Schwesterherz - Andrea Kane - E-Book

Schwesterherz E-Book

Andrea Kane

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"So spannend, dass man fast vergisst zu atmen." Cosmopolitan

Central Park, New York, 17.45 Uhr: "Gefahr" ist das letzte Wort der jungen Frau, über die Victoria Kensington beim Joggen fast stolpert. Erst auf den zweiten Blick erkennt sie ihre Schwester: Audrey, die eigentlich in Florenz sein müsste und jetzt bewusstlos vor ihr liegt. Doch während Victoria Hilfe holt, verschwindet Audrey. Auf der Suche nach ihrer Schwester erhält Victoria unerwartete Unterstützung von Zachary Hamilton - dem einzigen Mann, den sie je geliebt hat. Die Suche bringt sie einander näher - und in große Gefahr: Sie stoßen auf einen Drogenring und ein dunkles Familiengeheimnis, das Victorias Leben für immer verändern könnte ...

Packende Spannung und knisternde Erotik - ein heißer Thriller von Bestseller-Autorin Andrea Kane.

Weitere Titel der Autorin bei beTHRILLED: Angsttage. Ewig währt der Zorn. Gefahrenzone. Hetzjagd. Dunkelziffer. Das Böse liegt so nah.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 706

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALT

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumDanksagungen1Central Park, New York City – Samstag, 15. April, 6.15 Uhr23456789101112131415Donnerstag, 20. April, 6.02 Uhr6.30 Uhr169.03 Uhr1717.34 Uhr18.30 Uhr18Samstag, 22. April, 8.05 Uhr8.15 Uhr9.35 Uhr19.05 Uhr192021Sonntag, 23. April, 14.30 Uhr14.55 Uhr15.30 Uhr2223Montag, 24. April, 12.30 Uhr14.30 Uhr2416.00 Uhr2526Dienstag, 25. April, 12.45 Uhr18.30 Uhr27FBI Hauptquartier, 26 Federal Plaza – Mittwoch, 26. April, 9.20 Uhr28Donnerstag, 27. April, 10.30 Uhr29Freitag, 28. April, 1.31 Uhr30Freitag, 28. April, 9.33 Uhr31Waters, Kensington, Tatem and Calder – 8.15 Uhr3233343536FBI-Hauptquartier, Federal Plaza 26 – Freitag, 5. Mai, 10.00 Uhr

Über dieses Buch

Central Park, New York, 17.45 Uhr: »Gefahr« ist das letzte Wort der jungen Frau, über die Victoria Kensington beim Joggen fast stolpert. Erst auf den zweiten Blick erkennt sie ihre Schwester: Audrey, die eigentlich in Florenz sein müsste und jetzt bewusstlos vor ihr liegt. Doch während Victoria Hilfe holt, verschwindet Audrey. Auf der Suche nach ihrer Schwester erhält Victoria unerwartete Unterstützung von Zachary Hamilton – dem einzigen Mann, den sie je geliebt hat. Die Suche bringt sie einander näher – und in große Gefahr: Sie stoßen auf einen Drogenring und ein dunkles Familiengeheimnis, das Victorias Leben für immer verändern könnte …

Über die Autorin

Andrea Kane ist eine erfolgreiche US-Autorin, die u. a. psychologische Thriller schreibt. Ihre Bücher wurden bereits in über 20 Sprachen übersetzt. Sie lebt mit ihrer Familie und einem Zwergspitz in New Jersey. Im Internet ist sie unter www.andreakane.com zu finden.

Andrea Kane

SCHWESTERHERZ

Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Ritterbach

beTHRILLED

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Digitale Neuausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2000 by Andrea Kane

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Run for your life«

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2003/2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Martina Sahler

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © shutterstock: pupsy | Krasovski Dmitri | Darlene Hewson

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5136-1

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Für Brad, der dem Wort »Partner« eine neue Tiefe und Dimension gibt – mit all meiner Liebe und meinem Dank

Danksagungen

Viele Menschen haben mir bei der Beschaffung der Hintergrundinformationen geholfen, die nötig waren, um Run For Your Life so authentisch wie möglich zu machen. Für ihre Unterstützung bin ich ihnen zutiefst dankbar:

Der Society of Competitive Intelligence Professionals (SCIP),

(Anmerkung d. Übers.: Verband der Anbieter von Competitive Intelligence;

Competitive Intelligence: ein Prozess, der Informationen über Unternehmen, Industrien und Märkte in anwendbares Wissen über Positionierung, Leistungsfähigkeit und Absichten von Marktteilnehmern transformiert. Dieses Know-how ist Grundlage für strategische und operative Unternehmensführung und -planung),

insbesondere Mitchell Audritsh, dem Koordinator des Verbands von New Jersey, der mir geholfen hat, das spannende Fachgebiet der Competitive Intelligence in die Romanfigur Zach einzuarbeiten.

Dennis Horner, einem Experten auf dem Gebiet der Elektrotechnik, der mir sein ganzes Wissen jederzeit geduldig zur Verfügung gestellt hat.

IBM, für Informationen über die Smart-Card-Technologie und ihre Integration in einen Desktop-Computer.

Dem Personal des Plaza Athénée, für seine großzügige Gastfreundlichkeit.

John Malabre, mit Leib und Seele New Yorker und außergewöhnlicher Stadtführer, für seine Insider-Kenntnisse der tollsten Stadt der Welt.

Andrea Cirillo, meiner fachkundigen Begleiterin von der Idee bis zur Auslieferung dieses Buchs – die mich ermutigte, unterstützte und gelegentlich auch antrieb, dieses Buch zu schreiben, und die immer davon überzeugt war, dass ich es schaffen würde.

Caroline Tolley, seit mehr als einem Jahrzehnt mein größter Champion.

Wendi Kane für Modedesign, Brainstorming und emotionalen Input.

Und zuletzt, aber immer an erster Stelle – Brad, Wendi, Mom und Dad, für Unterstützung, Zuneigung und Verständnis. Meine Liebe und meine Dankbarkeit sind unermesslich.

1

Central Park, New York CitySamstag, 15. April, 6.15 Uhr

Sie kamen immer näher.

Sie konnte es spüren.

Wie ein gehetztes Tier fuhr sie herum, wich zurück vor der drohenden Gefahr. Sie kauerte sich in den Schatten der Bäume, suchte mit panischen Blicken den Weg ab, während die Angst in ihr tobte.

Nichts.

Sie rannte weiter. Ihr Körper war schweißüberströmt. Sie stolperte und wäre fast gestürzt. Mühsam fand sie das Gleichgewicht, keuchend, weil ihre Lungen nicht genug Sauerstoff aufnahmen, um ihr rasendes Herz zu versorgen. Sie blieb stehen, unfähig, noch einen Schritt zu tun, dann stolperte sie atemlos weiter den schmalen Fußpfad entlang.

Sie hatte keine Sekunde zu verlieren.

Das Tageslicht verdrängte allmählich die Nacht, die New Yorker Skyline wurde bereits sichtbar.

Bald würde man sie entdecken, so viel war gewiss.

Selbst der bevorstehende Regenschauer würde sie nicht schützen. Sie waren ihr gefolgt. Sie wussten genau, wo sie suchen mussten und wonach. Ihr hellgelber Kittel leuchtete von weitem. Sie würden sie finden. Sie würden sie bestrafen. Davor hatte sie Angst. Aber noch mehr Angst hatte sie vor dem, was mit ihr geschah.

Sie war verzweifelt. Sie brauchte Hilfe. Jetzt. Ehe es zu spät war.

Sie musste zu ihrer Schwester.

Die ersten Tropfen fielen, angenehme Kühle auf ihrer überhitzten Haut. Doch die Erleichterung war nur kurz. Die Tropfen gingen über in ein gleichmäßiges Nieseln, durchweichten ihr Hemd, bis es an ihrer Haut klebte.

Ihre Zähne schlugen aufeinander.

Ihre Glieder wurden schwer, ihre Knie gaben nach.

Taumelnd versuchte sie, an einem Baumstamm Halt zu finden. Sie kämpfte gegen die Übelkeit und gegen das Schwindelgefühl, kniff die Augen zusammen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und neue Kraft.

Es war sinnlos. Ihr Körper verlor den Kampf. Ihr Herz zersprang fast. Sie hatte keine Energie, um weiterzurennen. Und sie wusste nicht, wo sie hinrennen sollte.

Ihre Schwester. Sie war ihre einzige Chance.

Wieso ist sie nicht hier?, dachte sie verzweifelt. Erneut suchte sie den Park ab, dabei konnten ihre Augen kaum noch etwas erkennen. Wo ist sie bloß?

Der Weg war verlassen. Der Regen fiel nun in einem dünnen, stetigen Strom. Vielleicht war sie im Bett geblieben. Vielleicht hatte der Regen sie abgehalten. Vielleicht war dieser ganze verzweifelte Versuch sinnlos gewesen.

In dem Fall wäre alles vorbei. Es war leicht, sie in dem menschenleeren Park zu finden. Zu fangen. Endgültig einzusperren.

Sie würden jede Sekunde hier sein.

Panik erfüllte sie.

Blind vor Angst stolperte sie den Weg entlang, nicht sicher, wohin sie lief, nur getrieben von dem Willen zu überleben.

In der Ferne knackte ein Zweig.

Hinter der Biegung hörte sie rhythmische Schritte. Tap. Tap. Es waren Schritte, ganz sicher. Sie hatte sie sich nicht eingebildet. Nicht die raschen Schritte ihrer Verfolger, sondern das regelmäßige Traben eines Joggers. Die Schritte kamen näher – nicht hinter ihr, sondern von vorn. Sie wurden lauter, dann vernahm sie auch das Keuchen eines Läufers oder einer Läuferin.

