen ganz im Zeichen des mächtigen Vorbildes.

Otto der Große war der einzige deutsche König, dem es gelang, militärisch eine kurzfristige Vereinigung der wichtigsten deutschen Fürstentümer zu erreichen. Aber dazu bedurfte es einer handfesten Gefahr von außen: Ungarische Reiterhorden waren immer wieder in deutsche Lande eingefallen und hatten verheerende Verwüstungen hinterlassen. Zusammen mit den Fürstentümern Bayern, Württemberg, Hessen, Hannover und Brandenburg stellte Otto ein deutsches Heer zusammen und schlug 955 in der Schlacht auf dem Lechfeld bei Augsburg die Ungarn vernichtend. Dieser Sieg hatte entscheidend dazu beigetragen, dass sich die Deutschen fortan als Nation empfanden. Vereint hatten sie Stärke bewiesen, aber zur Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates konnten sie sich nicht durchringen. Viel zu ausgeprägt war der Wille der einzelnen Fürstentümer zur Unabhängigkeit.

Die französisch-deutschen Querelen um Besitzansprüche auf den großen Ahnen Karl setzen sich bis zum heutigen Tag fort. So konnte es nicht ausbleiben, dass auch ich während meines langen Frankreichaufenthaltes in diesen Dauerzwist hineingezogen wurde. Dazu eine Anekdote: Bei einem Sightseeing in Paris mit meiner französischen Ehefrau und meiner damals zwölfjährigen Tochter aus erster Ehe, die wieder in Deutschland lebte, kamen wir in der Nähe der Kathedrale Notre-Dame an der Statue von Karl dem Großen vorbei. Für meine Frau gab es natürlich nur »Charlemagne«, den großen französischen Herrscher, der von Frankreich aus Germanien erobert und unendlich viel für Bildung und Schulwesen getan hatte. Wir wissen, dass es zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch kein Frankreich gab und es folglich auch keinen französischen Herrscher geben konnte. Solche ärgerlichen Kleinigkeiten, die nicht ins Konzept der auf die ewige »Gloire« Frankreichs beruhenden französischen Geschichtsschreibung passen, werden stets geflissentlich verdrängt. Meine Tochter hörte sich das alles an und meinte dann ziemlich verwirrt: »Aber das ist doch unser Karl der Große, den habt ihr uns geklaut!«

Aber auch der Charlemagne der Franzosen blieb nicht auf alle Zeit sakrosankt. Aufklärer Voltaire zählte schonungslos Karls ganzes Sündenregister auf: Durch ihn habe die Kirche ihre verhängnisvolle weltliche Macht erst erlangt. Dabei sei er ein frömmelnder Heuchler gewesen, denn sein Privatleben entsprach keineswegs den moralischen christlichen Werten, für die er zu stehen vorgab. Auch versäumte Voltaire nicht, auf Karls äußerst brutale Kriege gegen die Sachsen zu verweisen.

Der selbstgekrönte Kaiser Napoleon Bonaparte glaubte, seiner Dynastie die nötige Legitimität verschaffen zu können, indem er anlässlich eines feierlichen Besuches 1804 in der Karlsstadt Aachen behauptete:

»Je suis Charlemagne« (»Ich bin Karl der Große«). »Ich habe die Krone Frankreichs mit jener der Lombarden wiedervereinigt.«

Und noch ein anderer Emporkömmling, Adolf Hitler, bediente sich bei Karl. 1942 dozierte er:

»Wenn wir überhaupt einen Weltanspruch erheben wollen, müssen wir uns auf die deutsche Kaisergeschichte berufen.«

Das Dilemma war nur, dass die Propaganda der Nazis Karls zähen Widersacher, den Sachsenherzog Widukind, als kernigen, wehrhaften Germanen ebenfalls hoch verehrte. Bei der jährlichen Verleihung des Karlspreises in Aachen wird Karl als »erhabener Leuchtturm« und »Vater Europas« stets geehrt. Aber vor allem die Europa-Anspielungen sind nur bedingt tauglich. Klare Vorstellungen von Europa hatten weder Karl noch seine Entourage – das Wort selbst blieb eine seltene Vokabel. Auch kann sein Frankenreich schon deshalb nicht als europäisches Vorbild dienen, weil es durch zum Teil brutale Unterwerfungen anderer Völker entstanden war.

Der Englisch-Französische Gegensatz – Der Hundertjährige Krieg

Nach dem Untergang des Reiches Karls des Großen ging der Kampf um die Vorherrschaft im Abendland zunächst zwischen Frankreich und England weiter. Diese Auseinandersetzungen begannen 1066 mit der Eroberung Englands durch die französischen Normannen. Nach der siegreichen Schlacht bei Hastings gegen die Angelsachsen rief sich ihr Herzog Wilhelm I. (Guillaume) zum König von England aus und die mit ihm ins Land gekommenen Adeligen stellten fortan die Aristokratie Englands. Die angelsächsische Sprache wurde stark mit dem Französischen vermischt und erst ab etwa 1250 in den herrschenden Kreisen gesprochen – die englische Sprache war entstanden.

Von dieser Zeitenwende an bis ins 20. Jahrhundert hingen Krieg und Frieden in Europa vom Machtausgleich der Staaten und Dynastien und ihren Koalitionen, die sie mit- und gegeneinander flochten, ab. Religiöse Streitigkeiten kamen hinzu und verschlimmerten das Ganze. Das Papsttum hatte sich seit Ende des 11. Jahrhunderts zu einer theokratischen Monarchie entwickelt, hatte erheblichen Reichtum angehäuft und war zu Macht und Einfluss gekommen. Von da an lief – auch in weltpolitischen Fragen – ohne den Segen Roms nicht mehr viel.

Die französischen Invasoren in England blieben jedoch lange mit ihrer Herkunft und ihrer Kultur eng verbunden und meldeten bei Erbfolgen stets ihren Anspruch auf die französische Königskrone an. Wilhelm I. und die folgenden anglonormannischen Könige nahmen damit eine Doppelrolle ein. Als Könige des souveränen Königreiches England waren sie den französischen Königen gleichgestellt. Als französische Herzöge und Grafen verfügten sie aber über zum Teil beträchtlichen Grundbesitz in Frankreich. Dort waren sie den französischen Königen als Vasallen lehensrechtlich unterstellt und formell zur Gefolgschaft verpflichtet. Diese ungewöhnliche und konfliktträchtige Ausgangslage sollte jahrhundertelang für kriegerische Auseinandersetzungen sorgen.

Untermauert wurde dieser Erbfolgeanspruch noch, als der normannische Herzog Heinrich II., der 1158 zum englischen König ernannt worden war, Eleonore von Aquitanien aus dem Haus Plantagenet heiratete. Zu Heinrichs Herzogtum Normandie kamen nun noch die französischen Besitztümer Eleonores hinzu, die fast ganz Westfrankreich umfassten. Neben England und den schottisch-irischen Nachbargebieten herrschte Heinrich II. nun über ein Territorialkonglomerat – das »Angevinische Reich« genannt –, das durch seine schiere Größe eine ernste Gefahr für den Bestand des Königreiches Frankreich der Kapetinger darstellte. Diese waren natürlich bemüht, die Rolle der anglofranzösischen Vasallen, wie und wo auch immer sie konnten, zu schwächen, was ihnen in einer Vielzahl diplomatischer, aber auch kriegerischer Konflikte gelang.

