Ewiger Krisenherd - Jörg Armbruster - E-Book

Ewiger Krisenherd E-Book

Jörg Armbruster

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Beschreibung

Kriege, Bomben, Selbstmordattentäter - nirgends gab es in den letzten Jahren so viel Gewalt wie in der arabischen Welt. Dabei hatte die arabische Jugend vor über zehn Jahren einen vielversprechenden Anlauf genommen, sich Freiheit, Selbstbestimmung und Würde zu erkämpfen. Doch alle zentralen Ziele des sogenannten Arabischen Frühlings müssen heute als gescheitert gelten. Die Folgen sind Despotismus, islamistischer Terror, Bürgerkriege, aber auch bis dato undenkbare Wechselwirkungen aus alledem. Haben also Demokratie und Frieden im Nahen Osten keine Chance? Welche Rolle spielen die Islamisten? Wie konnte es zum Rückfall in autoritäre Regime kommen? Welche Bedeutung kommt Israel zu? Und wie soll sich der Westen positionieren? Jörg Armbruster spürt diesen und weiteren zentralen Fragen nach, indem er persönliche Erlebnisse und Kontakte schildert. So entsteht ein lebendiges Bild vom Nahen Osten, seinen Problemen, Möglichkeiten und Aussichten.

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Brennpunkt Politik

 

Herausgegeben von Dr. Martin Große Hüttmann, Dr. Anna Meine, Prof. Dr. Gisela Riescher, Prof. Dr. Reinhold Weber.

 

Eine Übersicht aller lieferbaren und im Buchhandel angekündigten Bände der Reihe finden Sie unter:

https://shop.kohlhammer.de/brennpunkt-politik

 

Der Autor

 

Jörg Armbruster, geboren 1947, war bis 2012 zum zweiten Mal Nahostkorrespondent des ARD-Fernsehens mit Sitz in Kairo. Erstmals hatte er von 1999 bis 2006 aus dem Nahen Osten berichtet. Von 2006 bis 2009 leitete er die Auslandsredaktion des SWR und moderierte den ARD-Weltspiegel. Armbruster hatte in Köln Politik- und Sozialwissenschaften studiert. Das Studium schloss er mit einem Diplom ab. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst für den WDR-Hörfunk, anschließend für den SDR bis zu dessen Fusion mit dem SWF zum SWR. Für seine Berichterstattung aus dem Nahen Osten bekam er mehrere Auszeichnungen u. a. den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis und den Bayrischen Fernsehpreis für sein Lebenswerk.

Jörg Armbruster

Ewiger Krisenherd

Ist der Nahe Osten noch zu retten?

Verlag W. Kohlhammer

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Umschlagabbildung: AFP Photo/Roberto Schmidt via Getty Images.

 

 

1. Auflage 2023

 

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

 

Print:

ISBN 978-3-17-043185-0

 

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-043186-7

epub:     ISBN 978-3-17-043187-4

Inhaltsverzeichnis

Einleitung – wie alles anfing

Israel – vom Feind zum Freund?

Die Erdölstaaten – reich und repressiv

Arabellion und die Folgen

Muslimbrüder, Salafisten & Co.

Wie viel Westen verträgt der Nahe Osten?

»Failed States« – Syrien, Libyen und der Jemen

Ausblick – ist ein solcher Naher Osten noch zu retten?

Chronologie der wichtigsten Ereignisse im Nahen Osten

Einleitung – wie alles anfing

Alles begann mit einer Lüge, genauer gesagt: mit einem feierlichen Versprechen der britischen Regierung, von dem sie gewusst haben musste, dass sie es nicht einlösen konnte. Damit nahm sie bewusst in Kauf, dass sich früher oder später die Betroffenen betrogen, getäuscht und bis heute hinters Licht geführt fühlen. Noch heute gilt dieses gebrochene Wort der britischen Regierung als die moderne Ursünde des Westens im Nahen Osten, als geplanter Verrat, als einer der Auslöser vieler Konflikte in der arabischen Welt.