Lieber Gott, lass sie es sein.

Schwarze Schatten tanzten vor ihren Augen. Ihr Herzschlag hatte sich inzwischen so weit beschleunigt, dass sie ihre Atmung nicht mehr beherrschen konnte. Sie zitterte am ganzen Körper. Bitte, flehte sie im Stillen. Bitte.

Ein Farbfleck.

Rot. Ein roter Jogging-Anzug mit weißen Streifen an den Beinen – ihr Geschenk für ihre Schwester an ihrem letzten Geburtstag.

Gott sei Dank.

Sie warf sich nach vorn, in dem verzweifelten Wunsch, gesehen zu werden, aber ihre Glieder versagten. Der Boden kam ihr entgegen. Sie spürte ihn hart an der Schulter, dann am Rücken. Ein Stock stach ihr in den Arm.

Regentropfen schlugen ihr ins Gesicht. Eine Hand wischte sie sanft fort.

Wie aus großer Ferne hörte sie die vertraute Stimme ihren Namen rufen. Sie öffnete die Augen, aber so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts erkennen. Nur Schwärze.

Ihre Lippen bewegten sich, und sie hörte ihr eigenes zerrissenes Keuchen. Oder nicht? Sie sprach. Aber wieso konnte sie sich dann nicht hören?

Wieder versuchte sie es. Ihre Lippen formten die Ziffern.

Aber die Dunkelheit legte sich wie eine Decke über sie und erstickte jeden Laut.

2

Victoria Kensington hätte ihren Wecker an diesem Morgen fast ignoriert.

Sie hatte eine arbeitsreiche Woche hinter sich. Drei neue Mandantinnen, alles Scheidungsfälle, emotional aufgewühlte, von ihren Männern ausgebeutete Frauen.

Da war zum Beispiel Faye Larimore, Opfer der Trunkenheitsanfälle ihres Mannes. Oder Marlene Scallery, eine emotional missbrauchte 32-jährige Frau, die sich endlich ein Herz gefasst, ihre zwei Kinder genommen und ihren Mann verlassen hatte. Schließlich Doris Webster, der klassische Fall einer Frau in den besten Jahren, die sich fünfunddreißig Jahre für Mann und Kinder aufgeopfert hatte, ihre eigene Identität zu Gunsten ihres Mannes aufgegeben hatte, um ihn voll und ganz bei seiner erfolgreichen Karriere unterstützen zu können, nur damit er sie schließlich wie ein Stück Müll entsorgte und mit ihrem gemeinsamen Bankkonto sowie seiner 23-jährigen Assistentin durchbrannte.

Die Welt mochte wesentlich kultivierter sein, aber die Menschen änderten sich nicht. Vor allem solcher Abschaum wie diese Männer. Sie wurden nur noch schlimmer.

Victoria hatte bei jeder neuen Mandantin erst einmal Stunden gebraucht, um sie zu trösten und ihr gut zuzureden, ehe sie überhaupt auf ihre gesetzlich verankerten Rechte zu sprechen kommen konnte. Es waren Stunden, die sie gern opferte und niemals in Rechnung stellen würde, so sehr ihre junge Anwaltskanzlei das Geld auch brauchen konnte. Sie, Megan Stone und Paul London waren sich da einig. Es war einer der Gründe, weshalb sie die Kanzlei gegründet hatten – um Menschen zu vertreten, deren Schicksal ihnen am Herzen lag, ungeachtet des möglichen finanziellen Gewinns. Sie hatten das jahrelang geplant, während ihres Jurastudiums und auch danach kaum von etwas anderem gesprochen. Selbst als zunächst jeder von ihnen einen Job in einer anderen Kanzlei angenommen und hart gearbeitet hatte, um sich einen Namen zu machen, hatten sie sich jede Woche zu einem Drink bei Hurley’s getroffen und ihr gemeinsames Projekt auf einer Papierserviette entworfen.

Es war ein altruistischer Traum, das wussten sie nur zu gut. Aber sie waren fest entschlossen, diesen Traum zu verwirklichen.

Und nun hatten sie, nachdem sie sich drei Jahre lang angepasst hatten, genügend Geld gespart, sich einen guten Ruf erworben und genug Mandanten gesichert, um es alleine wagen zu können.

Die Anwaltskanzlei London, Kensington and Stone war im letzten Herbst gegründet worden. Die Büroräume waren bescheiden – eine Etage eines kleinen Backsteinhauses nördlich von Midtown, die sie zu einem Spottpreis hatten mieten können, nur weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen waren. Bescheiden oder nicht – sie hatten eine durchaus respektable Anzahl Mandanten an Land gezogen. Das Unternehmen begann sich gerade zu tragen – ganz knapp, aber für jeden der Partner blieb am Ende des Monats ein kleines Sümmchen übrig, mit dem man sich über Wasser halten konnte.

Sie, Paul und Meg hatten sich jeder auf einen ganz speziellen Mandantentypen spezialisiert.

Paul kümmerte sich hauptsächlich um gefährdete Unternehmen, die von Leuten mit guten Ideen, aber leeren Geldbörsen geführt wurden.

Meg vertrat ältere Menschen, die mehr Ängste und Fragen hatten als Vermögen.

Und sie?

Sie war zuständig für emotional verstümmelte Frauen.

Und auch ohne Therapeut konnte man leicht erraten, wieso.

Vor allem, wenn man wusste, wie sie aufgewachsen war.

Nach letzter Woche war es nicht verwunderlich, dass sie unruhig schlief und von unangenehmen Träumen verfolgt wurde. Sie war erschöpft und hatte den Kopf voll von den Sorgen und Nöten ihrer neuen Mandantinnen.

Zum Ausgleich hatte sie vor allem ihre regelmäßige Joggingrunde. Sie lief jeden Dienstag, Donnerstag und Samstag, schon seit ihrem Jurastudium an der Columbia University. Joggen machte ihren Kopf frei, und hinterher fühlte sie sich wie neugeboren.

Andererseits brauchte sie dringend Schlaf. Endlich war Samstag. Die Kanzlei war geschlossen. Den hässlichen grauen Wolken vor ihrem Fenster nach zu urteilen, würde es innerhalb der nächsten Stunde ziemlich feucht draußen werden. Bis sie ihre drei Kilometer hinter sich hatte und wieder in ihrer Wohnung war, würde sie vermutlich völlig durchnässt sein.

Die Argumente, die dafür sprachen, einfach weiterzuschlafen, waren überwältigend.

Aber sie schlief ja nicht. Sie lag wach – hellwach – im Bett und überlegte hin und her, ob sie aufstehen sollte oder nicht.

Diese Energie konnte sie ebenso gut sinnvoll nutzen.

Also stellte sie den Wecker aus, zog sich ihre Joggingklamotten und Schuhe an und ging zur Tür.

Sie verließ das Haus um 5.45 Uhr, wie immer. Der kurze Weg zum Central Park war wie immer am frühen Samstagmorgen ruhig, wegen des schlechten Wetters vielleicht noch ruhiger als sonst. Auf der East 82. Street tröpfelte der Verkehr vor sich hin. Nur vereinzelt waren Fußgänger unterwegs; sie hielten kurz an, um sich eine Zeitung zu kaufen, oder verschwanden auf einen ersten, dringend benötigten Kaffee in einem Coffeeshop. Ab und zu sah man ein paar Hundebesitzer, die ihre Vierbeiner ausführten. Ungeduldig traten sie von einem Fuß auf den anderen, während die Vierbeiner an jedem Baum, jedem Hydranten, jedem Straßenschild anhielten und schnüffelten. Niemand war nach Trödeln zu Mute; alle hatten es eilig, schnell wieder nach Hause zu kommen.

Aus gutem Grund.

Der Himmel würde seine Schleusen gleich öffnen.

Ein feiner Nieselregen hatte bereits eingesetzt, als Victoria den Parkeingang an der 79. Street erreicht hatte. Sie verschwendete keine Zeit fürs Aufwärmen, dehnte bloß ein paar Muskeln, dann trabte sie los.

Es dauerte nicht lange, bis sie den Rhythmus gefunden hatte, der ihren Körper trainierte und ihren Kopf entspannte. Ganz allmählich fielen die Puzzleteile des gestrigen Termins, die sie geplagt hatten, an ihren Platz, und ihr wurde klar, was sie zu tun hatte. Ihre innere Anspannung löste sich und wurde mit den ersten dickeren Regetropfen weggespült.

Sie lief gerade um die erste Wegbiegung, als sie etwas Gelbes aufblitzen sah.

Überrascht blieb sie stehen, als eine Frau in einem zitronenfarbenen Krankenhaushemd auf sie zuwankte und kurz vor ihr zusammenbrach. Das Haar hing ihr wirr ins Gesicht, mit einem schmerzerfüllten Laut bäumte sie sich auf und streckte den Arm nach Victoria aus, als wollte sie sich an ihr festklammern. Dann fiel ihr Arm herab, und sie blieb bewegungslos liegen.

Victoria bückte sich über die Gestalt, strich ihr das Haar aus dem Gesicht – und schrie auf, als sie sah, wer es war. »Audrey!«

Alles in Victoria wurde kalt und taub. Audrey – wie konnte das sein? Audrey war doch in Italien. Nein, diese Frau konnte nicht Audrey sein. Nicht nur weil sie hier in New York war, sondern weil sie gar nicht aussah wie Audrey. Diese Frau war merkwürdig aufgedunsen, ihre Haut war fahl, sie hatte die Augen weit aufgerissen, ohne dass sie etwas zu erkennen schien.