Das für die nächsten tausend Jahre typische europäische Koalitionsgeplänkel begann mit einem Thronstreit in Deutschland, ausgelöst durch die Doppelwahl des Staufers Philipp von Schwaben und des Welfen Otto von Braunschweig zu deutschen Königen. Der anglonormannische König Johann Ohneland, der Sohn Heinrichs II., galt als Verbündeter seines welfischen Neffen Otto von Braunschweig, durch dessen deutsches Königreich Frankreich eingekreist werden konnte. Dies wiederum machte den französischen König Philipp II. zum Verbündeten seines staufischen Namensvetters Philipp von Schwaben, mit dessen Hilfe er die drohende Umklammerung zu verhindern versuchte. Aber der Staufer fiel 1208 einem Attentat zum Opfer und der Welfe wurde als Otto IV. zum deutschen König gewählt. Daraufhin erhielt er 1209 von Papst Innozenz III. auch die Kaiserkrone des »Heiligen Römischen Reiches«, wurde aber schon 1210 exkommuniziert, weil er eine dem Papst nicht genehme Expansionspolitik betrieb: Er hatte sich erdreistet, Oberitalien zu erobern.

Der Heilige Stuhl wollte seine seit Karl dem Großen unabhängige Position durch eine territoriale Umklammerung seines »Patrimonium Petri« nicht gefährdet sehen. Es sollte nicht die letzte Machtdemonstration bleiben. Mit tatkräftiger Hilfe des Papstes unterstützte nun Philipp II. den Staufern zugewandte deutsche Fürsten, die dann auch den jungen Staufer und König von Sizilien Friedrich II. zum deutschen König wählten. Die Stellung des französischen Königs war damit zunächst gefestigt und eine territoriale Einkreisung durch die Anglonormannen und Welfen verhindert.

Aber die Anglonormannen unter ihrem König Johann Ohneland setzten sich zur Wehr und wollten in einem Zweifrontenkrieg auf dem Kontinent die Entscheidung erzwingen. Im Südwesten Frankreichs hatte ein Heer von Johann Ohneland Stellung bezogen und im Norden hatte er mit dem Welfen Otto IV. von Braunschweig und Flandern eine antifranzösische Koalition gebildet. Beide Schlachten gingen 1214 für die Angreifer verloren. Im Südwesten siegte König Philipps Sohn Ludwig in der Schlacht von Roche-aux-Moins und im Norden der französische König selbst in der Schlacht bei Bouvines. Dieses Datum kann als Geburtsstunde des Königreiches Frankreich und des französischen Nationalempfindens angesehen werden. Im Südwesten Frankreichs verblieben den Engländern Aquitanien und Gascogne, die zum Herzogtum Guyenne zusammengefasst wurden.

In England versuchte der Adel schon seit Längerem die königlichen Machtbefugnisse einzudämmen. Jetzt nutzte er die Niederlagen von König Johann Ohneland aus und zwang ihn zu erheblichen Zugeständnissen, die in der »Magna Charta« (1250) niedergeschrieben und vom Parlament legitimiert wurden.

Bouvines stellte damit einen weiteren Meilenstein in der Geschichte beider Länder und Europas dar: in England die Entwicklung zu einer konstitutionellen Monarchie und in Frankreich die Festigung der absolutistischen Macht der Monarchen.

Auch wenn es in den folgenden Jahrzehnten aufgrund des guten persönlichen Verhältnisses zwischen Eduard I. von England und Philipp IV. von Frankreich zu einer gewissen Beruhigung kam, bestand der grundsätzliche Gegensatz doch fort. Unter Eduard II. auf englischer und Louis X., Philipp V. und schließlich Karl IV. auf französischer Seite intensivierten sich die Streitigkeiten ab 1307 erneut. Zentrale Frage war hierbei die Huldigung, die der englische König als Herzog von Guyenne seinem Lehnsherren, dem französischen König, zu leisten hatte. Auch die Zirkulation englischer Münzen in Frankreich mit dem Konterfei des englischen Königs sowie der Streit um gerichtliche Zuständigkeiten belasteten das Verhältnis schwer.

Im kommenden Hundertjährigen Krieg von 1337 bis 1443 ging es um diese beiden Konfliktpunkte: die lehnsrechtliche Frage und den Streit um den Anspruch der englischen Könige auf den französischen Thron.

Dieser flammte erneut auf, als in Frankreich der letzte Kapetinger Karl IV. keinen direkten Nachfolger hinterlassen hatte. Der englische König Eduard III. aus dem Haus Plantagenet meldete sofort seinen Anspruch auf den französischen Thron an. Gleichzeitig hatte auch das französische Haus der Valois, eine Nebenlinie der ausgestorbenen Kapetinger, seinen Kandidaten Philipp VI. zum König von Frankreich küren lassen. Trotzdem ernannte sich Eduard III. 1340 selbst zum König von Frankreich. Er fiel mit seinen Truppen in Frankreich ein und schlug in einer ersten Schlacht bei Crécy die Franzosen vernichtend. Ein Jahr später nahm er Calais ein. 1346 siegte Eduard erneut in der Schlacht von Poitiers und nahm Johann II., der Philipp VI. auf den Thron gefolgt war, gefangen.

1360 wurde mit dem Frieden von Brétigny die erste Phase des Hundertjährigen Krieges beendet. Eduard III. verzichtete auf den französischen Thron, forderte aber ein hohes Lösegeld für Johann II. sowie die Abtretung von Guyenne, Gascogne, Poitou und Limousin, und zwar ohne Lehnsabhängigkeit. England erschien als klarer Sieger – zunächst.

Das Feindbild England war entstanden und stachelte die Franzosen nun erst recht an, nicht aufzugeben. Unter Karl V., dem Weisen, nahm man die Kampfhandlungen wieder auf und eroberte die meisten Gebiete zurück. Bei La Rochelle wurde die englische Flotte geschlagen und die englischen Besatzer aus der Bretagne und der Normandie vertrieben. Damit hatte die erste Phase des Hundertjährigen Krieges eine für Frankreich günstige Wendung genommen.

Dann folgte eine 30-jährige Pause, die vor allem die Engländer benötigten, um den Konflikt zwischen Krone und Parlament zu bereinigen und die Erbfolgefrage auf der Insel zu regeln. Als 1399 nach dem Tod des letzten Plantageneten Richard II. sein fähiger Cousin Heinrich IV. aus der Nebenlinie des Hauses Lancaster auf den englischen Thron folgte, rückten die englischen Expansionsgelüste wieder in den Vordergrund. Ziele waren zunächst die reichen Städte Flanderns und Aquitanien.

