Europe - 12 Points! - Matthias Breitinger - E-Book

Europe - 12 Points! E-Book

Matthias Breitinger

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Beschreibung

"Europe - 12 Points!" lässt sechs Jahrzehnte Musikgeschichte aufblühen, versammelt zahlreiche Fotos und alles Wissenswerte um den ESC - mit all den Sensationen, Skandalen und natürlich jeder Menge Glamour. 1956 wurde der Eurovision Song Contest als Lieder- und Komponistenwettbewerb mit nur sieben Teilnehmerländern ins Leben gerufen. Heute ist er ein europäischer Exportschlager, der sogar in China und Australien Millionen Fans begeistert. Matthias Breitinger erinnert an zahlreiche Sternstunden: An den Sieg von ABBA mit "Waterloo" im Jahr 1974, der Beginn ihrer Weltkarriere war. Daran, dass der ESC Welthits wie "Volare" oder Weltstars wie Céline Dion oder Cliff Richard hervorgebracht hat. An schrille und komische Auftritte von Guildo Horn bis Stefan Raab genauso wie an das Phänomen Ralph Siegel. Dabei wird klar: Das, was den ESC so einzigartig macht, ist die Verbindung von großem Entertainment und engagierter Werbung für Toleranz und Völkerverständigung!

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Matthias Breitinger

Europe – 12 Points!

Die Geschichte des Eurovision Song Contest

Atlantik

Vorwort

»Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder – böse Menschen haben keine Lieder«, sagt ein altes Sprichwort. Die Verantwortlichen bei der Europäischen Rundfunkunion (EBU) trugen es in sich, als sie im Herbst 1955 beschlossen, eine Fernsehshow aus der Taufe zu heben, von der sie kaum ahnen konnten, dass sie auch sechs Jahrzehnte später noch bestehen würde – größer denn je. Am 24. Mai 1956 betrat die Niederländerin Jetty Paerl die Bühne in Lugano und sang den allerersten Beitrag in der Geschichte des Eurovision Song Contest. »Gran Premio Eurovisione della Canzone Europea« nannte sich der Abend damals – weil er im italienischsprachigen Teil der Schweiz stattfand. Doch ob »Grand Prix Eurovision de la Chanson européenne« (1966 in Luxemburg), »Concorso Eurovisione della canzone« (1991 in Rom) oder »Eurovision Song Contest« (schon 1960 in London!): Der Titel bezeichnete stets das Gleiche, einen Wettbewerb der Lieder.

Und doch war der ESC immer auch mehr. Er vermag es, dass an einem Abend im Jahr rund 200 Millionen Menschen weltweit zur gleichen Zeit vor dem TV-Gerät sitzen und dieselbe Show anschauen. Das viel gebrauchte Sinnbild des Fernsehens als Lagerfeuer: Wo, wenn nicht beim Eurovision Song Contest passt es perfekt? Schließlich gehört es zum Stereotyp der Lagerfeuerromantik, dass jemand irgendwann eine Gitarre holt, wenn die Gruppe in der Dunkelheit um die knisternden Flammen sitzt, und man anfängt zusammen zu singen. Ein harmonischer Abend, friedlich, in Eintracht.

Eine Eintracht, die – so will es das Klischee des ESC – einmal im Jahr für ein paar Stunden ganz Europa überziehen soll. Ganz so einträchtig mag es hinter der Bühne nicht immer zugehen, schließlich ist der Grand Prix nicht einfach nur ein Musikfestival, sondern ein Wettstreit mit Siegern und Verlierern, mit Glücklichen und Enttäuschten. »Jetzt hat diese Hexe auch noch gewonnen«, soll die Französin Amina über Carola gezischt haben, als 1991 die EBU die Schwedin zur Siegerin kürte – beide hatten den Abend mit identischer Punktzahl beendet.

Doch über solchen kleinen Befindlichkeiten steht das große Ganze: Delegationen aus mittlerweile über 40 Ländern kommen zwei Wochen in einer europäischen Stadt zusammen, dazu ein Tross aus mehr als 1500 Journalisten aus allen Ecken Europas. Als Fan schließt man über das gemeinsame Interesse schnell Freundschaften mit anderen Aficionados aus fernen Ländern: Der ESC führt zusammen. Diese Funktion hat sich der Wettbewerb in Mottos wie »Share the moment« und »We are one« zu eigen gemacht. Das Völkerverbindende war für die Europäische Rundfunkunion zwar nicht der eigentliche Grund, warum sie vor 60 Jahren den ESC startete. Es ist aber zentral geworden. Schon zehn Jahre bevor die 68er-Bewegung »Make love, not war« skandierte, hatte die EBU zumindest für einen Abend das heimliche Motto »make song, not war« ausgerufen. »Dschinghis Khan, ABBA, Ein bisschen Frieden – das ist doch wie im Sport: Man kann sich auf eine nette Art und Weise messen«, sagte Guildo Horn vor dem ESC1998.

Im Mai 1956 maßen sich nur Teilnehmer aus sieben Nationen, 2016 sind es 43. Insgesamt haben 51 Länder am Wettbewerb teilgenommen, am häufigsten Deutschland. In den 60 Jahren seines Bestehens ist der Eurovision Song Contest kräftig gewachsen. Seit 2004 gibt es beim ESC Halbfinals, und auch die Veranstaltungsorte sind größer geworden. Aus kleinen Theatern wurden riesige Arenen, beim Song Contest in Wien war die Bühne 14 Meter hoch und 43 Meter breit.