Victoria starrte in das Gesicht der Frau; dann dämmerte ihr die schreckliche Wahrheit, und ihr wurde übel. Die Züge dieser Frau waren verzerrt, ja. Aber es war ganz sicher Audrey. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr, irgendetwas hatte ihr Äußeres völlig entstellt. Sie atmete rasselnd, ihre Brust hob und senkte sich mit jedem keuchenden Atemzug.

Victorias Kehle war vor Entsetzen wie zugeschnürt.

»Audrey!« Sie berührte die Wange ihrer Schwester, wischte den Regen von ihrer Haut.

Daraufhin bewegten sich zögernd Audreys Lippen. »Fü … fü … fünf … null … vier … null … null«, stammelte sie, und ihre Stimme war ebenso verzerrt wie ihr Gesicht. »Ge … fahr.«

Sie sank zurück, bewusstlos.

Panikerfüllt riss Victoria den Kopf hoch und sah sich um, in der verzweifelten Hoffnung, jemanden zu entdecken, der ihr helfen könnte.

Es war niemand da.

Leise fluchend unternahm sie zwei Versuche, ihre Schwester aufzuheben, die jedoch beide scheiterten. Nach Audreys stoßweisem Atmen zu urteilen, hatte sie keine Zeit zu verlieren. Sie brauchte dringend einen Arzt.

Victoria sprang auf, wölbte die Hände vor dem Mund und schrie um Hilfe. Sie wartete, betete, dass jemand antworten möge. Aber nichts regte sich.

Sie taxierte ihre Umgebung, entschied dann, dass es am besten wäre, sich auf die Suche nach einem der Polizisten zu machen, die regelmäßig durch den Park patrouillierten. Es war schrecklich für sie, Audrey allein zu lassen, selbst für ein paar Minuten, aber sie musste einen Krankenwagen holen. Die öffentlichen Telefone waren zu weit weg, außerdem funktionierten sie nie.

Sie warf einen letzten besorgten Blick auf ihre Schwester, dann rannte sie los, um Hilfe zu holen.

Es dauerte zehn Minuten, bis sie einen Polizisten gefunden hatte, und weitere fünf – angesichts ihres aufgelösten Erscheinungsbildes und der abenteuerlichen Geschichte über eine Schwester, die angeblich aus dem Nichts aufgetaucht und dann vor ihren Füßen bewusstlos zusammengebrochen war –, um den Beamten davon zu überzeugen, dass sie nicht verrückt war oder völlig überspannt. Schließlich begleitete er sie an die Stelle, wo sie Audrey zurückgelassen hatte.

Ihre Schwester war nicht mehr da.

»Hier ist niemand«, stellte der Polizist mit Nachdruck fest, als würde Victoria das nicht selbst sehen. Doch sie war viel zu erstaunt und entsetzt, um etwas zu erwidern.

Wo war Audrey?

Sie rannte los, durchforstete die nähere Umgebung.

Nichts. Keinerlei Hinweis darauf, dass hier noch vor wenigen Minuten jemand gewesen war.

»Hören Sie, Lady, ich weiß nicht, wen Sie hier gesehen haben …«

»Sie war hier.« Victoria wirbelte herum, das Kinn energisch emporgereckt.

»Gut. Jetzt ist sie es aber nicht mehr. Also muss sie sich besser gefühlt haben, aufgestanden und nach Hause gegangen sein.«

»Sie war bewusstlos.« Victoria zog die Spange fester, mit der sie ihre schwarze Haarmähne zusammenhielt. Sie rieb sich den Nacken, ihr Blick glitt über den Boden, die Angst schnürte ihr die Kehle noch enger zu. »Es ist unmöglich, dass sie aufgestanden, geschweige denn nach Hause gegangen ist.«

Der Beamte kniff misstrauisch die Augen zusammen und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den Victoria nur allzu gut kannte.

»Ich stehe nicht unter Drogen, Officer«, versicherte sie ihm mit fester Stimme. »Ich bin Anwältin. Mein Name ist Victoria Kensington. Und ich schwöre Ihnen, meine Schwester ist genau an dieser Stelle vor meinen Augen zusammengebrochen. Sie war bewusstlos, als ich losgelaufen bin, um Sie zu suchen.«

Offenbar war der Polizist mit dem ersten Teil ihrer Geschichte zufrieden, mit dem zweiten jedoch nicht. »Sind Sie denn sicher, dass das die richtige Stelle ist?«

»Absolut. Ich kenne den Central Park wie meine Westentasche. Ich jogge hier dreimal in der Woche – immer zur selben Zeit, immer dieselbe Strecke.«

»Mit Ihrer Schwester?«

»Nein. Allein. Aber sie wusste das. Sie muss hergekommen sein, um mich zu treffen.« Victoria kämpfte gegen die ansteigende Panik. »Ich muss sie finden. Und wenn Sie mir nicht dabei helfen, dann werde ich den Park eben allein umkrempeln.«

Er kratzte sich am Kopf. »Wenn es Ihre Schwester war, warum sehen Sie nicht in ihrer Wohnung nach? Vielleicht ist sie ja doch nach Hause gegangen. Vor allem, wenn es ihr so schlecht ging wie Sie sagen.«

Victoria verkniff sich jegliche Erklärung. Es war sinnlos, ihm zu sagen, dass Audrey nicht zu Hause sein konnte, dass ihr Zuhause gar nicht in New York war, schon seit Jahren nicht mehr. Und es war ganz sicher auch sinnlos, ihm zu sagen, dass sie eine Art Krankenhaushemd getragen und dass sie aufgedunsen und entstellt ausgesehen hatte, nicht bloß krank. Das würde ihn nur in seiner Ansicht bestätigen, dass sie entweder log oder vollkommen durchgeknallt war.

Und sie würde Zeit verlieren. Kostbare Zeit, die sie dazu nutzen konnte, ihre Schwester zu suchen.

»Danke, Officer. Das werde ich tun.«

Sie drehte sich um und rannte davon.

Zweieinhalb Stunden später betrat Victoria ihre Wohnung. Sie war durchnässt bis auf die Haut, ihre Zähne schlugen vor Kälte aufeinander. Sie hatte ein riesiges Stück Central Park durchkämmt, aber keine Spur von Audrey gefunden. Danach war sie zum nächsten Polizeirevier gegangen und hatte dort um Hilfe gebeten.

Selbst die Beamten, die sie vom Gericht kannten, hatten sie misstrauisch angesehen. Zwei hatten ihr immerhin angeboten, die umliegenden Krankenhäuser anzurufen und später den Central Park noch einmal zu durchsuchen – nachdem sich das Wetter aufgeklärt hätte.

Der zweite Teil ihres Angebots war sinnlos. Sie hatte in einem Umkreis von ungefähr einem Kilometer jeden Meter des Parks selbst abgesucht. Und dann erst in ein paar Stunden? Bis dahin konnte Audrey sonstwo sein. Aber den ersten Teil ihres Angebots, die Krankenhäuser anzurufen, den hatte sie angenommen.

Sie hatten jede medizinische Einrichtung innerhalb von fünfzehn Kilometern um den Park herum überprüft. Bei keiner fand sich eine Patientin namens Audrey Kensington in den Akten.

Wohin war sie verschwunden? Was um alles in der Welt ging hier vor sich?

Victoria knallte die Wohnungstür zu und steuerte ihr Schlafzimmer an. Unterwegs zog sie sich ein Handtuch aus dem Wandschrank in der Diele und wickelte es sich um, um die Nässe aufzusaugen. Sie brauchte dringend ein Bad und trockene Kleider, aber das musste vorerst noch warten.

Sie ging sofort zum Telefon und wählte die Privatnummer ihrer Eltern in deren Haus in Greenwich, Connecticut.

Die schläfrige Stimme ihrer Mutter antwortete.

»Mutter, ich bin es.«

»Victoria?« Sie klang besorgt. Niemand rief diese Nummer je vor zehn Uhr morgens an. Als Victoria noch zu Hause gewohnt hatte, hatte sie immer den Klingelton leise gestellt, damit ihre Mutter nicht gestört wurde. Alle hatten geglaubt, Barbara Kensington wäre einfach nur eine leidenschaftliche Langschläferin, aber Victoria wusste es besser. Ihre Mutter schlief regelmäßig die Folgen eines spätabendlichen Streits aus und den Alkohol, den sie anschließend benötigt hatte, um den Schmerz zu dämpfen und die emotionale Leere, die ihr Ehemann verursacht hatte.

Die Trinkerei hatte nachgelassen. Der Schmerz und die Leere nicht.

»Victoria?«, wiederholte ihre Mutter. »Ist alles in Ordnung?«

»Ich weiß nicht«, antwortete sie. »Mutter, wo ist Audrey?«

»Was?« Barbara Kensington stutzte, und Victoria konnte förmlich sehen, wie sie verwundert die Augenbrauen hochzog. »Was ist das für eine Frage? Du weißt doch, wo Audrey ist. Sie ist in Florenz. Zum Malen.«

»Bist du sicher?«

»Victoria, jetzt machst du mir langsam Angst. Natürlich bin ich sicher. Was soll das alles? Es ist nicht mal halb neun. Hast du irgendwelche Nachrichten gehört, die dich beunruhigt haben? Ist das der Grund für deinen Anruf?«

»Nein, nichts dergleichen.« Victoria betrachtete die Pfützen, die sich um ihre Füße bildeten, während sie überlegte, wie viel sie ihrer Mutter erzählen sollte. Ihr erster Instinkt riet ihr, sie zu schützen, wie immer. Es hatte keinen Zweck, die arme Frau unnötig zu beunruhigen – zumal Victoria gar nichts Genaues wusste. Andererseits musste sie alles tun, um Audrey zu finden.