In Frankreich dagegen zerrann die unter Karl V. wiedergewonnene Stärke unter seinem geisteskranken Nachfolger Karl VI. rasch. Das Land wurde zusätzlich durch die um Macht und Einfluss kämpfenden beiden Hofparteien der Armagnacs und Bourguignons geschwächt, die sich erbitterte Kämpfe von bürgerkriegsähnlichem Ausmaß lieferten.

In England war Heinrich V. 1413 seinem Vater auf den englischen Thron gefolgt und nutzte die verworrene innerfranzösische Lage aus. Er meldete Anspruch auf den französischen Thron an, landete mit seinem Heer bei Honfleur und schickte sich an, die Normandie zu erobern. In der Schlacht von Azincourt kam es zu einer französischen Niederlage katastrophalen Ausmaßes, obwohl diese zahlenmäßig überlegen und besser ausgerüstet waren. Heinrich V. konnte somit seinen Eroberungszug fortsetzen und große Teile Nordfrankreichs besetzen.

Zwischenzeitlich hatten die Burgunder mit England ein Bündnis abgeschlossen. Paris fiel in ihre Hände und damit auch König Karl VI. und seine Gattin Isabeau. Der erst 16-jährige Dauphin und spätere König Karl VII. konnte jedoch aus der Stadt nach Bourges fliehen und schloss sich daraufhin den Armagnacs an. Im Vertrag von Troyes von 1420 erklärte Isabeau ihren Sohn jedoch für illegitim und schloss ihn somit von der Erbfolge aus. Stattdessen wurde Heinrich V. als Erbe eingesetzt. Als dieser 1422 aber überraschend starb und ihm kurz darauf Karl VI. ins Grab folgte, erkannten die Franzosen den Vertrag nicht mehr an und riefen den Dauphin als Karl VII. zum König von Frankreich aus. Der englische Regent John of Lancaster war natürlich bestrebt, den Vertrag von Troyes aufrechtzuerhalten, und versuchte mit allen Mitteln, den erst einjährigen, englischen Thronfolger Heinrich VI. als französischen Thronerben durchzusetzen.

In der Zwischenzeit hatten die Engländer ganz Nordfrankreich bis zur Loire-Linie erobert und begannen 1428 mit der Belagerung von Orléans, dem Schlüssel nach Süden und zum Dauphin in Bourges. In dieser verzweifelten Lage tauchte in Lothringen ein junges Mädchen auf – Johanna von Orléans, besser bekannt als Jeanne d’Arc. Von göttlichen Visionen geleitet überzeugte sie den Dauphin Karl VII. davon, die Franzosen zum Sieg führen zu können. Unter ihrer Führung wurden die Engländer bei Orléans geschlagen und die Belagerung der Stadt durchbrochen. Daraufhin wurde Karl VII. 1429 in Reims zum französischen König gekrönt.

Noch aber hielt die Koalition Englands mit Burgund und der Angriff von Jeanne d’Arc auf das von ihnen gehaltene Paris wurde zum Desaster. Da wurde Karl klar, dass nur mit einem Frontenwechsel der Burgunder eine Wende zu erreichen war. Daraufhin nahm er Verhandlungen mit ihnen auf und verbot Johanna weitere militärische Aktionen. Als sie dies missachtete, entledigte er sich ihrer durch den Verrat von Compiègne, indem er sie den Burgundern auslieferte. Diese wiederum verkauften sie für ein hohes Lösegeld an die Engländer. In einem Inquisitionsprozess wurde sie wegen eines Paktes mit dem Teufel, des Tragens von Männerkleidung und kurzer Haare angeklagt, schließlich der Ketzerei für schuldig befunden und von den Engländern auf dem Scheiterhaufen in Rouen verbrannt.

Selbst dieser Verzweiflungsakt der Engländer hatte auf ihre sich abzeichnende Niederlage im Hundertjährigen Krieg jedoch keinerlei Einfluss mehr. Entscheidend war vielmehr die endgültige Loslösung Burgunds von England, vermittelt durch Papst Eugen IV. auf dem Konzil von Basel, festgeschrieben im Vertrag von Arras 1435.

Von da an waren die Franzosen auf dem Vormarsch. Von 1436 bis 1441 wurde die Île-de-France zurückerobert. 1437 zog der siegreiche Karl VII. in seine Hauptstadt Paris ein. Darauf erfolgten weitere Rückeroberungen, vor allem die der Normandie. Im Norden blieb den Engländern nur noch der Brückenkopf Calais.

Ein letztes verzweifeltes Aufbäumen erfolgte im Südwesten, wo Bevölkerung und Adel den Plantageneten über zwei Jahrhunderte treu ergeben waren und viel lieber Engländer geblieben wären. Erst nach der Niederlage und dem Tod ihres Heerführers John Talbot unterwarf sich auch Bordeaux der französischen Krone. 1459 folgte Calais als letzte englische Bastion auf dem Kontinent. Damit war Frankreich als endgültiger Sieger aus dem Hundertjährigen Krieg hervorgegangen und die Monarchie wurde erneut gefestigt.

England jedoch versank im Chaos und in einer über fünfzig Jahre andauernden Anarchie. Es begann mit dem »Rosenkrieg«, dem erbitterten Ringen zwischen den Häusern Lancaster und York um die Krone. Weitere Rebellionen mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen folgten. Nach dem Hundertjährigen Krieg waren zahlreiche Söldner auf die Insel zurückgekehrt und fanden ein willkommenes neues Betätigungsfeld. Die zum Teil grausamen Auseinandersetzungen boten Shakespeare in Hülle und Fülle Stoff für seine Dramen.

Anfang des 16. Jahrhunderts versuchte es nur noch einmal der machtbewusste Heinrich VIII. aus dem Haus Tudor (1491–1547), mit enormem militärischem Aufwand Festlandsgebiete in Frankreich zurückzuerobern, jedoch ohne dauerhaften Erfolg. Damit waren die direkten englisch-französischen Konfrontationen auf dem europäischen Kontinent und der Streit um die französische Thronfolge beendet. Trotzdem nannten sich die englischen Monarchen noch bis ins 17. Jahrhundert in offiziellen Dokumenten nach wie vor Könige von Frankreich.

Die Briten zogen sich in ihre »Splendid Isolation« zurück und schufen ein kolossales, weltumspannendes Kolonialreich, das »Commonwealth«. Seine imposante Flotte beherrschte die Weltmeere, nachdem die spanische Armada in der rauen Irischen See vernichtend geschlagen worden war. Was den europäischen Kontinent betraf, war man nur noch darauf bedacht zu verhindern, dass hier eine Macht eine sie bedrohende Hegemonie einnahm.

Als dies um 1800 durch Napoleon Bonaparte der Fall war, wurden die Kampfhandlungen prompt wieder aufgenommen. Durch eine gegenseitige Wirtschaftsblockade brachten sich beide Länder an den Rand des Ruins – mit Frankreich auch fast ganz Zentraleuropa. Nach fünfzehn Kriegsjahren wurde der französische Kaiser bei Waterloo von einer europäischen Koalition mit tatkräftiger Beteiligung Englands endgültig besiegt.

