Evolutionstheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften - Manuela Lenzen - E-Book

Evolutionstheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften E-Book

Manuela Lenzen

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Beschreibung

Die Evolutionstheorie ist nicht nur ein zentrales Konzept der Biologie, sie hat das moderne Weltbild und das Selbstverständnis des Menschen geprägt. Sie war und ist jedoch auch Gegenstand heftiger Kontroversen in den Kultur- und Sozialwissenschaften, vor allem hinsichtlich der Vererbung und der kognitiven und emotionalen Ausstattung des Menschen. Manuela Lenzen macht mit den grundlegenden Mechanismen der Evolution, den Methoden ihrer Erforschung und der wechselvollen Geschichte und Rezeption der Evolutionstheorie in Wissenschaft und Gesellschaft vertraut.

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Lenzen, Manuela

Evolutionstheorien in den Natur- und Sozialwissenschaften

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Copyright © 2003. Campus Verlag GmbH

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E-Book ISBN: 978-3-593-40050-1

|9|Einleitung

Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind derzeit etwa 1,5 Millionen Tier- und 500000 Pflanzenarten bekannt. Diese Zahl ist schon beeindruckend genug, stellt aber vermutlich weniger als 10 Prozent derjenigen Arten dar, die es seit der Entstehung des Lebens auf der Erde gegeben hat. Manche der heutigen Arten, die so genannten lebenden Fossilien, gibt es schon sehr lange. Die Pfeilschwanzkrebse, die sich in den seichten Gewässern vor der nordamerikanischen Atlantikküste tummeln, sehen noch genauso aus wie die Fossilien, die man in den 400 Millionen Jahre alten Gesteinsschichten des Hunsrückschiefers findet. Zu den meisten heute lebenden Arten gibt es allerdings keine fossilen Entsprechungen. Sie sind jüngeren Ursprungs. Woher sie kamen, war lange ein Rätsel. Gott hat die Arten erschaffen, lautete bis ins 19. Jahrhundert die gängige Antwort, und zwar genau so, wie sie sind, unveränderlich.

Die Konstanz der Arten ist auf den ersten Blick keine absurde Annahme: Aus jeder Eichel wächst eine Eiche, jede Hündin wirft Hundewelpen. Sicher, die Individuen unterscheiden sich ein wenig voneinander, und Züchter wissen diese Variation seit Menschengedenken für ihre Zwecke zu nutzen. Dennoch ist auch ein Hochleistungsrind noch immer ein Rind und der winzigste Pinscher noch immer ein Hund. Aber es gibt zahlreiche |10|Beobachtungen, die durch die Annahme konstanter Arten nicht erklärt werden können.

Betrachtet man den Körperbau der Organismen, stellt man bei manchen von ihnen erstaunliche Übereinstimmungen fest: So sind die Vordergliedmaßen der Wirbeltiere trotz ihres unterschiedlichen Aussehens etwa bei Menschen, Pferden, Fledermäusen und Flugsauriern stets aus einem Oberarmknochen, zwei Unterarmknochen, Handwurzel, Mittelhand und Fingern aufgebaut. Bei manchen Tieren findet man rudimentäre und scheinbar überflüssige Organe: Nägel an den Flossen der Walrosse und Seelöwen, Reste des Beckengürtels bei Walen, bei Menschen den Blinddarm, das Steißbein und die Weisheitszähne. Manchmal werden Tiere (und auch Menschen) mit so genannten Atavismen geboren, Organen, die nicht in ihren aktuellen Bauplan gehören, so etwa mehrzehige Vorderbeine bei Pferden oder überzählige Brustdrüsen bei Frauen. Bei Embryonen finden sich Organe angelegt, die beim erwachsenen Tier nicht ausgebildet sind. Manche Tiere kommen zwar in ihrer Umgebung durchaus zurecht, doch wenn man betrachtet, wie etwa das Baumkänguru zum Schlafen mühsam auf schräg stehende Bäume klettert, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ein Schöpfer, der aus dem Nichts ein neues Wesen kreieren wollte, eine bessere Lösung hätte finden können. Was die Natur hervorbringt, ist, so scheint es, bisweilen arges Flickwerk und lediglich daraus zu erklären, dass sie eben nicht jedes Lebewesen an einem leeren Zeichenbrett entwirft, sondern auf dem aufbaut, was schon da ist. Zudem fanden und finden sich immer wieder fossile Überreste ausgestorbener Tier und Pflanzenarten, die sich in Entwicklungsreihen zusammenstellen lassen, darunter Übergangsformen wie der berühmte »Urvogel« Archaeopteryx und der kürzlich in China ausgegrabene gefiederte Flugsaurier Microraptor gui. Auch Mikrobiologie und Chemie liefern Hinweise auf eine gemeinsame Abstammung der Lebewesen: Alle Lebewesen auf der Erde bestehen |11|aus Zellen und sind aus den gleichen chemischen Grundbausteinen zusammengesetzt.

