Falschaussage - T. Christian Miller - E-Book
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Falschaussage E-Book

T. Christian Miller

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Beschreibung

Jetzt als Miniserie bei Netflix: »Unbelievable«

»Ein Buch, das im Genre True Crime in der obersten Liga spielt.« ( Hannes Hintermeier, FAZ) Die vielfach ausgezeichneten Journalisten T. Christian Miller und Ken Armstrong erzählen die wahre Geschichte der 18jährigen Marie, die, als sie bei der Polizei ihre brutale Vergewaltigung anzeigt, nicht als Opfer, sondern als Verdächtige behandelt wird. Die Beamten bezichtigen sie der Falschaussage und statt den Täter zu suchen, wird Marie selbst vor Gericht gebracht. Mehr als zwei Jahre später kommen zwei couragierte Kriminalbeamtinnen, die eine Verbindung zu weiteren Vergewaltigungsfällen herstellen, einem brutalen Serientäter auf die Spur und bringen am Ende die schockierende Wahrheit ans Licht.

Basierend auf Ermittlungsakten und Interviews mit den wichtigsten Beteiligten, ist »Falschaussage« eine unglaubliche Geschichte über Lügen, Zweifel und den unbeirrbaren Kampf um Gerechtigkeit, die schonungslos offenlegt, wie bis heute mit sexueller Gewalt umgegangen wird – und dass viel zu oft immer noch die Opfer an den Pranger gestellt werden und nicht die Täter.

  • Von Netflix als Miniserie »Unbelievable« verfilmt.
  • Sie sagt, sie wurde vergewaltigt. Die Polizei sagt, sie lügt.
  • »Hochspannend, mit einem Twist, der John Grisham alle Ehre machen würde.« (New York Times Book Review)
  • Pulitzerpreisgekrönte wahre Geschichte.
  • »Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!« (Seattle Times)
  • Nominiert für den renommierten britischen Gold Dagger Award in der Kategorie Non Fiction.
  • Spitzentitel.
  • Deutsche Erstveröffentlichung.

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Seitenzahl: 442

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Zum Buch

Die vielfach ausgezeichnete Journalisten T. Christian Miller und Ken Armstrong erzählen die wahre Geschichte der 18jährigen Marie, die als sie bei der Polizei ihre brutale Vergewaltigung anzeigt, nicht als Opfer, sondern als Verdächtige behandelt wird. Die Beamten bezichtigen sie der Falschaussage und statt den Täter zu suchen, wird Marie selbst wegen Falschanzeige vor Gericht gebracht. Mehr als zwei Jahre später kommen zwei couragierter Kriminalbeamtinnen, die eine Verbindung zu weiteren Vergewaltigungsfällen herstellen, einem brutalen Serientäter auf die Spur und bringen am Ende die schockierende Wahrheit ans Licht.

Basierend auf Ermittlungsakten und Interviews mit den wichtigsten Beteiligten, ist »Falschaussage« eine unglaubliche Geschichte über Lügen, Zweifel und den unbeirrbaren Kampf um Gerechtigkeit, die schonungslos offenlegt, wie bis heute mit den Opfern sexueller Gewalt umgegangen wird – und dass viel zu oft immer noch die Opfer an den Pranger gestellt werden und nicht die Täter.

Zu den Autoren

T. CHRISTIAN MILLERwar Reporter bei der Los Angeles Times für den Bereich Politik und Krisengebiete. Heute ist er Senior Reporter bei der unabhängigen Nachrichtenplattform ProPublica. Miller unterrichtet Online Journalismus an der University of California, Berkeley, und war Knight Fellow an der Stanford University.

KEN ARMSTRONG hat als Journalist für das Marshall Project und die Chicago Tribune gearbeitet, seit 2017 ist Senior Reporter bei ProPublica. Armstrong war McGraw Professor of Writing an der Princeton University und Niemann Fellow an der Harvard University.

T. CHRISTIAN MILLER · KEN ARMSTRONG

Falschaussage

Eine wahre Geschichte

Aus dem Englischenvon Henning Dedekind

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »A False Report: A True Story of Rape in America« bei Crown, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC, New York.Dieser Text basiert auf der Reportage »An Unbelievable Story of Rape« von T. Christian Miller und Ken Armstrong, ursprünglich veröffentlicht auf ProPublica (propublica.org) und mitveröffentlicht vom Marshall Project am 15. Dezember 2015. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe April 2019

btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2015, 2018 by T. Christian Miller und Ken Armstrong

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by btb Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

This translation is published by arrangement with Crown,

an imprint of the Crown Publishing Group,

a division of Penguin Random House LLC, New York.

Covergestaltung: semper smile, München,

nach einem Entwurf von Christopher Brand/Crown Publishing/Penguin Random House

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

MK · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-21600-9V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für meinen Vater, Donald H. Miller, dessen Kraft, Hingabe und Pflichtgefühl mir jederzeit ein Quell der Inspiration waren. Ich freue mich auf viele weitere Jahre in deinem Licht, Dad.

T. Christian Miller

Für meine Mutter, Judy Armstrong, die bekanntlich drei Buchclubs gleichzeitig angehört und noch immer nicht vom gebundenen Buch lassen mag. »Ich blättere so gern die Seiten um«, sagt sie – Worte, die ich im Herzen trage.

Ken Armstrong

INHALT

1 DIE BRÜCKE

2 JÄGER

3 HÖHEN UND TIEFEN

4 EINE HEFTIGE REAKTION

5 EIN AUSSICHTSLOSER KAMPF

6 WEISSER MANN, BLAUE AUGEN, GRAUER PULLI

7 SCHWESTERN

8 »ETWAS DARAN, WIE SIE ES SAGTE«

9 DER INNERE SCHATTEN

10 GUTE NACHBARN

11 EIN SCHWERES VERGEHEN

12 MALE

13 ALS BLICKTE MAN IN EIN AQUARIUM

14 EIN SCHECK ÜBER 500 DOLLAR

15 327½

EPILOG ACHTZEHN RÄDER

EIN WORT DER AUTOREN

ANMERKUNGEN

DANK

DENVER mit Vororten

SEATTLE mit Vororten

1 DIE BRÜCKE

Montag, 18. August 2008

Lynnwood, Washington

Marie verließ das Vernehmungszimmer und ging in Begleitung eines Kriminalbeamten und eines Wachtmeisters die Treppe des Polizeireviers hinunter. Sie weinte nicht mehr. Unten übergab die Polizei sie den beiden Personen, die dort auf sie warteten. Marie befand sich in einem Förderprogramm für Teenager, die zu alt für eine Pflegeunterbringung wurden. Die beiden waren die Leiter des Programms.

Also, sagte einer.

Wurdest du vergewaltigt?

Es war nun eine Woche her, dass Marie, eine Achtzehnjährige mit braunen Augen, welligem Haar und einer Zahnspange, berichtet hatte, sie sei von einem Fremden mit einem Messer vergewaltigt worden. Dieser sei in ihre Wohnung eingedrungen, habe ihr die Augen verbunden und sie gefesselt und geknebelt. In jener Woche hatte Marie ihre Geschichte mindestens fünfmal der Polizei erzählt. Sie hatte Folgendes ausgesagt: dünner weißer Mann, klein, vielleicht nur 1,65 Meter groß. Blaue Jeans. Kapuzenjacke – grau, vielleicht weiß. Augenfarbe – möglicherweise blau. Ihre Geschichte war jedoch nicht jedes Mal ganz dieselbe. Außerdem hatte die Polizei gehört, dass es Menschen in Maries Leben gebe, die ihre Zweifel hätten. Als die Polizei Marie mit diesen Zweifeln konfrontierte, geriet sie ins Schwanken, machte dann einen Rückzieher und sagte schließlich, sie habe die Geschichte frei erfunden – weil ihre Pflegemutter nicht ans Telefon gehe, weil ihr Freund nur noch ein Kumpel sei und weil sie es nicht gewohnt sei, allein zu sein.

Weil sie Aufmerksamkeit gewollt habe.

In aller Kürze hatte sie den beiden Kriminalbeamten ihre Lebensgeschichte erzählt, hatte geschildert, wie sie bei ungefähr 20 verschiedenen Pflegeeltern aufgewachsen war. Sie hatte ihnen erzählt, dass sie bereits im Alter von sieben Jahren vergewaltigt worden sei. Sie hatte ihnen erzählt, es habe ihr Angst gemacht, als sie das erste Mal in ihrem Leben allein gewesen sei. Ihre Geschichte, dass ein Eindringling sie vergewaltigt habe, sei »zu einer großen Sache geworden, die so gar nicht hätte passieren sollen«, sagte sie der Polizei.