Interessenkonflikte entstanden aber weiterhin beim Streben nach Weltmacht und der Eroberung neuer Kontinente. Diesmal waren die Engländer von Anfang an aufgrund ihrer geographischen Lage und maritimer Stärke klar überlegen.

Es begann mit den verlorenen Seeschlachten von Aboukir und Trafalgar – jeweils gegen eine von Nelson geführte englische Kriegsflotte – und der erzwungenen Einholung der Trikolore zugunsten des Union Jack in Faschoda am Oberen Nil.

Die düstere Serie setzte sich mit dem Verlust der Provinz Québec fort. Im Juli 1940 versenkten die Briten die französische Mittelmeerflotte im algerischen Mers-el-Kebir, um sie vor einem deutschen Zugriff zu bewahren. Dann wurde das befreite Frankreich unter demütigenden Umständen gezwungen, seine Levante-Armee aus Damaskus und Beirut abzuziehen. Da schrieb Charles de Gaulle in seinem Londoner Exil an seinen Bündnispartner Winston Churchill:

»Wenn ich die Mittel dazu hätte, würde ich England den Krieg erklären.«

Die Renaissance

Die Renaissance – die Wiederentdeckung der antiken Kultur im 14. und 15. Jahrhundert – hatte ihren Ursprung in Italien und verbreitete sich mit unterschiedlichen Auswirkungen über ganz Europa. Dichter und Gelehrte verschiedener Herkunft und sozialer Zugehörigkeit aus den Wissenschaftsgebieten Grammatik, Rhetorik, Poetik, Geschichte und Moralphilosophie erinnerten sich ihrer großen Vordenker der Antike. Deren griechische und lateinische Texte galt es zu studieren, um den Raum der Erfahrung zu erweitern und neue Lösungsansätze für die Probleme des menschlichen Lebens und Zusammenlebens zu finden. Die in Griechisch vorhandenen Manuskripte hatten die von den Türken vertriebenen byzantinischen Gelehrten mit nach Italien gebracht und mussten von ihnen übersetzt werden. Die damals nicht mehr gesprochene griechische Sprache wurde dabei ebenfalls »wiederentdeckt«, erfuhr also ebenso eine Renaissance.

Abgeleitet von dem lateinischen »humanus« für »gelehrt, kultiviert«, wurden die Gelehrten »Humanisten« genannt. Heute bedeutet Humanist zu sein, an die Menschheit zu glauben. Indem die Renaissance beide Bedeutungen miteinander verband, hatte sie der durch Kriege und Epidemien geplagten Menschheit wieder Glaube und Hoffnung an eine bessere Zukunft gegeben.

Nach außen sichtbar wurde die Wiederentdeckung der antiken Schönheit im 15. Jahrhundert durch die von den Päpsten in Auftrag gegebenen Renovierungen von Kirchen, Palästen und öffentlichen Gebäuden in Rom, Florenz, Venedig, Mailand und Genua. Auch diese Städte und die zahlreichen zu Reichtum gekommenen Großfamilien gaben Unsummen für Kultur aus. Nur noch Verachtung hatte man für das finstere Zeitalter der Gotik übrig, dem man gerade entronnen war und das man nur noch mit Attributen wie ‚düster‘, ‚feucht‘ und ‚alt‘ in Verbindung brachte. Die Werke von Botticelli, Donatello, Raffael und des alle überragenden Michelangelo, dem ein kaiserliches Begräbnis zuteilwurde, gelten in der Malerei und Bildhauerei noch heute als das Maß aller Dinge. Das Gleiche gilt für die genialen technischen Erfindungen von Leonardo da Vinci.

Und plötzlich wurde auch auf anderen Gebieten alles neu. In Mainz entdeckte Gutenberg 1440 den Buchdruck, was die Veröffentlichung jedweder Schriften revolutionierte – auch die der Humanisten. Durch die Entdeckung Amerikas 1492 revidierte Christoph Columbus das bisherige Weltbild und ab 1530 provozierte ein kleiner deutscher Mönch namens Martin Luther die katholische Kirche und leitete eine längst fällige Reform der alten christlichen Religion ein.

Wir haben gesehen, dass das Zentrum der Renaissance Italien war. Aber warum? Ganz einfach, weil dort Gold und Geist nicht mit Kriegen verschwendet wurden, wie es Frankreich und England mit ihrem Hundertjährigen Krieg im gleichen Zeitraum taten. Wie Deutschland war Italien kein vereinigter Zentralstaat, sondern bestand aus einer Vielzahl wohlhabender Fürstentümer und freier Reichsstädte, die offiziell zum »Heiligen Römischen Reich« gehörten. Doch die jeweiligen Kaiser waren weit weg und hatten sowieso keine Macht, um solchen Entwicklungen im Weg zu stehen. Auch die Mauren hatten dieses Glück.

Den notwendigen günstigen wirtschaftlichen Nährboden für das Aufkommen des Humanismus boten die Verhältnisse der selbständigen Städte Mittel- und Norditaliens, deren Bürger nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich erfolgreich waren. Die Handelshäuser, Banken und Handwerksbetriebe dieser Städte – allen voran Florenz – schufen ein Klima, in dem sowohl kaufmännischer Unternehmergeist als auch humanistische Gelehrsamkeit gedeihen konnten. Der Handel florierte. Vor allem orientalische Köstlichkeiten und Güter wurden hier über den Landweg der Seidenstraße eingeführt und mit stattlichen Gewinnen umgeschlagen. Ein imposantes Bankwesen entstand. Die italienischen Begriffe in der Bankensprache wie beispielsweise »Giro« zeugen bis heute davon.

Durch die Entdeckung des wesentlich kostengünstigeren und sichereren Seewegs nach und von Fernost leitete ausgerechnet ein Sohn Genuas, Christoph Columbus, zusammen mit Vasco da Gama das Ende dieser Prosperität Italiens ein. Die Handelszentren und damit auch der Wohlstand verlagerten sich langsam, aber unaufhaltsam an die Nordseehäfen Europas. Amsterdam entwickelte sich zum wichtigsten Bankenplatz der damaligen Welt und löste Florenz an der Spitze ab. Diese wirtschaftliche Entwicklung bedeutete aber nicht das Ende der kulturellen Bedeutung der Renaissance, der italienischen Städte und deren Universitäten. Diese hatte sich längst auf ganz Europa ausgedehnt. Der Begründer des Humanismus, der Dichter, Philologe und Historiker Francesco Petrarca (1304–1374), studierte und lehrte in Montpellier und Bologna, reiste nach Paris, Köln und Rom.