Je mehr dieser Fakten ans Licht kamen, je realistischer die Vorstellung vom tatsächlichen Alter der Erde wurde und je weniger der Verweis auf die göttliche Schöpfung als akzeptable Erklärung hingenommen wurde, desto unbefriedigender war die überkommene Lehre von der Konstanz der Arten. Die Alternative – die Idee, dass Arten wandelbar seien, dass die Lebewesen sich aus gemeinsamen Vorformen entwickelt haben könnten – wurde in der Geistesgeschichte immer wieder thematisiert, besonders seit der Mitte des 18. Jahrhunderts (Kapitel 1). Doch erst Charles Darwin und Alfred Russel Wallace gelang es Mitte des 19. Jahrhunderts, eine überzeugende Erklärung dieses Prozesses zu liefern (Kapitel 2). Sie erkannten Variation und Selektion als die grundlegenden Faktoren, die eine Veränderung von Arten bewirken.

Individuen unterscheiden sich geringfügig voneinander, und diese Unterschiede bringen es mit sich, dass manche mit den Bedingungen ihrer Umwelt besser zurecht kommen als andere. Diese werden somit bessere Chancen haben, das fortpflanzungsfähige Alter zu erreichen und Nachkommen zu hinterlassen. Ist das Merkmal, in dem sich diese Individuen von anderen unterscheiden, erblich, wird es in der nächsten Generation stärker vertreten sein. Sind auch die Nachkommen dieser Individuen in Sachen Fortpflanzung überdurchschnittlich erfolgreich, wird dieses Merkmal sich mehr und mehr in der Population ausbreiten und sie ein klein wenig verändern. Auf lange Zeiträume gesehen kann durch solche Veränderungen einer Population eine neue Art entstehen, deren Mitglieder sich nur noch untereinander verpaaren, nicht aber mit anderen Populationen, die die entsprechenden Veränderungen nicht durchlaufen haben. Der Blick des menschlichen Züchters reicht in der Regel nicht weit genug, um diesen Prozess zu erkennen. Die Unterschiede zwischen Individuen sind meist geringfügig und |12|bewirken über weite Zeiträume fast nichts. Arten entstehen nicht von heute auf morgen. Doch es war laut Darwins und Wallace’ Idee dieser Prozess des Zusammenwirkens von Variation und erfolgreicher Reproduktion, der dazu führte, dass in Jahrmillionen zahllose verschiedene Arten aus einfachsten Anfängen entstanden.

Darwin und Wallace nannten diesen Prozess nicht Evolution. In der Biologie wurde der Evolutionsbegriff seit dem 18. Jahrhundert für die Entwicklung des Individuums von der Keimzelle zum erwachsenen Lebewesen, die Ontogenese, verwendet. Dabei gab es eine Kontroverse zwischen Vertretern der Präformationstheorie, derzufolge in Ei und Sperma die Strukturen des entstehenden Individuums bereits angelegt sind, und den Vertretern der epigenetischen Theorie, derzufolge diese Strukturen bei der Entwicklung des Embryos neu entstehen. Wohl um die Verwechslung mit dieser Kontroverse zu vermeiden, benutzte Darwin den Terminus Evolution in seinem Hauptwerk Die Entstehung der Arten nicht. Er sprach statt dessen von Transmutation, wenn er die Entstehung neuer Arten aus älteren Vorformen meinte. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich der Begriff Evolution im heutigen Sinne für die Stammesgeschichte der Lebewesen durch.

