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"Ein eiskalter Thriller und eine brillante Charakterstudie zugleich." James Rollins
Vor siebzehn Jahren wurden Morgan Winters Eltern brutal ermordet. Nun erfährt sie, dass damals der falsche Mann für das Verbrechen verurteilt wurde. Der wahre Mörder ist immer noch auf freiem Fuß. Morgan will Rache nehmen. Doch sie weiß nicht, dass der Killer sie schon lange beobachtet - und wie nahe er ihr bereits ist ...
Ein Psychothriller mit Peter "Monty" Montgomery. Band 1: "Angsttage".
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
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Seitenzahl: 613
Veröffentlichungsjahr: 2018
Vor siebzehn Jahren wurden Morgan Winters Eltern brutal ermordet. Nun erfährt sie, dass damals der falsche Mann für das Verbrechen verurteilt wurde. Der wahre Mörder ist immer noch auf freiem Fuß. Morgan will Rache nehmen. Doch sie weiß nicht, dass der Killer sie schon lange beobachtet – und wie nahe er ihr bereits ist …
Andrea Kane ist eine erfolgreiche US-Autorin, die u. a. psychologische Thriller schreibt. Ihre Bücher wurden bereits in über 20 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie und einem Zwergspitz in New Jersey. Im Internet ist sie unter www.andreakane.com zu finden.
Andrea Kane
EWIG WÄHRT DER ZORN
Aus dem amerikanischen Englisch von Karin Meddekis
beTHRILLED
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Digitale Neuausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2007 by Rainbow Connection Enterprises, Inc.
Published by Arrangement with Rainbow Connection Enterprises, Inc.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Dark room«
Für diese Ausgabe:
Copyright © 2009/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Wolfgang Neuhaus / Jan Wielpütz
Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: pupsy | Krasovski Dmitri | Henrik Larsson
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-5139-2
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Andrea Cirillo mit ihrem einzigartigen Einfühlungsvermögen, ihrer Energie und Integrität – die Unermüdliche, die immer alles gibt (und noch mehr), die sich nicht aus der Ruhe bringen und von nichts abhalten lässt, nicht einmal durch Eiersalat. Danke, AC, für deine Ratschläge, deine Freundschaft und deine unglaubliche Fähigkeit, mir immer wieder den richtigen Weg zu weisen.
Mein Dank geht an alle, die ihre Zeit und ihr Wissen mit mir geteilt und mir bei der Entstehung dieses Romans geholfen haben.
Maureen Chatfield, Gründerin von M. Chatfield Ltd., die es mir ermöglicht hat, aus der Vogelperspektive einen Blick auf ihre Partnervermittlung zu werfen. Besonderen Dank an Karen Cooper für unsere »Pseudo-Beratungsstunde«. Ich kann verstehen, warum M. Chatfield Ltd. sich den verdienten guten Ruf erworben hat.
Amanda Stevenson, die mich in die Kunst des Fotografierens und in die Technik moderner Fotografie und Fotobearbeitung eingeführt hat.
Detective Mike Oliver, der mich mit seinen unglaublichen »Geschichten aus dem Leben eines Detective des New York Police Department« immer wieder in Erstaunen versetzt. Es gibt nicht viele Menschen, die mich gleichzeitig fesseln, erschaudern lassen und zum Lachen bringen können. Genau diese Fähigkeiten machen aus ihm einen großartigen Cop.
Hillel Ben-Asher, M.D., der mir die medizinischen Informationen gab, die ich für diesen Roman benötigt habe (es gibt unzählige Beispiele, als die Ereignisse sich zuspitzten), und der mir geholfen hat, dieses Wissen fachkundig in die Geschichte einzubauen. Nach der medizinischen Ausbildung, die er mir zukommen ließ, ist zwar keine Ärztin aus mir geworden, aber ich bin sicher, dass ich im Fernsehen eine spielen könnte!
Caroline Tolley, die in dem Moment zur Stelle war, als sie gebraucht wurde. Sie hat die Redaktion dieses Romans zu ihrer wichtigsten Aufgabe erhoben und ihre Zeit und ihr Talent eingesetzt, um aus diesem Roman – und aus mir – alles herauszuholen.
Metamorphosis Image Consulting gilt mein Dank für den Unterricht in Körpersprache, Stil und in Sachen Haute Couture.
Lucia Macro, die sich mit ganzem Herzen in das Chaos der Zusammenarbeit mit mir gestürzt und den Roman geschickt gestrafft hat, ohne dass Charaktere oder Handlung gelitten haben.
Und Dank an meine Familie. Keine Worte würden genügen. Zum Glück braucht es auch keine.
Der Albtraum kroch wie ein langsam wirkendes Gift in ihren Körper und lähmte sie, als er in die dunkelsten Winkel ihrer Erinnerung vordrang. Es gab kein Entrinnen vor dem entsetzlichen Ende, keine Möglichkeit, die Augen von dem Grauen abzuwenden.
Der Anblick war ihr unerträglich. Der Anblick ihrer entstellten Leichen. Der Anblick ihrer leeren Augen. Der Anblick der Blut-lachen, die sich immer weiter unter den reglosen Körpern ausbreiteten, während ihr Leben erlosch.
Mit einem leisen Stöhnen zwang Morgan sich, wach zu werden. Sie richtete sich auf. Ihre Muskeln waren völlig verspannt. Sie drückte den Rücken gegen das Kopfteil aus Eichenholz und kühlte ihre schweißnasse Haut. Das Herz pochte wild in ihrer Brust, und ihr Atem ging flach und schnell.
Es war ein grässlicher Albtraum gewesen.
Sie kniff die Augen zu und konzentrierte sich auf die gedämpften Geräusche Manhattans vor Anbruch der Morgendämmerung. Ab und zu das Rumpeln eines Autos, das durch Schlaglöcher fuhr. Eine Sirene in der Ferne. Genau vor dem Fenster ihres Hauses herrschte die übliche Geräuschkulisse, die Tag und Nacht zu hören war. Das alles war ihr vertraut, verband sie mit dem wahren Leben, spendete ihr Trost. Sie nahm alles in sich auf und versuchte, die Bilder des Albtraums abzuschütteln, ehe diese sie verschlangen.
Die Mühe war vergebens. Die Albträume kamen zwar nur hin und wieder, doch die grauenvolle, lebhafte Erinnerung hatte sich seit nunmehr siebzehn Jahren in Morgans Gedächtnis gebrannt.
Sie schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Das feuchte Nachthemd klebte auf ihrer Haut, und das schulterlange Haar hatte sich um ihren Hals geschlungen. Sie umfasste es mit einer Hand, drehte es zu einem losen Knoten und steckte es mit der Spange zusammen, die auf ihrem Nachttisch lag. Als kalte Zugluft über sie hinwegfuhr, fröstelte sie.
Im Stillen hatte sie mit einem Albtraum gerechnet. Es war im Grunde nicht verwunderlich, denn in der Weihnachtszeit wurde sie oft von entsetzlichen Albträumen gequält. Doch es war ihre eigene Schuld, dass die Lage sich so dramatisch verschlimmert hatte.
Morgan spähte auf die Uhr auf ihrem Nachttisch: 5.10 Uhr. Jeder Versuch, wieder einzuschlafen, war zwecklos. Es hätte nicht geklappt, auch wenn sie es versucht hätte. Es lohnte sich ohnehin nicht mehr. In fünfzig Minuten klingelte der Wecker.
Sie zog ihren Morgenmantel an, ging in den düsteren Korridor und betrat das Gästezimmer gegenüber. Die Sachen aus dem Karton, die sie sich angesehen hatte, lagen auf der Polstertruhe, wo sie alles hingelegt hatte – Erinnerungsstücke auf dem einen Stapel, Fotos auf dem anderen; daneben die Berichte, die sie erst kürzlich entdeckt hatte.
Der Albtraum quälte sie noch immer, als sie das Licht einschaltete. Sie kniete sich neben die Polstertruhe auf den Boden, zog die Fotos zu sich heran und tauchte in die Vergangenheit ein.
Das oberste Foto hatte die größte Bedeutung für sie, und der Anblick war zugleich am schmerzhaftesten. Es war das letzte Bild, auf dem sie alle drei abgebildet waren. Morgan betrachtete es wehmütig. Ihre Mutter, freundlich und elegant. Ihr Vater, stark und dynamisch. Zärtlich hatte er einen Arm um die Schultern seiner Frau geschlungen und eine Hand auf die Schulter des dünnen kleinen Mädchens gelegt, das vor ihnen stand. Das Mädchen hatte die großen, grünen Augen und die feinen Gesichtszüge seiner Mutter und den wachsamen, forschenden Blick seines Vaters.
Morgan drehte das Foto um. Die handgeschriebene Notiz unten auf der Rückseite stammte von ihrer Mutter. Dort stand: Jack, Lara und Morgan. 16. November 1989.
Diese Worte hatte Lara einen Monat vor ihrer Ermordung geschrieben.
Morgan schluckte. Sie legte das Foto aus der Hand und schaute sich die anderen Bilder an. Ihre Mutter während des Studiums, als sie mit ihrer besten Freundin und Zimmergenossin Elyse Shore, damals noch Elyse Kellerman, in die Kamera blickte. Die Studienabschlussfeier ihres Vaters an der juristischen Fakultät. Ihre Eltern, wie sie vor der Columbia University standen und Jacks Diplom schwenkten. Ihre Hochzeit. Morgans Geburt. Familienfotos glücklicher Ereignisse, von Morgans erstem Geburtstag bis zu Sommerurlauben am Strand mit den Shores – Elyse, Arthur und Jill. Ganz unten lagen die Fotos, die Morgan ein paar Monate nach der Beerdigung von Elyse geschenkt bekommen hatte. Diese Fotos waren an Weihnachten in Daniel und Rita Kellermans schmuckem Penthouse in der Park Avenue aufgenommen worden. Elyses Eltern hatten für Shore und alle, die seinen Wahlkampf unterstützt hatten, eine Weihnachtsparty gegeben, zu der auch Morgans Eltern gekommen waren.