Die gewaltigen Innovationen und der neue Zeitgeist der Renaissance hatten der Menschheit in der Tat wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft gegeben. Bei der Eröffnung des »Collège de France« 1534 drückte dies Barthélemy Latomus, ein Freund des großen Erasmus von Rotterdam, wie folgt aus:

»Wir alle hoffen in kurzer Zeit den Beginn eines neuen Zeitalters zu erleben, das geprägt sein wird vom friedlichen Zusammenleben der Völker, die in geordneten Staaten bei religiöser Toleranz, in Freiheit und Wohlstand leben.«

Obwohl die Mauren dies bereits vor über 700 Jahren effizient vorgelebt hatten, brachte auch die Renaissance die weltlichen Herrscher immer noch nicht zur Besinnung. Dabei ließ sich der Habsburger Karl V. – Kaiser des mächtigen spanisch-österreichischen Weltreiches und Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches« – vom großen holländischen Humanisten und Philosophen Erasmus von Rotterdam beraten, ohne großen Erfolg. Die Gier nach Macht und Einfluss ging weiter wie gehabt: Die nicht enden wollenden Kriege zwischen Frankreich und den Habsburgern, die Schrecken der Religionskriege und die brutale Niederwerfung des neuen Amerikas durch die habgierigen und fanatischen spanischen »Conquistadores«. Karl V. war einer der Hauptverantwortlichen dafür, dass die Menschheit weiterhin in Schrecken und Armut leben musste.

Immer schon hatten Epochen helle und dunkle Seiten. Aber noch nie hatten diese Seiten einen so krassen Gegensatz wie während und nach der Renaissance. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem strahlenden Gesicht der Renaissance und der hässlichen Fratze der Realität? Kein Historiker hat hierauf je eine Antwort angeboten – vielleicht, weil es keine gibt? Somit bleibt es dem Betrachter wieder nur übrig, den kritischen Blick auf beide Seiten der Medaille zu bewahren.

Die Neuzeit – Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation

Mit dem übermächtigen Weltreich der spanisch-österreichischen Dynastie der Habsburger, dem imposanten Königreich Frankreich, dem das Meer beherrschenden England und – noch etwas weitab – dem rückständigen, despotischen Russland der Zaren waren zum Beginn der Neuzeit um 1450 die europäischen Machtverhältnisse weitgehend etabliert.

Wir haben gesehen, dass es den deutschen Königen der Dynastien der Welfen und Staufer nicht gelungen war, aus dem Ersten Deutschen Reich von Otto I., dem Großen, ein vereinigtes und dauerhaftes Deutsches Königreich zu schaffen, obwohl sie die Ersten waren, die den zusätzlichen Titel des Kaisers des »Heiligen Römischen Reiches« innehatten. Stattdessen versank die deutsche Nation in Kleinstaaterei. Das »Reich« diente lediglich als virtueller Rahmen.

Dagegen nutzten die Kaiser der Dynastie der Habsburger die zusätzliche »Heilige Kaiserkrone« – die sie von 1450 bis 1806 innehatten –, als zusätzlichen Prestigegewinn weit besser als ihre germanischen Vorgänger. Der Zusatz »Deutscher Nation« wurde erst im 13. Jahrhundert hinzugefügt, da sich Burgund und Teile Italiens vom »Reich« lösten und dadurch die zahlreichen deutschen Kleinstaaten ein Übergewicht bekamen. Gebraucht wurde diese Zusatzbezeichnung aber nur kurze Zeit und wurde erst im 17. und 18. Jahrhundert in einigen Dokumenten wieder angewandt.

Nur in französischen Publikationen und Dokumenten wurde das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«, das im machtpolitischen Sinne nie eins war, durchweg kurz, bündig und falsch »Empire Germanique« genannt. Man ließ »heilig« und »römisch« einfach weg und sorgte schon damit für verhängnisvolle Fehlinterpretationen, von denen in der Folge noch öfter die Rede sein wird. Die Engländer übersetzten es richtigerweise mit »The Holy Roman Empire«. War der Papst spirituell die rechte Hand Gottes auf Erden, so sollten die Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches« fortan als Schutzherr der Kirche für den irdischen Frieden sorgen und die Ordnung gebende Mission der Römer fortführen. Das war aber von Anfang an reine Utopie, mehr Einbildung als Wirklichkeit, ein frommer Wunsch oder eine »Phantasmagorie«, wie es Golo Mann nannte. Auch Voltaire als einer der führenden Köpfe der Aufklärung höhnte: »An diesem Reich war nichts ‚Heiliges‘ und nichts ‚Römisches‘ und ein Reich war es schon gar nicht.«

Karl der Große (Charlemagne) war der erste und der spanische Habsburger Karl V. (Charles Quint) der letzte mittelalterliche Kaiser dieses »Heiligen Römischen Reiches«. So urteilte der Historiker Peter Rassow 1957 in seiner bedeutenden Biographie über Karl V. Viele sahen in ihm bereits den Kopf des ersten großen europäischen Expansionsstaates der Neuzeit oder gar einen Pionier der europäischen Idee. Er selbst – beraten von seinem Großkanzler Mercurino Gattinara – sah sich als Erbe des karolingischen Kaisertums von Karl dem Großen und zugleich als dessen Vollender. Wie schon Karl der Große sollte Karl V. das letztlich antike Imperium wiederherstellen, universalen Frieden schaffen und die Einheit der Christenheit sichern. So werde, schrieb Gattinara 1526, das »Heilige Römische Reich« den »alten Glanz« zurückerobern.

Aber wie schon angedeutet, war dieses »Reich« nie eine weltliche Macht im herkömmlichen Sinne: ohne Hauptstadt, in der sich eine zentrale Macht hätte entfalten können, und ohne einheitliche staatliche Strukturen und Steuereinnahmen. Auch die Außengrenzen veränderten sich ständig. Der Kaiser wurde von sieben auserkorenen Wahlmännern – deutschen Kurfürsten – gewählt, vom Papst bestätigt und unter großem Pomp in Rom von ihm gekrönt. Die Wahl ließen sich die Fürsten wortwörtlich fürstlich bezahlen, auch mit sogenannten Regalien, das heißt exklusiven Königsrechten wie der Münzprägung und dem Silberabbau. Das Reich ist deshalb am besten mit einem Lehnsverband zu vergleichen, in dem der Herrscher Posten und Länder an seine wichtigsten Vasallen, zum Beispiel Fürsten, vergab. Der Kaiser war deshalb in seiner Macht beschränkt und auf den Konsens der Großen in den Ländern angewiesen.

Zusammengehalten wurde das Ganze durch Treueide zwischen Kaiser und Fürsten, Rittern und Landesherren, Bauern und Grundbesitzern. Diese komplizierte Gemengelage konnte nur eines zur Folge haben: ständige Konflikte. Die Kaiser stritten sich mit den Päpsten, die Könige rangen mit den Fürsten, die erstarkenden Städte wehrten sich gegen die Landesherren, und schließlich gerieten sich Katholiken und Protestanten in die Haare. Formal regiert wurde das Reich von den auf Reichstagen versammelten Reichsständen, also Geistlichkeit und Adel, sowie bald auch von den freien Städten und Reichsstädten. Territorial setzte es sich aus Teilen des ehemaligen Riesenreiches Karls des Großen zusammen, also im Groben aus Burgund, Norditalien und Germanien. Der germanische Teil bestand aus einem Flickenteppich kleiner Territorialstaaten: Anfang des 18. Jahrhunderts um die 300, aus denen sich manche zu selbständigen Staatsgebilden oder gar europäischen Mächten wie zum Beispiel Preußen und Österreich entwickelten, wohingegen die Mehrzahl nur aus ein paar Schlössern und Dörfern bestand. Wie schon erwähnt, hatten die Habsburger Doppelkaiser darauf nur beschränkten Einfluss. Über volle Exekutivmacht verfügten sie nur in ihren eigenen, zur österreichisch-spanischen Dynastie gehörenden Territorien.