Darwin und sein Mitentdecker Wallace kannten freilich den Mechanismus der Vererbung von Veränderungen noch nicht. Zwar hatte der Benediktinermönch Gregor Mendel schon 1856 die Theorie formuliert, dass es »Einheiten« der Vererbung gebe – später nannte man sie Gene –, die nach bestimmten Regeln an die Tochtergenerationen weitergegeben würden, doch seine Arbeiten blieben bis zur Jahrhundertwende so gut wie unbekannt. Mit ihrer Wiederentdeckung begann die moderne Genetik. Auf ihrer Grundlage begannen Forscher in den 1930er Jahren die Synthetische Theorie der Evolution zu schmieden (Kapitel 3). Sie heißt synthetisch, weil die relevanten Ergebnisse unterschiedlicher Disziplinen in diese Theorie einbezogen |13|wurden, um sie so umfassend und gut begründet wie möglich zu gestalten. Charakteristisch für die Synthetische Evolutionstheorie sind etwa die Unterscheidungen von Genotyp und Phänotyp sowie von Mikro- und Makroevolution und mathematische Methoden der Populationsgenetik, die es erlauben, die Verbreitung, Erhaltung oder das Verschwinden von Merkmalen in einer Population zu berechnen.

Um den derzeitigen Konsens der Evolutionsforscher zu bezeichnen, ist bisweilen von der Erweiterten Synthetischen Theorie die Rede. Diese zeichnet sich vor allem durch die Einbeziehung experimenteller Methoden der Evolutionsforschung und neuer Erkenntnisse und Methoden der Molekularbiologie aus. Die Erweiterte Synthetische Evolutionstheorie ist bislang das letzte einende Paradigma, das formuliert wurde. Es ist von seiner synthetischen Ausrichtung her im Prinzip weit genug, um zahlreiche Veränderungen und neue Erkenntnisse einzubeziehen. Doch gerade wegen dieser konzeptuellen Weite kann man kaum von der einen Evolutionstheorie sprechen, weder in der Biologie noch in den zahlreichen anderen Disziplinen, die den Evolutionsgedanken rezipierten. Die Evolutionsforschung ist vielmehr ein Teilgebiet der Biologie, ein Forschungsprojekt, dessen Annahmen immer wieder infrage gestellt, bestätigt oder modifiziert werden. Seit den 1970er Jahren wurden zahlreiche Ansätze formuliert, die bisweilen auch die Kernannahme der Synthetischen Theorie, die Evolution durch Mutation und Selektion, infrage stellen. Wie andere Wissenschaften auch wird die Evolutionsforschung immer wieder von kleineren oder größeren Revolutionen erschüttert, wenn Forscher etwa behaupten, eine grundsätzlich nicht-darwinistische Art der Evolution gefunden zu haben. Zumeist erweist sich ein großer Teil der nachfolgenden Aufregung als Theaterdonner, ein kleinerer bereichert das Verständnis der Evolution. Insbesondere Erkenntnisse über den komplizierten Zusammenhang zwischen den Genen und den Merkmalen von Individuen machen |14|deutlich, dass eine umfassende Theorie der Mechanismen der Evolution noch lange nicht vorliegt: Die Mechanismen der Vererbung sind ebenso wenig abschließend geklärt wie die Frage nach dem Angriffspunkt der Selektion, die Rolle der Ontogenese oder die Möglichkeit gerichteter statt zufälliger Mutationen.

Doch obwohl längst nicht alle Aspekte der Mechanismen und des Verlaufs der Evolution befriedigend geklärt sind, bezweifelt heute kaum jemand mehr, dass das Leben auf der Erde in einem Prozess der Evolution aus einfachsten Vorformen entstanden ist und sich noch immer weiterentwickelt. Die Evolutionstheorie kann heute als eine der am besten bestätigten wissenschaftlichen Theorien überhaupt gelten. Daher ist die Suche nach Belegen für die Existenz eines Evolutionsprozesses, die einmal eine wichtige Aufgabe der Evolutionsbiologen war, in den Hintergrund getreten. Heute geht es in der Evolutionsforschung zum einen um die Rekonstruktion des Ablaufs der Evolution und zum anderen um die Klärung ihrer Mechanismen. Und weil alle Lebewesen eine evolutionäre Geschichte haben, ist die Evolutionstheorie nicht nur Thema eines biologischen Forschungsbereichs unter vielen, sondern von enormer Bedeutung für die Biologie insgesamt. Mit dem berühmten Satz des Biologen Theodozius Dobzhansky: »Nichts in der Biologie macht Sinn, es sei denn im Lichte der Evolution.« Erst die Evolutionstheorie schmiedete aus Zoologie, Botanik, Paläontologie und anderen Gebieten eine Biologie. Der Philosoph Wolfgang Lefèvre nennt dies den Doppelcharakter der Evolutionstheorie: Sie ist zugleich Teilgebiet und Integrationstheorie der Biologie (Lefèvre 1984).