Wir sind im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. In Europa tobte der Erste Weltkrieg. Das Deutsche Kaiserreich und Österreich-Ungarn, die sogenannte Mittelmächte, auf der eine Seite, Frankreich, Großbritannien, Russland und später die USA auf der anderen. Franzosen, Engländer und Deutsche verbluteten auf den Schlachtfeldern Nordfrankreichs. Die Fronten verliefen nicht nur quer durch Europa. Auch der Nahe Osten war bald Schauplatz erbitterter Schlachten. Als die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich versuchten, die osmanische Hauptstadt Konstantinopel zu erobern, rief Mehmed V., Sultan des Osmanischen Reiches und Kalif aller Muslime, zum Heiligen Krieg auf. In einer der blutigsten und brutalsten Kämpfe des Ersten Weltkrieges verteidigten seine Soldaten den Bosporus und ihre Hauptstadt. Nach einem Jahr und über 350.000 Toten mussten sich die beiden europäischen Armeen geschlagen zurückziehen. Weit zurückziehen, bis nach Ägypten. Für die Briten war dies eine bittere Niederlage, die sie zwang, lokale Verbündete zu suchen, da die eigenen Soldaten in Europa gebraucht wurden.

Und hier beginnt das erste Doppelspiel von Versprechen und Täuschung. Nach dem Misserfolg vor Konstantinopel sollte der britische Hochkommissar von Ägypten, der Diplomat Sir Henry McMahon, so schnell wie möglich eine neue Front gegen das Osmanische Reich aufbauen, das mit seinen auf dem Sinai stationierten Truppen den Suezkanal bedrohte. Eine osmanische Kontrolle dieser wichtigsten Wasserstraße zwischen Europa und dem fernen Osten – nicht nur für die Britten ein Alptraum. Schließlich wurden über diese an manchen Stellen damals gerade mal 58 Meter breite Durchfahrt vom Indischen Ozean in das Mittelmeer Soldaten, Handelswaren und andere kriegswichtige Güter transportiert.

Die Briten entschieden sich für eine Taktik, mit der schon die alten Römer erfolgreich gewesen waren: teile und herrsche. Der Hass arabischer Stammesfürsten auf den osmanischen Expansionsdrang, der auch vor ihren Stammesgebieten nicht Halt machte, war ihnen nur allzu gut bekannt. Also versuchten die Briten, sie zu einem Aufstand zu überreden. Sollte dieser erfolgreich sein und die türkischen Truppen in das Kerngebiet des Osmanischen Reiches, der heutigen Türkei, zurückdrängt werden, sollten die arabischen Partner mit einem Großreich vom Jordan bis einschließlich der arabischen Halbinsel belohnt werden. Dieses Versprechen bekamen die Wüstenfürsten sogar schriftlich. Am 24. November 1915 schrieb McMahon an den Sherifen von Mekka, den Haschemitenherrscher Hussein Ibn Ali, Gebiete mit christlicher Bevölkerung wie der Levante kämen zwar nicht in Frage aber: »Vorbehaltlich der obigen Modifikationen ist Großbritannien bereit, die Unabhängigkeit der Araber anzuerkennen und zu unterstützen innerhalb der Länder, die in den vom Sherifen von Mekka vorgeschlagenen Grenzen liegen.«

Haschemiten

Großclan in Mekka und Medina, dessen Abstammung auf den Propheten Mohammed zurückgeht. Hat eine Sonderrolle in der islamischen Geschichte. Seit dem 10. Jahrhundert als Sherifen von Mekka Herrscher über die Heiligen Stätten. 1921 wurde Faisal erster König des Irak, sein Bruder Abdallah Emir von Transjordanien, ab 1946 König von Jordanien. 1925 wurden die Haschemiten vom späteren saudischen König Ibn Saud von der Arabische Halbinsel vertrieben. Heute stellen sie nur noch den König von Jordanien, ein an Bodenschätzen armer Staat.