Doch ob große Halle oder kleiner Saal, im Mittelpunkt standen immer ein Lied und eine Performance. Manches war grandios, anderes zumindest genießbar. Was Melodie und Stimme nicht hergaben, konnte eventuell eine schräge Show ausbügeln. Im Idealfall war es immerhin unterhaltsam. Denn darum ging es stets: Der ESC war und ist eine Unterhaltungsshow, kein Hochamt der Hochkultur. Die Vorstellung, dass Fachjuroren das qualitativ hochwertigste Lied zum Sieger erklären, war schon immer falsch. Der ESC ist nicht »Jugend musiziert«. Häufig genug gewann am Ende der kleinste gemeinsame Nenner, was bei zahlreichen unabhängig agierenden Jurys und erst recht bei Millionen von per Telefonanruf abstimmenden Zuschauern nicht verwundert. Wenn der Siegertitel weit über den Abend hinausstrahlt, um so besser.

Das ist nicht das einzige Missverständnis, das gerade in Deutschland über den ESC herrscht. Viele sprechen bis heute vom »Grand Prix Eurovision de la Chanson«, um insbesondere mit dem letzten Wort Assoziationen zu wecken: Man denkt an Liedermacher, an poetische Texte und anspruchsvolle Melodieverläufe, an Dalida und Jacques Brel. Wer daran einen Großteil der Eurovisionsbeiträge misst, muss sich enttäuscht abwenden: Das sind doch keine Chansons! Nur: »Chanson« bedeutet im Französischen schlicht »Lied« und lässt Raum für vielerlei Spielarten der populären Musik. Für einen Franzosen oder Wallonen war der französische Siegertitel von 1969, Un jour, un enfant, ebenso »une chanson« wie Hard Rock Hallelujah der Gruselrocker Lordi oder der ukrainische Nonsensbeitrag Dancing Lasha Tumbai. Was in Deutschland unter Chanson verstanden wird, war für den Wettbewerb nie Voraussetzung.

Fans mit Fahnen vor der Bühne des Eurovision Song Contest 2015

© Ullsteinbild

Ebenso schief ist längst auch das Bild vom »Schlager-Grand-Prix«, das viele deutsche Medien immer noch in abwertender Weise zeichnen. Dieses Image hat der ESC nur noch bei jenen, die ihn nicht anschauen. Was war an Lenas Popnummer Satellite, was an No No Never von Texas Lightning ein Schlager?

Am Ende muss Musik vor allem gefallen. Das gilt erst recht beim ESC. Die olympische Idee »Dabeisein ist alles« war immer scheinheilig. Wer teilnimmt, will auch gewinnen! Doch auch wer beim Grand Prix nicht Erster ist, war zumindest in seinem Land meist Erster, weil er sich dort gegen andere durchgesetzt hat, die das Ticket für den Song Contest nicht bekamen. Oder, wie ABBA in dem wohl bekanntesten Gewinnerlied sangen: »You’ll feel like you win when you lose«. Und das ist doch auch ein Trost.

Aus den 14 Liedern des ersten Grand Prix wurden bis heute knapp 1400. Die meisten sind wieder vergessen, außerhalb der Fanzirkel. Doch an einige Hits erinnert man sich noch immer. Viele andere kramen wir mit diesem Buch wieder aus dem Gedächtnis hervor – der ESC ist mehr als Waterloo. Viel Vergnügen bei unserer kaleidoskopischen Zeitreise!

Eine schicke Show fürs neue Medium

Man muss den Namen Marcel Bezençon nicht kennen. Vermutlich gibt es auch viele ESC-Fans, die den Namen nie gehört haben. Dabei gäbe es die Veranstaltung, die sie so sehr lieben, ohne Marcel Bezençon nicht. Der Schweizer, 1907 im französischsprachigen Kanton Waadt geboren und 1981 gestorben, war Anfang der fünfziger Jahre Generaldirektor der Schweizerischen Rundfunkanstalt und ab 1954 Vorsitzender der Programmkommission in der neuen Europäischen Rundfunkunion. Er gilt als der Erfinder des Eurovision Song Contest.

Wie kam es dazu? Angesichts der anhaltenden Debatte um eine internationale Organisation von Rundfunk-Anstalten nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich Vertreter von 23 Rundfunkanstalten aus Westeuropa und dem Mittelmeerraum im Februar 1950 im englischen Seebad Torquay getroffen und dort die Gründung der European Broadcasting Union (EBU) beschlossen. Damit reagierte man auf die 1946 in Osteuropa unter sowjetischer Führung gebildete Organisation Internationale de Radiodiffusion et de Télévision, kurz OIRT.

Die Idee hinter der OIRT wie der EBU war, über das mit dem Namen Intervision bzw. Eurovision versehene Netzwerk Inhalte, insbesondere Nachrichtenfilme, auszutauschen und zugleich die noch junge Fernsehtechnik voranzutreiben und zu standardisieren. Die Existenz der Verbünde war also zunächst einmal eine rein technische. Als erste Liveübertragung bot die EBU am 2. Juni 1953 die Krönung der britischen Königin Elisabeth II. an, das Narzissenfestival im schweizerischen Montreux am 6. Juni 1954 war die erste offizielle Eurovisionssendung. Auch die Übertragung der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 war eine frühe TV-Zusammenarbeit, die Maßstäbe setzte. Der Anfang war gemacht, und in der EBU-Zentrale kam die Idee auf, gemeinsam ganze europaweite Eurovisionssendungen zu produzieren.