Die wissenschaftstheoretische Stellung der Evolutionstheorie wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Während die einen betonen, die Evolutionstheorie stehe in ihrer Wissenschaftlichkeit physikalischen Theorien nicht nach, betonen andere, die Biologie sei im Kern eine historische Wissenschaft: Sie liefere |15|keine Voraussagen über den zukünftigen Gang der Evolution, die Rekonstruktion der Evolutionsgeschichte sei auf historische Zeugnisse, sprich Fossilien, angewiesen und könne nicht, wie etwa die vergangenen Positionen von Planeten, aus Gesetzen erschlossen werden. Zudem seien die meisten der evolutionären »Gesetze« nur statistischer Art, die lediglich in geographisch oder zeitlich abgegrenzten Bereichen gelten und zahlreiche Ausnahmen haben. Dies ist in der Tat der Fall. Die Gesetze oder Regeln der Populationsgenetik wie die Mendelschen Gesetze über die Vererbung von Eigenschaften oder das Hardy-Weinberg-Gesetz über die Verteilung von Genen in Populationen, Annahmen über Vermehrungsraten, Evolutionsgeschwindigkeit oder das berühmte biogenetische Grundgesetz sind statistische Gesetze. Das spricht nun allerdings weniger gegen den wissenschaftlichen Charakter der Evolutionsforschung als vielmehr für die Komplexität ihres Gegenstandes. Die Biologie im Allgemeinen und die Evolutionsbiologie im Besonderen sind keine schlechtere Physik, sondern eine Wissenschaft mit eigenem Gegenstandsbereich und Methodenkanon. Zudem kann man in der so genannten experimentellen Evolutionsforschung der Evolution durchaus über die Schulter schauen (Kapitel 3). Die Wissenschaftlichkeit der Evolutionsforschung anzuzweifeln, ist insofern eher eine polemische als eine sachlich berechtigte Übung.

Die biologische Evolutionstheorie gehört zu denjenigen Theorien, die weit über ihre Disziplin hinaus rezipiert werden und unser Welt- und Menschenbild maßgeblich bestimmen. Nachdem das Schockierende des Gedankens, »vom Affen abzustammen«, inzwischen der Gewohnheit gewichen ist, findet die Evolutionstheorie heute fast allgemeine Zustimmung. Was Darwins Zeitgenossen erschreckte, war vor allem die Zufälligkeit und Ungerichtetheit der Evolution. Evolution beinhaltet, auch wenn sie bisweilen so präsentiert wird, keine »Höherentwicklung« und hatte schon gar nicht den Menschen als eine Art |16|»Krone der Schöpfung« zum Ziel, wie im biblischen Schöpfungsbericht. Das Kriterium der Vollkommenheit ist völlig fehl am Platze. Die frühesten Trilobiten waren ebenso gut oder schlecht an ihren Lebensraum angepasst wie heutige Fische, wie eine Maispflanze oder wie der Mensch. Ein einfacher Bauplan sagt nichts darüber aus, wie gut ein Organismus mit seiner Welt zurechtkommt. Das Kriterium der zunehmenden Komplexität ist auf den ersten Blick besser als das der Vollkommenheit, haben sich doch zweifellos vielzellige Wesen aus einzelligen und komplexe Wirbeltiere aus recht einfach gebauten Vorformen entwickelt. Aber auch dieses Kriterium ist nicht immer anwendbar. Eine bessere Anpassung an eine ökologische Nische, einen Lebensraum, kann durch Zunahme der Komplexität, aber auch durch die Reduktion derselben erfolgen, etwa wenn Tiere, die in Höhlen leben, erblinden. Der Mensch ist demnach das Ergebnis zufälliger Variationen, die sich im Laufe von Jahrmillionen zu dem summierten, was wir heute sind.