Der Stamm der Haschemiten konnte sich also Hoffnung machen, am Ende des Feldzuges Herrscher über den größten Teil der arabischen Welt zu werden, über Gebiete in Syrien, Jordanien und dem Irak einschließlich der arabischen Halbinsel. Ein gewaltiges Imperium. Daher zögerte der Sohn des Sherifen Faisal I. nicht lange. Am 5. Juni 1916 rief er zum Heiligen Krieg gegen die Osmanen auf, allerdings ohne zu wissen, dass die Briten die Araber schon längst ausgetrickst hatten. In Wirklichkeit hatten sie ganz andere Pläne mit dem Nahen Osten. Mit den Franzosen hatten sie einen Monat zuvor ein Abkommen unterzeichnet, in dem sie das riesige Osmanische Reich nach dessen Niederlage zwischen sich aufteilten. Mit anderen Worten: Die beiden Kolonialmächte wollten Besitzer des ganzen Hauses sein, für die Araber hatten sie bestenfalls den Posten des Hausmeisters vorgesehen. Frankreich sollte das heutige Syrien und den Libanon als Einflussgebiet bekommen, Großbritannien Palästina, das Gebiet jenseits des Jordans, das spätere Jordanien, außerdem den ölreichen Irak einschließlich der Kurdenprovinzen im Norden. Benannt ist dieses geheime Sykes-Picot-Abkommen nach den beiden Unterhändlern, dem britischen Diplomaten Marc Sykes und seinem französischen Kollegen François Georges-Picot.

Noch eine weitere Verpflichtung war die britische Regierung eingegangen, die den Wunsch der Potentaten aus der Wüste nach Unabhängigkeit und Souveränität zumindest in Teilen unmöglich machen sollte. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hatten im Hafen von Haifa immer mehr Schiffe mit jüdischen Einwanderern angelegt, die meisten geflohen vor den antijüdischen Pogromen im Zarenreich und anderen Ländern Osteuropas. Etwa 25.000 bis 30.000 sollen es in der ersten Einwanderungswelle gewesen sein. In »Eretz Israel«, im Land Israel, wollten sie als gläubige Juden leben, in landwirtschaftlichen Genossenschaften oder als Handwerker in Städten wie Jerusalem oder Akkon.

Als Zionisten bezeichneten sich diese Auswanderer, die sich als Rückkehrer in das Land der »Väter und Bibel« verstanden. Ihr wichtigster Vordenker vor dem Ersten Weltkrieg, der Journalist Theodor Herzl, nannte als Hauptziel dieser neuen Ideologie »die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstatt«. Als Berichterstatter für eine Wiener Zeitung hatte er den judenfeindlichen Dreyfus-Prozess in Paris erlebt. Angesichts dieser antisemitischen Auswüchse im Gerichtssaal einer europäischen Kulturnation verlor er den Glauben, dass Europa je bereit sein werde, Juden als gleichberechtigte Bürger anzuerkennen. Für ihn konnte diese »Judenfrage«, wie er es nannte, nur gelöst werden, wenn sie sich einen eigenen Nationalstaat schafften.

Politischer Zionismus

Einrichtung eines legalen und von Nachbarn anerkannten jüdischen Staates in Palästina durch Verhandlungen, Verträge und legalen Kauf von Grund und Boden. Allerdings schließt der politische Zionismus einen illegalen Erwerb von Land heute nicht mehr aus, das gilt besonders für den Bau von israelischen Siedlungen im Westjordanland.

 

Religiöser Zionismus

Diese Variante leitet das Recht auf Palästina aus der Torah ab. Dieser Anspruch auf »das Land Israel für das Volk Israel« schließt Gewalt gegen dort Lebende Nichtjuden nicht aus. Vertreter dieser Richtung des religiösen Zionismus sind schon seit etlichen Legislaturperioden in israelischen Regierungen vertreten.

Auch in Großbritannien gewann der Zionismus immer mehr Anhänger, unter anderem in der politischen Oberschicht des Landes. Eine nicht unwichtige Rolle mag für die britische Regierung dabei die Frage gespielt haben, wer in Palästina am besten ihre Interessen vertreten könnte. Die arabischen Ureinwohner sicherlich nicht, eher wohl mit europäischem Denken vertraute Einwanderer. Daher beauftragte das Kabinett Außenminister Lord Arthur James Balfour, den Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde in Großbritannien, Lord Walter Rothschild, eine »Sympathie-Erklärung mit den jüdisch-zionistischen Bestrebungen, die vom Kabinett geprüft und gebilligt worden ist«, zuschicken. In dieser sogenannten Balfour-Declaration versicherte die britische Regierung dem aktiven Zionisten Rothschild: »Seine Majestät Regierung betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstatt in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird die größten Anstrengungen machen, um das Erreichen dieses Zieles zu erleichtern«.