Daraus wurde, wenn man heute auf über 60 Jahre EBU-Geschichte zurückblickt, nur wenig: Neben dem Eurovision Song Contest gab es als langjähriges Unterhaltungsprojekt nur die Open-Air-Show Spiel ohne Grenzen, die zwischen 1965 und 1982 sowie zwischen 1988 und 1999 in den Sommermonaten als internationale Spielshow lief. Nur kurze Lebensdauer hatte der Eurovision Dance Contest, der 2008 nach zwei Ausgaben wieder eingestellt wurde. Seit 2003 existiert als Ableger des ESC der Junior Eurovision Song Contest für Teilnehmer unter 16 Jahren. Daneben gibt es alle zwei Jahre die Wettbewerbe Eurovision Young Musicians (seit 1982) und Eurovision Young Dancers (seit 1985). Doch keiner der EBU-Wettbewerbe hat eine so große Bekanntheit erlangt wie der Eurovision Song Contest.

Nach Narzissenfestival und Fußball-WM kam also die Frage auf: Was würde sich noch für eine gemeinsame abendfüllende Sendung im Netzwerk eignen, die das junge Medium Fernsehen populär machen könnte? Und womit könnte man zugleich weiter technische Erfahrungen im TV-Bereich sammeln? Hier kam eine Veranstaltung ins Spiel, die das italienische EBU-Mitglied RAI ein paar Jahre zuvor ins Leben gerufen hatte: das einmal jährlich abgehaltene Festival della canzone italiana, das Festival des italienischen Liedes. Es fand Ende Januar 1951 erstmals statt, in Sanremo an der ligurischen Küste. Dort traten Künstler mit neuen Liedern gegeneinander an, begleitet von einem Liveorchester, und am Ende des mehrtägigen Festivals wurde von Jurys im Saal das Siegerlied gekürt, inklusive Abstimmung und Siegerehrung. Die RAI übertrug die ersten Ausgaben des Sanremo-Festivals im Radio; Ende Januar 1955 war das Festival zum ersten Mal auch im Fernsehen zu sehen.

Die Idee war bestechend. Eine Sendung, bei der live gesungen würde, könnte die Zuschauer in ganz Europa gut unterhalten – dass das Konzept aufging, bewies ja schon das große Interesse in Italien am Sanremo-Festival. Marcel Bezençon schlug also Anfang 1955 auf einem EBU-Treffen vor, einen ähnlichen Wettbewerb auszurichten. Eine Arbeitsgruppe entwickelte ein Konzept, und so entstand ein »European Song Contest«, den die EBU auf einem Treffen am 19. Oktober 1955 feierlich beschloss, mit dem Ziel, »hochwertige Eigenkompositionen auf dem Gebiet der populären Musik« zu fördern. Dass ein solches länderübergreifendes Event zugleich das gemeinsame Erbe und die kulturelle Identität Westeuropas – gerade auch gegen die wachsende musikalische Hegemonie Amerikas – betonen würde, hatten die Herren der EBU ebenfalls im Hinterkopf.

Geboren war an jenem Oktobertag 1955 die heute langlebigste internationale Fernsehshow und eine der größten TV-Unterhaltungsproduktionen der Welt. Als Austragungsort wurde Lugano im Schweizer Kanton Tessin bestimmt, als Termin der 24. Mai 1956. Zur Teilnahme berechtigt sollten alle ordentlichen Mitglieder der EBU sein, also die jeweiligen nationalen Sender; sie würden im Wettbewerb ihr jeweiliges Land repräsentieren. Die Sendung würde live in allen beteiligten Ländern ausgestrahlt: im Radio, das damals noch das Hauptmedium war, und – für wenige, die bereits ein TV-Gerät besaßen – im Fernsehen. 1955 sollen gerade einmal fünf Prozent der europäischen Haushalte einen Fernseher besessen haben, doch die Zahl sollte zügig steigen.

Bis zum Ende der Bewerbungsfrist meldeten sich allerdings nur sieben Länder an: Belgien, Frankreich, Luxemburg, Italien, die Niederlande, die Schweiz und Westdeutschland. Angeblich verpassten die BBC in London, der Österreichische Rundfunk und die Dänische Rundfunkanstalt den Termin. Diese drei stießen darum erst zum zweiten Grand Prix 1957 hinzu. Somit erlebte der Wettbewerb bei seinem Debüt die seither geringste Zahl an Teilnehmerländern. Doch der Grand Prix sollte sich in den Jahren danach noch kräftig mausern.