Es waren die letzten Fotos von Lara und Jack Winter, ehe sie ermordet worden waren. Die nächsten Bilder waren später an diesem Abend in einem Kellergeschoss in Brooklyn von der Spurensicherung aufgenommen worden.
Morgan fröstelte, als sie den Stapel Fotos aus der Hand legte. Sie stand auf und schlang den Morgenmantel fest um ihren Körper. Schluss jetzt! Sie durfte nicht zulassen, dass sie wieder in diesen emotionalen Strudel gezogen wurde. Das konnte sie psychisch nicht verkraften. Dr. Bloom hatte es ihr klipp und klar gesagt.
Sie sollte auf seinen Rat hören. Ihre Energie für andere Dinge verwenden und sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Okay, dann würde ihr Tag heute eben etwas früher beginnen. Sie würde sich eine Kanne Kaffee kochen, duschen, sich anziehen und die Treppe ins Büro hinuntersteigen. Sie musste am frühen Morgen ein paar Kunden anrufen, ehe die Leute zur Arbeit fuhren. Außerdem wartete ein Stapel Unterlagen auf sie, der bearbeitet werden musste. Um halb neun war ihre Therapiesitzung. Das passte gut, denn Dr. Blooms Praxis war nur einen Block von dem Waldorf-Astovin-Hotel entfernt, wo sie um elf ein Gespräch mit einem neuen Kunden hatte. Anschließend würde sie ins Büro zurückkehren, wo sie um dreizehn Uhr mit Charlie Denton zu einem zweiten Gespräch verabredet war. Charlie war ein attraktiver vierundvierzigjähriger Mann, der mit seinem Job bei der Staatsanwaltschaft Manhattan verheiratet war. Da er beruflich sehr eingespannt war und ihm ganz bestimmte Kriterien vorschwebten, was Frauen anging, suchte er noch immer die ideale Partnerin. Es war Morgans Job, diese Partnerin zu finden.
Sie schaltete das Licht aus, verließ das Zimmer und kehrte ihrer Vergangenheit, die verstreut auf der Polstertruhe hinter ihr lag, den Rücken.
Sie hatten den Deal ausgehandelt.
Niemand bei der Staatsanwaltschaft Brooklyn war glücklich darüber. Wieder so ein Mistkerl, der einen Mithäftling belastete, um den eigenen Hals zu retten. Wieder ein Fall, bei dem sich die Rechtsstaatlichkeit mit Darwins Theorie des Überlebens des Stärkeren deckte.
Es war ein Scheißspiel, dass sie diesem Drogendealer Kirk Lando entgegenkommen mussten. Aber sie hatten keine andere Wahl. Lando hatte ihnen einen Polizistenmörder ans Messer geliefert und dafür Strafmilderung erhalten. Das New York Police Department war glücklich. Nate Schiller würde teuer dafür bezahlen, dass er einen der ihren getötet hatte.
Die anderen Knackis hätten Schiller vermutlich die Kehle durchgeschnitten, wäre in Sing Sing bekannt geworden, dass er Sergeant Goddfrey ermordet hatte. Normalerweise wäre es genau anders herum gewesen: Die Ermordung eines Cops hätte im Knast einen Helden aus Schiller gemacht. In diesem Fall aber nicht. Schiller war voll in die Scheiße getreten. Er hatte Goddfrey in Harlem aufgespürt und erschossen; dabei aber hatte zugleich den Verbrecher umgelegt, dem Goddfrey gerade die Handschellen anlegen wollte, um auf diese Weise den einzigen Zeugen seiner Tat zu beseitigen.
Ein schlechter Schachzug, denn dieser Mann war der Unterweltboss Pablo Hernandez gewesen. Sobald jene Mitglieder seiner Gang, die in Sing Sing einsaßen, davon erfuhren, konnte Schiller sein Testament machen.
Der ganze Deal war zum Kotzen, nicht nur wegen Landos Strafmilderung oder Schillers beinahe unausweichlicher Ermordung durch seine Mithäftlinge. Landos Geschichte entsprach der Wahrheit. Ein paar Jugendliche aus der Gegend, die mittlerweile erwachsen waren, hatten die Story bestätigt. Sie hatten gesehen, dass Goddfreys Mörder vom Tatort geflohen war. Zuerst hatten die Jugendlichen eine Beschreibung geliefert; dann hatten sie Schiller bei einer anonymen Gegenüberstellung identifiziert. Es bestand kein Zweifel, dass Schiller, der wegen mehrfachen Mordes verurteilt worden war, auch Goddfrey und Hernandez auf dem Gewissen hatte.
Das aber bedeutete, dass er den Doppelmord in Brooklyn, dessen er sich schuldig bekannt hatte, gar nicht verübt haben konnte.
Die Wende in diesem Fall würde hohe Wellen schlagen. Die Tochter. Der Kongressabgeordnete. Die Mitarbeiter bei der Staatsanwaltschaft Manhattan.
Und ein Cop im Ruhestand, dem die Sache mächtig stinken würde.
Pete Montgomery fuhr in die Einfahrt und starrte auf das Reihenhaus, das ihm als Büro diente, als wäre es ein Feind. Er hatte eine Stinklaune. Er war extra um Viertel vor neun in Dutchess County losgefahren, um nicht in den Berufsverkehr zu geraten. Trotzdem hatte er drei Stunden bis Little Neck gebraucht. Normalerweise schaffte er es in der Hälfte der Zeit; heute hatte die Fahrt so lange gedauert, weil Schneefall eingesetzt hatte. Die Straßen waren von einer dünnen Schneedecke überzogen, die aber ausreichte, um die meisten Autofahrer in ängstliche Hosenscheißer zu verwandeln, die ihre Nasen gegen die Windschutzscheiben pressten und nur noch im Schneckentempo dahinkrochen.
Montgomery sprang aus seinem lädierten braunen 96er Toyota Corolla, der schon hunderttausend Meilen auf dem Tacho hatte. Der Wagen war so oft zusammengeflickt worden, dass die Werkstatt für ihn so etwas wie ein zweites Zuhause war. Aber Monty – wie Montgomery von allen genannt wurde – war überzeugt, dass das Auto noch ein gutes Jahrzehnt durchhalten würde. Außerdem war es das ideale Fahrzeug für einen Privatdetektiv: ein ganz gewöhn-licher, einfacher, unauffälliger Wagen.
Als Monty die Bürotür aufschloss, klingelte das Telefon. Er durchquerte den Raum und nahm den Hörer ab. »Montgomery.«
»Hallo, Monty.« Es war Rich Gabelli, sein ehemaliger Partner im fünfundsiebzigsten Revier in Brooklyn. Sie hatten mehr als zehn Jahre zusammengearbeitet, bis Monty mit fünfzig in den Ruhestand gegangen war. Gabelli war jünger und toleranter; für ihn lag der Ruhestand noch in weiter Ferne.
»Hallo, Rich, was gibt’s?« Monty blätterte bereits in seinen Akten und suchte die wichtigsten Fälle heraus.
»Arbeitest du jetzt halbtags? Ich hab’s dreimal auf deinem Handy probiert und dich nicht erreicht. Deine Flitterwochen scheinen sich hinzuziehen und ’ne Menge Zeit und Kraft zu verschlingen.«
Monty knurrte. Seitdem er seine Exfrau vor sechs Monaten zum zweiten Mal geheiratet hatte, musste er sich ständig die gutmütigen Spötteleien seiner Freunde gefallen lassen. »Ich war nicht zu Hause bei Sally. Ich war unterwegs und hab die anderen Autofahrer verflucht. Übrigens habe ich deine Nummer auf dem Display gesehen, bin aber nicht rangegangen. Es wird Zeit, dass du dich um dein eigenes Sexualleben kümmerst und nicht immer auf meins schielst.«
»Du hast gut reden«, erwiderte Gabelli. »Sally ist noch immer umwerfend attraktiv. Hast du dir Rose in letzter Zeit mal richtig angesehen? Sie hat zwanzig Pfund zugenommen.«
»Und du dreißig. Für deine Wampe brauchst du einen eigenen Schreibtisch. Sei froh, dass Rose dich nicht verlässt. Was willst du? Ich hab zu tun.«
»Ich habe eine Information für dich.« Monty entging der plötz-liche ernste Unterton in Gabellis Stimme nicht.
»Und?«
Gabelli atmete tief aus. »Der Staatsanwalt hat mit Lando einen Deal gemacht. Lando hat ihm den Namen von Goddfreys Killer verraten.«
»Ist doch prima. Okay, ein Deal mit Lando ist zum Kotzen, aber Goddfreys Killer hat es verdient, in der Hölle zu schmoren.«
»Stimmt. Aber da ist noch was.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Der Typ, der Goddfrey umgebracht hat, war Nate Schiller.«
»Nate Schill… verdammte Kiste«, knurrte Monty. »Bist du sicher?«
»Ja. Schiller hat in Sing Sing damit geprahlt, einen Cop umgenietet zu haben. Er war auch noch so blöd zu sagen, dass es Goddfrey war. Das bedeutet, dass er Hernandez ebenfalls gekillt hat, aber das hat er zu spät bemerkt. Es gibt Beweise, die das bestätigen; darum hat er die Morde an Jack und Laura Winter gestanden. Wenn jemand einen Staatsanwalt umlegt, ist er in Sing Sing ein Star. Wenn er aber einen Gangsterboss tötet, ist sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Und da Goddfrey am Heiligen Abend in Harlem etwa zu der Zeit erschossen wurde, als die Winters in Brooklyn starben, kann Schiller sie nicht umgebracht haben.«
»Verdammt!« Monty warf eine Akte auf den Schreibtisch.