Allerdings forderte die Erklärung auch, die »politischen und religiösen Rechte nichtjüdischer Gemeinschaften« in Palästina nicht zu beeinträchtigen. Freilich verstanden diese »nichtjüdischen Gemeinschaften« diese Einschränkung, sofern sie überhaupt von ihr erfuhren, eher als ein Feigenblatt denn als eine Sicherheitsgarantie, da sie in der Erklärung nur ganz am Rande auftauchen – eine Art regionaler Kleinkram. Dabei lebten 1917 in Palästina, dem Jahr des Balfour-Briefes an Rothschild, rund 574.000 muslimische Araber gegenüber 56.000 einheimischen und zugewanderten Juden.

Das also war die Situation zwischen 1915 und 1917. Drei Versprechen hatten die Briten abgegeben. Drei Versprechen, deren Erfüllung sich untereinander ausschlossen. Wie sollten sie und ihre französischen Bundesgenossen ihre geheimen Teilungspläne in Einklang bringen mit den Zusagen an den Sherifen aus Mekka? Wie die zu erwartende Masseneinwanderung der Zionisten nach Palästina den dort lebenden Arabern gegenüber rechtfertigen? Wie verhindern, dass sich bei den kaum vermeidbaren Konflikten nicht offene Gewalt Bahn bricht?

Die Briten hofften, dass die neuen Einwanderer dem feudal geprägten Palästina einen Entwicklungsschub geben würden. Doch diese eurozentristische Wunschvorstellung stellte sich bald als ein gefährliches Trugbild heraus. Immer mehr Zionisten kauften mit Duldung der britischen Mandatsverwaltung arabischen Großgrundbesitzern Land ab, auf dem sie Kibbuzim gründeten und das sie erfolgreich bewirtschafteten. Den arabischen Bauern erwuchs so eine Konkurrenz, wie sie sie so bisher noch nicht gekannt hatten. Kein Wunder daher, dass die Palästinenser die Zuwanderung als ein Risiko für ihre konservativen Traditionen erlebten, als Gefährdung ihrer religiösen Werte, als Bedrohung ihrer Existenzen. Die sie demütigende Kolonialherrschaft der Briten zusammen mit der zionistischen Landnahme zeigte ihnen immer wieder ihre eigene Hilflosigkeit. Jeden Tag. Blutige Aufstände zwischen 1920 und 1940 waren die Folge. Die Zionisten, die aus Palästina einen eigenen Staat machen wollten, verschanzten sich in ihren Kibbuzim hinter hohen Palisadenzäunen und gründeten eine Geheimarmee, die arabischen Palästinenser antworteten mit nächtlichen Überfällen und Morden, um diese schleichende Staatswerdung zu verhindern, schließlich sahen sie Palästina als ihr eigenes Land an. Bis zur Gründung des Staates Israel im Mai 1948 sollte das britische Mandatsgebiet Palästina also keine Ruhe mehr finden.

Bewaffnete Konflikte in Palästina bis 1949

1920/21: Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung in Palästina, u. a. in Jaffa, mit Toten und Verletzten.

1929: Bei Zusammenstößen in Hebron zwischen Juden und Arabern sterben 67 Juden sowie neun Araber, die von britischen Polizisten erschossen wurden. Aber 400 Juden wurden in Hebron von arabischen Familien versteckt. Insgesamt starben bei Unruhen im ganzen Land 116 Araber und 136 Juden.

1930–1935: Neu gebildete Qassam-Einheiten greifen jüdische Siedlungen an.

1936–1939: Großer arabischer Aufstand.

1931–1949: Die jüdischen Untergrundmilizen Irgun und Lechi greifen palästinensische und britische Ziele an; bspw. 1946 Bombenanschlag auf das Jerusalemer King David Hotel, dem britischen Hauptquartier, mit 91 Toten und 86 Verletzten.