Klar war von Beginn an: Juroren sollten als Vertreter ihres jeweiligen Landes die Beiträge bewerten. Doch das heute bekannte Wertungssystem – jedes Land bepunktet seine zehn Favoriten mit 1 bis 8 sowie 10 und 12 Punkten, das eigene Lied darf nicht bewertet werden – existierte noch lange nicht. Die EBU experimentierte über viele Jahre mit verschiedenen Systemen, ehe das bis heute gebrauchte zum ersten Mal 1975 angewendet wurde. Auch einen festen Namen hatte die Veranstaltung lange nicht. Erst seit den Neunzigern trägt das Event offiziell die englische Bezeichnung »Eurovision Song Contest«. Als »Grand Prix« wurde über viele Jahre die Trophäe bezeichnet, die die Komponisten des Siegerbeitrags erhielten.

Was es aber von Beginn an gab, war die berühmte Eurovisionsfanfare, mit der bis heute jede Liveübertragung des Eurovision Song Contest beginnt: Schon 1954 hatte die EBU entschieden, einige Takte aus dem Präludium des Te Deum in D-Dur von Marc-Antoine Charpentier (1643–1704) als Erkennungsmelodie zu verwenden. Zu hören ist sie auch bei anderen Sendungen, die im Rahmen des Eurovisions-Programmaustauschs stattfinden. Doch mit keiner ist die kurze Melodie so sehr verbunden wie mit dem ESC.

Natürlich ist der Wettbewerb längst ein inszeniertes Medienereignis geworden, wie ihn Irving Wolther, der ESC-Experte des NDR, in seiner Doktorarbeit über den ESC beschreibt. Eines, das ins kollektive Gedächtnis eingegangen ist, mitsamt seinen standardisierten Bestandteilen. Das beginnt im Kleinen (natürlich muss vor jedem Beitrag ein kurzer Einspielfilm laufen) und endet beim Grundsätzlichen: Ein ESC im Herbst? Undenkbar! Auch wer sich kaum für den Contest interessiert, weiß, dass dieser alljährlich irgendwann im Frühjahr wiederkehrt. Und weil das nun schon seit 60 Jahren passiert, haben mittlerweile mehrere Generationen Erinnerungen an ihn.

Und Marcel Bezençon? Der ist in der EBU natürlich nicht vergessen. In Gedenken an den Erfinder des ESC wird seit 2002 jedes Jahr – leider nur am Rande des Eurovision Song Contest und nicht als Teil der TV-Show – der Marcel-Bezençon-Preis verliehen, seit 2004 in drei Kategorien. Die akkreditierten Journalisten vor Ort wählen das beste Lied des Jahrgangs (Presse-Preis), die Kommentatoren küren den besten Interpreten (Künstler-Preis), und eine Komponisten-Jury zeichnet die beste, originellste Komposition aus. Interessanterweise erhalten selten die tatsächlichen ESC-Gewinner auch eine Bezençon-Trophäe, insbesondere die der Komponisten ging im Zeitraum 2004 bis 2015 nur ein einziges Mal an den Siegertitel. Wirklich eindeutig ist die Wahl des besten Beitrags also selten. Und die Spannung, wer am Ende das Rennen macht, ist schließlich eines der wichtigsten Ingredienzen des Wettbewerbs. Ohne die Abstimmung wäre der Abend nur eine fade Varieté-Show. Marcel Bezençon hatte den richtigen Riecher.

Ein Fernsehereignis hat Premiere

Refrain (Schweiz 1956, 1. Platz)

Es schien perfekt in die Zeit zu passen. 1955 hatte Bill Haley mit Shake, Rattle and Roll und Rock Around the Clock Welthits gelandet, und nun trat am 24. Mai 1956 der damals 24-jährige Freddy Quinn mit einem Rock ’n’ Roll-Lied, So geht das jede Nacht, beim allerersten Eurovision Song Contest an. Dabei hatte er nur wenige Monate zuvor die Schnulze Heimweh aufgenommen, die etwa zeitgleich zum ersten Grand Prix erschien. Sie wurde kurz danach sein erster Nummer-eins-Hit in Deutschland und prägte sein Image als Sänger von Seemannsschlagern (Die Gitarre und das Meer, Junge komm bald wieder).

Doch so sehr sein Rock ’n’ Roll-Lied an jenem Abend in Lugano aus dem Meer der gleichförmig behäbigen Chansons auch herausstach: Es konnte nicht gewinnen. Dazu war der Titel den Juroren allzu modern und allzu amerikanisch. Bill Haley kam eben aus den USA, und der ESC war bewusst auch als europäisches Gegengewicht zur angloamerikanischen Musik ins Leben gerufen worden. Rock ’n’ Roll war zudem ein Musikstil für die Jugend, abgelehnt von der älteren Zuschauerschaft, auf welche die Unterhaltungssendung aus Lugano zielte. Und dann sang Freddy auch noch öffentlich über ein junges Mädchen, das jede Nacht mit einem anderen ausgeht. 1956 geradezu skandalös! So erlebte Freddy Quinn, was andere ESC-Teilnehmer im Lauf der Jahrzehnte auch noch schmerzhaft lernen sollten: Ein Lied, das der aktuellen Popmusikmode völlig entspricht, hat beim ESC oft wenig Siegchancen – aber ein paar Jahre später ist auch der Wettbewerb häufig bereit dazu: Der ESC hinkte vielfach einige Jährchen hinterher.