»Du hattest von Anfang an recht.«
»Darum ging es mir gar nicht, und darum geht es mir auch jetzt nicht. Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass es mich überrascht. Der Doppelmord an den Winters passte nicht zu Schillers Vorgehensweise. Ich hatte immer das Gefühl, dass persönliche Motive im Spiel waren. Und die Walther PKK? Nicht Schillers Stil.«
»Du weißt, dass er uns gerne auf falsche Fährten gelockt hat. Jedenfalls will die Staatsanwaltschaft Manhattan den Winter-Fall jetzt neu aufrollen.«
»Das überrascht mich nicht. Jack Winter war ihr Goldjunge. Ihnen liegt sehr daran, seinen Mörder zur Strecke zu bringen. Das Problem ist, dass die Akte geschlossen wurde, als Schiller gestanden hat. Das ist jetzt siebzehn Jahre her. Egal, was für einen Wirbel die Staatsanwaltschaft jetzt auch machen würde – wer kann mit diesem Fall schon was anfangen? Ohne Spuren, ohne Zeugen und mit einer dürftigen Liste möglicher Verdächtiger, von denen die meisten entweder tot oder untergetaucht sind. Da könnten sie genauso gut versuchen, einen Hasen aus dem Hut zu zaubern. Die Spuren sind eiskalt.«
»Stimmt. Wir haben die Akte schon ausgegraben. Nichts. Aber der Captain will unbedingt, dass wir die Ermittlungen wieder aufnehmen.«
»Natürlich will er das«, erwiderte Monty. »Er muss sich absichern. Bestimmt ist er heilfroh, dass ich nicht mehr dabei bin. Er weiß, dass ich am Ball bleiben würde, bis ich den Fall gelöst hätte, wäre ich noch Cop.« Monty verstummte und fuhr in rauem Tonfall fort: »Was ist mit Morgan, der Tochter? Weiß sie es schon?«
»Deshalb rufe ich dich an. Der Deal ging gerade erst über die Bühne. Die Staatsanwaltschaft hat Mühe, den ganzen Kram auszugraben, und sie freuen sich nicht gerade, was für Folgen das haben könnte. Sie müssen sicherstellen, dass nichts durchsickert. Die Tochter wird also heute informiert.« Eine bedeutsame Pause. »Sobald wir ihnen grünes Licht geben, nachdem wir hier im Revier alles herausgesucht haben. Und das tue ich gerade.«
Monty verstand die Botschaft. »Dann bleibt mir noch Zeit, vorher mit dem Mädchen zu sprechen.«
»Stimmt. Wenn du das vorhast.«
»Das habe ich vor«, sagte Monty nur. Er sah das Kind mit den tiefliegenden Augen im Geiste vor sich, als wäre es gestern gewesen, dieses Kind, das von einem Augenblick auf den anderen erwachsen geworden war. Sogar heute noch verkrampfte sich sein Magen, wenn er an den Tatort dachte, den er damals vorgefunden hatte.
Meistens gelang es Monty, genügend Abstand zu seinen Fällen zu behalten. Das war ihm damals nicht gelungen.
Es ging ihm noch immer nahe.
»Sie war in einer schrecklichen Verfassung«, sagte Gabelli. »Du warst der Einzige, den sie an sich herangelassen hat.«
»Ja. Mir ging es damals auch ziemlich mies. Darum hatten wir beide ja diesen guten Draht zueinander.«
»Ich erinnere mich.« Gabelli räusperte sich. Auch wenn sie damals Partner gewesen waren, gab es Themen, die er nicht gerne anschnitt. Diese schwierige Zeit in Montys Leben gehörte dazu. »Du solltest dich beeilen. Ich kann die Sache nicht lange rauszögern. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass du das alles nicht von mir erfahren hast, sonst macht der Chef mich zur Schnecke.«
»Kein Problem. Wir haben nie darüber gesprochen«, erwiderte Monty. »Aber unter uns gesagt – ich tue ihm doch nur einen Gefallen, wenn ich es ihr sage. Vielleicht kann ich ein bisschen Schadensbegrenzung betreiben.«
»Du denkst an den Kongressabgeordneten Shore.«
»Klar. Das wird ihm einen Schock versetzen. Als die beiden damals ermordet wurden, war ich der Einzige, dem er nicht mit einer Klage gedroht hat.«
»Er wollte Antworten. Das kann ich ihm nicht verdenken. Er und seine Frau hatten ihre besten Freunde verloren, und ihnen wurde das Sorgerecht für deren Kind übertragen.«
»Er hatte sich besser in der Gewalt, als es mir in der Situation gelungen wäre. Wenn ich gesehen hätte, was das arme kleine Mädchen durchmacht, hätte ich scharfe Geschütze aufgefahren, anstatt nur Drohungen auszustoßen, um meine Antworten zu bekommen.« Monty schob den Aktenstapel zur Seite und nahm einen Block und einen Stift zur Hand. »Wo wohnt Morgan Winter jetzt? Ich will unbedingt mit ihr sprechen, ehe andere an sie rankommen und bevor die Presse es erfährt. Diese Nachricht wird ihr auch so schon schlimm genug zusetzen, ohne dass sie von Reportern belagert wird.«
Papier raschelte. »Sie wohnt in dem Stadthaus, das ihre Eltern ihr in Upper East Side hinterlassen haben. Sie hat ein Unternehmen, das sie auch von dort aus betreibt, eine Art Partnervermittlung für die oberen Zehntausend.« Gabelli las Monty die Adresse vor.
»Danke, Rich. Gib mir eine Stunde, dann kannst du die Hunde von der Leine lassen.« Monty seufzte. »Ich hoffe, Morgan Winter wird damit fertig.«
»Sie ist kein Kind mehr, Monty. Sie ist eine erwachsene Frau. Sie wird es schon verkraften.«
»Meinst du? Ich bin mir nicht so sicher. Sie hat in der Nacht damals nicht nur ihre Eltern verloren. Die beiden wurden brutal ermordet, und sie hat die Leichen gefunden. Sie war traumatisiert. Das Mädchen hat nur deshalb nicht den Verstand verloren, weil es wusste, dass der Killer gefasst und zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.« Er seufzte. »Und jetzt muss ich ihr sagen, dass der Mann es gar nicht gewesen ist.«
Es war ein Uhr mittags. Morgan knurrte der Magen, als sie in ihr Haus zurückkehrte. Sie hatte den ganzen Tag nichts gegessen. Im Grunde hatte sie nicht einmal Zeit gehabt, Luft zu schnappen, seitdem sie die Türen von Winshore LLC vor fünf Stunden geöffnet hatte. Die Partnervermittlung florierte. Die Telefone hatten ununterbrochen geklingelt, als sie um halb neun zu ihrer Therapiesitzung geeilt war und ihre neue Mitarbeiterin Beth Haynes allein im Büro zurückgelassen hatte. Die Telefone klingelten noch immer, als sie sich vor einer Weile noch einmal übers Handy gemeldet hatte. Beth hatte sie wissen lassen, dass Charlie Denton seinen Termin auf drei Uhr verschoben hatte. Das war gut. Dann hatte Morgan Gelegenheit, ihr Sandwich zu essen, falls es in der nächsten Stunde geliefert wurde.
Sie wischte sich die Schneeflocken vom Mantel, hängte ihn auf und rieb sich die Arme, während sie sich umschaute. Das mit teuren Holzmöbeln und orientalischen Teppichen ausgestattete Erdgeschoss war der Geschäftsbereich von Winshore. Der erste Stock, der ebenfalls dazugehörte, war nicht weniger elegant eingerichtet, aber gemütlicher. Dort befand sich ein kleiner Salon für die Gespräche und ein großer Raum für Fotos und Modeberatungen. Alles war auf Entspannung und Behaglichkeit ausgerichtet.
Unten jedoch herrschten stets reges Treiben und eine eher kühle Geschäftsatmosphäre, die jedoch aufgelockert wurde durch nette Accessoires: Hochzeitsfotos von Kunden auf dem Sideboard, ein paar ausgefallene Kunstgegenstände auf den Schreibtischen und – dank Jill Shore, Morgans Partnerin und beste Freundin – eine Reihe unterschiedlichster Festtagsdekorationen, die sie von ihren Reisen mitgebracht hatte, darunter eine handgefertigte Hanukkah Menorah aus Israel. Außerdem schmückte ein gut zwei Meter hoher Weihnachtsbaum, der fast die Decke berührte, den Raum.