Heute hatte sie die Geduld der Polizei auf die Probe gestellt. Sie war noch einmal auf das Kommissariat gegangen und hatte einen erneuten Rückzieher gemacht, indem sie nun angab, beim ersten Mal die Wahrheit gesagt zu haben, dass sie tatsächlich vergewaltigt worden sei. Doch als man sie im Vernehmungszimmer unter Druck setzte, knickte sie wieder ein – und gab ein weiteres Mal an, die Geschichte erfunden zu haben.

Nein, sagte Marie am Fuß der Treppe zu den Leitern.

Nein, ich bin nicht vergewaltigt worden.

Die beiden Leiter, Jana und Wayne, arbeiteten für Project Ladder, ein gemeinnütziges Projekt, das Pflegekindern den Übergang in die Selbstständigkeit erleichterte. Project Ladder vermittelte Teenagern – meist Achtzehnjährigen – die Alltagskompetenzen des Erwachsenendaseins, vom Lebensmitteleinkauf bis zum Umgang mit einer Kreditkarte. Die größte Unterstützung, die das Programm bot, war finanzieller Natur. Project Ladder subventionierte jedem Teenager ein Einzimmerapartment, was es den Jugendlichen ermöglichte, auf dem hart umkämpften Wohnungsmarkt Seattles Fuß zu fassen. Wayne war Maries Fallmanager, Jana Programmbetreuerin.

Wenn das der Fall ist, sagten die Leiter zu Marie, wenn du wirklich nicht vergewaltigt wurdest, dann hast du jetzt etwas zu tun.

Marie fürchtete sich vor dem, was nun kommen würde. Sie hatte es in ihren Gesichtern gesehen, als sie die Frage beantwortet hatte. Sie waren nicht schockiert. Sie waren nicht überrascht. Auch sie hatten zuvor schon an ihren Worten gezweifelt, ebenso wie die anderen. Marie kam es so vor, als würden die Leute von nun an denken, sie wäre geisteskrank. Auch sie selbst fragte sich, ob sie nicht gestört sei, ob es vielleicht irgendetwas in ihr gebe, das repariert werden müsse. Marie erkannte, wie angreifbar sie geworden war. Sie sorgte sich darum, auch das wenige zu verlieren, was ihr geblieben war. Vor einer Woche noch hatte sie Freunde gehabt, ihren ersten Job, ihre erste eigene Wohnung, die Freiheit, zu kommen und zu gehen, ein Gefühl, dass das Leben nun endlich losging. Nun jedoch waren der Job und der ganze Optimismus fort. Ihre Wohnung und ihre Freiheit waren in Gefahr. Gab es Freunde, an die sie sich wenden könnte? Da blieb nur noch einer.

In der Tat hatte sich ihre Geschichte inzwischen zu einer großen Sache entwickelt. In der vergangenen Woche war das Fernsehen voll davon gewesen. »Eine Frau aus West-Washington hat gestanden, falschen Alarm gegeben zu haben«, hieß es in einem Nachrichtenbeitrag.1 In Seattle hatten die lokalen Partner von ABC, NBC und CBS über die Angelegenheit berichtet. Der NBC-Partner KING 5 nahm Maries Wohnanlage ins Visier der Kamera – filmte die Treppen hinauf und blieb an einem offenen Fenster stehen. Jean Enersen, die beliebteste Moderatorin Seattles, berichtete in der Zwischenzeit ihren Zuschauern: »Die Polizei von Lynnwood sagt mittlerweile, dass eine Frau, die behauptet hat, von einem Fremden sexuell missbraucht worden zu sein, die Geschichte erfunden habe … Die Beamten wissen nicht, warum sie das getan hat. Möglicherweise droht ihr jetzt eine Klage wegen Falschanzeige.«2

Fernsehreporter hatten an ihre Tür geklopft und sie vor laufender Kamera gedrängt, Fragen darüber zu beantworten, warum sie gelogen habe. Um zu entkommen, hatte sie sich mit einem Sweatshirt über dem Kopf davongeschlichen.

Ihre Geschichte fand einen Weg in die entlegeneren Winkel des Internets. False Rape Society, ein Blog, der sich auf falsche Anschuldigungen fokussiert, postete zweimal etwas über den Lynnwood-Fall: »Eine weitere in einer scheinbar endlosen Kavalkade fälschlich behaupteter Vergewaltigungen. Wieder einmal ist die Anklägerin jung – ein Teenager … Um zu unterstreichen, wie ernst diese besondere Art von Lüge ist, müssen falsche Vergewaltigungsvorwürfe härter bestraft werden. Viel härter sogar. Erst dann werden die Lügnerinnen abgeschreckt.«3 Ein Londoner, der eine »internationale Zeitschiene falscher Notzuchtanschuldigungen« zusammenstellt, die bis ins Jahr 1674 zurückreicht, machte den Lynnwood-Fall zu seinem 1188. Eintrag – nach einer Teenagerin aus Georgia, die »einvernehmlichen Sex mit einem anderen Schüler hatte und dann mit dem Finger auf einen imaginären Mann zeigte, der einen grünen Chevrolet fuhr«4, und einer Teenagerin aus England, die »ihr Einverständnis offenbar zurückzog, nachdem sie ihm eine Textnachricht geschickt hatte, in der sie ihm mitteilte, wie sehr sie es genossen habe!«. »Wie man anhand dieser Datenbank erkennen wird«, schrieb der zusammenstellende Autor, »schreien manche Frauen schon Vergewaltigung, wenn jemand lediglich einen Hut fallen lässt, oder vielmehr, wenn sie erst ihre Schlüpfer herunterlassen und es dann später bereuen.«5

In Washington und anderswo wurde Maries Geschichte zu dem Paradebeispiel in einem jahrhundertealten Streit um Vergewaltigung und Glaubwürdigkeit.

In den Nachrichten war ihr Name zwar nicht genannt worden, doch die Menschen in Maries Umfeld wussten Bescheid. Eine Freundin aus der zehnten Klasse rief sie an und sagte: Wie konntest du so etwas nur erfinden? Es war dieselbe Frage, die auch die TV-Reporter stellen wollten. Es war genau die Frage, mit der Marie überall konfrontiert wurde, wohin sie auch ging. Sie antwortete ihrer Freundin nicht. Sie hörte nur zu, dann legte sie auf – schon wieder war eine Freundschaft dahin. Einer anderen Freundin hatte Marie ihren Laptop geliehen, einen alten IBM, und nun weigerte sich die Freundin, ihn zurückzugeben. Als Marie sie offen darum bat, erhielt sie als Antwort: Wenn du lügen kannst, kann ich stehlen. Dieselbe Freundin – oder ehemalige Freundin – rief Marie an und bedrohte sie. Sie sagte zu ihr, sie solle sterben. Die Leute sahen in Marie den Grund dafür, dass echten Vergewaltigungsopfern niemand glaubte. Man nannte sie eine Schlampe und eine Hure.6

Die Leiter von Project Ladder sagten Marie, was sie zu tun hatte. Sie sagten auch, sie würde aus dem Programm fliegen, wenn sie es nicht täte. Sie würde ihre subventionierte Wohnung verlieren. Sie hätte kein Zuhause mehr.

Die Leiter brachten Marie in ihre Wohnanlage zurück und riefen die anderen Teenager von Project Ladder zusammen – Maries Leidensgenossen, gleichaltrige Jugendliche, die alle dieselben Geschichten darüber erzählen konnten, wie es war, als Mündel des Staates aufzuwachsen. Es waren ungefähr zehn, die meisten davon Mädchen. Im Empfangszimmer in der Nähe des Pools versammelten sie sich und bildeten einen Sitzkreis. Marie blieb stehen. Sie blieb stehen und erzählte ihnen – erzählte jedem, auch dem Nachbarn im ersten Stock, der eine Woche zuvor den Notruf getätigt und die Vergewaltigung gemeldet hatte –, dass alles eine Lüge gewesen sei und sie sich keine Sorgen machen müssten: Es gebe hier in der Gegend keinen Vergewaltiger, vor dem man sich in Acht nehmen müsse, keinen Sexualstraftäter, den die Polizei suchen müsse.

Während ihres Geständnisses weinte sie, was durch die unbehagliche Stille im Raum noch verstärkt wurde. Wenn jemand Mitleid mit ihr hatte, dann spürte Marie dies nur bei einer einzigen Person, einem Mädchen, das zu ihrer Rechten saß. In den Augen aller anderen las sie eine Frage – Warum hast du das getan? – und ein damit einhergehendes Urteil: Das ist doch krank.

In den folgenden Wochen und Monaten zog Maries Widerruf weitere Konsequenzen nach sich. Für sie selbst aber gab es keinen schlimmeren Augenblick als diesen.

Sie hatte noch einen Freund, an den sie sich wenden konnte, also machte sich Marie nach dem Treffen zu Ashleys Haus auf. Sie hatte keinen Führerschein, nur eine Anfängergenehmigung, also ging sie zu Fuß. Unterwegs gelangte sie zu einer Brücke. Diese führte über die Interstate 5, die meistbefahrene Straße des Staates, eine Nord-Süd-Verbindung mit einem endlosen Strom von Subarus und Schwerlasttransportern.