So war es auch 1956 mit der deutschen Rock-’n’-Roll-Nummer. Wie gut, dass die junge Bundesrepublik ein zweites Eisen im Feuer hatte, wie die anderen sechs Nationen, die sich zum ersten ESC zusammenfanden. Der Grund dafür lag wohl daran, dass man mit nur sieben Liedern kein abendfüllendes Programm zusammenbekommen hätte – wobei auch so der erste ESC nur 1 Stunde und 40 Minuten dauerte. Die zwei Beiträge pro Land blieben ein Unikum der ESC-Geschichte. Der zweite deutsche Beitrag war das krasse Gegenteil zu Freddys flottem Stück: Der vorher wie nachher wenig bekannte Sänger Walter Andreas Schwarz trug Im Wartesaal zum großen Glück vor, eine Art melancholischer Bänkelgesang darüber, dass man nicht aufs »große Glück« warten soll, während das Leben an einem vorbeizieht. Auch das kein Erfolg. Vielleicht auch nicht überraschend. Elf Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Wunden noch frisch, man ließ die Deutschen mitmachen – aber gewinnen mussten sie ja nicht auch noch!

Das übernahm dafür der Gastgeber: Im Teatro Kursaal zu Lugano triumphierte die Rapperswilerin Lys Assia, die Anfang der fünfziger Jahre mit O mein Papa bekannt geworden war. Ihr Siegerbeitrag Refrain entsprach in Idealform dem betulichen Chanson, das die ESC-Bühne in den ersten Jahren bestimmen sollte. Wer Refrain und den Siegertitel des Nachfolgejahres, Net als toen, hintereinander hört, wird außer der Sprache kaum einen Unterschied feststellen. Der europäische Liederwettstreit war eine ernsthafte Veranstaltung, mit Smoking- und Abendkleidpflicht; Tanzeinlagen und Show auf der Bühne waren verpönt und hätten angesichts der Standmikrofone ohnehin nicht funktioniert. Wer mit den Sehgewohnheiten des Jahres 2016 einen der frühen ESCs anschaut, muss schon aufpassen, nicht aus Versehen einzunicken.

Allerdings: Der erste ESC lässt sich heute nicht mehr anschauen. Eine Filmaufnahme dieses besonderen Abends scheint nicht zu existieren – nicht das Einzige, was fehlt. Auch die Punkteverteilung ist nicht überliefert. Wer sich hinter Lys Assia einsortierte, ist bis heute ein Geheimnis. Angeblich belegte Deutschland die Plätze 4 und 11. Nur so viel ist klar: Am Ende des Abends erhielt Assia ein Blumenbukett und durfte ihr Siegerlied noch einmal vortragen – eine Tradition, die bis heute existiert.

Andere längst etablierte ESC-Traditionen hatten 1956 hingegen noch nicht Bestand. So war jener 24. Mai ein Donnerstag; die seit Jahrzehnten feste Regel, dass der Eurovision Song Contest an einem Samstagabend über die Bildschirme Europas flimmert, gab es anfangs noch nicht. In den Folgejahren fielen Wettbewerbe auf einen Sonntag (1957), Mittwoch (1958, 1959) und Freitag (1960), ehe sich 1961 der Samstag zu etablieren begann. Der letzte ESC, der nicht am heute üblichen Wochentag ausgerichtet wurde, fand 1962 statt.

Auch eine andere eiserne Regel, die seit Jahren niemand brechen darf, galt zunächst nicht – beziehungsweise wurde von der ausrichtenden EBU nicht streng geprüft: die zur Dauer der Lieder. Heute heißt es: Der Künstler, die Künstlerin hat bis zu drei Minuten, um bleibenden Eindruck zu hinterlassen. In den Anfangsjahren des ESC sollte das Lied zwischen drei und dreieinhalb Minuten Länge haben. Doch damals waren viele Beiträge auch um einiges kürzer (die Britin Patricia Bredin hielt seit 1957 mit ihrem Beitrag All für viele Jahre den Rekord des kürzesten ESC-Songs mit gerade mal 112 Sekunden – erst 2015 wurde dies von den finnischen Punkrockern Pertti Kurikan Nimipäivät unterboten). Die weich formulierte Regel scherte auch den Italiener Nunzio Gallo wenig: Er stand 1957 mehr als fünf Minuten auf der Bühne, wobei der ihn begleitende Gitarrist die Zeit vor allem für ein ausgiebiges Intro nutzte. Die Länge half dennoch nichts: das dramatische Corde della mia chitarra (Saiten meiner Gitarre) wurde bei zehn Beiträgen Sechster.

Die erste von vielen Siegerinnen des ESC: Lys Assia, 1956

© Ullsteinbild

Die Auswahl der Lieder und Interpreten blieb den nationalen Sendern überlassen, Gruppen waren jedoch nicht erlaubt. Zum ersten ESC nach Lugano reisten nur Solisten. Was von Beginn an galt und auch heute noch Kern des Wettbewerbs ist: Alle Künstler müssen live singen, und auch ein Orchester gab es von Beginn an. Eine Sprachenregel war anfangs nicht definiert worden. Es herrschte unausgesprochen Einigkeit darüber, dass man selbstverständlich in der Landessprache vorträgt. Erst später sollte die ausrichtende EBU eingreifen: Nach dem Wettbewerb 1965, wo Schweden überraschend seinen Bariton Ingvar Wixell auf Englisch hatte singen lassen, legte man fest, dass in einer der offiziellen Amtssprachen des eigenen Landes zu singen sei. Eine Regel, die später auch kurzzeitig wieder aufgehoben wurde, ehe sie 1999 dauerhaft gekippt wurde.