Zur Wahl zum Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches« konnten sich alle legitimen Herrscher der verschiedenen Dynastien stellen. So kandidierten dann auch die französischen Könige François I. und Louis XIV. um die »Heilige Krone«, konnten aber bei den deutschen Kurfürsten keine Mehrheit finden. Dies waren jeweils schwere diplomatische Niederlagen für die stolzen Franzosen, die sich heute noch als Nachfolger der Römer und Hüter der römischen Kultur fühlen. In dieses Bild hätte die zusätzliche Heilige Römische Krone natürlich prächtig gepasst und einen erheblichen Prestigezuwachs gebracht. Als direkter Nachbar bedeutete dieses kraftstrotzende und machtbewusste französische Königreich für die deutschen Kurfürsten jedoch eine reale, akute Gefahr. Da waren ihnen die Habsburger mit ihrem verzettelten Riesenreich dann doch lieber.

Scheinheiligerweise gaben beide Mächte – Frankreich und die Habsburger – stets vor, die Freiheit der deutschen Fürsten zu schützen. Das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« sollte bestehen bleiben, um dem Flickenteppich der zahlreichen, zum Teil winzigen Teilstaaten und freier Reichsstädte eine Art Einheit zu geben. So könne es als Stabilisator in Zentraleuropa fungieren. Und in der Tat hat dieses in der Geschichte einzigartige staatsähnliche Gebilde, das immerhin über tausend Jahre hielt, diese Funktion teilweise auch erfüllt. Eine solche Einheit und eventuelle Bewaffnung sollten aber nur so weit gehen, um ein Auseinanderfallen zu verhindern, auf keinen Fall aber, um eine reale neue Macht zu schaffen.

Als Napoleon Bonaparte 1806 auf dem Höhepunkt seiner Macht den »Rheinischen Bund«, eine Art französisches Protektorat, gründete, dessen Mitgliedsstaaten allesamt zum »Heiligen Römischen Reich« gehörten, war dieses überflüssig geworden und wurde prompt von seinem letzten Kaiser, dem Habsburger Franz II., im gleichen Jahr aufgelöst.

Von zeitgenössischen Historikern wurde das Alte Reich belächelt, sie hatten nur Hohn und Spott übrig, hielten es für marode und aus der Zeit gefallen. Die Worte des Berliner Geschichtsprofessors Heinrich von Treitschke spiegeln die nationalstaatlich geprägte Geringschätzung des »Heiligen Römischen Reiches« wider. Er beklagte ein »Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien«.

Von heutigen Historikern wird das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« inzwischen wesentlich positiver gesehen, vor allem die relativ friedliche Phase nach dem Dreißigjährigen Krieg. Hierzu der Forscher Peter Claus Hartmann: »Seine föderalen Strukturen und Ausgleichsmechanismen, die konfessionelle Vielfalt und die kulturelle Diversität könnten als Vorbild für Europa gelten.« Und der britische Kunsthistoriker Neil McGregor meint gar, dass die politische Zersplitterung der angeblich verspäteten Nation tatsächlich eine Stärke gewesen sei, die Ordnung des Alten Reiches ein »Sieg der Fragmentierung«. Hier drängt sich mit allen Vorbehalten ein Vergleich zur jetzigen Europäischen Union auf.

Auch das Justizwesen verdient Beachtung. Am 1495 eingerichteten Reichskammergericht konnten selbst Bauern ihre fürstlichen Landesherren verklagen. Dessen Urteile waren als höchste Appellationsinstanz gefürchtet. Eine für die damalige Zeit ungeheure Neuerung. Erstmals sprachen ausgebildete Juristen Recht und die Schöffen wurden nach ständischen Schlüsseln besetzt. Freilich mahlten die Mühlen der Justiz damals noch langsamer. Die meisten Verfahren dauerten drei bis fünf Jahre. Schwerwiegende wurden auch mal gerne auf die lange Bank geschoben, sie konnten bis zu hundert Jahre dauern.

Während Zentralmächte wie England oder Frankreich politische und religiöse Abweichungen schnell ersticken konnten, genügte einem Verfemten wie Friedrich Schiller 1782 die Flucht aus dem Herzogtum Württemberg ins liberalere kurpfälzische Mannheim, um weiter dichten zu können. Für Heinrich Heine und Karl Marx war es dann rund hundert Jahre später etwas schwieriger. Als das zum Königreich emanzipierte und streng konservativ regierte Preußen die beiden Aufmüpfigen des Landes verwies, mussten sie schon ins fernere Paris und London emigrieren.

Die Habsburger

Mit dem Bau der Habsburg um 1020 begründete das nach mittelalterlichen Maßstäben drittklassige Grafengeschlecht seine Herrschaft im Süden des deutschen Sprachgebietes. Im Laufe der Jahrhunderte sicherte sich die Sippe durch List und Ränke, Glück, Strategie, kluge Heiratspolitik und Erbverträge – aber auch Gewalt – erst das Mitspracherecht in Europa, dann sogar die Vormachtstellung. Der Stammbaum dieser Dynastie weist mehr Verästelungen auf, als jedes Gedächtnis fassen könnte. Erst recht die endlosen territorialen Teilungen und Eroberungen, Erbgewinne, Kriegsverluste und Abspaltungen quer durch Europa, ja noch darüber hinaus, ergeben einen undurchdringlichen Faktenberg, der in diesem Buch nur ansatzweise angedeutet werden kann.

Am besten mit dem Werdegang von Karl V., dem Habsburger Doppelkaiser der Dynastie, den die Franzosen Charles Quint nennen und unter dessen Regentschaft das Habsburger Weltreich seine größte Ausdehnung erfuhr.

Karl V. wurde 1500 in Gent in den damaligen Habsburger Niederlanden (Burgund) geboren. Gent, Brüssel und Antwerpen wurden damals vom burgundisch-niederländischen Adel und einem durch Handel mit Tuchwaren und Wolle, durch Schifffahrt und Finanzgeschäfte selbstbewusst und wohlhabend gewordenen Bürgertum dominiert. Mit zwei seiner Schwestern wuchs Karl in Mechelen bei Brüssel auf, wo sie von ihrer Tante Margarete erzogen wurden. Untereinander sprachen sie französisch, kaum flämisch – später lernte Karl natürlich noch Spanisch. Nur Deutsch und Italienisch sprach er sehr holprig. Kaum 16 Jahre alt wurde er zum Herzog von Burgund, und ein Jahr später, durch die Erbfolge mütterlicherseits, zum König von Spanien ernannt, wozu zu diesem Zeitpunkt auch Neapel und Sizilien, bald auch Spaniens Eroberungen in Amerika gehörten, von Mexiko bis Peru.