Schon in den zwanziger Jahren hatten aus Mitteleuropa stammende jüdische Intellektuelle wie der Religionsphilosoph Ernst Simon die Bewegung Brit Shalom (Bund des Friedens) gegründet, die sich energisch für eine Verständigung mit den Arabern einsetzte. Zu seinen Mitstreitern gehörten der Theologe Martin Buber, der Religionshistoriker Gershom Scholem und der in Prag geborene Journalist und Schriftsteller Robert Weltsch. Sie setzten sich als Minderheit unter den Zionisten vehement für einen bi-nationalen jüdisch-arabischen Staat ein, für einen Kompromiss und eine Verständigung zwischen Arabern und Zionisten. Schließlich hatten die Neueinwanderer nicht selten den alteingesessenen Arabern das Land weggenommen, als sie ihre Kibbuzim geründeten, zumindest sahen es die arabischen Bewohner Palästinas so – selbst dann, wenn das Land gekauft und der neue Besitzer in ein Grundbuch eingetragen war. Diese liberalen Vordenker wollten für einen gerechten Ausgleich zwischen Palästinensern und Zionisten sorgen, um so absehbaren Konflikten vorzubeugen. Durchsetzen konnten sie sich aber nicht. Sie blieben eine intellektuelle Minderheit, spielten aber nach der Staatsgründung 1948 eine nicht unwichtige Rolle im Kulturleben des neuen Staates.

Der Journalist Robert Weltsch war 1938 aus Berlin in das britische Mandatsgebiet eingewandert, ab 1945 berichtete er für die liberale Tageszeitung Haaretz als Korrespondent aus London. Zusammen mit Hannah Arendt, Martin Buber und anderen sollte er 1955 das renommierte Leo-Baeck-Institut in Jerusalem gründen, das zusammen mit Ablegern in New York und London sowie einer Zweigstelle in Berlin die deutsch-jüdische Geschichte und Kultur wissenschaftlich erforscht und aufarbeitet.

Juden und Araber, so Weltsch, sollten gleichberechtigt in ein und demselben Staat leben – mit in der Verfassung abgesicherten Rechten, mit Repräsentanz im Parlament und Beteiligung an der Regierung. Auch Theodor Herzl, dem Vater des Zionismus, hatte ein solcher Staat gleicher Bürger vorgeschwebt. Besonders verbreitet war die Idee eines diskriminierungsfreien Staates unter den vor den Nazis geflohenen deutschstämmigen Juden, schließlich hatten gerade sie die Erniedrigung durch die Nationalsozialisten am eigenen Leib hatten erfahren müssen. Unter den nationalistischen Zionisten hatte sich Weltsch allerdings viele Feinde gemacht, denn diese wollten einen rein jüdischen Staat aufbauen. »Dies ist unser Land«, verkündeten sie. Außerdem beriefen sich die radikalen Zionisten auf das dem auserwählten Volk in den fünf Büchern Moses verheißene Land. Sie verstanden die Torah gewissermaßen als eine Art Grundbuch.

»Im Konflikt zwischen dem nationalen Inseldenken israelischer Zionisten und der Offenheit gegenüber dem Weltjudentum sprachen sich die meisten Jeckes (aus Deutschland eingewanderte Juden) für Offenheit und universelle humanistische Werte aus. Im Konflikt zwischen religiösen und weltlich-liberalen Wertvorstellungen vertraten die meisten Jeckes den letztgenannten Standpunkt. Im Konflikt zwischen sozialistischem Kollektivismus und liberalem Individualismus waren die Jeckes bei den Liberalen zu finden … Im Konflikt zwischen Gewalttätigkeit, Militarismus, Extremismus sowie Feindseligkeit gegenüber Arabern auf der einen Seite und Friedensbereitschaft auf der anderen Seite befürworteten die Jeckes Toleranz und Kompromisslösungen.« (Tom Segev: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung)

Durchsetzen konnten sich die liberalen Einwanderer nicht. Der bi-nationale Staat blieb eine Utopie. Ob eine solche Lösung je funktioniert hätte oder ob sie nur der humanistischen Sehnsucht einer mit knapper Not der Ermordung durch die Nazis Entkommener geschuldet war, darüber lässt sich heute nur noch spekulieren. Am Ende verwirklichten die nationalistischen Zionisten ihre Vorstellung eines jüdischen Staates, in dem allerdings auch eine arabische Minderheit lebte. Auch David Ben Gurion, der erste Premierminister des Landes, lehnte solche Kompromisse ab: »Ich befürworte einen Zwangstransfer (der Palästinenser). Ich sehe nichts Unmoralisches darin«, hatte er schon 1938 an die Jewish Agency geschrieben.