Marie dachte darüber nach, wie gern sie springen wollte.

Sie zog ihr Telefon hervor, rief Ashley an und sagte: Bitte hol mich ab, bevor ich noch etwas Dummes mache.

Dann warf sie das Telefon über das Geländer.

2 JÄGER

5. Januar 2011

Golden, Colorado

Kurz nach 13:00 Uhr am Mittwoch, dem 5. Januar 2011, näherte sich die Kriminalbeamtin Stacy Galbraith einer langen Reihe anonymer Apartmenthäuser, die sich einen flachen Hügel hinunterzog. Flecken schmutzigen, halb geschmolzenen Schnees bedeckten die Erde. Vor den orangefarbenen und olivgrünen Mauern der dreigeschossigen Anlage standen graue, im Winter kahle Bäume. Es war stürmisch und eiskalt.

Galbraith war dort, um einer Anzeige wegen Vergewaltigung nachzugehen.

Uniformen schwärmten in eine Erdgeschosswohnung aus. Streifenpolizisten klopften an die Türen der Nachbarn. Die Spurensicherung schoss Fotos. Sanitäter trafen in einem Krankenwagen ein. Um Galbraith herum herrschte ein regelrechtes Chaos.

In dem Gewimmel von Männern war sie eine der wenigen Frauen. Sie hatte ein schmales Gesicht und glattes blondes Haar, das ihr über die Schultern fiel. Ihre schlanke, straffe Statur glich der einer Langstreckenläuferin. Sie hatte blaue Augen.

Dann ging sie zu einem der Polizisten. Er deutete auf eine Frau in einem langen braunen Mantel, die außerhalb der Wohnung im fahlen Sonnenlicht des Winters stand. In einer Hand hielt sie eine Tasche mit ihren Habseligkeiten umklammert. Galbraith schätzte sie auf Mitte zwanzig und vielleicht 1,65 Meter groß. Sie war schmächtig und hatte dunkles Haar. Sie wirkte ruhig und gefasst.

Das Opfer.

Galbraith ging auf sie zu und stellte sich vor. Sollen wir in meinem Auto miteinander reden?, fragte sie. Dort wäre es wärmer. Und sicherer. Die Frau willigte ein. Sie nahmen auf den Vordersitzen Platz, und Galbraith drehte die Heizung voll auf.

Die Frau hieß Amber. Sie war Aufbaustudentin an einem örtlichen College. Es war Winterpause, und ihre Mitbewohnerin war über die Ferien nach Hause gefahren. Also war sie in dem Apartment geblieben, hatte die Zeit allein genossen, war lang aufgeblieben und hatte ausgeschlafen. Ihr Freund, der außerhalb der Stadt lebte, hatte sie besucht. Den vorherigen Abend hatte sie jedoch allein verbracht. Sie hatte sich etwas zum Abendessen gekocht und es sich dann bei einem Marathon von Desperate Housewives und The Big Bang Theory auf dem Bett bequem gemacht. Als sie schließlich einnickte, war es so spät, dass sie andere Bewohner der Anlage zur Arbeit gehen hörte.

Sie war gerade eingeschlafen, als sie jäh geweckt wurde. Im Dämmerlicht des Morgens sah sie die Umrisse einer Gestalt, die sich über sie beugte. Ihre Sinne begannen zu verarbeiten, was gerade geschah. In ihrem Schlafzimmer war ein Mann. Er trug eine schwarze Maske über dem Gesicht. Er trug eine graue Kapuzenjacke. Er hatte eine Jogginghose an. Seine Schuhe waren schwarz. In der Hand hielt er eine Pistole, die direkt auf sie gerichtet war.

»Schrei nicht«, sagte er zu ihr. »Sei still, oder ich erschieße dich.«

Sie spürte einen Adrenalinstoß. Ihr Blick fiel auf die Waffe. Später würde sie sich erinnern, dass sie silbern geglänzt und schwarze Markierungen gehabt hatte.

Sie flehte: Tun Sie mir nicht weh. Schlagen Sie mich nicht.

Sie bot ihm das Bargeld an, das sie in der Wohnung hatte.

»Fick dich«, sagte er zu ihr.

Der Mann jagte ihr Angst ein. Er würde ihr wehtun. Er war bereit, sie zu töten. Also beschloss sie, sich nicht zu wehren, sondern alles über sich ergehen zu lassen. Sie würde tun, was immer er von ihr verlangte. Er setzte einen schwarz-grünen Rucksack auf dem Fußboden ab. Darin befand sich alles, was er brauchte. Seine Utensilien waren in durchsichtigen Plastikbeuteln verpackt, die mit Großbuchstaben säuberlich beschriftet waren. KNEBEL. KONDOME. STIMMUNG. ABFALL.

Er befahl ihr, den warmen Schlafanzug auszuziehen. Amber sah ihm zu, wie er ein Paar weiße, schenkelhohe Strümpfe aus dem Rucksack holte und sie ihre Beine hinaufrollte. Er fragte, ob sie hochhackige Schuhe besitze. Als sie verneinte, zog er durchsichtige Plastikhighheels aus seinem Sack. Sie wurden mit rosa Bändern geschnürt, die er um ihre Fesseln wickelte. Dann griff er noch einmal in seinen Rucksack, holte rosa Haargummis heraus und frisierte ihr Haar zu zwei Zöpfen.

Wo war ihr Make-up? Sie holte ihr Schminkzeug aus einer Kommode. Seine Anweisungen waren präzise. Zuerst Lidschatten. Dann Lippenstift. Mehr. Er wollte ihre Lippen pinker haben, sagte er zu ihr. Schließlich befahl er ihr, sich auf die Matratze zu legen. Er nahm ein schwarzes, seidenes Band aus seinem Rucksack. Leg die Hände auf den Rücken, sagte er und befestigte das Band lose um ihre Handgelenke.

Mit einem Schock erkannte Amber das Band. Sie hatte es zusammen mit ihrem Freund gekauft. Vor einigen Wochen hatten sie danach gesucht, es aber nirgendwo finden können. Amber hatte angenommen, sie hätte es verlegt. Nun war sie verwirrt. Wieso besaß der Vergewaltiger ihr Band?

In den folgenden vier Stunden verging sich der Mann wiederholt an Amber. Wenn er müde wurde, ruhte er sich aus, nur mit seinem Hemd bekleidet, und trank aus einer Wasserflasche. Als sie über Schmerzen klagte, trug er ein Gleitmittel auf. Als sie sagte, ihr sei kalt, bedeckte er sie mit ihrem rosa-grünen Pullover. Er sagte ihr, was sie zu tun hatte und wie sie es zu tun hatte. Er sagte, sie sei ein »gutes Mädchen«. Er benutzte kein Kondom.

Mit dabei hatte er eine rosafarbene Digitalkamera. Er ließ Amber auf dem Bett posieren. Beweg dich so und so, wies er sie an. Dreh dich dorthin. Wenn alles nach seinem Geschmack war, machte er Bilder. Manchmal hielt er mitten in einer Vergewaltigung inne und machte weitere Fotos. Sie habe keine Ahnung, wie viele Bilder er gemacht habe, sagte sie zu Galbraith. Manchmal schlief er ein und erwachte erst nach 20 Minuten wieder. Er sagte, er werde die Fotos der Polizei gegenüber als Beweismittel dafür verwenden, dass der Geschlechtsverkehr einvernehmlich erfolgt sei. Außerdem wolle er sie auf einer Pornoseite im Internet einstellen, wo jedermann sie sehen könne – ihre Eltern, ihre Bekannten und ihr Freund.

Amber beschloss zu überleben, indem sie sich so menschlich gab wie möglich. Jedes Mal wenn er aufhörte, um sich auszuruhen, stellte sie ihm Fragen. Manchmal sagte er auch nichts. Dann wieder unterhielten sie sich 20 Minuten lang. Der Mann berichtete in allen Einzelheiten, wie er ihr nachgestellt hatte. Es schien ihn beinahe zu entspannen.

Er habe sie seit August durch die Fenster ihres Apartments beobachtet, erzählte er. Er kannte ihren vollen Namen. Er kannte ihr Geburtsdatum, die Nummer ihres Reisepasses, ihr Kfz-Kennzeichen. Er wusste, was sie studierte und wo. Er wusste, dass sie abends vor dem Zubettgehen im Bad mit ihrem Spiegelbild sprach.

All das sei zutreffend gewesen, sagte Amber zu Galbraith. Der Mann habe nicht geblufft.