Es ist die abenteuerliche Zahl der offiziellen Titel von Karl V., die unendlichen Verstrickungen, sowie die atemberaubende Vielfalt und Unübersichtlichkeit seiner Befugnisse und Verpflichtungen, die in der Geschichte einmalig sind. Hier nur der Anfang der schier endlosen Aufzählungen bei seiner Amtsübernahme des Habsburger Reiches, in dem die Sonne nie unterging:

»Von Gottes Gnaden erwählter Römischer Kaiser, zu allen Zeiten Mehrer des Reiches in Germanien, zu Spanien, beider Sizilien, Jerusalem, Ungarn, Dalmatien, Kroatien, der Balearen, der kanarischen und indianischen Inseln sowie des Festlands jenseits des Ozeans, König, Erzherzog von Österreich, Herzog von Burgund, Braband, Steier, Kärnten, Krain, Luxemburg, Athen, Graf von Habsburg, Flandern, Tirol, Fürst in Schwaben, Herr in Asien und Afrika …«

Dies waren wohlgemerkt alles Habsburger Territorien, in denen er schalten und walten konnte, wie er wollte. Die zusätzliche „Heilige Kaiserkrone“ verpflichtete ihn, die Einheit der Christenheit zu wahren, was der Vatikan natürlich als die exklusive Deutungshoheit der katholischen Kirche verstand. Somit konnte er – wie alle Habsburger Doppelkaiser - als gottgewollte Herrscher und Beschützer auftreten, was erheblichen Prestigezuwachs brachte, in erster Linie natürlich bei den Katholiken.

Als Burgunder hatte es Karl V. nicht leicht, von den misstrauischen Spaniern akzeptiert zu werden. Mit seinem jüngeren Bruder Ferdinand verhandelte er volle drei Jahre bei Valladolid über eine Gewaltenteilung im riesigen Reich. Ohne die Loyalität seines Bruders wäre Karl V. verloren gewesen, denn als er sein Land Spanien wieder verließ, hatte er weder Einigung erzielt noch Sympathie gewonnen. Spanien versöhnte sich mit diesem ‚Ausländer‘ erst, als er in Sevilla eine Märchenhochzeit mit der portugiesischen Prinzessin Isabella feierte und aus dieser Ehe ein Sohn, der spätere König Philipp II., hervorging.

1519 wurde Karl V. zum Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« gewählt. Der Gegenkandidat war der französische König François I. Es war einer der spektakulärsten Wahlkämpfe um die heilige Krone mit über Jahrhunderte hinweg spürbaren Folgen für das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland. Zahllose Intrigen, Bestechungen, Amtsversprechen und Drohungen wurden zwischen Paris und den deutschen Kurfürsten ausgetauscht, um die Wahl zu beeinflussen. Letztlich hatte Karl V. wohl den wahlberechtigten Kurfürsten mehr geboten als sein französischer Konkurrent. Die entscheidenden Zuschüsse kamen von den Fuggern, der reichen Augsburger Kaufmannsfamilie. Das Zerwürfnis zwischen Frankreichs König François I. und dem Habsburger Karl V. war nachhaltig. Bis zur freiwilligen Abdankung als Doppelkaiser im Jahre 1556 führte Karl V. noch fünf Kriege gegen Frankreich.

Die absolutistisch regierenden Könige Frankreichs verfügten über zentralistisch ausgerichtete, funktionierende Staatsstrukturen und ein diszipliniertes, gut ausgebildetes und ausgerüstetes Massenheer mit klaren Kommandostrukturen. Bei den Herrschern des komplexen Habsburger Vielvölkerreiches war dies nie der Fall. Bei Bedarf mussten immer erst Massenheere zusammengestellt und aus der ständig klammen Habsburger Schatulle finanziert werden. Alternativ übernahmen charismatische Heerführer diese Rolle, was aber zu gegenseitiger Abhängigkeit führte und selten gut ausging – der für Wallenstein tödlich ausgehende Konflikt mit seinem Kaiser Franz II. war das bekannteste, tragischste Beispiel dafür.

Zum Großteil setzten sich diese Heere aus Söldnern zusammen, die aber leicht zu Räuberbanden verkamen – so im Falle der Plünderung Roms 1527. Statt in Mailand gegen die Franzosen zu kämpfen, wandten sich plötzlich 22.000 deutsche und spanische Söldner nach Süden, um sich in Rom an ihrem eigenen, aber aus ihrer Sicht verräterischen Papst – er war fast immer auf Seiten Frankreichs – zu rächen. Sie waren miserabel versorgt und nicht bezahlt. Bis zu 30.000 Menschen soll der sogenannte »Sacco di Roma« das Leben gekostet haben. Papst Clemens VII. konnte sich nur mit Mühe und unter Bezahlung einer hohen Lösegeldsumme aus Rom retten. Die gruseligen Einzelheiten lösten am Hofe Madrids Bestürzung aus. Karl V. beteuerte, er habe dies nicht beabsichtigt. Nur drei Jahre später im Jahr 1530 wurde ihm von demselben Papst in Bologna die heilige Krone aufgesetzt. Rom wäre dann doch etwas zu peinlich gewesen. Eine Ironie der Geschichte.

Die Streitigkeiten des Habsburger Doppelkaisers mit Frankreichs König François I. hielten an. Es ging um die Vorherrschaft in Mailand und Genua, später Neapel. Karl V. hatte mehr Fortune und behielt die Oberhand. 1529 konnte er die Eroberung Wiens durch die Türken verhindern. Karl V. hatte den Höhepunkt seiner Macht erreicht.

Trotz dieser machtpolitischen Erfolge ging es dem Kaiser nicht gut. Sein Gichtleiden wurde so stark, dass er nicht mehr reiten konnte, nur noch in Kutschen reiste und sich auf Sänften tragen ließ. Seine politische Tatkraft minderten die Gebrechen aber nicht. 1535 besiegte er eine türkische Seeräuberflotte vor Tunis und verhinderte somit eine türkische Oberherrschaft im Mittelmeer.