David Ben-Gurion

Geboren als David Josef Grün am 16.10.1886 in Płońsk, russisches Kaiserreich. Gestorben am 1.12.1973 in Ramat Gan, Israel. 1906 ausgewandert von Polen nach Haifa. 1930 Mitbegründer der zionistisch-sozialistischen Arbeiterpartei (MAPAI). Verkündet am 14.5.1948 die Unabhängigkeit Israels. Von 1948–1953 und von 1955–1963 war Ben-Gurion Premierminister und zeitweilig Verteidigungsminister. In seiner Amtszeit erfolgte die Urbarmachung von unbearbeitetem Land, Ansiedlungspolitik. Ben-Gurion vertrat die Ansicht, es gebe kein palästinensisches Volk. Über das Verhältnis zu den Arabern sagte er: »Wenn ich ein arabischer Führer wäre, würde ich nie einen Vertrag mit Israel unterschreiben. Es ist normal; wir haben ihr Land genommen. Es ist wahr, dass es uns von Gott versprochen wurde, aber wie sollte sie das interessieren? Unser Gott ist nicht ihr Gott.«

Allerdings ist auch nicht bekannt, dass arabische Politiker in der Entstehungsphase Israels jemals bereit gewesen wären, über das Modell »Ein Land für zwei Völker« zu verhandeln. Nur schwer vorstellbar; denn einer ihrer Führer, der Großmufti von Jerusalem Mohammed Amin al-Husseini, hatte schon bald nach der Machtergreifung Hitlers den Kontakt zur Nazi-Führung gesucht, in der Hoffnung, finanziellen und militärischen Beistand gegen die Briten und zionistischen Siedler zu bekommen. Tatsächlich gingen die Nazis und arabischen Nationalisten um al-Husseini eine mörderische Allianz ein, deren Basis ihr Hass auf Juden war. Ab 1941 lebte Husseini sogar als Gast Hitlers in Deutschland, wo er unter anderem half, auf dem Balkan Muslime für die Waffen-SS zu rekrutieren.

Das Verhalten arabischer Regierungen während und nach der Staatsgründung deutet ebenfalls nicht darauf hin, dass sie an einem bi-nationalen Staat interessiert gewesen wären. Im Gegenteil – die arabischen Regierungen verstanden die Gründung des Staates Israel als einen Versuch der Europäer, ihren Einfluss in der Region abzusichern. Auf die Ausrufung des Staats Israel am 14. Mai 1948 reagierten Länder wie Ägypten, Irak und Syrien daher mit Kriegserklärungen. Auch die Haschemiten, die sonst eher auf Ausgleich mit den neuen Nachbarn bedachten Herrscher über Jordanien, konnten sich dem Sog der arabischen Solidarität nicht entziehen und griffen Ziele im Westjordanland an.

Unabhängigkeitskrieg 1948/49

29.11.1947: Teilungsplan der UNO verabschiedet.

14.5.1948: Unabhängigkeitserklärung Israels.

15.5.1948: Angriffe der arabischen Koalition mit dem Ziel der Auslöschung des neuen Staats. Schon am 13.5.1948 hatte die Arabische Legion (Jordanien) die jüdische Siedlung Kfar Etzion überfallen. Dabei starben 157 Menschen. Angriffe auf Jerusalem und das Westjordanland. Angriffe aus Süden (Ägypten) und Norden (Syrien).

Erster von UN vermittelter Waffenstillstand vom 11.6. bis 8.7.1948. Aufrüstung auf beiden Seiten. Zweiter Waffenstillstand vom 18.7. bis 15.10.1948. In den folgenden Monaten Eroberung Galiläas; Korridor nach Jerusalem und Westjerusalem, im März 1949 Eilat am Roten Meer.