Morgan lächelte, als sie sich am Weihnachtsbaum vorbeiquetschte, um zu Beths Schreibtisch zu gelangen. »Niemand kann uns vorwerfen, den Festtagen nicht genügend Beachtung zu schenken.«
»Stimmt.« Beth zupfte ein paar Kiefernnadeln von ihrem rosafarbenen Kaschmirpullover. »Und Jill ist noch nicht fertig. Sie hat etwas von Glocken gesagt, um die Wintersonnenwende zu feiern, und von Büchern, in denen dieser alte Brauch erklärt wird.«
Morgans vergnügter Blick wanderte durch den Raum. »Wir haben noch eine leere Ecke«, sagte sie und schaute auf den freien Platz neben dem Kamin. »Ich schätze, die wird dem Thema der Wintersonnenwende gewidmet.« Als ihr Magen laut knurrte, verzog sie das Gesicht. »Hast du eine Ahnung, ob Jonah unterwegs ist?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Jonah Vaughn war der Auslieferungsfahrer von Lenny’s, dem besten und bekanntesten koscheren Restaurant in New York. Das Geschäft lag in der Delancey Street und lieferte üppig belegte Sandwichs in Büros in Lower East Side und in Brooklyn. Die Partnervermittlung lag zwar außerhalb dieses Gebiets, aber Morgan und Jill hatten eine besondere Beziehung zum Besitzer des Restaurants: Lenny war Jills Großvater. Und da Morgan bei den Shores aufgewachsen war, betrachtete sie ihn ebenfalls als ihren Großvater.
Beth hob den Daumen. »Du hast Glück. Kurz bevor du gekommen bist, hat Jonah vom Lieferwagen aus angerufen. Er müsste in zehn Minuten hier sein.«
»Gott sei Dank. Ich fall fast um vor Hunger.«
»Ein paar Minuten wirst du schon noch durchhalten. Die Stärkung ist unterwegs.« Beth rollte ihren Stuhl ein Stück vom Computer weg und reckte sich. Sie war eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren, mit rosigen Wangen, scharfem Verstand, guter Menschenkenntnis und einem Psychologiediplom der Northwestern University. Morgan hatte sie in einem Seminar kennen gelernt und sofort eingestellt. Nach einer sechsmonatigen Ausbildung war Beth auf dem besten Weg, eine ausgezeichnete Mitarbeiterin zu werden, die selbstständig Kundenprofile erstellen konnte.
»Irgendwas Dringendes, das ich wissen muss?« Morgan nahm den Stapel Telefonnotizen auf und blätterte ihn durch.
»Viele neue Anfragen.« Beth notierte sich schnell noch etwas. »Übrigens, wie war dein Treffen im Waldorf? Ich kenne Rachel Ogden nur vom Telefon. Sie ist kaum älter als ich, aber sie scheint ja eine unglaubliche Powerfrau zu sein.«
»Ist sie auch.« Morgan reichte Beth das Formular, das Rachel ausgefüllt hatte, und die Notizen, die sie während des Gesprächs gemacht hatte, damit Beth beides in eine neue Kundendatei übertrug. »Sie ist mit fünfundzwanzig Jahren schon eine sehr erfolgreiche Unternehmensberaterin. Ich habe ein paar Männer aus unserer Datenbank für sie im Auge. Angefangen mit Charlie Denton. Er ist Anfang vierzig, aber Rachel bevorzugt Männer, die älter sind als sie. Ich könnte mir gut vorstellen, dass die beiden sich hervorragend verstehen würden.«
Als das Telefon erneut klingelte, seufzte Beth. »Weiter geht’s. Bestimmt wieder ein neuer Kunde.«
»Es ist zum Teil Elyses Verdienst, dass wir so viele Anrufe bekommen«, erwiderte Morgan lächelnd. »Sie macht vor jedem Aerobic- und Spinningkurs Werbung für uns.« In ihrer Stimme schwang Zuneigung mit, als sie über Elyse Shore sprach, Jills Mutter. Diese Frau hatte eine unglaubliche Energie. Sie leitete ein exklusives Fitnessstudio an der Ecke Third Avenue und Fünfundachtzigste Straße Ost, wo das Wort »Mund-Propaganda« eine ganz neue Bedeutung erhielt.
Die Eingangstür des Hauses wurde geöffnet, und Jill stürmte herein und schüttelte den Schnee vom Mantel. »Jetzt schneit’s aber ordentlich! Das ist die schlechte Nachricht. Jetzt kommt die gute: Ich habe Jonahs Lieferwagen gesehen. Unser Mittagessen ist im Anflug. Keine Minute zu früh. In meinem Magen knurrt es wie in einem Wolfsgehege.«
Jill zog ihren Mantel aus und sprach weiter, als sie sich mit den Fingern durchs Haar strich, um es zu trocknen. Sie war nicht unbedingt eine Schönheit, doch mit ihrem rotblonden Haar, den dunklen Augen, die einen hübschen Kontrast dazu bildeten, und den vollen Lippen war sie sehr attraktiv. Und wenn sie lachte, was oft geschah, erhellte sich ihr ganzes Gesicht.
»Gut, dass Corned Beef frische Energie spendet«, sagte sie zu Morgan. »Mein Nachmittag wird noch hektischer als mein Vormittag. Ein Termin folgt auf den anderen. Zuerst eine Besprechung mit unserem Steuerberater, dann eine mit unserem neuen Software-Entwickler. Zuerst werde ich dazu gedrängt, Geld zu sparen, dann soll ich es mit vollen Händen ausgeben. Um sechs Uhr kann ich bestimmt keinen klaren Gedanken mehr fassen.« Sie wies mögliche Einwände mit einer Handbewegung zurück. »Macht euch keine Sorgen. Ich beschaffe die Dekoration für die Wintersonnenwendfeier auf dem Heimweg. Morgen früh habe ich das ganze Büro geschmückt. Ach so, heute Abend treffe ich mich mit Mom zum Essen. Wir wollen die letzten Einzelheiten für die Party besprechen.«
Jill rieb sich die Hände, um sie zu wärmen. Ihre Augen strahlten, als sie an die Weihnachtsfeier dachte, die Winshore für seine Kunden ausrichtete. »Ihr werdet Moms Fitnessstudio nicht wiedererkennen, wenn wir fertig sind. Lichterketten, Musik und eine tolle Dekoration. Und ein so reichhaltiges Büfett, dass die Tische sich biegen werden. Das wird ein Hit. Ehe ich’s vergesse, Dad hat eine Nachricht auf meinem Handy hinterlassen. Er kommt heute Abend nach Hause. Er fliegt von Washington nach New York, um Zeit zu sparen.«
Jill verstummte, um zu Atem zu kommen. Morgan staunte wieder einmal über die unglaubliche Energie ihrer Freundin. Jill, der Wirbelwind. Frei nach dem Motto »Was kostet die Welt« genoss sie ihr Leben in vollen Zügen und setzte sich über alle Grenzen hinweg. Falls es jemanden gab, der Jill nicht mochte, wusste Morgan nichts davon. Jill war wie eine frische Brise. Für Morgan war sie wie eine Schwester, und sie liebte sie sehr.
»Morg?« Jill runzelte besorgt die Stirn und musterte Morgan nachdenklich. »Alles in Ordnung?«
»Klar. Ich hab bloß Hunger.«
Jill warf einen raschen Blick über die Schulter, um sicherzustellen, dass Beth mit einem Kunden telefonierte. Dann ging sie zu Morgan, zog sie ein Stück zur Seite und senkte die Stimme. »Nein, du hast nicht nur Hunger. Du bist erschöpft. Kein Wunder, dass Dad sich Sorgen um dich macht. Und falls du es noch nicht gewusst hast: Das ist auch der Grund, warum er vom Flughafen sofort hierherkommt. Hattest du wieder eine schlimme Nacht?«
Morgan zuckte mit den Schultern. »Es gab schon schlimmere. Allerdings auch bessere. Im Augenblick hält es sich so ziemlich die Waage.«
Jill zog die Stirn in Falten. »Vielleicht sollte ich die ganze Weihnachtsdekoration auf ein Minimum beschränken, wenigstens in diesem Jahr.«
»Untersteh dich. Deine Weihnachtsstimmung hat nichts mit meinen Albträumen zu tun. Dadurch werde ich im Gegenteil abgelenkt.«
»Das bezweifle ich. Du bist doch total am Ende.«
»Stimmt.« Morgan widersprach ihr nicht. »Ich weiß auch nicht, warum mir die Albträume in diesem Jahr so zusetzen. Dr. Bloom meint, es sei ein Teufelskreis, der sich im Unterbewusstsein fortsetzt. Nachdem ich in den Berichten meiner Mutter gelesen hatte, habe ich eine stärkere Verbindung zu ihr und Dad gespürt. Das hat mich dazu gebracht, mich noch intensiver mit den Berichten zu beschäftigen, wodurch wiederum weitere Albträume ausgelöst wurden.«
»Aber die Albträume waren bereits schlimmer als sonst, ehe du die Berichte in dem Karton gefunden hattest, in dem die Sachen deiner Mutter lagen. Du bist seit Wochen nicht mehr du selbst.«
Morgan rieb sich seufzend die Schläfen. »Ich habe so ein sonderbares Gefühl. Ich kann es einfach nicht abschütteln.«
Ehe Jill etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür, gefolgt von rhythmischem Klopfen. Dann rief jemand laut: »Essen!«
Jonah brauchte kein zweites Mal zu rufen. Jill lief sofort zur Tür und riss sie auf. »Hallo, Jonah«, begrüßte sie den jungen Mann, der das Büro betrat.
»Hallo.« Jonah war groß und schlaksig und versank in seiner Daunenjacke und den Stiefeln. Nur eine Strähne seines rotblonden Haars lugte unter der Kapuze hervor, und sein Atem bildete Schwaden in der Luft. Doch es genügte der verräterische Duft des Fleisches, der aus seiner braunen Tasche aufstieg, um ihn auszuweisen.