Die Theorie, zu der Darwin und Wallace den Grundstein legten und an der bis heute gearbeitet wird, ist in erster Linie eine biologische Theorie. Als solche wird sie in den ersten fünf Kapiteln dargestellt. Der Begriff Evolution wurde lange fast ausschließlich in der Biologie verwendet. Das hat sich in den letzten Jahren geändert. Man spricht heute von chemischer, kosmischer oder kultureller Evolution oder von der Evolution wissenschaftlicher Erkenntnis – oder man verwendet den Begriff einfach als Fremdwort für eine kontinuierlich ablaufende Entwicklung im Gegensatz zu einer Revolution, einer gewaltsamen, plötzlichen Veränderung. Die Frage, wie weit die Evolutionstheorie ausgedehnt werden kann, ist eine der interessantesten, die man an dieses Unternehmen richten kann. Dabei fragt sich zum einen, welche Spuren die Evolution beim Menschen hinterlassen hat: nicht nur in seinem Körper, sondern auch in seinem Verhalten, seinem Denken und seinem Handeln, und zum anderen, in welchen anderen Wissenschaften der Evolutionsgedanke |17|mit Gewinn verwendet werden kann. Der ersten Frage widmet sich das fünfte, der folgenden das sechste Kapitel. Schließlich prägt die Evolutionstheorie nicht nur unser Weltbild, sie liefert auch praxisrelevantes Wissen für Zucht und Naturschutz und inspiriert sogar Fertigungstechnik und Robotik, wie im letzten Kapitel dargestellt wird.

|18|Evolutionstheorien vor Darwin

Nicht erst Darwin dachte über Evolution nach. Doch auch wenn sich in den überlieferten Texten der Geistesgeschichte hier und da Stellen finden, die sich im Sinne einer Evolution der Lebewesen deuten lassen, ist die Evolution vor allem ein Thema des 18. und mehr noch des 19. Jahrhunderts. Einen Hinweis auf die durchgängige Verwandtschaft der Lebewesen gaben Formen, die sich nicht eindeutig klassifizieren ließen. Einen anderen die Fossilien, die allerdings erst einmal richtig interpretiert werden wollten. Einer dieser Interpretationsversuche war die Katastrophentheorie Cuviers. Als Gegenentwurf dazu formulierte Lamarck die erste ausführliche Evolutionstheorie.

Bisweilen heißt es, die Evolutionstheorie habe zu Darwins Zeit »in der Luft« gelegen. Darwin selbst hat dies immer mit dem Hinweis auf die heftigen Proteste, mit denen seine Theorie in Fachkreisen wie unter Laien aufgenommen wurde, von sich gewiesen. Unstrittig ist jedoch, dass Darwin weder der Erste noch der Einzige war, der sich über eine mögliche Entwicklungsgeschichte der Lebewesen Gedanken machte. Ein Blick in |19|die Vergangenheit ist hilfreich, um die Fragen und Probleme der frühen Evolutionstheoretiker zu verstehen. Und er zeigt noch etwas anderes: Die Evolutionstheorie lag nicht auf der Hand. Darwin nutzte viele Ergebnisse anderer Forscher, die bereits vorlagen, die aber keineswegs im Rahmen oder zur Stützung einer Evolutionstheorie gedacht waren. Bloße Fakten lassen zahlreiche Interpretationen zu. Die Evolutionstheorie ist die stimmigste und umfassendste, die am besten belegte und beglaubigte Erklärung der bekannten Phänomene. Sie ist aber nicht die einzig mögliche. Und während es uns heute schwer fällt, überhaupt auf Alternativen zu kommen, weil uns die Evolutionstheorie selbstverständlich geworden ist, war dies gerade nicht die Situation Darwins, seiner Zeitgenossen und der Denker vor ihm. Für sie war etwa die natürliche Theologie William Paleys, dem die Vielfalt und Angepasstheit der Lebewesen als Hinweis auf die Weisheit ihres Schöpfers galt, erheblich plausibler und selbstverständlicher. Diese Selbstverständlichkeit zu durchbrechen bedurfte es Zeit, guter Argumente und zahlreicher Belege.