24.2.1949: Waffenstillstandsabkommen mit Ägypten; am 3.4.1949 mit Jordanien, am 20.7.1949 mit Syrien. Gazastreifen bleibt bei Ägypten, Westjordanland und Ostjerusalem bei Jordanien.

Vertreibung und Flucht von 500.000 bis 600.000 Palästinensern. Zerstörung ihrer Dörfer. Beginn der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung in arabischen Ländern.

Wie aber war es den Haschemiten in der Zwischenzeit ergangen, denen die Briten doch ein arabisches Weltreich versprochen hatten? Waren sie ihrem Wunschtraum wenigstens ein bisschen nähergekommen?

Entscheidend für das politische Schicksal der Länder im damaligen Nahen Osten war das Jahr 1922. In diesem Jahr erhielten Großbritannien und Frankreich vom neu gegründeten Völkerbund den Auftrag, die ihnen zugeteilten Länder »auf die Unabhängigkeit vorzubereiten«, wie dieser Vorläufer der UNO euphemistisch formulierte. Frankreichs Mandatsgebiet umfasste Syrien und den Libanon. Großbritannien bekam, wie im Sykes-Picot-Abkommen vorgesehen, Palästina, Transjordanien (seit 1950 Jordanien) und den Irak zugeteilt. Die arabischen Regenten dieser Länder sollten gemäß der Anordnung des Völkerbundes von ihren europäischen Paten »administrativen Rat und Unterstützung bis zu dem Zeitpunkt erhalten, zu dem sie auf eigenen Füßen stehen konnten«. Die Araber schienen in den Augen der Europäer also so etwas wie große Kinder zu sein, die, schlugen sie mal über die Stränge, durchaus auch übers Knie gelegt gehörten. In Wirklichkeit verbarg sich hinter dieser paternalistischen Bevormundung ein kaum verhüllter reiner Kolonialismus. Den neuen Emiren und Königen blieb nichts anderes übrig, als sich mit den nicht selten arroganten Europäern zu arrangieren, schließlich hatten sie denen ihre Thronsessel zu verdanken. Im von den Briten auf dem Reißbrett geschaffenen bettelarmen Transjordanien regierte ab 1922 der zweite Sohn des Sherifen von Mekka, Abdallah ibn al-Hussein.

Im Irak setzten die Briten dessen dritten Sohn Faisal als König ein. Sie übertrugen ihm damit eine nur schwer lösbare Aufgabe, denn sein Land hatten die Briten aus drei ehemaligen osmanischen Provinzen zusammengebacken. Niemand konnte damals wissen, ob sich die Bewohner der Provinz Basra im Süden, der Provinz Bagdad und der kurdischen im Nordirak jemals als Nation verstehen würden. Die Mehrheit bestand aus Schiiten, die seit der Herrschaft der Osmanen von der sunnitischen Minderheit politisch dominiert wurden. Außerdem gab es in dem Land Juden, Kurden und Jeziden. Die große Mehrheit der Iraker lebte auf dem Land in Stammesgemeinschaften mit eigenen Gesetzen. Sie begegneten dem von Kolonialisten eingesetzten König, der noch nicht einmal aus dem Irak stammte, nur widerwillig und unterkühlt. Damit regierten die Haschemiten zwar in zwei Ländern der arabischen Welt, von einem arabischen Großreich waren sie aber weit entfernt, zumal sie die Arabische Halbinsel in einem kurzen Krieg an den Stamm der Sauds verloren hatten.

Aber was heißt schon regieren. Sowohl in Transjordanien als auch im Irak saßen die Briten mit an den Kabinettstischen und sorgten dafür, dass keine Entscheidung gegen ihre Interessen getroffen wurde. In allen 18 Ministerien des Irak wachten britische Inspektoren über die Beachtung britischer Belange. Der Irak musste sogar die Hälfte der Gehälter dieser Aufpasser bezahlen. Britische, französische und amerikanische Firmen, die nur geringe Lizenzgebühren an die irakische Regierung abführten, beuteten Iraks Reichtum, sein Erdöl, aus. Erst 1961, knapp vierzig Jahre später, begann der irakische Staat die Ölquellen zu verstaatlichen. Drei Jahre zuvor hatte der irakische Oberst Abdel Karim Qassem die Briten erfolgreich aus dem Land geputscht.