»Du rettest uns das Leben.« Jill nahm ihm die Tasche ab, öffnete sie und genoss den Duft, der daraus emporstieg. »Roggensandwich mit Corned Beef und Senf und eine Dr. Brown’s Kirschlimo. Jetzt ist die Welt wieder in Ordnung.«
Jonah zog seine Kapuze vom Kopf und nickte. »Diesen Satz habe ich in der letzten Stunde ungefähr zehnmal gehört.«
»Kann ich mir gut vorstellen.« Jill wühlte in ihrem Portemonnaie, zog einen Geldschein heraus und drückte ihn Jonah in die Hand. »Kauf dir eine Pizza.«
»Danke.« Er nahm das Trinkgeld entgegen. »Allerdings hab ich schon gegessen. Zwei Portionen Kugel bei eurer Großmutter.« Lenny hatte Jonah den jiddischen Ausdruck für den süßen Nudelauflauf beigebracht. »Ich habe schließlich einen Ruf zu verteidigen.«
Obwohl Jonah Waliser war, verschlang er Rhodas Kugel, seitdem er alt genug war, um alleine mit der U-Bahn zu Lenny zu fahren. Diese Vorliebe für gutes Essen hatte Jonah den Job als Auslieferungsfahrer eingebracht. Lenny, der ihn liebevoll den »Kosher-Jungen« nannte, hatte ihn sofort eingestellt, ihm eine anständige Bezahlung und unbegrenzten Kugel-Verzehr angeboten.
Das Beste an Jonahs Job aber war, dass Lenny ihm Lane vorgestellt hatte. Ein Praktikum bei einem so talentierten und angesehenen Fotografen wie Lane war eine Chance, die sich nicht oft im Leben bot.
»Ich spare das Geld«, murmelte er verträumt.
»Ah«, meinte Morgan. »Bestimmt für deine Kamera.«
»Ja.« Jonahs Augen funkelten. Normalerweise war er ziemlich ruhig, sogar ein bisschen schüchtern. Morgan wusste, dass die Fotografie Jonahs große Leidenschaft war; deshalb machte das Praktikum ihm ungeheuren Spaß. Sobald das Thema »Fotografie« zur Sprache kam, strahlte Jonah wie Jills Weihnachtsbaum.
»Ich habe bei eBay eine supergeile Digitalkamera gesehen«, sagte er. »Eine Olympus E-300 mit Vorblitz und Bildstabilisator. Falls sie noch zu haben ist, wenn Lenny mich am Freitag bezahlt, versuche ich, sie zu ersteigern.«
Jill zeigte auf die drei Computer in dem Büro. »Wenn du diesen Monat zusätzlich Geld verdienen möchtest, kein Problem. Unser System könnte ein paar Software-Updates und eine Wartung vertragen. Hast du Interesse?«
»Klar.« Jonahs Augen leuchteten. Neben der Fotografie waren Computer seine große Leidenschaft. »Nächste Woche beginnen die Ferien. Dann habe ich zwei Wochen frei und könnte ein paar Tage hier arbeiten.«
»Großartig.«
Während Jill und Jonah sich im Fachjargon über Computer unterhielten, nutzte Morgan die Gelegenheit, um ihr Sandwich aus der braunen Tasche zu nehmen und in die Küche zu verschwinden.
Morgan hatte ihr Ziel noch nicht erreicht, als es schon wieder klingelte. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass Jonah die Tür öffnete. Ein großer, dunkelhaariger Mann in einem Wollmantel trat ein. Ein Teil seines Gesicht war vom hochgeschlagenen Kragen verdeckt.
Der Besucher klappte den Kragen herunter und knöpfte den Mantel auf. Der Mann kam Morgan irgendwie bekannt vor. Er musste ein Kunde sein. Und das bedeutete, dass sie ihr Sandwich vergessen konnte.
»Hallo, Jonah«, begrüßte der Fremde den jungen Mann. »Lieferst du hier das Mittagessen aus?«
»Ja.« Morgan wusste nicht, wer der Mann war, aber Jonah schien überrascht zu sein, ihn hier zu sehen. »Ich hab noch ein paar Sandwichs übrig. Möchten Sie eins?«
»Nein, ich hab schon gegessen. Aber danke.« Die dunklen Augen des Mannes wanderten von Jonah zu Jill. »Ich möchte Morgan Winter sprechen. Ist sie da?«
»Haben Sie einen Termin?«, erwiderte Jill in freundlichem, aber unverbindlichem Tonfall, der deutlich machte, dass Winshore keine Kunden ohne vorherige Terminabsprache akzeptierte.
»Nein, aber ich muss unbedingt mit ihr sprechen. Ist sie da?«
Morgan kannte diese Stimme. Sie gehörte keinem Kunden oder Interessenten.
Die Stimme rief schmerzhafte Erinnerungen an die Vergangenheit wach.
»Ich schaue rasch nach«, sagte Jill zögernd. Ihr war der dringliche Ton des Mannes nicht entgangen. »Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«
Morgan ging bereits auf den Mann zu, als dieser antwortete.
»Ja. Sagen Sie ihr bitte, Pete Montgomery möchte mit ihr sprechen.«
Jill sagte der Name nichts. Doch für Morgan war er mit einem Augenblick verbunden, in dem ihr ganzes Leben sich verändert hatte. Der Moment, der das Ende ihrer Kindheit und den Beginn eines Albtraums markierte.
»Detective Montgomery.« Wie eine Marionette lief sie auf ihn zu.
»Und ich hatte noch das Bild eines kleinen, dünnen Mädchens vor Augen«, sagte er und streckte die Hand aus. »Ich komme mir alt vor.«
»Sie sehen nicht alt aus. Sie haben sich überhaupt nicht verändert.« Morgan schossen tausend Gedanken durch den Kopf, doch sie wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Vielleicht hatte sein Besuch gar nichts mit der Vergangenheit zu tun. Vielleicht war er als Privatperson hier und suchte eine Frau.
Nein, bestimmt nicht. Er war nicht der Typ. Außerdem deutete der Tonfall, in dem er sich vorgestellt hatte, darauf hin, dass er als Polizist gekommen war.
Morgan schaute auf seine linke Hand. Er trug einen Ehering. Eine Partnerin suchte er jedenfalls nicht.
Er folgte ihrem Blick und erriet, dass sie nach einer Erklärung für sein Kommen suchte. »Könnten wir unter vier Augen reden?«
»Natürlich.« Morgan nickte und führte ihn ins Konferenzzimmer im Erdgeschoss. Sie spürte Beths neugierigen und Jills ängstlichen Blick auf sich ruhen. Vielleicht hätte sie ihnen eine Erklärung geben oder Detective Montgomery wenigstens vorstellen sollen. Doch sie schaffte es nur mit Mühe, die Fassung zu wahren.
Morgan schloss die Tür hinter sich und drehte sich zu Pete Montgomery um. »Wie geht es Ihnen, Detective? Es ist lange her.«
»So lange, dass Sie erwachsen geworden sind und ein eigenes Unternehmen gegründet haben.« Er musterte sie einen Augenblick und schaute sich dann in dem elegant eingerichteten Konferenzzimmer um. »Hübsche Einrichtung. Ich habe mir die Website von Winshore angesehen, wurde aber nicht ganz schlau daraus. Ich nehme an, es ist eine Art Partnervermittlung auf hohem Niveau, nicht wahr?«
Morgan spürte, dass er sie beruhigen wollte. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ja, es ist eine spezielle Partnervermittlung. Jill und ich haben sie für Leute mit anspruchsvollen Berufen gegründet, die sich einen Lebenspartner wünschen, aber wegen ihres Berufs nicht die Zeit und Energie investieren können, um sich selbst den richtigen Partner zu suchen. Wir erstellen individuelle Profile und bieten ausgefeilte Methoden der Persönlichkeitsanalyse und zur Ermittlung der Übereinstimmungen an. Wir können schon Dutzende von Erfolgsstorys vorweisen. Ehen, glückliche Paare, lange Partnerschaften.«
»Also eine Partnervermittlung für reiche Führungskräfte und Akademiker, für die Sie die Spreu vom Weizen trennen.« Detective Montgomery lächelte gequält. »Verzeihung. Das war vielleicht ein wenig salopp ausgedrückt. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten.«
»Kein Problem«, versicherte Morgan. »Glauben Sie mir, ich habe schon alle Kommentare gehört, die man zu hören bekommen kann. Es beginnt mit neugierigen Fragen und geht über gut gemeinte Spötteleien bis hin zu richtiggehenden Beleidigungen. Damit komme ich klar.«
»Hört sich an, als würde der Job Ihnen Spaß machen.«
»Ja. Wir dienen einem großen Teil der New Yorker Bevölkerung, dem es beruflich und finanziell gut geht, der aber sehr einsam ist.« Morgan verstummte kurz, ehe sie auf Details des Geschäftskonzepts zu sprechen kam. »Das sind unsere Hauptkunden. Aber kürzlich habe ich zum Gedenken an meine Mutter eine neue Sparte eingerichtet. Die Zielgruppe sind Frauen, die in gewalttätigen Beziehungen gelebt haben und nun einen liebevollen Partner suchen. Bei diesen Kunden verzichten wir auf das Honorar.«
»Das ist eine große Ehre für Ihre Mutter. Ich bin sicher, sie wäre sehr stolz auf Sie«, sagte Montgomery.