Amber fragte den Mann nach seiner Herkunft. Er sagte ihr, dass er drei Fremdsprachen beherrsche – Latein, Spanisch und Russisch. Dass er viel gereist sei, nach Korea, Thailand und zu den Philippinen. Dass er das College besucht habe und kein Geld brauche. Er sagte, dass er beim Militär sei. Er sagte, er kenne eine Menge Bullen.

Seine Welt, so sagte er zu Amber, sei »kompliziert«. Die Menschen seien Wölfe oder Banditen. Die Banditen täten Frauen und Kindern niemals etwas an. Die Wölfe hingegen machten, was ihnen gefiel.

Er sei ein Wolf.

Sie habe das Gesicht des Vergewaltigers nie gesehen, sagte Amber zu Galbraith. Doch habe sie versucht, sich so viele körperliche Merkmale wie möglich einzuprägen. Er war weiß. Er hatte kurzes blondes Haar und braune Augen. Sie schätzte, dass er etwa 1,85 Meter groß sei und vielleicht 90 Kilo wiege. Seine graue Jogginghose hatte Löcher an den Knien. Auf seinen schwarzen Schuhen prangte ein Adidas-Logo. Er hatte seinen Schambereich rasiert. Er war ein bisschen mollig.

Ein Detail seines Körpers sei jedoch besonders auffällig gewesen, berichtete sie Galbraith. Der Mann habe ein braunes Muttermal an der Wade.

Als er fertig war, war es fast Mittag. Er wischte Amber mit Feuchttüchern das Gesicht ab. Er wies sie an, ins Badezimmer zu gehen und sich die Zähne zu putzen. Er befahl ihr, unter die Dusche zu gehen. Er sah zu, wie sie sich abseifte, und wies sie an, welche Körperteile sie schrubben solle. Als sie damit fertig war, sagte er, sie solle noch zehn Minuten unter der Dusche bleiben.

Bevor er ging, erzählte er ihr, wie er durch die rückwärtige Glasschiebetür in ihr Apartment gelangt war. Er sagte, sie solle einen Holzdübel in die untere Schiene stecken, um sie zu blockieren. So sei es viel sicherer, sagte er. Leute wie er würden dann nicht hineingelangen.

Er schloss die Tür und verschwand.

Als sie aus der Dusche kam, stellte sie fest, dass der Vergewaltiger ihr Schlafzimmer durchwühlt, die Bettlaken und ihre blaue Seidenunterwäsche mitgenommen hatte. Ihren grün-rosa Pulli hatte er am Fuß des Bettes zusammengeknüllt auf dem Fußboden liegen lassen.

Sie fand ihr Telefon und rief ihren Freund an. Sie sagte ihm, sie sei vergewaltigt worden. Er drängte sie, die Polizei zu verständigen. Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken, doch schließlich überzeugte er sie doch davon. Amber legte auf und wählte 911.

Es war 12:31 Uhr.

Mit Entsetzen hatte Galbraith der Frau zugehört. Das Stalking. Die Maske. Der Rucksack mit Vergewaltigungs-Utensilien. Der Angriff war so abscheulich, der Angreifer so geschickt, dass keine Zeit zu verlieren war. Die Ermittlungen würden auf der Stelle beginnen, auf dem Vordersitz des Streifenwagens.

Galbraith wusste, dass jede Vergewaltigung drei separate Verbrechensschauplätze umfasst: den Ort des Übergriffs, den Körper des Angreifers und den Körper des Opfers. Jeder kann wertvolle Hinweise liefern. Von einem Ort hatte der Täter seine Spuren bereits zu beseitigen versucht: von Ambers Körper. Galbraith fragte Amber, ob sie ihr gestatte, mit sterilen Abstrichtupfern, die wie lange Wattestäbchen aussahen, eine DNA-Probe zu nehmen. Während Galbraith damit über Ambers Gesicht strich, konnte sie nur hoffen, dass es gelingen möge. Vielleicht hatte der Vergewaltiger einen Fehler gemacht. Vielleicht hatte er einen winzigen Teil von sich hinterlassen.

Galbraith hatte ein weiteres großes Anliegen: ob Amber sich in der Lage sehe, mit ihr zusammen in ihr Apartment zu gehen und ihr alles zu zeigen, was der Vergewaltiger möglicherweise berührt habe. Erneut willigte Amber ein. Gemeinsam begaben sich die beiden Frauen an den Schauplatz des Verbrechens. Amber zeigte Galbraith den grün-rosa Pulli, den der Angreifer vom Bett geworfen hatte. Sie zeigte ihr das Badezimmer, das der Mann während der Tortur mehrmals benutzt hatte. Die ganze Zeit fragte Galbraith nach Einzelheiten. Was war das für eine Maske? Es war keine Skimaske, sagte Amber, eher etwas wie ein Wickel, den er sich mit Sicherheitsnadeln eng um den Kopf gebunden hatte. Konnte sie sich an irgendetwas im Zusammenhang mit der Wasserflasche erinnern? Ja, die Marke war Arrowhead. Wie sah das Muttermal aus? Amber fertigte eine Zeichnung an: ein runder Fleck in der Größe eines Hühnereis.

Als Amber sich daran erinnerte, dass der Mann den Pullover über sie gelegt hatte, um sie zu wärmen, nannte sie ihn »sanft«.

Das verwirrte Galbraith. Wie konnte jemand nach alledem ihren Angreifer als sanft bezeichnen? Außerdem machte es ihr Sorgen. Vielleicht wirkte der Kerl ganz normal. Vielleicht war er ein Polizist. »Er wird schwer zu finden sein«, sagte sie sich.

Nach der Besichtigung fuhr Galbraith mit Amber zum St. Anthony North, das etwa 30 Minuten entfernt lag. Es war das nächste Krankenhaus mit einer Krankenschwester, die für die Untersuchung von Vergewaltigungsopfern ausgebildet war.

Die Schwester würde jeden Zentimeter von Ambers Körper auf Hinweise kontrollieren. Bevor sie sich dieser Untersuchung unterzog, wandte sich Amber noch einmal an Galbraith. Der Angreifer habe gesagt, sie sei sein erstes Opfer. Amber glaubte, er habe gelogen.

»Ich nehme an, er hat das schon zuvor getan«, sagte sie.

Auf ihrem Weg zurück zum Tatort schossen Galbraith die Gedanken durch den Kopf. Ambers Geschichte wirkte beinahe unglaubwürdig. Ein ganz in Schwarz gekleideter Vergewaltiger? Mit einem Rucksack, in dem sich alles Notwendige für die Vergewaltigung befand? Und mit dem Selbstvertrauen, am helllichten Tag in einem belebten Wohngebäude eine Frau vier Stunden lang zu vergewaltigen?

Der Fall lag völlig anders als die meisten Vergewaltigungen, in denen sie bis dahin ermittelt hatte. Für gewöhnlich wurde das Opfer von jemandem angegriffen, den es wenigstens flüchtig kannte: einem Freund, einer alten Flamme, jemandem in einem Club. Normalerweise waren Vergewaltigungen keine Krimis. Sie passierten einfach. Hatte die Frau in den Sexualakt eingewilligt? Eine landesweite Regierungsstudie ergab, dass im Jahr 2014 etwa 150 000 Männer und Frauen in den Vereinigten Staaten eine Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung zur Anzeige gebracht hatten – eine Zahl, die der Bevölkerung von Fort Lauderdale im Bundesstaat Florida entspricht. Rund 85 Prozent dieser Übergriffe wurden als Taten von Personen eingestuft, die den Opfern bekannt waren.7

Galbraith wusste, dass sie es mit einem relativ seltenen Fall zu tun hatte: der Vergewaltigung durch einen Fremden. Diese Fälle waren bisweilen leichter vor Gericht zu bringen, weil sie in der Regel ein »unbescholtenes Opfer« betrafen, wie die Strafverfolgungsbehörden es formulierten. Hierbei handelte es sich um eine Frau, die auf offener Straße von einem Fremden mit einer Waffe geschnappt wurde. Die Frau schrie und wehrte sich, hatte am Ende jedoch keine andere Wahl, als sich hinzugeben. Sie war eine Mutter oder eine Tochter mit einer liebevollen Familie. Sie hatte ein schönes Zuhause, einen festen Job. Sie kleidete sich unauffällig. Sie hatte nichts getrunken. Sie hatte sich nicht in einem schmierigen Viertel der Stadt herumgetrieben. Das waren die Fälle, bei denen es die Staatsanwaltschaft am leichtesten hatte, denn sie deckten sich mit sämtlichen Erwartungen, die ein Geschworenengericht an eine geschändete Frau eventuell haben konnte.

Amber erfüllte einige dieser Kriterien – aber nicht alle. Sie hatte mit ihrem Vergewaltiger gesprochen, ihn als »sanft« bezeichnet. Sie hatte es zuerst ihrem Freund gesagt, bevor sie die Polizei anrief.