Unabhängigkeit arabischer Länder

Syrien und Libanon: 1946 Abzug der Franzosen.

Ägypten – von Großbritannien abhängiges Königreich: 1952 Sturz des Königs, Abzug der Briten.

Transjordanien: seit 1946 volle Unabhängigkeit von Großbritannien; ab 1950 Jordanien.

Libyen: bis 1951 italienische Kolonie, anschließend Königreich, nach Putsch 1969 macht sich Muammar al-Gaddafi zum Vorsitzenden des Revolutionären Kommandorats (RCC), 2011 Sturz Gaddafis, seitdem kein funktionierender Staat mehr; große Erdölvorkommen.

Tunesien: Unabhängigkeit im Jahre 1956, von 1956–2011 durchgängig autoritär von der Einheitspartei Neo Destour/RCD regiert. Im Zuge der Revolution wurde eine verfassungsgebende Versammlung gewählt, die 2014 eine neue Verfassung verabschiedet hat. 2022 Verfassung außer Kraft gesetzt, wieder auf autoritärem Kurs.

Irak: Königreich von 1921–1958, großer Einfluss Großbritanniens, dann ab 1958 Republik; Verstaatlichung der Ölindustrie.

Saudi-Arabien: nie Kolonie, aber Teil des Osmanischen Reiches, ab 1902 allmähliche Eroberung durch Emir Abd al-Aziz II., Ibn Saud, nach 1945 enge Zusammenarbeit mit USA und Großbritannien.

Kuwait: Unabhängigkeit 1962, Erbmonarchie und Ölstaat.

Bahrain: 1970 Unabhängigkeit anerkannt, vorher Ansprüche des Iran auf Bahrain, da schiitische Bevölkerungsmehrheit.

Vereinigte Arabische Emirate: Unabhängigkeit 1970, bis 1972 Zusammenschluss der sieben Emirate zu Vereinigten Arabischen Emiraten; große Ölvorkommen.

Oman: faktische Abhängigkeit von Großbritannien, Abzug der britischen Truppen 1968, nach Absetzung seines Vaters übernahm Sultan Qabus ibn Said 1970 die Regierung bis zu seinem Tod 2021.

Katar: 1972 Unabhängigkeit, absolutistische Monarchie, eines der reichsten Länder der Welt.

Jemen: in Sechzigerjahren Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südjemen (zaiditische Monarchien gegen Republikaner), 1967 Abzug der Briten; die Republik wird im Süden ausgerufen, unterstützt von der UdSSR und Ägypten, der Norden royalistisch, unterstützt von Saudi-Arabien und Großbritannien. 1990 Wiedervereinigung. Seit 2014 Krieg Saudi-Arabiens, der Emirate und Ägyptens gegen Huthi-Rebellen im Norden des Jemen.

Die Franzosen hatten sich schon 1946 aus ihrem Mandatsgebiet, Syrien und dem Libanon, zurückgezogen. Ihre Kolonie Algerien musste sich in den Fünfziger- und bis Anfang der Sechzigerjahre in einem blutigen Krieg von der fremden Herrschaft befreien. Im Irak schafften Putschisten unter General Abdel Karim Qassem 1958 die Monarchie der Haschemiten ab. Einzig in Jordanien ist nach wie vor jene Familie an der Macht, der die Briten einst ein Großreich versprochen hatten: die Haschemiten. In den kleinen Staaten am Persischen Golf dauerte die britische Kolonialzeit sogar bis Anfang der Siebzigerjahre.

Fremdherrschaft, Verrat, Imperialismus und westliche Doppelmoral – das waren also in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Erfahrungen, die die Menschen im arabischen Raum machen mussten, erst mit den Osmanen, dann mit den Briten und Franzosen. Die versprochene Unabhängigkeit? Leeres Gerede. Stattdessen plünderten sie die Region aus. Kein Wunder, dass die Menschen immer wieder versuchten, das koloniale Joch abzuschütteln.