Sie entschied sich für einen unangenehmen Umweg.

»Ist Vater zu Hause?«, fragte sie und überlegte, wie lange es her war, seit sie tatsächlich ihren Vater sprechen wollte. Jahre vermutlich. Aber in diesem Fall … wenn irgendwer wusste, wo Audrey steckte, dann er. Er war derjenige, der sie finanziell unterstützte, sich auf dem Laufenden hielt, ihr Geld schickte, wenn sie welches brauchte. Nicht aus Liebe. Da war sich Victoria sicher. Nein, es war eine der vielen Methoden ihres Vaters, andere zu kontrollieren, vorzugsweise Mitglieder seiner Familie. Diese Kunst beherrschte er meisterhaft.

»Mutter, ist Vater zu Hause?«, wiederholte sie. »Oder ist er im Büro?« Ein bisschen hoffte sie, es wäre so. Die Park Avenue, wo sich seine elitäre Rechtsanwaltskanzlei Waters, Kensington, Tatem and Calder befand, war wesentlich näher als Greenwich.

»Es ist Samstag, meine Liebe«, erinnerte Barbara sie. Walter Kensington verbrachte jeden Samstagmorgen auf dem Golfplatz.

»Er kann doch heute nicht ernsthaft abschlagen«, wandte Victoria ein. »Draußen gießt es in Strömen.«

»Tja, dann wird er sich wohl im Clubhaus aufhalten. Er wollte sich mit einem Mandanten treffen. Wenn die Partie ausfällt, werden sie wahrscheinlich zusammen frühstücken. Was hat das alles mit Audrey zu tun?«

Dieses Gespräch führte zu nichts. Offenbar hatte ihre Mutter keine Ahnung, dass Audrey in New York war, und schon gar nicht, dass sie krank und verschwunden war.

»Ich bin mir sicher, dass ich sie heute Morgen beim Joggen gesehen habe«, meinte Victoria vorsichtig. Keine Lüge, aber nur die halbe Wahrheit. »Das hat mich ziemlich überrascht.«

»Es kann nicht deine Schwester gewesen sein. Sie ist immer noch im Ausland.« Hoffnungsvolle Stille, wie bei einem Hündchen, das eine Leckerei erwartete. »Möchtest du eine Nachricht für deinen Vater hinterlassen? Ich bin mir sicher, dass er sich darüber freuen würde.«

Er sich darüber freuen? Nur wenn diese Nachricht bedeutete, dass sie endlich nachgab und dem zustimmte, was er von ihr wollte.

Victoria dachte angestrengt nach, dann hatte sie eine neue Idee – eine, bei der sie vielleicht nicht auf die Hilfe ihres Vaters angewiesen war. »Nein, Mutter, keine Nachricht. Zumindest im Moment nicht. Ich brauche nur ein paar Informationen. Aber mir ist noch eine weitere Quelle eingefallen, die ich probieren kann. Wenn ich da nicht weiterkomme, rufe ich später noch mal an.«

»Das wäre schön. Liebes. Ich werde es ihm sofort sagen, wenn er kommt.«

Victoria verzog das Gesicht. »Gut. Jetzt geh wieder ins Bett, Mutter. Es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe.«

»Sei nicht albern. Dein Vater wird sich freuen, wenn er erfährt, dass du nach ihm gefragt hast. Auf Wiederhören, Liebes.«

Das Klicken in der Leitung war ebenso schwach wie sie.

Victoria seufzte. Aber sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. In der Sekunde, als das Freizeichen ertönte, zermarterte sie sich das Gehirn nach den richtigen Ziffern.

Fünf, fünf, fünf – null, vier, null, null. Das hatte Audrey versucht zu sagen. Offensichtlich eine Telefonnummer. Es war das einzige, was einen Sinn ergab. Ihre Schwester wollte, dass sie diese Nummer anrief – wieso, das musste Victoria erst noch herausfinden.

Sie wählte.

Zwei Klingelzeichen später war die Verbindung hergestellt.

Stille.

»Hallo? Hallo, ist da jemand?«, rief sie.

Zehn Sekunden verstrichen. Dann antwortete eine Computer-Stimme: »Leider haben Sie eine falsche Rufnummer gewählt.«

Ein Klicken, dann das Freizeichen.

Victoria starrte das Telefon ungläubig an. Ohne zu zögern wählte sie erneut. »Ich bin auf der Suche nach einer Information über Audrey Kensington«, platzte sie sofort heraus, als sie hörte, dass das Gespräch angenommen wurde. »Sie hat mir diese Nummer gegeben. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir sagen könnten …«

Wieder schnarrte die Computerstimme: »Leider haben Sie eine falsche Rufnummer gewählt.«

Die Leitung war erneut tot.

Victoria befeuchtete ihre Lippen und umklammerte den Hörer fester. Irgendwer hatte das Gespräch angenommen und dann schnell aufgelegt.

Nun, das würde sie nicht einfach hinnehmen.

Sie wählte wieder die Nummer.

Diesmal begann sie: »Hören Sie, ich weiß, dass jemand am Apparat ist. Ich möchte Sie nicht nerven, ich möchte bloß Audrey Kensington finden. Sie ist krank. Sie hat mir diese Nummer genannt, und ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll …«

Die gleiche Nachricht drang hölzern an ihr Ohr. Dann – das Freizeichen.

Wütend wählte Victoria noch einmal. In der Sekunde, als die Verbindung stand, begann sie, auf die Tastatur zu hämmern, versuchte verzweifelt, sich an jede mögliche Zahlenkombination für den Zugriff auf Sprachspeichersysteme zu erinnern.

Nichts.

Sie machte einen letzten Versuch, wartete diesmal nur auf die Verbindung und hämmerte dann so schnell wie möglich auf irgendwelche Tasten.

Die unpersönliche Computerstimme unterbrach sie, teilte ihr gleichgültig mit, dass sie die falsche Nummer gewählt habe. Dann ein Klicken.

Nein, dachte Victoria verzweifelt und legte auf. Ich habe die richtige Nummer. Aber ich weiß nicht, wie ich sie benutzen muss, um Audrey zu finden.

Sie sank auf die Bettkante und stützte den Kopf in die Hände. Irgendetwas war hier faul. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie herausbekommen konnte, was es war.

Audrey hatte ein Krankenhaushemd getragen. Sie war bewusstlos gewesen und brauchte dringend einen Arzt. Sie hatte niemandem sagen können, dass sie eine Schwester hatte und schon gar nicht, wie man Kontakt zu ihr aufnehmen konnte. Sie hatte etwas von Gefahr gesagt – Gott allein wusste, was das bedeutete. Versuchte jemand, ihr wehzutun? Hatte diese Person sie aus dem Park entführt? Wohin? Wieso? Um was mit ihr zu tun?

Victoria grub die Fingernägel in ihre Haut. Audrey brauchte sie, aber sie konnte nicht zu ihr, um ihr zu helfen. Sie konnte nicht mal einen Menschen an das andere Ende der Telefonleitung bekommen. Bloß einen gottverdammten Computer.

Im selben Moment übte an einem anderen Ort in Manhattan ein Computer seine programmierte Funktion aus.

Ein leises Surren. Zwei Pieptöne.

Information wurde verarbeitet.

Ein Warnsignal leuchtete auf einem Bildschirm auf. Ein Fenster öffnete sich und zeigte Victorias Namen, Adresse und Telefonnummer an.

Der Angestellte, der die Anlage überwachte, handelte unverzüglich.

Er hob den Telefonhörer ab und drückte die erforderlichen Tasten.

Minuten später war das Desinfektionsteam benachrichtigt.

3

Walter Kensington lehnte sich in seinem gepolsterten Ledersessel zurück, spreizte die Finger und betrachtete eingehend das detailgetreu nachgebildete Jaguarmodell auf seinem Schreibtisch.

Er erhob sich, ging zum Fenster und drehte an der Vorrichtung, mit der man die vertikalen Sichtblenden verstellen konnte. Er öffnete sie gerade so weit, dass er sein sorgfältig gepflegtes Greenwich-Grundstück überblicken konnte.

Er erinnerte sich noch gut daran, wie er es gekauft hatte, damals vor fünfundzwanzig Jahren. Er war gerade Sozius geworden. Mit achtunddreißig war er der jüngste Sozius der Kanzlei gewesen, die heute Waters, Kensington, Tatem and Calder hieß. Da war es nur angemessen gewesen, dass er in ein entsprechendes Haus zog. Der clevere Immobilienmakler, den die Kanzlei beauftragt hatte, hatte alle anderen Häuser auf seiner Liste übergangen und ihn mit blinkenden Dollarzeichen in den Augen direkt hierher geführt.

Und er hatte das Haus auf der Stelle gekauft.

Er, Barbara und Victoria – damals drei Jahre alt – waren einen Monat später eingezogen. Audrey kam im Sommer darauf zur Welt.

Seither hatte er die Ställe hinzubauen lassen, die Größe des Swimmingpools verdoppelt und den Belag des Tennisplatzes ausgetauscht, Kunststoff statt Asche. Er hatte Asche nie gemocht. Zu viele Unebenheiten, die zu viel dem Zufall überließen.

Und Zufälle waren absolut inakzeptabel. Man musste sein Leben unter Kontrolle haben, nicht umgekehrt.