Nichts davon störte Galbraith. Sie wusste, dass das Universum vergewaltigter Frauen dem Universum der Frauen überhaupt entsprach. Sie konnten Mütter, Teenager, Sexarbeiterinnen sein. Sie lebten in Villen oder in Bordellen. Manche waren schizophren, andere obdachlos. Sie waren Schwarze, Weiße oder Asiatinnen, waren besinnungslos betrunken oder stocknüchtern. Und sie reagierten in unterschiedlichster Weise auf die Tat. Manche wurden hysterisch, manche verschlossen sich. Manche erzählten einer Freundin davon, andere niemandem. Manche riefen sofort die Polizei, andere ließen eine Woche, einen Monat oder gar Jahre verstreichen.

Bei der Ermittlung in Vergewaltigungsfällen verfolgte die Polizei unterschiedliche Ansätze. Obwohl Vergewaltigung eines der am weitesten verbreiteten Gewaltverbrechen war, bestand kein breiter Konsens darüber, wie es am besten aufzuklären sei. Für manche Kriminalbeamte war zunächst Skepsis angebracht. Es kam vor, dass Frauen einen vermeintlichen Täter zu Unrecht der Vergewaltigung bezichtigten. Ein Polizist war gehalten, die Behauptung eines sexuellen Übergriffs sorgfältig zu prüfen. »Nicht jede Anschuldigung ist begründet oder führt notwendigerweise zu einem strafrechtlichen Verfahren«, hieß es in einem führenden Polizeihandbuch zu diesem Thema.8 Für andere Strafverfolger – darunter Anwälte, die wegen polizeilicher Schlamperei im Umgang mit Tatopfern besorgt waren – stand an erster Stelle das Vertrauen. »Beginnt mit Glauben« – so lautete der Slogan, den eine wichtige Ausbildungsgruppe der Polizei ihrer Kampagne zur verbesserten Ermittlung bei Sexualdelikten voranstellte.9

Im Zentrum der Debatte stand die Frage, wem man glauben sollte. Bei den meisten Gewaltverbrechen hat es die Polizei mit einem Opfer zu tun, das offensichtliche Verletzungen erlitten hat. Bei Sexualstraftaten hingegen sind die Verletzungen häufig nicht so offenkundig. In einer gerichtsmedizinischen Untersuchung kann eine Frau, die mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt worden ist, ebenso unauffällig sein wie eine Frau, die einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehabt hat. Bei Sexualdelikten steht die Glaubwürdigkeit des Opfers daher oft ebenso in Zweifel wie die des Beschuldigten.

Galbraith hatte für Vergewaltigungsfälle ihre eigenen Regeln: zuhören und überprüfen. »Oft heißt es, ›Glaubt eurem Opfer, glaubt eurem Opfer‹«, sagt Galbraith. »Ich denke aber, das ist nicht der richtige Standpunkt. Ich finde, man muss dem Opfer zuhören. Und dann auf Grundlage eigener Erfahrungswerte einen Verdacht entweder erhärten oder entkräften.«

Als Galbraith zu der Wohnanlage zurückkehrte, war der Schauplatz von einem Dutzend eifriger Beamter und Techniker bevölkert. Galbraith, die Kripobeamten Marcus Williams und Matt Cole sowie die Kriminaltechnikerin Kali Gipson bahnten sich ihren Weg durch das Apartment. Williams nahm auf der Suche nach Fingerabdrücken und DNA-Spuren verschiedene Proben, während Gipson und ihre Kollegen 403 Fotos schossen – von jedem Lichtschalter, jeder Wand und jedem Kleidungsstück.

Die Polizisten draußen machten ebenfalls Fotos und durchwühlten die Mülltonnen. Vor dem Apartment hatte man Zigarettenstummel gefunden – doch Amber rauchte nicht. Also suchten die Beamten Michael Gutke und Frank Barr das Gebiet nach sämtlichen Kippen ab, derer sie habhaft werden konnten: eine aus einem Aschenbecher vor einer Nachbarwohnung, eine andere zwischen zwei parkenden Autos, noch weitere auf dem Parkplatz. Sie sammelten alle auf und packten sie in Beweisbeutel, die zur Polizeidienststelle gebracht wurden.

Andere Beamte nahmen die Nachbarschaft unter die Lupe. Innerhalb von zwei Tagen klopften Beamte aus Golden an jede Tür der Wohnanlage, insgesamt waren es 60, und befragten 29 Personen. Wie bei einer wissenschaftlichen Studie verwendeten sie ein Skript, um die Einheitlichkeit zu gewährleisten: Haben Sie in der Gegend jemanden gesehen, der Ihnen verdächtig erschien? Jemanden mit einem Rucksack oder anderen seltsamen Gegenständen? Irgendwelche ungewöhnlichen Fahrzeuge im Viertel?

Die Beamtin Denise Mehnert klopfte an 30 Türen in drei verschiedenen Gebäuden. Sie begann jeweils ganz oben und arbeitete sich dann ins Erdgeschoss hinab. In einem Apartment sagte ihr ein Mann, er habe einige Abende zuvor einen »untersetzten« Mann gesehen, der mit einer Stirnleuchte auf dem Gelände herumgeschlichen sei. Ein Nachbar aus einem anderen Gebäude erinnerte sich an ein Wohnmobil, das über Weihnachten auf einer Straße außerhalb der Anlage geparkt hatte. Ein anderer Mann sagte, er glaube, dessen Eigentümer gesehen zu haben. Er habe einen Hut mit weißer Krempe getragen und sei »mittleren Alters«. Niemand erinnerte sich an eine Person, auf welche die genaue Beschreibung des Vergewaltigers zutraf.

Auf der hinteren Veranda von Ambers Apartment entdeckte ein örtlicher Streifenpolizist Fußabdrücke. Einer davon war brauchbar: ein einzelner Fußabdruck, konserviert in einem Flecken vereisten Schnees. Gipson versuchte, einen Abguss mit Schneewachs zu nehmen, einer schlüpfrigen Substanz aus der Sprühdose. Damit ließen sich Abdrücke nehmen, ohne dass dabei der Schnee schmolz, in dem man sie gefunden hatte. Doch das Wachs blieb nicht haften. Also sprühte sie den Abdruck mit orangener Farbe an. Auf einmal hob sich das Profil leuchtend vom weißen Hintergrund ab – wie etwas, das ein Astronaut auf dem Mond zurückgelassen hatte. Es war nicht viel, aber immerhin etwas.

Galbraith trieb die Ermittler an. Spät am Tag schlug ein Beamter vor, eine Toilettenpause einzulegen.

»Arbeiten Sie einfach weiter!«, beharrte sie.

Als sie den Tatort verließ, war es längst dunkel.

Galbraith wuchs in Arlington auf, einem schlichten Vorort von Dallas, Texas. Ihr Vater war Restaurantmanager und arbeitete später als Computerprogrammierer. Ihre Mutter war in der Technikanalyse bei einem Ölunternehmen beschäftigt. Als Galbraith drei war, ließen sie sich scheiden, und ihre Mutter heiratete einen Fliesenleger. Sie hielt engen Kontakt zu beiden leiblichen Eltern sowie zu deren neuen und wachsenden Familien.

In der Schule war sie das aufgeweckte Kind gewesen, das sich mit den Unruhestiftern herumtrieb. Sie hielt sich für antiautoritär. Sie spielte in der Basketballmannschaft, wurde jedoch einmal für mehrere Spiele gesperrt, als man sie mit einigen Freunden beim Zigarettenrauchen erwischte. Sie hatte nicht viel unternommen, um das Verbrechen zu vertuschen: Ihre Schulleiterin hatte sie durchs Fernglas in ihrem Mannschaftsdress vor der Schulsporthalle gesehen.