»Ich hoffe es.«
»Sie sagten, der Name Ihrer Partnerin sei Jill. Ich nehme an, es handelt sich um Jill Shore, die Tochter des Kongressabgeordneten, stimmt’s? Darum auch der Name Winshore, nicht wahr?«
»Ja.« Morgan nickte. »Sie wissen, dass Elyse und Arthur das Sorgerecht für mich übertragen wurde. Ich bin mit Jill aufgewachsen. Sie ist wie eine Schwester für mich.« Morgan verstummte und zog an den Raglanärmeln ihres Pullovers. »Verzeihen Sie, Detective Montgomery, wenn ich es Ihnen so offen sage, aber Sie haben sich einen ungünstigen Zeitpunkt für Ihren Besuch ausgesucht. Die Feiertage sind für mich noch immer sehr schmerzlich. In diesem Jahr ist es besonders schlimm. Und jetzt tauchen Sie hier auf …« Sie schluckte. »Bitte sagen Sie mir, warum Sie gekommen sind.«
»Wieso ist es in diesem Jahr besonders schlimm?«
Mit dieser unvermittelten Gegenfrage hatte Morgan nicht gerechnet. Es kam ihr beinahe so vor, als wüsste er etwas, was sie nicht wusste.
»Ich habe mir ein paar Erinnerungsstücke angesehen«, erwiderte sie zögernd.
»Ist das der einzige Grund?«
Morgan hatte vergessen, über welch gute Intuition dieser Mann verfügte. Es hatte keinen Zweck, ihm Halbwahrheiten aufzutischen.
»Ehrlich gesagt, nein. Aber es ist der einzige Grund, der einen Sinn ergibt. Alles andere ist nur ein Gefühl. Ein gespenstisches, unangenehmes Gefühl, das ich schon seit Wochen habe. Ich kann es mir nicht erklären. Ich kann es aber auch nicht abschütteln.«
»Doch, es gibt eine Erklärung dafür. Man nennt es mentale Verbindung oder einen sechsten Sinn oder wie immer Sie eine solch unerklärliche Verbindung nennen wollen.« Detective Montgomery strich sich über die Wange.
Es gab keinen Zweifel, in welche Richtung dieses Gespräch führte, und Morgan spürte, dass ihr Magen sich verkrampfte. »Hat der Grund Ihres Besuchs mit der Ermordung meiner Eltern zu tun?«
»Leider ja.« Montgomery schob seine Hände in die Taschen, presste die Lippen zusammen und hob die Augenbrauen. »Nate Schiller ist nicht der Mörder Ihrer Eltern.«
Morgan starrte ihn mit ausdruckslosen Augen an. Sie hatte seine Bemerkung mitbekommen, aber er hätte ebenso gut Chinesisch sprechen können.
»Das kann nicht sein«, sagte sie schließlich. »Das ist unmöglich. Er wurde verurteilt. Er hat gestanden. Und die Vorgehensweise war typisch für ihn. Das hat die Staatsanwaltschaft bewiesen. Er ist schuldig.«
»Das haben alle geglaubt, die in dem Fall ermittelt haben. Und alle haben sich geirrt. In der Nacht, als Ihre Eltern starben, wurden in Harlem ein Cop und ein Gangsterboss erschossen. Die beiden Verbrechen wurden zum gleichen Zeitpunkt verübt. Das heißt, es muss zwei unterschiedliche Täter geben. Der Staatsanwalt hat soeben neue Beweise erhalten, die das bestätigen. Nate Schiller war in jener Nacht in Harlem. Das bedeutet, ein anderer hat Ihre Eltern getötet.«
»O Gott.« Morgan lehnte sich Halt suchend gegen die Wand. »Aber warum sollte Schiller gestehen, wenn er gar nicht …«
»Er wusste, dass er sowieso in den Knast wandern würde, und wer einen Gangsterboss ermordet, hat in Sing Sing nichts zu lachen.« Eine angespannte Pause. »Alles in Ordnung?«
»Nein.«
Montgomery verzog das Gesicht und warf ihr einen bekümmerten Blick zu. »Ich hatte nicht vor, so damit herauszuplatzen. Aber offen gesagt glaube ich nicht, dass es für Sie leichter geworden wäre, wenn ich es Ihnen schonend beigebracht hätte.«
»Sie haben recht. Es wäre nicht leichter gewesen.« Morgan stellte ihm die Frage, die ihr auf der Seele lag. »Weiß die Polizei, wer es war?«
»Noch nicht. Aber sie arbeiten daran.«
»Sie?« Morgan hob den Kopf. »Nicht Sie?«
»Ich bin nicht mehr bei der Polizei. Ich bin vor fünf Jahren ausgeschieden und arbeite jetzt als Privatdetektiv.«
»Und doch sind Sie zu mir gekommen, um es mir zu sagen.«
»Das war meine Entscheidung. Die Staatsanwaltschaft wird sich noch heute Nachmittag mit Ihnen in Verbindung setzen. Ein Bekannter hat es mir gesteckt. Ich habe damals im Mord an Ihren Eltern ermittelt. Ich fühle mich verantwortlich.«
»Damals fühlten Sie sich auch verantwortlich«, erwiderte Morgan.
Sie hatte es nicht vergessen. Sie würde es niemals vergessen. Er war ein Held gewesen. Für ein kleines Mädchen, das etwas so Grauenvolles erleben musste, dass die Zeit es niemals auslöschen konnte, war er ein Ritter in schimmernder Rüstung gewesen.
Als Montgomery am Tatort eingetroffen war, hatte sie unter Schock gestanden. Elyse und Arthur waren bereits benachrichtigt worden und kamen kurze Zeit später. Es spielte keine Rolle. Morgan reagierte überhaupt nicht.
Arthur hatte einen Trauertherapeuten verständigt, doch es war Detective Montgomery, der sich der Kleinen annahm. Er wusste genau, wie er mit ihr umgehen musste. Er legte eine Decke um ihre Schultern, damit sie zu zittern aufhörte, und sprach in sanftem, aber bestimmtem Ton mit ihr. Als sie sich geweigert hatte, mit den Shores nach Hause zu fahren, hatte er vorgeschlagen, ihr ein wenig Zeit zu lassen. Und als sie sich wie eine Klette an ihn gehängt hatte, hatte er Elyse und Arthur vorgeschlagen, in ihren Wagen zu steigen und ihm zum Polizeirevier zu folgen.
Er hatte sie in seinen Wagen gesetzt und war mit ihr zum Revier in der Sutter Avenue gefahren. Sie erinnerte sich an das Schild: 75. Revier, New York Police Department, weil die großen Buchstaben so amtlich und einschüchternd ausgesehen hatten.
Detective Montgomery hatte sie an zwielichtigen Gestalten vorbei die Treppe hinauf in eine kleine Küche geführt, die wie die Cafeteria in ihrer Schule aussah, nur dass sie kleiner und unordentlicher war. Er hatte ihr einen heißen Kakao gebracht, sich neben sie gesetzt, und dann hatte er geredet. Er sprach über seine Kinder und erzählte ihr, dass er im Augenblick nicht bei seiner Familie lebe, dass die Trennung sehr schwer für ihn sei und dass keine Entfernung das Band zwischen Eltern und Kindern jemals zerreißen könne. Er sagte zu ihr, dass ihre Eltern sie immer lieben würden. Und immer bei ihr sein würden. Und dabei spiele es keine Rolle, wie weit der Himmel von der Erde entfernt sei.
Und dann war der Damm gebrochen. Morgen hatte geschrien und geschluchzt, ein herzzerreißendes Schluchzen, das ihren ganzen Körper schüttelte, sodass sie kaum Luft bekam. Als die Tränen erst einmal strömten, hörte sie nicht mehr zu weinen auf. Sie hatte geweint, bis sie völlig erschöpft war. Sie sank auf zwei ramponierte Stühle, zog die Beine an den Leib und schlief ein. Verschwommen erinnerte sie sich daran, dass Detective Montgomery sie in einen kleinen muffigen Raum mit hohen Aktenstapeln und Kartons getragen hatte, in dem ein Feldbett stand. Er hatte sie auf das Bett gelegt und mit einer Decke zugedeckt, ehe er hinausgegangen war. Er hatte die Tür nur angelehnt, damit sie die Stimmen der Leute hören konnte, vor allem aber seine Stimme. Er hatte auch das Licht brennen lassen, damit sie keine Angst bekam.
Nachdem Morgan viele Monate später Dutzende von Therapiesitzungen hinter sich hatte, war sie in der Lage, sich in winzigen Schritten mit dieser Nacht auseinanderzusetzen. Sie ließ Elyse so weit an sich heran, dass sie ihr Fragen stellen konnte und die Lücken gefüllt werden konnten. Sie hatte erfahren, dass Detective Montgomery mit den Shores und dem Psychologen zusammenarbeitete. Im Verlauf der nächsten Monate rief er mehrmals an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
Es hatte Morgan nicht überrascht, sondern gerührt. Pete Montgomery war ein netter, freundlicher Mann. Das hatte sie auch in einem kurzen Brief auszudrücken versucht, den sie ihm geschrieben hatte.
Aber in dieser ersten Nacht hatte sie nichts gespürt. Sie war wie erstarrt. Sie war bei den Shores geblieben, weil es niemanden gab, der ihr näherstand, und weil ihre Eltern es gewollt hätten. Mehr schien nicht möglich zu sein. Sie lieben? Auf keinen Fall. Nicht in dieser Situation, da sie von Kummer und Wut erfüllt war. Sie wünschte sich nur, die Zeit zurückdrehen zu können, eine magische Wand zu errichten und ihre Eltern wiederzubekommen.
Elyse und Arthur waren großartig. Sie hatten alles versucht und ihr alles geboten: Zeit und Zuneigung bis hin zu der besten medizinischen Versorgung und den besten Krisen- und Kindertherapeuten, die man für Geld bekommen konnte.
»Erinnern Sie sich?« Mit dieser Frage riss Detective Montgomery sie aus ihren Gedanken.