Das brachte ihn wieder zu Victoria. Sie hatte einen eisernen Willen, damit war sie geboren. Schon mit drei hatte sie sich seinen Respekt verdient. Sie hatte Rückgrat, Mut. Sie war die Tochter ihres Vaters. Audrey hingegen war schüchtern, unsicher, voll alberner Träume. Eine Künstlerseele, pflegte Barbara über sie zu sagen.

Nun, er konnte mit Künstlern und ihren Seelen wenig anfangen. Audreys Malkurse und ihre sonstigen unsinnigen Eskapaden waren etwas, worum Barbara sich kümmern musste, genauso wie sie sich um das Personal kümmerte, um die Haushaltsführung und sämtliche gesellschaftlichen Verpflichtungen.

Er war für die wichtigen Dinge zuständig.

Er runzelte die Stirn, dachte über sein aktuelles Problem nach. Es zu lösen war nicht nur wichtig – es war entscheidend.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn in seinen Gedanken.

»Ja?«

»Entschuldige bitte, Schatz.« Barbara schob die Tür einen Spaltbreit auf und blieb unsicher auf der Schwelle stehen. »Ich wollte dir nur sagen, dass Victoria angerufen hat, als du unterwegs warst. Zweimal. Sie wollte dich sprechen. Es geht um irgendwelche Informationen, die sie braucht. Es klang dringend. Vielleicht arbeitet sie an einem Fall, bei dem sie deine Hilfe braucht.« Ein strahlendes Lächeln.

»Tatsächlich?« Walter drehte sich um, fuhr sich mit der Hand über sein sorgfältig gescheiteltes graues Haar. »Wann war das?«

»Das erste Mal sehr früh. Vor neun. Sie dachte, du würdest wegen des schlechten Wetters heute kein Golf spielen. Das zweite Mal um die Mittagszeit. Es ist offenbar sehr dringend …«

»Das sagtest du bereits«, unterbrach Walter sie. »Hat sie sonst noch etwas gesagt?«

Barbara trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Sie hasste es, wenn ihr Mann in diesen ungeduldigen Ton verfiel. Das bedeutete immer, dass er gereizt war. »Bei ihrem ersten Anruf erzählte sie etwas über eine Person, die sie an Audrey erinnert hätte. Aber ich schätze, das war nur ein Vorwand, um mit dir zu sprechen. Sie ist zu stolz, um zuzugeben, dass sie Hilfe braucht. Beim zweiten Mal war sie etwas direkter. Sie fragte einfach nur, ob du schon zurück seist. Als ich verneinte, bat sie mich, dir auszurichten, du mögest sie bitte anrufen.«

Walter verzog die Lippen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ist sie zu Hause oder an diesem Ort, den sie Kanzlei nennt?«

»Zu Hause.« Seine Frau sah ihn eindringlich an. »Walter, bitte, mach ihr Unternehmen nicht immer so schlecht. Ich weiß, dass es dir nicht gefällt, dass sie sich selbstständig gemacht hat. Aber sie wird irgendwann zu dir kommen. Wenn du nicht diplomatisch bist …«

»Genug.« Mit einer entschiedenen Handbewegung schickte Walter sie aus dem Zimmer. »Ich brauche von dir keine Ratschläge, wie ich mit meiner Tochter umgehen muss. Ich werde sie jetzt anrufen. Ungestört, wenn du nichts dagegen hast.«

Erleichterung machte sich in Barbaras Gesicht breit. »Natürlich.« Sie zögerte, lange genug, um zu sagen, was sie sagen musste. »Ehe ich gehe, nur noch eine kurze Erinnerung. Du hattest Clarissa und Jim auf einen Drink eingeladen. Sie kommen um sieben.«

Sein Bruder mit Frau. Das hatte er ganz vergessen.

Walter warf einen kurzen Blick auf seine Patek Philippe. Fünfzehn Uhr dreißig. Er entspannte. Damit blieb ihm noch mehr als genug Zeit, um Victoria anzurufen, seine Geschäfte zu erledigen, sich zu duschen, umzuziehen und die Times von heute zu lesen – denn das alles beabsichtigte er zu tun, ehe er Besuch bekam.

»Gut«, meinte er knapp. »Robert soll die Alkoholvorräte überprüfen.«

»Ist bereits geschehen. Robert hat eine neue Flasche Maker’s Mark aus dem Keller heraufgeholt und zwei Flaschen von diesem ausgezeichneten Bordeaux – den 80er Lafite Rothschild Pauillac, der Clarissa beim letzten Mal so gut geschmeckt hat. Und für den Fall, dass die zwei länger bleiben sollten, steht mariniertes Filet Mignon im Kühlschrank. Wir könnten grillen, wenn der Regen nachlässt.«

»Gute Idee.« Walter hörte gar nicht zu. Barbara war die perfekte Gastgeberin. Sie machte nie einen Fehler, wenn es um solche Dinge ging. Es war eine ihrer besseren Eigenschaften. Außerdem hatte er es eilig, sein Telefongespräch zu führen.

Barbara spürte die Ungeduld ihres Mannes, zog sich in die Diele zurück und schloss die Tür.

Walter setzte sich an seinen Schreibtisch und starrte das Telefon lange Zeit an. Dann hob er ab und wählte.

»Hallo?« Victorias Stimme klang angespannt.

»Hier ist dein Vater. Ich habe gehört, du wolltest mich sprechen?«

»Ja.«

»Es geht um einen juristischen Fall, sagte deine Mutter. Brauchst du einen Rat oder willst du dir ein Nachschlagewerk ausleihen – eins, das deine Kanzlei sich nicht leisten kann?«

Victoria schluckte ihren Ärger herunter. »Weder noch. Ich habe diese Entschuldigung nur für Mutter benutzt. Mein Anruf hat nichts mit einem juristischen Problem zu tun.«

»Verstehe.« Walter gab ihr keine Gelegenheit zur Erklärung. Stattdessen lenkte er das Gespräch in die Richtung, in der er es haben wollte. »Heißt das, du hast noch einmal über mein Angebot nachgedacht? Bist du endlich zur Vernunft gekommen und trittst in meine Kanzlei ein? Du kannst sofort als meine Juniorpartnerin anfangen, Victoria. Es war nicht ganz einfach, das für dich zu managen, aber zufällig glaube ich, dass du eine verflucht gute Anwältin bist. Und deshalb …«

»Vater, hör bitte auf.« Victoria sprach ruhig und beherrscht, dabei umklammerten ihre Finger den Hörer so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Es geht nicht um meine berufliche Zukunft. Ich habe dir bereits Dutzende Male erklärt, dass ich zufrieden bin mit dem, was ich mache. Ich möchte nicht bei Waters, Kensington, Tatem and Calder arbeiten. Ich möchte nicht, dass du deinen Einfluss nutzt, um mir eine Partnerschaft zu ermöglichen, weder als Junior noch sonstwie. Ich möchte genau das weiter machen, was ich mache, mit genau den Partnern und genau den Mandanten, die ich habe. Offenbar verstehst du das nicht. Aber es ist meine Entscheidung, nicht deine.«

Walter ballte die Hand zur Faust. »Du bist töricht.«

»Das ist deine Ansicht. Zufällig teile ich sie nicht.« Sie atmete langsam ein. »Ich möchte mich jetzt nicht mit dir streiten. Der Grund meines Anrufs ist ein anderer. Ich wüsste gern, wann du das letzte Mal mit Audrey gesprochen hast.«

»Mit Audrey? Gestern Abend.«

»Gestern Abend?« Victorias Herz schlug schneller. »Wo war sie?«

»In Florenz, wo sie seit einem halben Jahr ist.« Eine Pause. »Gibt es einen besonderen Grund für deine Frage?«

Victoria begann, unruhig in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen und die Telefonkordel zwischen ihren Fingern zu drehen. »Ja, einen guten Grund. Ich habe Audrey heute Morgen gesehen. Sie war im Central Park, nicht in Florenz.«

»Wie bitte?«

»Audrey. Sie ist hier in New York.«

Walter verstummte. Als er wieder sprach, klang seine Stimme ungeduldig. »Victoria, ich weiß nicht, wen du gesehen hast, aber es war nicht deine Schwester. Audrey hat mich gestern Abend ein oder zwei Stunden vor dem Abendessen angerufen, es war ein R-Gespräch. Sie brauchte Geld, wie üblich, und das habe ich ihr überwiesen, wie üblich. Nach unserem Gespräch wollte sie ins Bett gehen. Sie wollte am nächsten Morgen früh aufstehen, um den Sonnenaufgang zu malen – das Material hatte sie sich von meiner letzten Unterhaltszahlung gekauft.«

Gestern Abend? Victoria schüttelte den Kopf. Es konnte nicht sein, dass Audrey da noch in Italien gewesen war. Ihre Eltern aßen um acht Uhr zu Abend. Ein oder zwei Stunden vor dem Essen bedeutete demnach, dass der Anruf zwischen sechs und sieben erfolgt sein musste, also um Mitternacht in Florenz. Es gab keinen Direktflug aus Italien, mit dem Audrey so früh am Kennedy Airport hätte landen können, um bei Sonnenaufgang im Central Park zu sein.

Entweder hatte Audrey ihren Vater belogen, oder ihr Vater belog sie.