Nach dem Abschluss driftete Galbraith an der University of North Texas durchs College. Sie wollte sich im Journalismus versuchen – wenngleich sie darin keine Zukunft für sich sah. Die Psychologievorlesungen gefielen ihr. Mörder, Vergewaltiger, Serienkiller – das faszinierte sie. »Es interessierte mich, wie das Denken dieser Leute funktionierte und wie es ihr Handeln bestimmte«, sagt sie. Schließlich schlug ihr ein Collegeberater vor, sie solle sich als mögliche Berufslaufbahn einmal die Strafrechtspflege ansehen. Sie fing an, Kurse im Fach Gesetzesvollzug zu besuchen. Sie verbrachte Zeit mit Polizeibeamten. Was sie sah, gefiel ihr. Bei der Polizeiarbeit ging es im Grunde darum, anderen zu helfen. Das leuchtete ihr ein: »Es ist die typische Antwort, aber ich will tatsächlich gern helfen. Außerdem möchte ich Menschen, die Böses tun, zur Rechenschaft ziehen.«

Dennoch ging sie nach dem Abschluss nicht direkt zur Polizei. Sie dachte, sie würde nicht recht dorthin passen. Zu aufsässig. Zu unabhängig. Vielleicht nicht einmal gut genug. »Ich wollte ein Bulle werden, aber irgendwie dachte ich, ›Puh, wahrscheinlich schaffe ich das nicht‹«, sagt sie. »Ich verkaufte mich unter Wert.«

Sie heiratete und folgte ihrem Mann nach Colorado, wo ein Job in einer Karosserie-Reparaturwerkstatt auf ihn wartete. Sie nahm eine Arbeit im Gefängnis an. Ihre Kollegen dort sagten, ihnen gefalle die Arbeit. »Das ist der beste Job, den ich jemals hatte«, meinte einer zu ihr. »Man muss keinen Strich tun.« Aus genau diesem Grund war Galbraith die Arbeit verhasst. Sie hatte Nachtdienst. Sie zählte schlafende Insassen. Es langweilte sie maßlos. »Das ist nichts für mich«, sagte sie zu sich selbst. »Ich muss etwas tun. Ich muss etwas Nützliches tun.«

In der Zwischenzeit zerbrach ihre Ehe: Ihrem Ehemann gefiel die Vorstellung nicht, dass sie ihre Tage mit einem Haufen anderer Männer verbrachte. Sie ließen sich scheiden, was Galbraith nicht sonderlich bedauerte: »Ich halte mich nie lange mit etwas auf. Ich mache einfach weiter.«

Dann kamen jene unerwarteten Fügungen, die ein Leben verändern können. Bei ihrer Ankunft in Colorado hatte sich Galbraith um eine Stelle als Polizeibeamtin in Golden beworben, einer typischen, ruhigen Kleinstadt, wo viele Polizisten ihren ersten Job bekommen. Die Stelle bei der Gefängnisbehörde hatte sich jedoch zuerst aufgetan. Nach sieben Wochen rief jemand aus Golden an und machte ihr ein Angebot: eine Einstiegsposition als Streifenpolizistin im Nachtdienst.

Am selben Tag kündigte Galbraith den Job im Gefängnis.

Golden war in erster Linie als Heimat der 1873 gegründeten Coors Brewing Company bekannt.10 Die Brauerei – die größte des Planeten – füllte ein ganzes Tal im Osten der Stadt. Es war eine riesige Ansammlung aus grauem Stein, Stahl und Schornsteinen, die auch in einem Dickens-Roman nicht ganz fehl am Platz gewirkt hätte. Jedes Jahr verließen Millionen Fässer Bier die Anlage, unterwegs zu Verbindungshäusern, Fußballspielen und »Zwei-für-eins«-Damenabenden.

Mochte Coors auch mit Bierseligkeit assoziiert werden, so galt dies für die Stadt Golden nicht. In der historischen Stadt, die sich an das Vorgebirge der Rockies schmiegte, lebten etwa 19 000 Menschen.11 Gegründet 1859 während des Goldrauschs am Pikes Peak war der Ort einst die Gebietshauptstadt von Colorado gewesen. Dort hatte sich ein gewisser Westernflair erhalten. Große Bankgebäude und Ladenfronten aus Brettern säumten die Innenstadt. Das ehemalige Staatskapitol diente als Rathaus. Wapitis und Rehe durchstreiften die Straßen der Stadt.

Am Weihnachtstag 2003 war Galbraith zum ersten Mal allein unterwegs, ohne ihren Ausbilder. Sie feierte diesen Meilenstein mit einem Mann, der später ihr Ehepartner werden sollte: David Galbraith, ein Kollege von der Polizei in Golden. Sie brieten sich ein Steak zum Abendessen. Dann brachen sie zum Nachtdienst auf.

Galbraiths erster Auftrag: Entfernen eines toten Hundes von der Interstate 70, einem Highway, der in einer Stunde von 8541 Autos befahren wird und mitten durch Denver verläuft.12 Als sie dort eintraf, tapste gerade ein zweiter Hund in den Verkehr hinein, um zu sehen, was aus dem ersten geworden sei. Sie sah mit an, wie auch dieser Hund im Hochgeschwindigkeitsverkehr pulverisiert wurde. In ihrer Polizeiausbildung war die Entfernung von Hundekadavern nicht vorgekommen. Sie parkte ihren Wagen in der Mitte des Highways und sperrte den Bereich ab. Sie stopfte die Überreste der Tiere in eine Plastiktüte und schleifte alles an den Straßenrand. Dann erbrach sie das Steak.

Ich muss das tun. Irgendwie muss ich das schaffen, dachte sie.

Es wurde zu einem Lebensmotto. Galbraith beklagte sich nicht gern. Sie mochte keine Entschuldigungen. Sie wollte ihren Job erledigen. Und sie war bereit, 90 Wochenstunden dafür zu arbeiten.

Als Galbraith 2007 mit ihrem ersten Kind schwanger war, beschloss sie, sich um eine Stelle bei der Kriminalpolizei zu bewerben. Es war keine große Dienststelle, nur ein Vorgesetzter und drei Ermittler. Da David jedoch Nachtschicht hatte, war die Sache durchaus sinnvoll, um Familie und Arbeit unter einen Hut bringen zu können. Zudem war Galbraith ehrgeizig. Im Polizeidienst gelten die Kriminalbeamten häufig als Spitzenleute. Sie bekommen die großen Fälle. Nicht selten verdienen sie auch besser. In der Schule der Straßenpolizisten sind sie die Musterschüler. »Ich musste es tun«, sagt sie.

Sie bekam den Posten – und erlebte einen kleinen Rückschlag. Manche Mitglieder der Polizei in Golden flüsterten einander zu, sie habe den Job bei der Kripo nur bekommen, weil sie schwanger sei, als Möglichkeit, sie an Bord zu behalten. Das Gerede erboste Galbraith, doch sie reagierte darauf in der einzigen Art und Weise, die sie kannte: indem sie sich an die Arbeit machte.

In Kleinstädten befasst sich die Kriminalpolizei mit allen möglichen Fällen, doch Galbraith stellte fest, dass sie die Sexualdelikte am interessantesten fand. In einem denkwürdigen Fall wurde ein Teenager bezichtigt, einen zehnjährigen Jungen aus der Nachbarschaft belästigt zu haben. Die beiden Familien – eigentlich das gesamte Viertel – waren miteinander befreundet. Die Frauen tranken zusammen Wein, alle Kinder spielten zusammen, die Ehemänner verbrachten die Wochenenden gemeinsam. Die Anschuldigung hatte in einigen Familien die Runde gemacht. »Das stellte das gesamte Viertel auf den Kopf«, sagt Galbraith.

Galbraith und ein anderer Ermittler befragten das Opfer.

Der Junge hatte eindeutige Erinnerungen. Er berichtete den Kriminalbeamten, dass der Beschuldigte sich ihm auf einem Sofa genähert habe. Er erinnerte sich an Einzelheiten des Bezugsstoffs. Es mochte eine Kleinigkeit sein, aber genug, um Galbraith davon zu überzeugen, dass er sich die Geschichte nicht ausdachte. Als die Familie des Beschuldigten Galbraith gestattete, ihren Sohn zu vernehmen, verhielt sich dieser ausweichend. Als er sich neben seinen Vater setzte, begann der Teenager zu weinen. Galbraith ging mit ihrem Partner auf die Veranda hinaus.

Ich werde ihn festnehmen, sagte sie.

Bist du ganz sicher?, fragte er.

Wir haben eindeutige Hinweise, sagte sie. Das Gericht soll entscheiden.

In dem Verfahren wurde der Teenager verurteilt. Das verübelten die Familien aus dem Viertel Galbraith. Sie sahen eine Polizistin auf einem Kreuzzug, die einem vielversprechenden Jugendlichen die Zukunft verbaute. Galbraith betrachtete es als Gerechtigkeit: »Was, wenn er das anderen Menschen angetan hat? Was, wenn es weitergeht? Wenn wir ihn jetzt aufhalten können, haben wir vielleicht keine weiteren Opfer in der Zukunft.«

Viele Kriminalbeamte gingen Sexualstraftaten möglichst aus dem Weg. Man konnte sich nicht so profilieren wie bei Tötungsdelikten; niemand kam und wollte einen Film über eine Vergewaltigung drehen. Tötungsdelikte waren schwarz und weiß, Vergewaltigungen hingegen voller Grautöne. Zudem waren die Opfer am Leben und litten. Ihren Schmerz hatte man stets vor Augen – und man konnte niemals wegsehen, niemals.