Überliefert ist für 1956 außerdem, dass jedes der sieben Länder zwei Juroren hatte, die geheim abstimmten und nach einem nicht weiter bekannten Schema Punkte vergaben. Auffällig war aber, dass Luxemburg auf die Entsendung eigener Juroren verzichtet hatte und dafür zwei Schweizer beauftragte. Könnte darin eine Erklärung für den Sieg der Schweizerin Lys Assia liegen? Die Frage wird offen bleiben. Erst 1957 fand die Punkteverkündung öffentlich statt, als Moderatorin Anaid Iplicjian – unterstützt von »meiner Assistentin, Frau Damm« – am Telefonhörer die Juryvoten entgegennahm.

Die Bühne war im Debütjahr einfach gehalten. Die Künstler agierten vor einem Vorhang hinter einer schön drapierten Blumendekoration. Die Schlichtheit verwundert kaum: Der ESC dürfte 1956 in erster Linie ein Radioereignis gewesen sein. Damals war ein Fernseher für viele noch zu teuer, nur wenige Haushalte besaßen einen. Für 1955 sind rund 100000 angemeldete Fernsehteilnehmer in der Bundesrepublik überliefert. Das Gerät war noch Luxus und gemeinsames Fernsehen in Gaststätten, wo ein solcher Apparat stand, damals üblich, etwa 1954 bei der Fußball-Weltmeisterschaft. Das TV-Ereignis von heute war der Gran Premio aus Lugano jedenfalls nicht.

Das sollte sich in den Jahren darauf langsam ändern, als die Verbreitung der Empfangsgeräte schnell zunahm. 1958 nannte der niederländische ESC-Kommentator bereits eine geschätzte Zahl von 25 Millionen Zuschauern für ganz Europa. Das schlug sich im Erscheinungsbild des Wettbewerbs nieder: Schon 1957 baute der ausrichtende Hessische Rundfunk eine Showtreppe auf; 1959 standen in Cannes bereits drei kleine Drehbühnen, sodass alle elf Interpreten jeweils vor einer anderen Fotoleinwand standen, die je ein landestypisches Motiv zeigte.

Der Look sollte im Lauf der Jahrzehnte immer wichtiger werden – bis hin zu einem geradezu als Musikvideo inszenierten Siegerbeitrag 2015. Der einmal mehr die mittlerweile häufig gestellte Frage aufwarf: Ist das überhaupt noch ein Song Contest – oder nur noch ein Show Contest? Eine Frage, die es noch zu beantworten gilt.

Vom Grand Prix an die Spitze der Charts

Nel blu dipinto di blu (Italien 1958, 3. Platz)

So hatte sich die European Broadcasting Union das vorgestellt: Ganz Europa – oder zumindest, bis Anfang der neunziger Jahre, das Europa westlich des Eisernen Vorhangs – versammelt sich an einem Abend im Jahr, kürt das beste europäische Lied, und dieses wird in den Wochen darauf in allen Ländern ein großer Hit. Schließlich hatte man als Losung ausgegeben, der Wettbewerb möge qualitativ hochwertíge Unterhaltungslieder hervorbringen, die auch kommerziell erfolgreich sein könnten.

Die Realität sah anders aus. Weder der Debüt-Sieger Refrain noch der Nachfolger Net als toen wurden Erfolge. Ein Grund dafür ist sicher, dass das Fernsehen in den Anfangsjahren des Wettbewerbs noch kein Massenmedium war und ein Großteil der Öffentlichkeit vom Song Contest gar nichts mitbekam. Außerdem war natürlich nicht ausgemacht, dass die Jurys, die stellvertretend für ihr jeweiliges Land abstimmten, stets auch wirklich den breiten Geschmack des Publikums treffen würden. Die Juroren waren nicht immer am Puls der Zeit.

Dennoch gelang es dem Grand Prix frühzeitig, Hits zu generieren, selbst wenn das betreffende Lied am Abend der Abende gar nicht gewann. Der erste, der den Sieger in den Schatten stellte, war Domenico Modugno – und wem der oben als Überschrift zitierte Titel Nel blu dipinto di blu nichts sagt, wird ihn mit Sicherheit als Volare kennen. Modugno sang am 12. März 1958 in Hilversum einen heutigen ESC-Klassiker, der seither häufig gecovert wurde. Viele verbinden das Lied auch richtigerweise mit dem Song Contest, vermuten aber, es habe damals den Sieg davongetragen. Wer erinnert sich hingegen noch an Dors, mon amour? Das Chanson von André Claveau war nur im Gewinnerland Frankreich beliebt, dabei hatte es am Grand-Prix-Abend doppelt so viele Punkte erhalten wie Nel blu dipinto di blu.

Modugno, der das Lied selbst geschrieben hatte, trug den poetischen Text über die Liebe, die einen fliegen lässt, mit Inbrunst vor; passend zum Refrain »volare oh … oh« (»fliegen«) riss der Italiener in seiner weißen Anzugjacke die Arme temperamentvoll nach oben und schloss zwischendurch träumerisch die Augen. Großes Kino, das im Saal besser ankam als bei den Juroren.