»Victoria?« Die Stimme ihres Vaters klang sehr genervt. »Bist du noch da?«

»Ja, Vater, ich bin noch da.« Sie biss die Zähne zusammen und rüstete sich für den Sturm, den sie gleich entfachen würde. »Ich bin noch da – und Audrey auch. Nicht in meiner Wohnung, aber in Manhattan. Ich habe niemanden gesehen, der Audrey ähnlich sah oder mich an sie erinnert hat. Ich habe Audrey gesehen. Sie trug eine Art Krankenhaushemd. Sie sah schrecklich aus, völlig aufgequollen und entstellt. Offenbar ist sie krank, sehr krank. Sie ist vor meinen Füßen zusammengebrochen, hat noch ein paar Worte hervorgestoßen und dann das Bewusstsein verloren. Ich bin sofort losgerannt, um Hilfe zu holen, und als ich zurückkam, war sie verschwunden.«

Victoria machte eine Pause, am anderen Ende der Leitung herrschte tiefes Schweigen. Entweder war ihr Vater zu dem Schluss gekommen, dass sie den Verstand verloren hatte, oder er dachte krampfhaft über eine angemessene Antwort nach.

»Vater?«, drängte sie. »Bist du sicher, dass Audrey dich gestern angerufen hat? Und bist du sicher, dass sie aus Florenz angerufen hat? Kann es nicht sein, dass du einfach nur vorausgesetzt hast, dass sie dort war?«

»Nein, Victoria, das kann nicht sein.« Die Stimme ihres Vaters war eiskalt. »Der Übersee-Operator hat uns verbunden. Der Anruf kam aus Florenz. Und ich bin zwar schon dreiundsechzig, aber ich bin noch nicht senil. Audrey hat gestern Abend angerufen. Wer auch immer die arme Frau war, die du gesehen hast, es war nicht deine Schwester.«

»Du irrst dich.«

Erneutes Schweigen. »Ich glaube allmählich, die Arbeit in deiner Kanzlei lässt dich verdummen. Audrey war bisher diejenige, die ein bisschen zerstreut war, dich habe ich immer für sehr vernünftig gehalten.«

»Ich bin vernünftig. Und deshalb weiß ich genau, was ich gesehen habe. Und gehört.«

»Was hat diese Person denn zu dir gesagt?«

Victoria wünschte, ihr Vater wäre leichter zu durchschauen. Versuchte er jetzt, sie zu beruhigen oder Informationen aus ihr herauszupressen? Und wieso sollte er Informationen aus ihr herauspressen, es sei denn, er wusste, dass in dem, was sie sagte, ein Körnchen Wahrheit steckte?

»Sie sagte etwas von Gefahr«, antwortete Victoria und versuchte, seine Reaktion zu deuten. »Und sie hat ein paar Zahlen gemurmelt. So wie sie sie sagte – drei Ziffern, dann eine Pause, dann die anderen vier – würde ich wetten, dass es sich um eine Telefonnummer handelte.«

»Aha. Lass mich raten. So wie ich dich einschätze, hast du diese Telefonnummer bereits angerufen.«

»In der Tat.«

»Und? Hast du jemanden erreicht?«

»Nein. Nur eine Computerstimme. Ich habe nichts erfahren können, deshalb habe ich dich angerufen. Ich hatte gehofft, du könntest mir weiterhelfen.« Victoria hörte auf, durchs Zimmer zu laufen, und kam zur Sache. »Vater, ich weiß sehr wohl, wie Audrey ist, wenn sie Depressionen hat.« Sie lehnte sich gegen den Bettpfosten und umklammerte das Telefon fest mit beiden Händen. »Ich weiß auch, wie du darüber denkst. Aber sie ist meine Schwester. Ich liebe sie. Ich möchte ihr helfen. Wenn du mir also etwas verheimlichst, sag es mir bitte. Wenn Audrey dich aus New York angerufen hat, wenn du etwas über ihren Zustand weißt, muss ich es wissen. Ich werde es niemandem sonst erzählen, nicht mal Mutter. Aber Audrey steckt in Schwierigkeiten, da bin ich mir ganz sicher. Sie hat Angst, und sie ist krank – zu krank, um Kontakt zu uns aufzunehmen. Ich muss sie finden, muss wissen, wer sie verschleppt hat und wieso. Ich möchte mich gern selbst davon überzeugen, dass sich jemand um sie kümmert und dass es ihr gut geht. Also, bitte, sag mir die Wahrheit.«

»Ich habe dir die Wahrheit gesagt.« Ihr Vater sprach in abgehackten Silben, seine Worte waren ebenso unnachgiebig wie seine Stimme. »Victoria, ich habe dich noch nie so erlebt. Du bist völlig unvernünftig. Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen. Du hast rund um die Uhr gearbeitet, um deine Kanzlei zum Laufen zu bringen. Vielleicht bist du einfach ein wenig überfordert.«

Frust stieg in Victoria auf. »Es geht mir bestens – physisch und psychisch. Ich …« Sie brach ab, weil ihr klar wurde, dass sie mit dem Kopf gegen die Wand lief. Ihr Vater wollte oder konnte ihr nicht sagen, was sie wissen wollte. Gut. Dann würde sie die Wahrheit eben anders herauskriegen. Wie, wusste sie allerdings noch nicht. Ihre Möglichkeiten schienen sehr begrenzt, aber sie war fest entschlossen, ihre Schwester zu finden. »Welche Florenzer Nummer hast du von Audrey?«

»Keine. Sie hat mir seit drei Jahren keine ihrer Telefonnummern gegeben.« Abrupt wechselte ihr Vater das Thema. Versuchte, sie auf eine Weise zu beschwichtigen, die sie noch mehr erzürnte als sein Ärger. »Onkel Jim und Tante Clarissa kommen heute Abend auf einen Drink zu uns. Sie würden sich sicher freuen, dich zu sehen.«

Er machte eine Pause, und Victoria war klar, dass er genau wusste, dass sie dieser Einladung nur schwer widerstehen konnte. Es war kein Geheimnis, dass sie den jüngeren Bruder ihres Vaters und dessen Frau sehr mochte. Das wiederum gefiel ihrem Vater nicht besonders. Deshalb war es umso verwunderlicher, dass er sie mit ihnen zusammen einlud. Offenbar war ihm jedes Mittel recht, mit dem er sie von ihrer Suche nach Audrey abbringen konnte.

Und das machte sie umso sicherer, dass er ihr etwas verheimlichte.

»Jim und Clarissa werden gegen sieben Uhr kommen«, fuhr ihr Vater fort. Offenbar schien er davon auszugehen, dass sie seine Einladung annahm. »Ich schicke dir einen Wagen, um dich abzuholen.«

»Ich würde gern kommen, aber es geht nicht.« Victoria bedauerte das wirklich, denn Jims und Clarissas Gesellschaft hätte ihr gut getan. Andererseits würde sie die beiden viel lieber allein treffen als bei ihren Eltern. Denn wenn sie alle zusammen waren, war die Luft zwischen ihnen so dick, dass man sie mit dem Messer schneiden konnte.

»Ich bin heute Abend mit Meg zum Essen verabredet«, erklärte sie.

»Um eure umfangreiche Mandantenliste zu besprechen?«, fragte Walter spitz.

»Um sie zu entwickeln.«

»Ich weiß nicht, welches Restaurant lange genug geöffnet hat, um ein Projekt von einer solchen Größenordnung zu diskutieren.«

Victoria ignorierte seine unverschämte Bemerkung. »Auf Wiederhören, Vater. Liebe Grüße an Mutter.« Als sie den Hörer auflegte, hatte sich ihr Unbehagen eher noch verstärkt.

Ihr Vater war ihr ganz offensichtlich ausgewichen. Er konnte gestern Abend nicht mit Audrey telefoniert haben – zumindest war sie dabei nicht in Florenz gewesen. Das bedeutete, dass sie entweder in New York gewesen war, als er mit ihr gesprochen hatte – was wiederum hieß, dass er den Zustand seiner Tochter kannte und versuchte, ihn geheimzuhalten, um seinen verdammten Ruf nicht zu beschädigen –, oder er hatte gar nicht mit ihr gesprochen und redete Victoria nun ein, sie hätte sie nicht gesehen, und zwar aus demselben Grund.

Jedenfalls versuchte er so oder so, Victoria daran zu hindern, die Wahrheit herauszufinden.

Und so oder so würde ihm das nicht gelingen.

4

Um 19.40 an diesem Abend ging Victoria die Third Avenue entlang. Ihre Gedanken drehten sich unablässig um Audrey.

Hätte sie nicht irgendwie spüren müssen, dass ihre Schwester in Schwierigkeiten steckte? Bloß wie? In der Vergangenheit waren den Rückschlägen in Audreys ständigem Kampf gegen die Bulimie immer Phasen von Depressionen und Selbstzweifeln vorausgegangen. Und in ihren letzten Briefen hatte sie nicht deprimiert geklungen. Andererseits war das schwer zu beurteilen. Audreys Briefe waren immer eine Mischung aus Verklärtheit und Melancholie – Ausdruck ihrer Künstlerseele, wie sie es selbst nannte. Eindrücke ihrer abenteuerlichen Reisen waren verwoben mit Begeisterungs- oder Missfallensbekundungen über den augenblicklichen Stand des Bildes, an dem sie gerade malte, sowie mit emotionalen Ausbrüchen über den Mann, der in ihrem Leben gerade eine Rolle spielte. Victoria hatte sich an die extremen Hochs und Tiefs im Leben ihrer Schwester gewöhnt. Deshalb wäre es ihr nie in den Sinn gekommen, dass ein neuer Rückschlag drohen könnte, zumal Audreys Zustand in letzter Zeit recht stabil gewesen war.

Ihre Schwester war so optimistisch gewesen, als Victoria sie vor fast drei Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, an jenem feuchten Augustabend, als Audrey nach Europa aufgebrochen war.