»Ja.« Morgan hob den Kopf und schaute ihn an. »Ich musste gerade daran denken, wie verständnisvoll Sie waren. Sie haben mich niemals gedrängt. Sie haben mir nie gesagt, was ich fühlen sollte. Sie haben mich trauern lassen. Sie sind nicht in mich eingedrungen, und Sie sind nicht weggegangen. Ich weiß nicht, ob ich diese Nacht ohne Sie überstanden hätte.«
»Nun übertreiben Sie mal nicht. Es gab viele Menschen, die sich um Sie gekümmert haben. Außerdem waren Sie eine Kämpferin.«
»Ich fühlte mich nicht wie eine Kämpferin. Ich fühlte mich, als wäre mein Leben zu Ende.«
»War es auch. Sie haben es neu aufgebaut.«
»Wahrscheinlich.« Morgan verschränkte die Arme vor der Brust und rieb mit den Händen über die Ärmel ihres Pullovers. Plötzlich war ihr kalt. »Aber Wunden, wie sie mir zugefügt wurden, heilen nicht. Nicht vollständig. Was ich vorhin von Ihnen erfahren habe, ist so ungeheuerlich, dass ich das Gefühl habe, die Wunden wären wieder aufgerissen.«
»Ja«, sagte Montgomery. »Ich hätte Ihnen das gerne erspart. Es hat lange genug gedauert, bis Sie Ihren Lebenswillen wiedergefunden hatten, und das möchte ich nicht kaputtmachen.«
Seine Worte rührten sie. »Sie sind noch immer sehr nett.«
»Ich bin stinksauer. Machen Sie sich nichts vor. Ich will, dass dieser Fall gelöst wird. Ich habe vor, die Ermittlungen genau zu verfolgen, bis der wahre Täter gefasst ist.«
»Wie wollen Sie das schaffen?«, fragte Morgan. »Damals wurde der Fall viel zu schnell abgeschlossen. Das ist jetzt siebzehn Jahre her, und Sie sind nicht mehr bei der Polizei. Für mich heißt das, die Chancen, den Fall zu lösen, sind praktisch gleich null. Die Bestie, die eiskalt meine Eltern erschossen hat, wird weiterhin ein freier Mann sein, wie seit siebzehn Jahren schon.« Morgans Stimme bebte, als sie die volle Bedeutung ihrer Worte begriff. »Mein Gott«, murmelte sie. Als ihr Tränen in die Augen traten, presste sie die Hände aufs Gesicht. »Wie konnte das passieren?«
»Ich weiß es nicht.« Montgomery ging zum Sideboard, nahm die Wasserkaraffe, die dort stand, goss ihr ein Glas ein und drückte es ihr in die Hand.
»Danke.« Morgan nahm einen großen Schluck. »Tut mir leid, ich wollte Ihnen nicht den Mut nehmen.«
»Das haben Sie nicht. Sie sind enttäuscht und schockiert. Es stimmt ja auch, was Sie gesagt haben. Die Akte wurde vor vielen Jahren geschlossen. Aber unterschätzen Sie nicht die Macht des Kongressabgeordneten Shore. Er ist ein einflussreiches Mitglied des Repräsentantenhauses und ein hohes Tier im Finanzausschuss. Nicht nur die New Yorker lieben ihn, fast das ganze Land. Er hat gute Beziehungen und ist ständig in den Medien präsent. Im Augenblick unterstützt er einen wichtigen Gesetzvorschlag. Wenn ein Mann wie Shore Wirbel macht, wird das auf die Behörden gewaltigen Druck ausüben, sodass sie an dem Fall dranbleiben, bis der wahre Täter gefasst ist.«
Montgomerys kritischer Unterton entging Morgan ebenso wenig wie die Bedeutung seiner Worte. »Sie waren mit den Ergebnissen der damaligen Ermittlungen nie ganz einverstanden, nicht wahr?«, sagte sie.
»Ich hatte meine Zweifel«, erwiderte er offen. »Aber das war auch schon alles – Zweifel. Ich hatte nicht den geringsten Beweis. Und dann hat Schiller gestanden. Ich ging davon aus, dass meine Zweifel unbegründet waren.«
»Aber das war ein Irrtum.«
»Ja, hinterher ist man immer schlauer.«
Morgan musterte den Detective. Sie ließ sich von seiner lockeren Bemerkung und seiner ungerührten Miene nicht täuschen. »Sie könnten sich ohrfeigen, weil Sie nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, stimmt’s?«
»Ich hatte keine andere Wahl. Ja, ich könnte mich ohrfeigen. Aber das Bedauern gehört zum Leben.«
»Das muss nicht sein. Nicht in diesem Fall.« Morgan stellte ihr Glas ab. »Übernehmen Sie die Ermittlungen. Finden Sie den Mörder meiner Eltern.«
Montgomery runzelte die Stirn. »Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich nicht mehr bei der Polizei bin.«
»Sie haben mir auch gesagt, dass Sie jetzt als Privatdetektiv arbeiten. Betrachten Sie mich als Auftraggeberin. Nennen Sie mir Ihren Preis. Ich werde das Geld irgendwie auftreiben. Ich vertraue den Cops und der Staatsanwaltschaft nicht. Ich vertraue Ihnen.«
»Ich fühle mich geschmeichelt. Aber die Staatsanwaltschaft betrachtet mich als Quertreiber. Mein alter Chef ebenfalls. Ich würde Ihnen keinen Gefallen tun, wenn ich den Fall übernehme.«
»Oh doch. Sie sind nicht der Typ, der sich von anderen Menschen oder durch Vorschriften einschüchtern lässt. Sie schaffen es, beides zu umgehen.«
»Glauben Sie?« Morgans Bemerkung schien Montgomery zu amüsieren. »Na ja, manchmal vielleicht. Aber dieser Fall gehört nicht dazu. Glauben Sie mir – auch wenn ich versuche, den Radarkontrollen zu entkommen, werden sie mich auf ihren Schirmen aufspüren. Es würden Funken fliegen.«
»Das ist doch genau Ihr Ding«, entgegnete Morgan. »Sie würden es mit dem System aufnehmen, und Sie würden siegen.«
Montgomery lachte verhalten. »Sie haben eine sehr gute Menschenkenntnis. Die bekommt man wohl, wenn man in der Partnervermittlung arbeitet. Aber so viel Anerkennung habe ich nicht verdient.«
»Doch«, widersprach Morgan und holte tief Luft. Sie sah Bilder der Mordnacht vor Augen. »Ich erinnere mich an damals. Auch wenn ich noch ein Kind war, hat diese Nacht sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Sie haben sich um mich gekümmert. Sie waren den anderen immer zehn Schritte voraus. Und Sie haben keine Spielchen getrieben. Sie waren immer geradeheraus. Vielleicht, weil Sie ein Außenseiter sind.«
»Daran besteht kein Zweifel. Ich bin ein Cowboy. Darum habe ich den Polizeidienst quittiert und mich selbständig gemacht. Es liegt mir nicht, mich immer an die Gesetze zu halten.«
»Gut. Halten Sie sich an Ihre eigenen Regeln. Beugen Sie die Gesetze, brechen Sie sie. Das ist mir völlig egal. Hauptsache, Sie schnappen dieses Schwein.« Morgan trat einen Schritt vor, drückte die Handflächen gegeneinander und schaute Montgomery in die Augen. »Bitte, Detective. Ich bitte Sie. Tun Sie es. Tun Sie es für Ihren eigenen Seelenfrieden. Tun Sie es, weil Sie sich damals so ins Zeug gelegt haben.« Sie schluckte, und ihre Lippen bebten. »Tun Sie es für das kleine Mädchen, dem Sie beigestanden haben … für die ruhelose Frau, die dieses Mädchen heute ist. Bitte.«
Auf Montgomerys Gesicht spiegelten sich die unterschiedlichsten Gefühle. Morgan sah, dass ihre Worte ihn rührten. So wie sie selbst, erinnerte er sich jetzt an die Vergangenheit und an dieselben qualvollen Augenblicke.
»Sie glauben, dass Sie diesen Kerl schnappen können.« Morgan schaute ihm in die Augen. »Ich glaube es auch. Ich weiß es. Bitte, übernehmen Sie den Fall. Akzeptieren Sie mich als Auftraggeberin.«
Montgomery presste die Lippen zusammen und nickte. »Okay«, sagte er. »Sie haben jetzt Ihren persönlichen Privatdetektiv.«
Nachdem Montgomery gegangen war, saß Morgan eine ganze Weile allein im Konferenzzimmer. Ihre Welt war aus den Fugen geraten. Nicht nur der Schock und der Schmerz machten ihr zu schaffen – sie war auch wütend.
Der Mörder ihrer Eltern lief seit siebzehn Jahren frei herum!
Es klopfte leise an die Tür des Konferenzzimmers, ehe Jill zögernd eintrat. »Morgan?«
»Komm rein«, forderte Morgan ihre Freundin auf, während sie noch immer mit ausdruckslosem Blick ins Leere starrte.