Der dritte Platz verhinderte dennoch nicht den Siegeszug um die Welt – ein Hit war das Lied in Italien ohnehin schon. Nach dem Grand Prix erreichte das Lied auch die Top 10 der britischen und niederländischen Charts sowie Platz 2 in Norwegen, das noch gar nicht am Grand Prix teilnahm. In Deutschland wurde die Komposition mit deutschem Text ein Erfolg. Selbst die USA eroberte Nel blu dipinto di blu: Der Song stand im Sommer 1958 insgesamt fünf Wochen an der Spitze der Billboard Hot 100. Schließlich erhielt Modugno bei der allerersten Verleihung der Grammy Awards am 4. Mai 1959 gleich zwei Auszeichnungen.

Zu jenem Zeitpunkt hatte er schon wieder für Italien beim Grand Prix gesungen: Domenico Modugno hatte sich selbst kopiert, mit Piove erneut das Festival in Sanremo gewonnen und war am 11. März beim Grand Prix Eurovision in Cannes wieder gescheitert: sechster Platz. Ein kleiner Hit wurde auch Piove wieder. In den US-Charts schaffte die dramatische Ballade zwar nurmehr Platz 97, aber in Europa verkaufte sich der Titel gut: Platz 1 in den Charts von Italien und Belgien, Platz 12 in Deutschland, Platz 14 in Frankreich. Und ähnlich wie Nel blu dipinto di blu, das man heute nur noch als Volare kennt, ist auch Piove längst unter anderem Namen berühmt: Ciao ciao bambina.

So hatte der Grand Prix schon in den Anfangsjahren erste Hits abgeliefert und damit den Boden für seine weitere Existenzberechtigung bereitet. Dass aber die Juroren daneben gegriffen hatten, sorgte innerhalb der EBU für ein wenig Frust. Prompt änderte man für 1959 die Wertungsregel: Die TV-Stationen mussten nun Laien in die Jurys entsenden, keine Experten. Damit sollte der Musikgeschmack des Publikums besser getroffen werden. Was allerdings nicht half: Auch der nächste Siegertitel war außerhalb seines Landes kein Verkaufsschlager. Stattdessen verbuchte eben Domenico Modugno seinen zweiten internationalen Erfolg.

Natürlich gebar der europäische Liederwettbewerb immer wieder Hits, und oft waren das die Siegerbeiträge, beispielsweise Puppet on a String, Waterloo, Hallelujah und Euphoria, um ein Lied aus jüngerer Zeit zu nennen. Doch häufig ließen die Jurys spätere kommerzielle Erfolge links liegen. Diese landeten natürlich auch nicht ganz weit hinten – aber sie siegten eben nicht.

So erging es ein paar Jahre nach Modugno auch dem jungen Udo Jürgens, ehe er 1966 schließlich doch noch den Grand Prix für Österreich gewann; Merci Chérie war Jürgens’ dritter Versuch beim Wettbewerb. Als er 1964 zum ersten Einsatz für den ORF kam, hatte er schon erste Spuren in der Musikwelt hinterlassen: Er hatte 1960 im belgischen Knokke einen Festivalpreis erhalten und für Shirley Bassey den Hit Reach for the Stars geschrieben. Nach Knokke begann aber keine große Karriere, sodass Jürgens nicht zu den Favoriten zählte, als er im März 1964 zum ESC nach Kopenhagen fuhr. Seine melancholische Eigenkomposition Warum nur, warum? erhielt nur Punkte aus Italien, Belgien und Spanien, wurde anschließend aber ein Hit. Vor allem in der englischen Version Walk Away, gesungen vom Briten Matt Monro, der 1963 mit dem Titellied zum James-Bond-Film Liebesgrüße aus Moskau (From Russia with Love) auf sich aufmerksam gemacht hatte. Walk Away erreichte Platz 4 in Großbritannien und Platz 23 in den USA. Der Eurovision Song Contest hatte erneut einen internationalen Hit hervorgebracht.

Cliff Richard beim Eurovision Song Contest 1968

© Getty Images

1973 wurde das zweitplatzierte Eres tú aus Spanien zum Welthit, der es in die Top 10 der US-Charts sowie in die oberen Hitparadenränge lateinamerikanischer Länder schaffte. Bis heute gilt Eres tú als vielfach aufgenommener Klassiker, ein Erfolg, der dem Siegertitel Tu te reconnaîtras nicht beschieden war. Ähnlich lässt sich die Hitabfolge für 1968 beschreiben. Der Siegertitel jenes Jahres, La la la der Spanierin Massiel, ist heute vergessen. Congratulations hingegen – mit nur einem Punkt Abstand auf Platz 2 gelandet – wird noch immer gern gespielt, und wie bei Volare gehen viele irrtümlich davon aus, Cliff Richard habe damit den Wettbewerb gewonnen. Massiels Erfolg beschränkte sich auf einen Abend; der ohnehin schon berühmte Cliff Richard indes wurde zum berühmtesten Zweitplatzierten in der ESC-Geschichte und hatte einen Hit, der längst zum Evergreen avancierte. Anders übrigens als sein zweiter Versuch: Power to All Our Friends (1973, Platz 3 hinter dem bereits erwähnten Eres tú) war danach zwar europaweit in den Top 10, geriet seither aber in Vergessenheit.