Galbraiths Glaube half ihr, die emotionale Sandstrahlung von Vergewaltigungsfällen zu überstehen. Sowohl sie als auch ihr Ehemann waren »wiedergeborene« Christen, die als Baptisten aufgewachsen waren. In Colorado besuchten sie eine nicht konfessionsgebundene evangelische Kirche. Manchmal stellten sie sogar das Sicherheitspersonal für die sonntäglichen Gottesdienste. »Ich weiß, dass mich Gott mit bestimmten Stärken ausgestattet hat, also muss ich sie nur gebrauchen«, sagt sie. »Selbst wenn es schmerzhaft ist.«

Es gab eine Bibelstelle, die sie ansprach. In Jesaja 6:1–8 erscheint Gott, umgeben von Rauch und Engeln, auf der Suche nach jemandem, der sein Wort verbreiten könnte. Gott fragt: »Wen soll ich senden?« Jesaja meldet sich: »Hier bin ich, sende mich!« Galbraith betrachtete ihre Aufgabe als Mission. Sie war zur Polizei gegangen, um zu helfen. Und hier gab es Opfer, die in einigen ihrer dunkelsten Stunden Hilfe benötigten. Sie wusste nicht immer, wie sie das im Einzelfall bewerkstelligen sollte. Aber sie wusste, dass sie einen Weg finden musste.

»Die Leute sagen: ›Warum beschäftigst du dich mit Sexualverbrechen und Kinderstraftaten?‹ Es macht mir keinen Spaß. Aber einer muss es ja machen. Und man muss es gut machen.«

Es war schon längst dunkel, als Galbraith in die Auffahrt zu ihrem Haus einbog. Sie war erschöpft. Ihre letzte Aufgabe war es gewesen, einen Schlafplatz für Amber zu finden; sie war zu verängstigt, um in ihrer Wohnung zu bleiben. Galbraith hatte einen Beamten gefunden, der sie zum Haus einer Freundin brachte.

David hatte bereits den Abwasch erledigt und die Kinder zu Bett gebracht. Seine Nachtschicht begann erst später am Abend.

Im Wohnzimmer ließen sie sich auf zwei gegenüberstehende Sofas fallen. Es war ihr Abendritual, das sie in die wenigen Stunden pressten, die ihnen zwischen Arbeit und Kindern blieben. Sie sprachen über ihren Tag wie die meisten anderen berufstätigen Paare auch – nur dass Galbraiths Geschichten in der Regel etwas finsterer ausfielen als die der meisten anderen.

So war es auch an jenem Abend. Stacy Galbraith ging mit ihrem Mann noch einmal die Einzelheiten des Falles durch. Sie erzählte von dem maskierten Mann. Von der vierstündigen Vergewaltigung. Davon, dass er Fotos gemacht hatte.

Und nun hör gut zu, sagte sie zu ihm. Am Ende ließ er sie duschen.

David hatte sich zurückgehalten, aber das war zu viel. Im Jahr 2008 hatte er das Golden Police Department verlassen, um einen neuen Job als Polizist in dem nahe gelegenen Vorort Westminster anzutreten. Fünf Monate zuvor war die Polizei von Westminster einer Vergewaltigung in einer Wohnanlage nachgegangen; David hatte die Anlage nach verdächtigen Personen durchsucht. Er wusste, dass die Frau von einem maskierten Mann vergewaltigt worden war. Dass der Mann Fotos gemacht hatte. Und dass er, bevor er gegangen war, sein Opfer gezwungen hatte, unter die Dusche zu gehen.

Ruf morgen früh als Allererstes meine Abteilung an, sagte er zu Stacy. Wir haben genau so einen.

3 HÖHEN UND TIEFEN

10. August 2008

Lynnwood, Washington

Es war nicht viel – ein Einzimmerapartment, das vielen anderen glich, in einer Apartmentanlage, wie es viele andere gab. Sie hatte nur wenige Möbel, einige davon aus Plastik. Sie lehnte ihre zwei Gitarren, beides akustische Instrumente, an eine Wand im Schlafzimmer. Den Computermonitor ließ sie in einer Ecke auf dem Boden stehen.

Es war nicht viel, aber es gehörte ihr; der erste Ort, den sie ihr Eigen nennen konnte, nachdem sie viele Jahre in den Haushalten anderer Menschen gelebt hatte.

Marie war stolz auf die Wohnung. Sie war stolz darauf, dass sie eine hatte. Sie wusste, dass viele Menschen, die so aufwuchsen wie sie, im Gefängnis, in der Entziehungskur oder auf der Straße landeten.

An diesem Sonntag saugte und wischte sie. Sie hielt ihr Apartment gerne blitzsauber. Außerdem wollte sie, dass es aufgeräumt war, deshalb ging sie umher, begutachtete ihre Siebensachen und überlegte, was sich wegpacken ließ. Was sie nicht benötigte, brachte sie nach draußen und verstaute es in einem Aufbewahrungsschrank auf der Veranda hinter dem Haus. Durch eine Glasschiebetür ging sie ein und aus.

Den Rest des Tages wollte sie mit Freunden und in der Kirche verbringen. Andere Achtzehnjährige widmeten sich in ihren ersten Monaten der Unabhängigkeit vielleicht dem Ausloten von Grenzen und der Suche nach Abenteuern. Marie hingegen wollte zur Ruhe kommen. Sie fand Trost in der Normalität, von der sie in ihrem bisherigen Leben nicht gerade viel erlebt hatte.

Marie wurde später von Jon Conte beurteilt, einem auf geistige Störungen in Verbindung mit Kindesmissbrauch und Traumata spezialisierten Professor an der University of Washington. Conte unterhielt sich fünf Stunden lang mit Marie und verfasste dann einen langen Bericht, der auch einen Abschnitt über ihre Entwicklungsgeschichte enthielt:

Sie war ihrem leiblichen Vater nur ein einziges Mal begegnet. Sie gibt an, nicht viel über ihre leibliche Mutter zu wissen, die sie offenbar häufig in der Obhut ihrer Partner zurückgelassen hat … Sie gibt an, dass sie im Alter von sechs oder sieben Jahren Pflegekind geworden sei.

Contes Bericht behält diese trockene, klinische Sprache selbst dann noch bei, als er sich auf finsteres Terrain begibt. Maries Erinnerungen an ihr Leben, bevor sie in Pflege kam, kreisten »hauptsächlich um unglückliche Erlebnisse«, schreibt Conte.

Sie hatte bei ihrer Großmutter gelebt, die sich – wie sie glaubt – nicht besonders viel Mühe gegeben habe, »sich um uns zu kümmern«. Sie erinnert sich daran, dass sie hungrig gewesen sei und Hundefutter gegessen habe. Sie hat keinerlei Erinnerung daran, dass ihre leibliche Mutter für sie sorgte. Sie erinnert sich an missbräuchliche physische Disziplinierungen (etwa mit einer Fliegenklatsche auf die Hand geschlagen zu werden).

Sie weiß nicht mehr, ob sie einen Kindergarten besucht hat. Sie meint, dass sie die zweite Klasse wiederholt habe und zeitweise gar nicht zur Schule gegangen sei. Sie sagt, sie erinnere sich, dass sie die Polizei nicht gemocht habe, weil diese sie und ihre Geschwister von zu Hause weggebracht habe. Sie wurde sexuell missbraucht und misshandelt. Zum sexuellen Missbrauch sei es häufig gekommen, sagt sie. Sie erinnert sich, dass sie beobachtet habe, wie die zahlreichen Freunde ihrer Mutter die Familienhunde geschlagen hätten.

Sie erinnert sich an mehrere Wohnortswechsel von einem Bundesstaat zum anderen, bevor man sie von zu Hause fortbrachte …

Was Maries Leben als Pflegekind betrifft, hält sich Contes Bericht nicht mit Einzelheiten auf:

Es genügt zu sagen, dass [ihr Leben] typisch für Kinder war, die der staatlichen Fürsorge unterstanden: mehrfach wechselnde Unterbringung, regelmäßiger Wechsel von Ort (Zuhause) und Schule, ständig wechselnde Pflegeeltern oder professionelle Betreuer, einige Erfahrungen von Peinigung oder Missbrauch und insgesamt ein Mangel an Beständigkeit.

Marie war das zweite von vier Kindern ihrer Mutter. Sie waren Halbgeschwister, bezeichneten sich selbst aber nicht als solche. »Ich habe einen großen Bruder und eine große Schwester«, sagt Marie. Manchmal war sie bei derselben Pflegefamilie untergebracht wie ihre Geschwister. Meist waren sie getrennt. Ob sie Brüder oder Schwestern väterlicherseits hat, kann sie nicht sagen.