Jill ging zu Morgan und setzte sich auf die Tischkante. »Was ist los? Jonah hat mir erzählt, dass Pete Montgomery Privatdetektiv ist.«
»Ja.« Morgan hob den Kopf und schaute in Jills besorgte Miene. »Er hat früher bei der New Yorker Polizei gearbeitet. Jetzt ist er privater Ermittler.«
»Ich weiß. Er ist offenbar Stammgast in Großvaters Restaurant und verkehrt dort seit vielen Jahren mit seiner Familie und seinen Kollegen vom Revier. Sein Sohn ist der Fotograf, für den Jonah arbeitet. Was wollte er von dir?«
»Mich warnen.«
»Wovor?«
»Eine Katastrophe, deren Auswirkungen wir alle zu spüren bekommen werden und die die Grenzen meiner Belastbarkeit überschreiten wird.«
»Morgan, du machst mir Angst.« Jill sank auf einen Stuhl und beugte sich vor. »Du scheinst den Mann zu kennen. Wenn ich recht verstanden habe, habt ihr euch zum letzten Mal gesehen, als du noch ein Kind warst. War er einer der Polizisten, die im Mord an deinen Eltern ermittelt haben?«
»Er hat die Ermittlungen geleitet. Er war damals der erste Cop am Tatort und hat mir geholfen, den ersten Schock zu überstehen. Er war der Mann, der deinen Dad bis zu Nate Schillers Verhaftung, dem Prozess und der Verurteilung stets über den aktuellen Stand der Ermittlungen informiert hat. Und jetzt stellt sich heraus, dass alles umsonst war.«
Jill riss die Augen auf. »Du willst doch nicht etwa sagen, dass dieses Schwein vorzeitig aus der Haft entlassen wird?«
»Nein. Er bleibt lebenslang im Knast.«
»Was ist es dann?«
Morgan seufzte. »Schiller war nicht der Mörder meiner Eltern. Er hat all die anderen Morde begangen und noch zwei weitere Menschen getötet, einen Cop und einen Gangsterboss, aber nicht meine Eltern.«
»Was?« Jill starrte ihre Freundin ungläubig an. »Ich verstehe nicht. Das haben sie jetzt erst herausgefunden?«
»Das ist eine lange Geschichte, aber kurz gesagt – ja.« Morgan berichtete ihrer Freundin mit knappen Worten, was sie soeben erfahren hatte. »Jetzt sind wir wieder da, wo wir angefangen haben«, sagte sie zum Schluss. »Nein, es ist noch schlimmer. Jetzt muss ich mit dem Wissen leben, dass der Mörder meiner Eltern noch immer frei herumläuft. Dass er all die Jahre ein freier Mann gewesen ist. Dass es seitdem weitere Opfer gegeben haben könnte. Dass er noch mehr Menschen töten könnte …« Morgan verstummte.
»Hör auf.« Jill legte tröstend einen Arm um Morgans Schultern. »Denk nicht so was. Denk lieber daran, dass der Fall jetzt endlich aufgeklärt wird.«
»Ja«, sagte Morgan entschlossen. »Denn dafür werde ich sorgen. Ich bin kein zehnjähriges Kind mehr. Ich werde etwas unternehmen, damit diese Sache zu einem endgültigen Ende kommt. Ich werde die besten Profis engagieren und selbst so viel tun, wie ich nur kann.«
Jill dachte darüber nach. »Gehört Detective Montgomery auch zu diesen Profis?«
»Er ist der Wichtigste. Ich habe ihn gerade engagiert.« Morgan richtete den Blick auf Jill. »Ist Charlie Denton schon da?«
»Ja, ist gerade gekommen. Soll ich das Gespräch für dich übernehmen?«
»Nein. Ich möchte mit ihm sprechen. Er arbeitet bei der Staatsanwaltschaft Manhattan. Er hat ein paar Jahre vor der Ermordung meines Vaters dort angefangen. Er hat Dad gekannt und respektiert. Ich schätze, dass die Information mittlerweile dort angekommen ist. Vielleicht weiß Charlie bereits, was unternommen wird, um die Ermittlungen im Mord an meinen Eltern neu aufzurollen. Ich muss wissen, wie viel Druck sie dort machen wollen, um die Wahrheit herauszufinden.« Morgan stand auf.
»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Jill und spreizte hilflos die Finger.
»Ruf deine Mutter an. Frag sie, ob ihr euer Essen verschieben könnt. Ich würde mich gerne mit euch allen zusammensetzen und über die ganze Sache sprechen, sobald Arthurs Maschine gelandet ist. In Ordnung?«
»Na klar.« Jill schien erleichtert zu sein, dass sie tatsächlich etwas tun konnte. »Zuerst ruf ich Dad an. Vielleicht bekommt er einen früheren Flug. Je eher er davon erfährt, desto besser. Wenn jemand den richtigen Leuten Dampf machen kann, dann er. Vielleicht solltest du bis dahin warten, Morgan, ehe du dich in diese Sache stürzt.«
»Das kann ich nicht.« Morgan drückte Jills Arm und ging zur Tür. »Du hast das Herz am rechten Fleck, und deshalb liebe ich dich. Aber ich muss irgendetwas tun, sonst verliere ich noch den Verstand.«
Jill nickte schweigend und schaute ihrer Freundin nach, die mit schnellen Schritten hinauseilte. Doch sie ließ sich von Morgans Entschlossenheit und ihrer vorgetäuschten Tapferkeit nicht blenden. Die Information, dass der Mörder ihrer Eltern auf freiem Fuß war, musste Morgan schwer getroffen haben. Sie war ohnehin psychisch angeschlagen gewesen, ehe Montgomery aufgetaucht war. Und jetzt? Jetzt war die einzige Quelle, die ihr Trost gespendet hatte, versiegt.
Jill nahm den Hörer ab und wählte die Nummer ihres Vaters.
Charlie Denton saß in dem gemütlichen Wartezimmer von Winshore. Er war unruhig, und auch der Espresso, den Beth ihm gebracht hatte, half ihm nicht über seine Nervosität hinweg. Für das Gespräch, das ihn erwartete, wäre ein Schluck Whiskey besser gewesen.
Denton war seit fast zwanzig Jahren Staatsanwalt. Er war zäh, hatte ein dickes Fell und keine Probleme damit, eiskalt zuzuschlagen. Es musste schon eine Menge passieren, um Denton aus der Fassung zu bringen, und selten warf ihn ein Gespräch aus dem Gleichgewicht.
Das war in diesem Fall anders, weil es auch um seinen Job ging.
Denton stellte die Tasse auf den Tisch und rieb sich den Nacken. Je eher dieses Gespräch zu Ende war, desto besser.
Von der anderen Seite des Gangs drang das Klingeln der Gegensprechanlage auf Beths Schreibtisch zu ihm herüber.
»Ja?«, fragte sie, nachdem sie abgehoben hatte. »Natürlich. Sofort.«
Augenblicke später stand sie in der Tür. »Mr. Denton? Morgan erwartet Sie. Ich zeige Ihnen den Weg.«
»Danke, das ist nicht nötig. In dem kleinen Salon im ersten Stock, nicht wahr?« Beth nickte, und Benton fügte hinzu: »In dem Raum fand mein erstes Gespräch statt. Ich kenne den Weg.«
Mit diesen Worten stieg er die Treppe hinauf und hielt dann auf die zweite Tür rechts zu.
Die Tür war angelehnt. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn und einer geöffneten Akte auf dem Schoß, saß Morgan auf der graublauen Eckgarnitur aus Wildleder.
Sie war sehr hübsch und von zierlicher Gestalt. Ihr haftete die seltene Verbindung von Sanftheit und Stärke an, was beides beruhigend und sexy wirkte. Seltsamerweise schien sie sich ihrer Attraktivität – und vieler anderer Dinge – gar nicht bewusst zu sein. Dabei war sie hochintelligent und verfügte über eine gute Intuition, wenn es darum ging, andere einzuschätzen.
Denton betrat den Raum und schloss die Tür hinter sich. »Guten Tag.«
»Guten Tag, Charlie.« Morgan war blass und sah müde aus. Der Todestag ihrer Eltern nahte. Das nahm sie bestimmt furchtbar mit. Und was Denton ihr jetzt zu sagen hatte, würde es für sie noch schlimmer machen.
»Verzeihen Sie, dass ich unseren Termin verschoben habe«, begann er. »Ich habe einen höllischen Tag hinter mir.«
»Ich verstehe.« Morgan zeigte auf den gepolsterten Clubsessel, der schräg gegenüber der Eckcouch stand. »Nehmen Sie bitte Platz.«
Denton setzte sich auf die Kante des Sessels, umklammerte die Knie und beugte sich vor. Es hatte keinen Zweck, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Daher kam er sofort auf den Grund seines Besuchs zu sprechen.
»Ich bin heute nicht hierhergekommen, um mit Ihnen über meine Suche nach einer Partnerin zu sprechen. Ich bin hier, um Sie über einen Deal zu informieren, den die Staatsanwaltschaft Brooklyn heute Morgen ausgehandelt hat. Die Sache betrifft Sie persönlich. Es geht um die Ermordung Ihrer Eltern und darum, wer den Mord begangen oder vielmehr nicht begangen hat.«
»Fahren Sie bitte fort«, sagte Morgan nur.
»Nate Schillers Geständnis entsprach nicht der Wahrheit. Er hat die Tat nicht begangen. Zu dem Zeitpunkt, als Ihre Eltern getötet wurden, hat Schiller einen Cop und einen Gangsterboss ermordet.« Charlie verstummte und beobachtete Morgans Reaktion. Er nahm an, dass sie schwieg, weil sie den ersten Schock verarbeiten musste. »Ich kann mir vorstellen, dass diese Nachricht Sie wie ein Schlag trifft. Es tut mir sehr leid. Einen ganzen Tag lang gab es ein politisches Tauziehen zwischen unserem Büro und der Staatsanwaltschaft Brooklyn. Unsere Seite argumentierte mit beruflichem Interesse, Brooklyn mit juristischer Zuständigkeit. Nun, wir haben gewonnen, und darum bin ich hier.«
Zu seiner großen Überraschung stieß Morgan ein freudloses Lachen aus. »Ihre Seite hat gewonnen, aber Sie persönlich haben verloren. Haben Sie den kurzen Strohhalm gezogen?«
»Was?« Denton hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit dieser Reaktion.