»Bist du sicher, dass es wirklich das ist, was du möchtest?«, hatte Victoria sie bei einem chaotischen Abendessen am internationalen Terminal des Kennedy Airport gefragt.

»Absolut.« Audrey hatte ihre Schwester fest umarmt. »Ich muss unbedingt von ihm weg, Victoria. Du bist stark, ich nicht. Du kannst mich nicht ewig schützen – weder vor Vater noch vor mir selbst. Ich muss die sein, die ich bin, ich muss zu mir selbst finden. Ich muss malen, alleine leben. Außerdem geht es mir jetzt wieder viel besser. Vertrau mir, ich muss das tun.«

Victoria hatte genickt, die Angst und Sorge einer Mutter nachempfunden, die ihr jüngstes Kind ziehen ließ. »Aber wir bleiben in Kontakt, ja?«

»Ich werde dir schreiben. Telefonieren ist zu teuer. Vater bezahlt mir so viel, ich möchte ihn nicht verärgern. Außerdem …« Ein trauriges Lächeln. »Er wünscht einen klaren Bruch. Je weiter weg ich gehe, je länger ich dort bleibe, desto lohnender ist die Investition für ihn. Er braucht nicht zu befürchten, dass ihm meine Eskapaden in sechstausend Kilometer Entfernung in irgendeiner Weise schaden könnten.«

Victorias Magen hatte sich zusammengezogen. »Süße, wenn du mich brauchst …«

»Ich weiß, wo ich dich finden kann«, hatte Audrey ihr mit zitternden Lippen versichert. »Das habe ich immer gewusst.«

Als Victoria jetzt an diese Worte dachte, zuckte sie zusammen. Ja, Audrey hatte sie gefunden. Jetzt lag es an ihr, dasselbe zu tun.

Mit einem sorgenvollen Seufzer betrat sie den quirligen Wollensky’s Grill. Sie suchte den gut gefüllten Gastraum ab, entdeckte Megan und ging zu ihr hinüber.

Sie nickte ihrer Freundin kurz zu, als sie sich auf einen Stuhl fallen ließ. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich hatte einen ziemlich chaotischen Tag.«

»Du siehst schrecklich aus«, stellte Megan fest.

»Danke. So fühle ich mich auch.« Victoria bestellte ein Glas Cabernet und einen Hamburger und war froh, dass sie einen so zwanglosen Treffpunkt ausgesucht hatten. Nicht nur wegen ihres in letzter Zeit sehr begrenzten Budgets, sondern weil sie nicht die geringste Lust gehabt hätte, sich in Schale zu werfen, Stöckelschuhe anzuziehen und sich zu schminken. Hier konnte sie ganz lässig sitzen, in Jeans und Seidenbluse. Ihr Haar fiel offen und lockig auf die Schultern, und bis auf einen Hauch Mascara und einen Pinselstrich Rouge, der ihre Blässe ein wenig verdecken sollte, war sie vollkommen ungeschminkt.

»Lass mich raten.« Megan grinste, während sie an einem Stück Brot knabberte. »Du hattest mal wieder Krach mit deinem Vater. Diesmal hat er dir die Nationalgarde auf den Hals gehetzt, um dich persönlich an deinen neuen Arbeitsplatz in der Park Avenue zu begleiten.«

»Nicht schlecht.« Victoria wartete, bis ihr Glas Wein gebracht wurde, nahm einen kräftigen Schluck und antwortete erst dann. »Aber nur halb wahr. Ich habe mich mit meinem Vater gestritten, aber nicht darüber. Natürlich hat er die Sozietät erwähnt, wie immer. Aber unser Hauptthema war Audrey.«

Megan zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Warum? Hast du etwas von ihr gehört?«

Sofort sah Victoria wieder Audreys aufgequollenes Gesicht vor sich und ihren starren Blick. Sie musste vorsichtig antworten, ihre persönlichen Ängste für sich behalten, um ihre Schwester zu schützen. »Wenn ich es dir erzähle, musst du versprechen, mir zu glauben. Ich könnte es nicht ertragen, wenn mir noch jemand sagt, ich würde mir Dinge einbilden.«

»Klar verspreche ich dir das. Du bist die vernünftigste Person, die ich kenne. Zu vernünftig manchmal.«

»Diesmal nicht. Zumindest nicht in den Augen der Polizei und meines Vaters.«

»Der Polizei?« Megan atmete tief ein. »Erzähl.«

So nüchtern wie möglich schilderte Victoria ihr den Vorfall vom Morgen und alles, was danach geschehen war.

Als sie fertig war, waren Megans goldbraune Augen groß vor Staunen. »Wow«, meinte sie. Sie tat betont locker, weil sie die Angst im Gesicht ihrer Freundin ein wenig mindern wollte. »Und ich habe den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen und Akten sortiert.«

»Meg, ich weiß ganz genau, dass es Audrey war.« Victoria sah sie eindringlich an. »Das Problem ist, ich weiß nicht, wo ich sie suchen soll. Du weißt ja, dass sie immer eine Einzelgängerin war. Die Einzige, die ihr nahe stand, war ich. Ich habe in der kleinen Kunstgalerie in Soho angerufen, für die sie früher mal gearbeitet hat, aber sie konnten mir nicht weiterhelfen, außer widerstrebend die Telefonnummern von einigen ihrer Bekannten herauszurücken. Keiner von ihnen hatte Kontakt zu ihr, seit sie nach Europa gegangen ist.«

»Du könntest versuchen, im Internet herauszufinden, wer hinter der Nummer steckt, die Audrey dir genannt hat – allerdings befürchte ich, dass sie nicht eingetragen ist. Du hast gesagt, du hättest schon alle Krankenhäuser angerufen?«

»Zweimal. Das erste Mal hat die Polizei es getan. Dann habe ich es noch einmal von zu Hause versucht. Aber Audrey ist nicht nur in keiner Klinik in Manhattan verzeichnet, sie benutzen auch alle keine gelben Kittel. Das ist doch seltsam, oder?«

»Und du glaubst, dein Vater wüsste etwas.«

»Ich bin mir ganz sicher.« Victoria senkte den Kopf. »Er hat alles getan, um meine Aufmerksamkeit von Audrey abzulenken. Er hat mich sogar zusammen mit meinem Onkel und meiner Tante für heute Abend zum Drink eingeladen.«

Ein schwaches Grinsen. »Das ist ja eine echte Premiere.«

»Genau. Hör zu, Meg, mein Vater kann Schwäche nicht leiden, und schon gar nicht bei Audrey. Wenn sie krank ist und diese Krankheit ihm irgendwie unangenehm werden könnte, würde er sie ignorieren – und auch ihre Hilferufe. Es ist kein Zufall, dass sie mir heute begegnet ist. Sie weiß, dass ich dreimal in der Woche dieselbe Strecke laufe. Sie hat mich gesucht. Mein Vater muss sie irgendwie vor den Kopf gestoßen haben. Und ich könnte jetzt herumirren und gar nichts tun oder meinen Instinkten folgen und meinen Vater als Ausgangspunkt benutzen.«

»Audreys Anrufe waren R-Gespräche gewesen?« Megan trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Wenn das stimmt, müsstest du an seiner Telefonrechnung sehen, von wo sie angerufen hat.«

»Du hast recht.« Victoria nahm einen weiteren Schluck von ihrem Wein. »Irgendwann müsste Audreys Anruf auf seiner Rechnung erscheinen. Aber was hilft mir das jetzt?«

»Vielleicht mehr als du denkst.« Megan sprach langsam und beobachtete genau, wie ihre Freundin reagierte. »Du nimmst an, Audrey wäre gerade erst nach New York gekommen und ihr gestriges Telefongespräch mit deinem Vater wäre ihr erstes gewesen. Ich will dich nicht noch mehr verunsichern, aber wenn er dir etwas verschweigt, könnte es dann nicht sein, dass er dir noch viel mehr verheimlicht? Zum Beispiel die Tatsache, dass Audrey schon viel länger hier ist?«

»Daran habe ich noch nicht gedacht.« Victoria runzelte die Stirn. »Möglich ist natürlich alles. Audrey hätte sich ganz sicher zuerst an ihn gewandt. Er hat ihre Abhängigkeit seit ihrer Kindheit kultiviert. Sie läuft zwar vor ihm davon, aber sie wendet sich auch sofort an ihn, wenn sie in Schwierigkeiten steckt – in finanziellen oder sonstigen. Wenn sie also schon ein paar Tage oder sogar noch länger in New York ist, müsste mein Vater das eigentlich wissen.«

»Lass uns noch einmal genau überlegen. Hast du Audrey in Florenz angerufen? Hast du kontrolliert, ob sie da nicht mehr ist und seit wann?«

»Ich hatte ihre Telefonnummer in Florenz nie. Und mein Vater behauptet, er hätte sie auch nicht. Er hat ihr nur Geld überwiesen, wenn sie ihn darum bat, und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln. Audrey ist nicht besonders sesshaft. Sie zieht ständig um, so wie es ihrer künstlerischen Neigung gerade passt. Sie war also nie lange an einem Ort. Ab und zu hat sie mir geschrieben, der letzte Brief wurde am 5. April abgestempelt. Und zwar definitiv in Florenz.«

»Gut. Dann fangen wir damit an. Audrey muss irgendwann in den letzten zehn Tagen in New York eingetroffen sein. Jetzt müssen wir herausfinden, wann genau.« Megan räusperte sich, ihr Vorschlag war ihr ein bisschen unangenehm. »Das bringt uns wieder zu den Telefonrechnungen deines Vaters. Hast du irgendeine Chance, dir die letzte Rechnung anzusehen, ohne dass er etwas davon merkt? Das Telefonat von gestern ist zwar noch nicht dabei, aber vielleicht stößt du auf etwas anderes Interessantes.«

Victoria sah sie an – offen und geradeaus. »Das ließe sich organisieren. Ich müsste sehr vorsichtig dabei sein, aber mit Roberts Kooperation müsste ich es schaffen.«

»Robert betet dich an. Er würde dir doch sicher helfen.«.