Weitere kommerziell erfolgreiche Nichtsieger waren der Luxemburger Beitrag L’amour est bleu (1967, Platz 4) mit der blutjungen Vicky Leandros – neben der Originalversion war insbesondere die Instrumentalfassung des Orchesters Paul Mauriat gefragt, sie stand Anfang 1968 fünf Wochen an der Spitze der US-Billboard-Charts – und 1972 der zweitplatzierte Titel Beg, Steal or Borrow der New Seekers.

Was für einzelne Titel gilt, lässt sich über ESC-Interpreten dagegen kaum sagen. Ohne Sieg waren die meisten schon wenige Tage später wieder vergessen, vom jeweiligen nationalen Markt abgesehen. Eine Ausnahme ist Julio Iglesias. Der Spanier, einst Fußballjungstar bei Real Madrid und nach einem schweren Unfall mit 19 Jahren zur Musik gekommen, war sich 1970 sicher, den Wettbewerb mit seiner Ballade Gwendolyne für sich zu entscheiden. Aller Siegesgewissheit zum Trotz: In Amsterdam reichte es nur für Platz vier (von zwölf) – im Punkteranking war der 27-Jährige weit weg vom Siegertitel All Kinds of Everything der Irin Dana. Der wurde zwar auch ein Hit, noch größer war allerdings nach dem ESC die Karriere des jungen Spaniers: Schon Gwendolyne eroberte die Charts in Südamerika (und natürlich auch in Spanien), und anschließend hatte er in zahlreichen europäischen Ländern Erfolg mit Un canto a Galicia. Das war nur der Beginn eines jahrzehntelangen erfolgreichen Berufslebens mit mehr als 300 Millionen verkauften Tonträgern und 2600 Gold- und Platin-Auszeichnungen.

Julio Iglesias blieb einer der wenigen, die ohne ESC-Sieg den Sprung aus dem Wettbewerb auf die großen Bühnen schafften. In den sechziger Jahren konnte immerhin die israelische Sängerin Esther Ofarim eine Karriere in Europa starten, nachdem sie 1963 für die Schweiz den zweiten Platz belegt hatte. Richtig berühmt wurden sie und ihr Mann Abi als Duo aber erst 1967 mit dem englischen Titel Morning of My Life und der weiteren Single Cinderella Rockefella. Auch für die Gruppe Ricchi e Poveri kamen Hits wie Made in Italy und Mamma Maria erst mit der Italodisco-Welle ab 1982, einige Jahre nachdem sie Italien beim ESC1978 mit geringem Erfolg vertreten hatten. Bei dem großen Sommerhit des Jahres 1988, Im nin’ alu der Israelin Ofra Haza (Platz 1 in Deutschland), lässt sich ebenfalls schwerlich eine Verbindung zu ihrem zweiten Platz beim ESC1983 ziehen.

Und die Sieger? Auch da blieb der Eurovision Song Contest selten Geburtshelfer für eine Karriere. Über ABBA muss natürlich gesprochen werden, der größte schwedische Musikexport ist uns ein eigenes Kapitel wert. Klar, die Frankokanadierin Céline Dion ist heute weltweit ein Star. In französischsprachigen Ländern hatte sie schon vor 1988 auf sich aufmerksam gemacht, doch den meisten ESC-Zuschauern war sie unbekannt, als sie am 30. April 1988 für die Schweiz auf die Bühne der Royal Dublin Society kam. Ihr Ne partez pas sans moi siegte mit hauchdünnem Vorsprung. Erfolg außerhalb der frankophonen Welt hatte sie erst, als sie ins Englische wechselte: Ihr Song Where Does My Heart Beat Now, den sie beim Grand Prix 1989 als Premiere präsentierte, wurde ein Top-10-Erfolg in Nordamerika und ein kleiner Hit in Europa. Der ganz große Durchbruch kam jedoch erst 1994 mit The Power of Love.

Die meisten Grand-Prix-Sieger blieben One-Hit-Wonder. Viele wurden zwar in ihrer Heimat (und natürlich in ESC-Fankreisen) auch danach noch bejubelt – etwa die Schwedin Carola und das norwegische Duo Bobbysocks. Doch selbst wirklich groß gefeierte Gewinner wie die Israelin Dana International und das dänische Brüderpaar Olsen konnten an ihren jeweiligen ESC-Hit Diva und Fly On the Wings of Love nicht anknüpfen. Selbst Johnny Logan gelang es zwei Mal nicht: Sein Siegertitel von 1980, What’s Another Year, war europaweit erfolgreich, die Nachfolgesingle blieb liegen. Und auch nach seinem Hit Hold Me Now, Sieger beim ESC1987, interessierte sich kaum jemand für weitere Plattenveröffentlichungen.

Gleichwohl zog der ESC immer wieder auch bereits bekannte Sängerinnen und Sänger an. Gerade die BBC sah sich als Vertreterin des Mutterlandes des Pop und entsandte des Öfteren Künstler, die sich schon einen Namen gemacht hatten. Die große Zeit der BBC-Stars war in den späten Sechzigern, als man nach Cliff Richard auch noch Lulu und 1970 Mary Hopkin aufbot. Alle drei hatten davor bereits große Hits gehabt und waren auch beim ESC erfolgreich (Lulu gewann 1969