Von den Schöpfungsmythen bis zur Aufklärung

Die Weltentstehungsmythen der Völker befassen sich seit Menschengedenken mit der Frage nach der Herkunft der Welt, der sie bewohnenden Organismen und natürlich des Menschen. Sie versuchen eine Ordnung in der Vielfalt der Erscheinungen zu finden und dem Menschen seinen Platz in dieser zuzuweisen. In manchen, etwa in der christlichen Schöpfungsgeschichte und in der babylonischen Kosmogonie, werden die Dinge der Welt in einer bestimmten Reihenfolge geschaffen: zuerst die unbelebte Welt mit ihren Elementen, dann die Pflanzen, die einfacheren Tiere und schließlich der Mensch. In einigen Mythen erschafft |20|Gott die Arten der Lebewesen Stück um Stück selbst. In anderen stößt er einen Prozess an, in dessen Verlauf eine frühere Stufe jeweils die nächste aus sich entstehen lässt: »Als Anu den Himmel erschaffen, der Himmel die Erde erschaffen, die Erde die Ströme erschaffen, die Ströme die Gräben erschaffen, die Gräben den Sumpf erschaffen, der Sumpf den Wurm erschaffen ...« (Stripf 1989, S. 109). Viele Weltentstehungsmythen künden von einer elementaren Verwandtschaft aller Lebewesen, teilweise schreiben sie ihnen die Fähigkeit zu, sich ineinander zu verwandeln. Evolutionsgedanken im modernen Sinn wird man jedoch vergeblich darin suchen.

Ähnlich verhält es sich mit den Zeugnissen der antiken Denker. Auf der Suche nach evolutionär klingendem Gedankengut wird man schon im ältesten Fragment griechischer Prosa fündig, in dem Traktat Über die Natur des Anaximander. Seiner Weltentstehungslehre zufolge erwachsen aus den Gegensätzen feucht – trocken und warm – kalt unendlich viele Welten, darunter die ursprünglich flüssige Erde. Auf dieser bildeten sich aus dem Feuchten Lebewesen, die mit einer stacheligen Rinde umgeben waren, bevor diese zerriss und andere Formen hervortreten ließ. Der Mensch ist nach Anaximander aus primitiveren Vorfahren, nämlich den Fischen, entstanden. In ihnen hätten sich die Jungen der Menschen entwickelt, bis schließlich Männer und Frauen ans Licht getreten seien.

Von Heraklit sind Sätze überliefert wie »Kämpfen ist Leben« und »Alles ist im Fluss«. Ob man in diese allerdings Ideen von der Entwicklung der Lebewesen auf der Erde hineinlesen muss, ist fraglich. Platon, der Altmeister der griechischen Philosophie, zählt mit seiner Ideenlehre zu den Begründern des statischen Lagers. Die Dinge auf der Erde, so lehrte er, seien lediglich unvollkommene Abbilder ewiger unwandelbarer Ideen. Von diesen so genannten platonischen Ideen zum Konzept einer konstanten Art war es nur ein kleiner Schritt. Platons Schüler und späterer Gegenspieler Aristoteles interessierte sich mehr |21|für die Welt als für die hinter ihr stehenden Ideen und befasste sich mit Anatomie und Physiologie der Meerestiere ebenso wie mit dem Vogelzug und stellte eine erste zoologische Systematik auf. Aristoteles postulierte eine Stufenleiter vom Reich der leblosen Dinge über die Pflanzen zu den Tieren. Die Grenzen zwischen den Reichen seien fließend und kaum zu erkennen. Diese Stufenleitertheorie, die in der mittelalterlichen Naturlehre von großer Bedeutung war, enthielt jedoch keinen Evolutionsgedanken.

Auch die biblische Schöpfungsgeschichte, wie sie in der Genesis dargelegt ist, lässt in dieser Hinsicht keine Zweifel offen: Gott schuf »alle Arten« von Pflanzen und Tieren:

»Das Land lasse junges Grün wachsen, alle Arten von Pflanzen, die Samen tragen, und alle Arten von Bäumen, die Früchte bringen [...]. Gott schuf alle Arten von großen Seetieren und anderen Lebwesen, von denen das Wasser wimmelt, und alle Arten von gefiederten Vögeln. [...] Gott machte alle Arten von Tieren des Feldes, alle Arten von Vieh und alle Arten von Kriechtieren auf dem Erdboden.«

Darauf folgt: »Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich« (Genesis 1,11–1,26).