Nur: Womit war der Glanz erkauft? Überall in Europa gärte es. Die endgültige Spaltung der Kirche stand bevor und die muslimische Gefahr durch die Türken drohte nicht nur von Ungarn her, sondern nach wie vor über das Mittelmeer. Aus der Neuen Welt gab es nicht nur Gold, das Karl V. zur Finanzierung seiner Feldzüge gut gebrauchen konnte, es gab auch rufschädigende Horrornachrichten über das Wüten der christlichen Eroberer. Auch Frankreich gab keine Ruhe. Und immer wieder fehlte es an Geld. Das Schlimmste für Karl V. aber waren die andauernden kirchlichen Querelen. Trotz seines entscheidenden Sieges über die Protestanten 1547 bei Mühlberg in Sachsen konnte er letztlich die Verbindung des Protestantismus mit den wichtigsten deutschen Ständen nicht lösen. Dieses Scheitern trug zu einer der erstaunlichsten Handlungen Kaiser Karls V. bei: Er verzichtete auf die »Heilige Krone« und all seine Habsburger Titel. 1556 übergab Karl seinem Sohn Philipp Spanien, Sizilien und das »Neue Indien« in Amerika. Mit Frankreich schloss er wieder einmal Waffenstillstand. Seinem Bruder Ferdinand überließ er die »Heilige Kaiserkrone« und die Oberhoheit über die nördlichen und östlichen Habsburger Lande. Körperlich leidend und seelisch deprimiert, zog er sich ins abgelegene Kloster Yust unweit der spanisch-portugiesischen Grenze zurück, wo er 1558 starb.

Im Gegensatz zum ausgehenden Weströmischen Reich und dem Reich der Mauren, wo alle Glaubensrichtungen toleriert worden waren, fanden sich die fanatisch gläubigen Habsburger Katholiken zu keinem Kompromiss bereit. Das zeigte sich im grausamen Wüten der »Conquistadores« in Mittel- und Südamerika oder in der mangelnden Bereitschaft zu einer friedlichen Koexistenz mit den Protestanten in Europa. Auch deren Glaube sollte mit allen Mitteln ausgerottet werden.

Es kam dann auch, wie es kommen musste: 1618 brach der »Dreißigjährige Krieg« aus. Die Gegner waren die von den norddeutschen Kleinstaaten vertretenen Protestanten und die katholische Liga, angeführt vom österreichischen Habsburger Kaiser Ferdinand II., der gleichzeitig Kaiser des »Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation« war und in Wien residierte. Der Auslöser des Krieges war der »Fenstersturz von Prag«: Zwei Habsburger Unterhändler wurden von den Protestanten bei Verhandlungen in Prag kurzerhand aus dem Fenster geworfen.

Dieser Kriegsausbruch kam Frankreich zwar nicht aus religiösen, aber aus machtpolitischen Gründen sehr gelegen. Nun konnte man sic‹›h wieder den Intrigen gegen den Habsburger Erzfeind widmen. Kardinal Richelieu unterstützte offen die ‚Ketzer‘, sprich den religiösen Gegner: die deutschen protestantischen Fürsten, die ohne Verbündete viel zu schwach gewesen wären, um den Habsburgern Paroli bieten zu können. Schon die erste Schlacht am Weißen Berg bei Prag ging für die Protestanten klar verloren. Nicht zu Unrecht nennt man Richelieu den Begründer der Realpolitik. Damals hieß es noch »Raison d’État«. Diese gebot ihm, den ewigen französischen Staatsfeind zu schwächen. Die Schweden und Dänen intervenierten ebenfalls, weil sie glaubten, ihre Grenzen schützen zu müssen. »Raison d’État oblige!«

Der Dreißigjährige Krieg war mehr als nur Krieg: vielmehr ein Horrorszenarium, eine sinnlose Zerstörung und Verwüstung Deutschlands. Wie immer litt die einfache Bevölkerung am stärksten unter dem Krieg. Die Einwohnerzahl sank innerhalb von 30 Jahren von 14 auf 7 Millionen! Dieser Krieg war noch schlimmer als die Große Pest 300 Jahre zuvor, die zwar fast ebenso viele Menschenopfer forderte, aber die Infrastruktur nicht zerstörte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg blieb kein Stein mehr auf dem anderen. Wieder ein Beweis dafür, dass das Ungeheuer Krieg – einmal entfesselt – eine Eigendynamik entwickelt, die nicht mehr zu kontrollieren und noch weniger zu stoppen ist.

Friedrich Schiller beschrieb in seinem Gedicht »Die Glocke« die Stimmungslage in Deutschland wie folgt:

Möge nie der Tag erscheinen, wo des rauhen

Krieges Horden dieses stille Tal durchtoben,

wo der Himmel, den des Abends sanfte Röte lieblich

malt, von der Dörfer, von der Städte

wildem Brande schrecklich strahlt.

Nach langen Verhandlungen wurde 1648 in Münster und Osnabrück im »Westfälischen Frieden« der Krieg beendet. Langfristig gelöst wurde gar nichts – Kriege können das nie. Die Katholiken konnten die Glaubenseinheit nicht wiederherstellen. Vor allem in der Nordhälfte Europas hatte sich der Protestantismus fest etabliert. Frankreich war es nicht gelungen, die Habsburger politisch zu schwächen und ihnen die »Heilige Krone« streitig zu machen. Der Zuschlag von Pommern und Brandenburg an Schweden für seine Grenzsicherung war nicht von langer Dauer. Das Weiterbestehen des »Heiligen Römischen Reiches« wurde zwar garantiert, aber unter eine internationale Kontrolle der beteiligten Mächte gestellt.

Der Beginn des Deutsch-Französischen Gegensatzes

Von Anfang an war das Deutsch-Französische Verhältnis belastet von zwei groben Geschichtsfälschungen. Da war zuerst die These Richelieus, wonach der Rhein die natürliche Ostgrenze Frankreichs sei.

Zu diesem Thema ein Kommentar von Peter Scholl-Latour:

»Das viel zitierte Testament Richelieus das dem Bourbonenstaat den Rhein von Basel bis zur Mündung als natürliche Grenze vorgab, ist als Fälschung entlarvt worden, und dennoch entsprach diese geographische Vorstellung einer tiefen nationalen Sehnsucht. Wurzelte dieser zähe, unermüdliche ›Drang nach Osten‹ in der halb verschütteten Erinnerung, dass zu Zeiten des tragischen Charlemagne-Enkels Lothar Anspruch auf die abendländische Kaiserkrone, die höchste fränkische Legitimation, mit dem Besitz dieses ›lotharingischen (Lothringen) Zwischenreich verknüpft worden war?‹

Östlich des Rheins lebten die Deutschen, die sich dieser Theorie natürlich energisch widersetzten. Sie gehörten dem virtuellen ›Heiligen Römischen Reich deutscher Nation‹ an, stellten zwar eine Nation aus bis zu 300 zum Teil winzigen Teilstaaten dar, aber eben keinen vereinten mächtigen Staat, den es zu fürchten galt und der für Frankreich eine Gefahr darstellen konnte. Trotzdem – als zweite Geschichtsfälschung – entstand die Mär vom furchterregenden, Frankreich bedrohenden ›Colosse oder Empire Germanique‹, das – im machtpolitisch Sinne – nie existierte, aber im französischen Geschichtsverständnis einen festen Platz einnimmt.

In der Tat gab es diesen ›Colosse‹, den Erzfeind Frankreichs, aber in Gestalt des Habsburger Weltreiches, mit dem es über Jahrhunderte andauernden Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen gab, die umseitig beschrieben und von Napoleon Bonaparte in der Folge fortgeführt wurden.