Schon in jungen Jahren wurde Marie wegen Depressionen medikamentös behandelt. »Ich bekam sieben oder acht verschiedene Präparate. Zoloft ist eine Arznei für Erwachsene. Die bekam ich mit acht verabreicht.«

Das Schlimmste aber sei gewesen, dass man sie über sämtliche vormundschaftlichen Entscheidungen im Dunkeln gelassen habe, sagt sie. Die Erwachsenen hätten nie erklärt, warum man sie verlegte. Sie hätten sie einfach verlegt. Sie lebte bei »wahrscheinlich zehn oder elf« verschiedenen Pflegefamilien und wurde in mehreren Kinderheimen untergebracht. Sie war am liebsten draußen, zog sich manchmal aber auch zurück. »Als ich in Bellingham lebte, spielte ich viel allein in meinem Zimmer. Mit meinen Stofftieren.«

Ein Schulwechsel kann beängstigend wirken. Für Marie war es Routine. »Fang von vorne an, lerne neue Freunde kennen. Es war ein bisschen hart, aber ich gewöhnte mich daran.«

Der Beginn der Highschool versprach ein Ende dieser ganzen Instabilität. Die meisten Schüler sehen dem ersten Schultag mit gemischten Gefühlen entgegen, doch für Marie konnte er nicht bald genug kommen. In Puyallup, ungefähr 55 Kilometer südlich von Seattle, kam sie in die zehnte Klasse. Sie konnte alle gewünschten Fächer besuchen. Sie freundete sich mit vielen Gleichaltrigen an. Das Wichtigste aber war, dass sie nun bei einer neuen Familie lebte. Sie liebte diese Familie, und die Familie liebte sie. Sie planten eine Adoption.

»Das war richtig super«, sagt Marie.

Dann, am ersten Tag an der Schule, wurde Marie aus dem Unterricht geholt. Ein begleitender Berater sagte ihr: Du kannst nicht bei dieser Familie bleiben. Sie haben ihre Lizenz verloren. Da der Berater an eine Schweigepflicht gebunden war, hatte er keine weitere Erklärung dafür parat. Marie musste alles zurücklassen – die Familie, ihre Freunde, die Schule. »Ich weinte einfach nur«, sagt sie. »Ich hatte praktisch nur 20 Minuten, um meinen Kram zu packen und zu gehen.«

Bis sich etwas anderes fand, wurde Marie zur Überbrückung bei einem Paar, Shannon und Geno, in Bellevue untergebracht, einem boomenden Hightechzentrum mit eigener Skyline, gleich östlich von Seattle. Shannon, eine Immobilienmaklerin und erfahrene Pflegemutter, hatte Marie bei einem Treffen für Jugendliche mit schwieriger Vergangenheit kennengelernt und eine Seelenverwandtschaft gespürt. Beide seien »irgendwie albern« gewesen, sagt Shannon. »Wir konnten Späße machen und übereinander lachen. Wir waren uns sehr ähnlich.«

Die beiden verstanden sich prächtig. Shannon fand Marie »echt nett« – so einfach war das. Marie war trotz allem, was sie durchgemacht hatte, nicht verbittert und sträubte sich auch nicht gegen das, was noch vor ihr lag. Shannon musste Marie nicht durch die Haustüre schieben, damit sie zur Schule ging, obwohl Marie wusste, dass diese Schule wahrscheinlich auch nur eine Zwischenstation war. Marie war imstande, eine Konversation mit Erwachsenen zu führen. Sie putzte ihre Zähne; sie kämmte ihr Haar; mit einem Wort: Sie war einfach oder zumindest »wesentlich einfacher als viele Kinder, die wir schon bei uns hatten«. Marie wollte in Bellevue bleiben, und Shannon hatte auch den Wunsch, dass sie es könnte. Doch Shannon und ihr Mann hatten zur damaligen Zeit bereits ein anderes Pflegekind, ein Mädchen im Teenageralter, das große Aufmerksamkeit benötigte. Ansonsten »hätten wir Marie, ohne zu zögern, bei uns behalten«, sagt Shannon.

Nach ein paar Wochen verließ Marie Shannons Haus und zog zu Peggy, die als Kindesbeistand in einer Obdachlosenunterkunft arbeitete und in Lynnwood lebte, einem kleineren Vorort etwa 25 Kilometer nördlich von Seattle.

»Sie war mein allererstes Pflegekind. Ich bereitete mich auf ein Baby vor. Ich hatte einen Stubenwagen – und sie brachten mir eine Sechzehnjährige«, sagt Peggy lachend. »Aber das war schon in Ordnung. Ich habe Erfahrung mit mentalen Problemen und arbeite bereits sehr lange mit Jugendlichen zusammen. Daher glaube ich, dass die Behörde einfach dachte: ›Sie wird das hinbekommen.‹ So etwa.«

Der Staat versorgte Peggy mit Hunderten von Seiten über Maries Vorgeschichte, in denen ihr Missbrauch und die Litanei ihrer Unterbringung minutiös aufgeführt waren. »Es brach einem das Herz«, sagt Peggy. Sie las einen großen Teil der Akte, aber nicht alles. »In gewisser Hinsicht möchte man gar nicht alles wissen. Man möchte in der Lage sein, einem Kind zu begegnen, ohne dabei Mutmaßungen anzustellen, wer es ist, verstehen Sie? Man will ihnen kein Etikett anheften. Wenn ich ein Kind kennenlerne, möchte ich dieses Kind so kennenlernen, wie es zu mir kommt.«

Aus Peggys Sicht verstanden sich die beiden von Anfang an gut: »Sie war wie ein kleines Kind. Sie ging im Haus und im Hinterhof herum, sah sich alles an und fand das Ganze offenbar ›richtig cool‹. Sie war sehr lebhaft und voller Energie, aber sie hatte auch Momente, in denen sie deutlich angespannt war, emotional ziemlich angespannt.« Für Marie war es besonders schwierig, dass man sie aus dem Zuhause in Puyallup fortgebracht hatte. Peggy gestattete Marie, häufig zu telefonieren, damit sie mit ihren Freunden dort in Kontakt bleiben konnte. So kam bald eine gewaltige Telefonrechnung zusammen. Mit der Zeit überwand sie ihre Frustration. »Ich war richtig überrascht, wie bemerkenswert schnell sie sich anpasste«, sagt Peggy. »Sie fing auf einer neuen Schule ganz von vorne an. Es war wirklich verblüffend. Sie hätte ja auch sagen können: ›Ich gehe nicht in die Schule.‹ Aber das tat sie nicht. Sie ging hin und tat, was man von ihr erwartete. Sie übernahm Pflichten im Haushalt. Ich war sehr beeindruckt von ihrer Überlebensfähigkeit.«

Diese Beziehung – eine Frau, die zum ersten Mal Mutter war, und eine halbwüchsige Tochter mit traumatischer Biografie – stellte allerdings eine Herausforderung dar. Peggy bestätigt das: »Manchmal war es sehr schwierig, eine liebevolle Bindung zu jemandem zu haben, der erst mit sechzehn zu einem kommt und schon zornig ist. Ich sah meine Aufgabe damals darin, sie bis ins Erwachsenenalter zu begleiten. Natürlich habe ich auch versucht, ein liebevoller, fürsorglicher Elternteil zu sein. Aber es ist ziemlich schwer, bei einer Sechzehnjährigen damit anzufangen. Außerdem weiß ich nicht, wie sie selbst das alles sehen würde, aber …«

Marie betrachtete die Beziehung als einen mageren Kompromiss. Marie mochte Hunde. Peggy hatte Katzen. Marie war gern in einem Zuhause gewesen, wo es noch andere Kinder gab. Bei Peggy war sie das einzige. »Auch unsere Persönlichkeiten passten am Anfang nicht zueinander«, sagt Marie. »Es war schwer, miteinander zurechtzukommen.«

Marie hielt Kontakt zu mehreren früheren Pflegefamilien und blieb insbesondere mit Shannon eng verbunden. Peggy störte das nicht. Bald wurden Shannon und sie selbst Freundinnen. Die beiden Pflegemütter tauschten sich über Marie aus – und erzogen sie in gewisser Weise sogar gemeinsam. Mit ihrem wilden Lockenschopf war Shannon die Spaßmutter. Sie und Marie machten gemeinsam Bootsfahrten. Sie gingen im Wald spazieren. Sie probierten zusammen eine Diät zu halten und verzichteten wochenlang auf Kohlenhydrate. Marie vertraute Shannon ihre Gefühle an; Shannon war jemand, die sie umarmen und bei der sie sich ausweinen konnte. Sie übernachtete regelmäßig bei ihr.

Peggy war die Strenge. Sie war die Mutter, die den Zapfenstreich durchsetzte. Für sie wirkte Marie bisweilen übersteigert und unverschämt. »Sehr, sehr großspuriges Verhalten«, nannte es Peggy – etwa wenn Marie mit Freunden in einen Lebensmittelladen ging, dort in einem Einkaufswagen herumfuhr und »sich ziemlich dumm benahm«. Die analytisch-maßvolle Peggy, die eher einmal »Sei nicht so laut« sagte, war nicht auf derselben Wellenlänge mit Marie, so wie Shannon es war. »Wir waren grundverschieden«, sagt Peggy.