»Aber er würde meinen Vater nie wissentlich betrügen. Deshalb muss ich mir etwas einfallen lassen. Ich werde selbst nachsehen und Robert nur bitten, wegzuschauen.« Victoria registrierte den Kellner kaum, der ihr Essen vor sie auf den Tisch stellte. »Am Montagmorgen«, murmelte sie. »Mein Vater geht immer früh zur Arbeit. Vor sieben. Dann schläft meine Mutter noch tief und fest. Ich werde mit dem Frühzug nach Greenwich fahren. Und dann werde ich sehen, was ich herausfinden kann.«

Sie zog ihren Tagesplaner hervor und prüfte ihre Termine für Montag. »Meinen ersten Termin habe ich um zehn. Mit Faye Larimore. Würdest du für mich einspringen, falls ich mich verspäten sollte? Du müsstest ihr ein bisschen Händchen halten, falls dieses Schwein von ihrem Mann ihr am Wochenende wieder zugesetzt hat.«

»Kein Problem. Ich bin eine gute Ersatz-Händchenhalterin.« Megan wurde ganz still und schob ihre Zwiebelringe mit der Gabel auf dem Teller herum, ohne sie zu essen – was sehr untypisch für Megan war, da sie Zwiebelringe liebte.

»Okay, genug von mir«, verkündete Victoria und sah ihre Freundin an. »Dich belastet anscheinend auch etwas. Lass hören. Ist es etwas Privates oder Geschäftliches?«

»Weder noch. Das heißt, eigentlich ist es ein privates Problem, aber nicht meins. Zumindest nicht direkt. Allerdings belastet es mich schon irgendwie.«

»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.«

Meg legte die Gabel aus der Hand. »Victoria, du machst im Moment eine schwierige Zeit durch. Ich erzähle es dir ungern, aber du würdest es ohnehin früher oder später herausfinden. Das hättest du bereits getan, wenn du heute die Zeitung gelesen hättest …«

Victoria kaute langsamer und sah ihre Freundin gespannt an.

»Nun komm schon«, drängte sie, als Meg immer noch zögerte. »Was ist es?«

»Zach ist in New York.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog einen Zeitungsausschnitt hervor, den sie Victoria zuschob. »Er ist Gastredner auf einem Kongress, der übernächste Woche hier in New York stattfindet.«

Automatisch fiel Victorias Blick auf die Schlagzeile: »Zachary Hamilton konnte für den Jahreskongress der Society of Competitive Intelligence Professionals am Donnerstag, den 27. April, als Gastredner gewonnen werden.« Anschließend wurde Zachs Werdegang skizziert. Beruf: Geschäftsführender Gesellschafter bei Hamilton Enterprises, Inc., einem der renommiertesten Unternehmen auf der ganzen Welt im Bereich der Competitive Intelligence mit zahllosen nicht weniger renommierten Kunden. Ausbildung: Jurastudium und Promotion in Harvard; Diplom in Elektrotechnik am Massachusetts Institute of Technology; Diplom in Betriebspsychologie am Massachusetts Institute of Technology.

In dem Artikel war weiterhin zu lesen, dass Hamilton am Dienstagabend nach längerem Aufenthalt in Europa in New York eingetroffen sei. Er endete mit der stolzen Ankündigung, dass es sich bei Hamiltons Rede auf dem Kongress um seinen seit Jahren ersten öffentlichen Auftritt in den Vereinigten Staaten handle.

Neben dem Artikel war ein Foto von Zach abgebildet – und es raubte ihr den Atem.

Fassungslos starrte Victoria auf das Bild. Eine endlose Minute lang kämpfte sie dagegen an, sich von einer Flut aus Erinnerungen überwältigen zu lassen.

Dann legte sie den Zeitungsausschnitt zur Seite. »Es musste irgendwann so kommen«, sagte sie und gab sich alle Mühe, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Er konnte nicht für ewig fortbleiben. Aber es gibt keinen Grund zur Sorge. New York ist eine große Stadt. Ich bezweifle, dass wir uns in die Arme laufen werden. Er ist wegen des Kongresses gekommen. Ich bin mir sicher, dass er in ein paar Wochen wieder woanders hinjettet. So ist Zach.«

Megan schob sich eine honigblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie ließ sich von Victorias unbeteiligtem Gesicht nicht eine Sekunde lang täuschen, wagte aber nicht, ihr das offen zu sagen. »Es macht dir also nichts aus?«

»Nicht im Geringsten. Danke für deine Anteilnahme und dafür, dass du es mir gesagt hast. Aber ich komme schon klar damit.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Es ist vier Jahre her.«

»Ich weiß. Aber du bist immer noch nicht über ihn hinweg.«

Victoria starrte auf ihren Hamburger und fragte sich, wie sie bei dem Kloß in ihrem Hals je etwas davon herunterschlucken sollte. »Dieses Kapitel in meinem Leben ist schon lange, lange abgeschlossen.«

»Wirklich?« Megan machte einen verbotenen Schritt. »Hattest du deshalb in den letzten vier Jahren keine einzige Beziehung?«

Victoria sah Megan scharf an. »Du weißt sehr gut, dass ich dazu keine Zeit hatte. Ich habe gearbeitet. Erst habe ich gearbeitet, um mir einen Namen als Anwältin zu verschaffen, dann habe ich gearbeitet, um Mandanten an Land zu ziehen, damit ich mich mit dir und Paul selbstständig machen konnte. Und jetzt …«

»Arbeitest du, um Zach zu vergessen.«

Sie sagten beide nichts, sondern horchten auf das Stimmengewirr und das Geklapper des Geschirrs um sie herum. Offensichtlich schienen sich an diesem Samstagabend alle prächtig zu amüsieren.

»Meg, können wir dieses Thema jetzt lassen?«, bat Victoria. »Ich weiß, du meinst es gut, aber ich habe heute Abend keine Lust, mich über mein Privatleben ausfragen zu lassen. Genau genommen habe ich überhaupt keine Lust mehr zu einem ernsthaften Gespräch. Lass uns einfach essen, trinken und quatschen wie alle anderen auch.«

»Okay.« Meg begriff, dass sie ihre Freundin nicht länger bedrängen durfte. Grinsend reichte sie Victoria die Ketchupflasche. »Dann lass uns mit den Fritten anfangen. Danach bestellen wir uns noch ein paar Gläser Wein und lassen uns so richtig gehen, ja.«

Victoria musste ebenfalls lächeln. »Das klingt perfekt.«

Sie übergoss ihre Pommes frites mit einer dicken Schicht Ketchup, fest entschlossen, ihrem überforderten Gehirn eine Pause zu verschaffen. Keine Sorgen mehr, nicht heute Abend. Nicht über Audrey. Und schon gar nicht über Zach Hamilton.

Downtown, im Hauptquartier des FBI am Federal Plaza 26, lehnte Zachary Hamilton sich auf seinem Stuhl zurück und schaute das Material durch, das man ihm überreicht hatte.

»Ist das alles?«, fragte er Special Agent Meyer.

»Alles, was wir bisher haben. Der Rest hängt von Ihnen ab.« Meyer stützte sich mit den Ellbogen auf den Schreibtisch und sah den großen, kräftigen dunkelhaarigen Mann, der ihm gegenübersaß, aufmerksam an. Er hatte schon früher mit Hamilton zusammengearbeitet. Der Mann war hochintelligent, und er wusste, was er wollte. Sicher verfolgte er ein ganz persönliches Ziel, davon war Meyer überzeugt – er wusste genug über Hamiltons Vorgeschichte, um zu ahnen, um was es sich handeln könnte. Doch ganz gleich, welche persönlichen Motive ihn trieben, sie änderten nichts an seiner Qualifikation. Hamilton war gut. Verflucht gut. Und in einer so heiklen Angelegenheit wie dieser war er genau der Mann, den sie brauchten.

»Ich habe einige erste Videoaufzeichnungen«, fügte Meyer hinzu und fuhr sich mit der Hand über seinen zurückweichenden Haaransatz. »Sie müssten bis Montag hier sein. Ich werde Ihnen dann sofort Kopien in Ihre Hotelsuite schicken lassen.«

»Gut.« Hamilton erhob sich, steckte die Unterlagen in seine teure Ledertasche, ließ sie zuschnappen und verschloss sie. »In der Zwischenzeit werde ich mir das alles in Ruhe durchlesen und mir in etwa ein Bild darüber verschaffen, womit wir es zu tun haben. Wenn ich die Bänder gesehen habe, werde ich entscheiden, wie wir weiter vorgehen.«

»Okay.« Meyer stand ebenfalls auf. »Danke fürs Kommen. Tut mir leid, dass ich Sie an einem Samstagabend herbitten musste. Aber das konnte einfach nicht warten.«

»Kein Problem.« Zach zuckte mit den Schultern. »Zumindest nicht für mich. Ich hatte ohnehin nichts vor. Aber Sie …« Ein fragender Blick. »Sie haben doch eine Frau und zwei Kinder, wenn ich mich recht erinnere.«