Sind die Arten einmal geschaffen, gibt es nach mittelalterlicher Auffassung zwei Weisen, wie Lebewesen in die Welt kommen können: Größere Tiere entstehen aus ihresgleichen, kleine können dagegen durch Urzeugung entstehen. Urzeugung bezeichnet die spontane Entstehung von Lebewesen aus unbelebter Materie. Dabei dachten die Menschen des Mittelalters natürlich nicht an die Entstehung einfacher organischer Moleküle in einer »Ursuppe«, wie sie heute diskutiert wird, sondern an die Entstehung kompletter Lebewesen wie etwa Ratten aus Dreck und alten Lumpen, Würmern aus verfaulendem Fleisch oder Fliegen aus vergammelndem Obst. Zudem sind noch bis ins 17. Jahrhundert Darstellungen überliefert, auf denen Gänse auf Bäumen wachsen oder Schafe an einem Stängel aus der Erde |22|(siehe Abbildung 1). Solche Vorstellungen wurden ebenso wie Berichte über sagenhafte Tiere wie Einhörner bisweilen durchaus kritisch betrachtet. Doch viele Autoren von Tierbüchern nahmen Fabelwesen der Vollständigkeit halber in ihre Verzeichnisse auf. So ganz sicher konnte man sich schließlich schwerlich sein, ob ein solches Wesen nicht doch irgendwo existierte. Ein Problem, das sich heutigen Biologen durchaus ähnlich stellt. Noch immer sind unzählige Arten etwa aus der |23|Tiefsee und den Kronen des Regenwaldes unbekannt. Und ob eine Art tatsächlich ausgestorben ist oder sich in schwer zugängliche Regionen zurückgezogen hat, ist, wie die Aufregung um die Entdeckung lebender Quastenflosser gezeigt hat, manchmal schwer zu entscheiden.

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Abbildung 1: Fantastische Darstellung der Entstehung von Lebewesen: Gänse und Fische wachsen auf Bäumen, aus: G. R. Taylor, Das Wissen vom Leben, München und Zürich 1963, S. 10.

|23|Der Gedanke einer Stufenleiter, die von den Mineralien über die Pflanzen, Tiere, Menschen und Engel bis zum Thron des Allmächtigen reicht, bleibt im Mittelalter die gängige Vorstellung von der Ordnung der Natur. Eine solche Stufenleiter ist statisch. Jedes Wesen steht auf der ihm zugewiesenen Sprosse und bleibt dort stehen, es kann die Leiter nicht emporklimmen. Durch diese Leiter ist die Natur harmonisch und wohlgeordnet, und wer dies erkennt, so die mittelalterliche Überzeugung, kann darin einen Abglanz des göttlichen Schöpfungsplans erfassen.

Der Gedanke, dass man die Vielfalt und Schönheit der Natur ebenso wie die Ordnung, die man in ihr zu erkennen glaubte, als einen Hinweis auf die Existenz und die Güte des Schöpfers betrachten könne, durchzieht die christliche Theologie von der Antike bis in die Aufklärungszeit. Schon der Kirchenvater Augustinus empfahl, das Buch der Natur zu studieren, um die Weisheit des Herrn zu erkennen. Und auch das Interesse, das der Heilige Franz von Assisi Pflanzen und Tieren entgegenbrachte, muss wohl in dieser Tradition gesehen werden. Sie waren ihm Zeichen der statischen göttlichen Ordnung. Und dass selbst Wölfe und Bären ihm aufs Wort gehorchten, zeigt vor allem eins: dass der Mensch in der Hierarchie der Lebewesen über den Tieren zu stehen kommt.

Dem studierten Theologen Darwin begegnete diese Physikotheologie genannte Lehre in Form eines berühmten Buches: Natural Theology. Evidence of the Existence and Attributes of Deity Collected from the Appearances of Nature von William Paley. Je wundervoller die Anpassungen der Lebewesen, je komplizierter ihr Bau, so Paley, desto mehr deuten sie auf den |24|intelligenten Schöpfer hin, der sie geschaffen hat. So, wie Menschen Dinge herstellen, habe Gott die Lebewesen geschaffen. Darwin war mit Paleys »natürlicher Theologie« gut vertraut und zunächst auch von ihr überzeugt. Sie machte ihm nach eigenen Angaben so viel Vergnügen, dass er sie zum Examensthema wählte. Auch als er sich später von dieser Lehre abkehrte, blieben ihm die zahlreichen Anpassungsphänomene, die Paley akribisch zusammengetragen hatte, präsent.

William Paley (1743–1805) studierte Theologie in Cambridge, war dort und in Greenwich Dozent, schließlich Pfarrer und ab 1785 Kanzler der Diözese Carlisle. Seine Natürliche Theologie beeinflusste Darwin und eine ganze Reihe weiterer Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts.

In der Epoche der Aufklärung war der Evolutionsgedanke bekannt, doch nicht präzise greifbar. Immanuel Kant reflektierte über die »durchgängig zusammenhangende Verwandtschaft« der Lebewesen und schrieb: