Fama - Hans-Joachim Neubauer - E-Book

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Hans-Joachim Neubauer

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Beschreibung

Von Odysseus bis Bin Laden: Gerüchte gab es immer, sie sind die geheimen Antriebskräfte des Weltgeschehens. »Fama« beschreibt die Funktionsweise von Gerüchten in Geschichte und Gegenwart. Gerüchte: Bereits beim Kampf um Troja mischen sie mit, und auch die Römer fürchteten die Macht des wilden Geredes. »Fama« heißt ihre Göttin des Gerüchts; als Furcht erregendes Monster rast sie durch Rom und verbreitet Entsetzen unter Sklaven, Bürgern und Herrschern. Fama schreibt Geschichte, und Hans-Joachim Neubauer bleibt ihr auf der Spur. Er entdeckt sie im antiken Athen, im Theater Shakespeares' und im Paris der Revolution, er spürt sie auf in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs, in den Experimenten amerikanischer Militär-Psychologen, in Romanen, philosophischen Essays und im Internet. Fama droht überall, als Mobbing im Arbeitsleben, in der Weltpolitik als das Raunen der Masse und als fatale Waffe im Kampf um die öffentliche Meinung. Fama ist das unheimliche Echo der offiziellen Geschichte, eine Provokation für alle, die glauben, die Stimme der Vielen kontrollieren zu können.

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Seitenzahl: 384

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Hans-Joachim Neubauer

Fama

Eine Geschichte des Gerüchts

Hans-Joachim Neubauer arbeitet als Berliner Korrespondent des »Rheinischen Merkur« und lehrt an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg.

Fama erschien zuerst 1998 im Berlin Verlag und wurde für diese Ausgabe überarbeitet, aktualisiert und um ein Kapitel erweitert; seit 1998 wurde das Buch in sechs Sprachen übersetzt.

© A. Paul Weber, Das Gerücht (1969) auf S. hier: A. Paul Weber-Museum, Ratzeburg

© A. Paul Weber, Das Gerücht II (1960 oder 1968) auf S. hier, A. Paul Weber-Museum, Ratzeburg

© Abbildungen auf S. hier, Frank Meilchen, Architekt

aktualisierte Neuausgabe, Berlin 2009

© 2009 MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Göhrener Straße 7, 10437 Berlin, [email protected].

Alle Rechte vorbehalten.

www.matthes-seitz-berlin.de

Umschlagestaltung: Falk Nordmann, Berlin

eISBN: 978-3-88221-926-5

Für Charlotte und Marina

»Es ist der fliegende lichtbeschienene Schaum der Oberfläche; es ist die unbewegte schwarze Tiefe.«

Wilhelm Raabe, Horacker

»… und er wusste anfänglich nicht, wie er es mit seinen zwei einzigen Augen durchfechten werde, alle diese Merkwürdigkeiten genug zu sehen und zu betrachten …«

Johann Peter Hebel, Kannitverstan

INHALT

Einleitung

»Göttliche Stimme«, Mythos und Geschichte

Ein Märtyrer des Gerüchts

»Es ist ja selbst eine Gottheit«

Die Spur der Stimme

Signalpost

Feuchter als Wasser

Fama, ein Modell

Der letzte Aristokrat

Augen, Ohren, Münder, Federn

Steckbrief

Das Haus der Fama

Material in rotem Karton

Rumor und die Lücke im Hörensagen

Sechs Schuhzwecken, zwei Fanfaren

Im Haus des Gerüchts

Dynamische Architektur

Double im Teppichland

Rumor

Der Mantel des Gerüchts

Antike 1917: Die Moderne und der Krieg

Der Spion von Braisne

Siedler im Imaginären

Die Zone der Legendenbildung

Maria und andere Ufos. Exkurs über Richtungen

17.03.1949: Futur

30.10.1938: Präsenz

11.02.1858: Präteritum

Stigma oder die Poetik des Gerüchts

Die Jungfrauen von Orléans

Trient, Dormagen und andere Wurzeln

Stigma in Schroffenstein

Makah in Russland

Trobriander an der Weser

Spiel und Poetik der Kultur

»Gerüchtekliniken« und andere Kontrollen

Hotline

rumor clinics

Rhetorik

Kontrollzentren

Datenstrom im Internet

Die Suche nach der Gerüchteformel

Das Knacken in der Herzgegend

Virus?

Formeln und Funktionen

Die Losung

Die Spirale des Gerüchts

Glossar: Ein Alphabet des Gerüchts

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Register fiktiver und realer Personen und Orte

Dank

EINLEITUNG

Als an einem klaren Dienstagmorgen im September 2001 die Türme des New Yorker World Trade Centers einstürzten, schlug die Stunde der Fama. Gerüchte, Mutmaßungen und Verschwörungstheorien geisterten durch das Internet, Horrorgeschichten und wilde Spekulationen. Seither hat sich verändert, was man sicher als falsch, zuverlässig als richtig einstufen kann, seither fällt es auch zunehmend schwer, im nicht abreißenden Strom der Daten und Informationen genau zu bestimmen, wer spricht. Mit »9/11« hat ein neues Kapitel in der langen Kulturgeschichte der Fama begonnen, der antiken Gottheit des Geredes. Schon immer schlagen Gerüchte die Menschen in ihren Bann, seit jeher kämpft man mit der Frage, ob wahr oder falsch ist, was »die Leute« sagen. Ob sie von der Peripherie aus ins Zentrum dringen oder umgekehrt – Gerüchte provozieren Panik und Pogrome, Kriegsangst oder Siegestaumel; das heißt, sie machen Geschichte. Dieses Buch zeigt, wie die Geschichte ihrerseits auf die Stimme des Gerüchts antwortet.

Auf den folgenden Seiten stelle ich einige Bilder und Techniken vor, die man unter verschiedenen historischen und kulturellen Bedingungen im Umgang mit dem Gerücht entworfen hat. Denn Gerüchte sind nicht »einfach da«; als komplizierte Gebilde deuten sie die Geschichte aus, aus der sie hervorgehen und auf die sie einwirken. Wie ihre Geschwister »Nachricht« und »Klatsch« erscheinen sie in allen möglichen Medien: im gesprochenen Wort, in Zeitung, Radio, Fernsehen und Internet. Dabei zählt zunächst weniger, ob sie »wahr« oder »falsch« sind. Entscheidend ist, dass sie aktuell sind und dass sie sich als Gerüchte ausweisen, als Nachrichten ohne festen Autor; ihr eigentliches und primäres Medium ist das Hörensagen. Mit Formulierungen wie »man sagt«, »die Leute erzählen« oder »es geht das Gerücht« verschafft sich Fama Zutritt zu den Ohren und Herzen der Menschen.

Sieht man einmal ab von einzelnen, oft anregenden wissenschaftlichen Vorstößen in die Kulturgeschichte des Gerüchts, ist sie den meisten als Ganzes weitgehend unbekannt. Viele merkwürdige und rätselhafte Spuren durchziehen das »Königreich des Hörensagens«. Wer ihnen folgt, unternimmt eine Gratwanderung: Keine Epoche lässt sich erschöpfend untersuchen, andererseits weist auch keine Passepartouttheorie den Weg durchs Ganze. Denn wenn auch Gerüchte fast jederzeit und beinahe überall auftauchen können, kann es die eine universale Erzählung über sie nicht geben. Fama ist nur eine Kulturgeschichte des Gerüchts unter denkbaren anderen. »Jede Geschichte ist Wahl«, sagte Lucien Febvre1; auch wer nach der Bedeutung der Gerüchte sucht, muss sich für Fragen entscheiden. Einigen davon gibt dieses Buch Raum. Mancher Leser mag überrascht sein, hier statt auf Cagliostro, Aretino oder sonstige Virtuosen der Fama auf Gestalten wie den Sklaven Clemens, den Gerüchtetheoretiker Francis Bacon oder Matt Drudge, den Mann im Internet, zu treffen. Die Auswahl erklärt sich aus der, wie es der alte Stechlin einmal nennt, »Panoptikumsbildung« des Autors. Sie hängt aber auch mit der Anlage des Buches zusammen. An konkreten Beispielen zeigt es verschiedene Dimensionen einer bisher wenig beachteten Seite der Geschichte; und wie überall in der Historiografie, so lassen sich auch hier nur die Fragen, nicht aber die Antworten auf andere Gegenden und Zeiten übertragen.

Wer Hörensagen und Gerücht deuten will, muss ihren geschichtlichen Zusammenhang kennen. Gerüchte sind Ereignisse, Beziehungen »zwischen einem bestimmten Geschehen und einem gegebenen symbolischen System«2. Sie lassen sich nicht verstehen, wenn man ignoriert, dass sie eine meist unsichtbare Literatur sind, die beständig ihre Gestalt verändert.3Fama handelt von den Bildern, die sich verschiedene Epochen und Kulturen von diesem Phänomen gemacht haben, von den sozialen Praktiken, mit denen man es gebannt, bekämpft, untersucht oder produziert hat. Das klingt nach der viel beschworenen »Rhetorizität von Geschichte«, ist aber eher ein Beitrag zur Geschichte des Redens und des Geredes.

Als flüchtige kollektive Ereignisse existieren Gerüchte nur im Moment ihrer Kommunikation. Eine Poetik und Kulturgeschichte des Gerüchts hat es deshalb mit einem Widerspruch zu tun: Das erkundete Mündliche steht immer im Modus der Aktualität, das heißt, es vergeht mit dem gesprochenen Wort. Wenn das wilde, ungeregelte Erzählen überdauert, dann in dem, was ihm unidentisch ist, in Texten, in schriftlichen oder anderen materiellen Zeugnissen unterschiedlichster Art. Darin liegt das besondere Verhältnis der Denkfigur »Gerücht« zu dem Hintergrund, vor dem sie erscheint.

Gerüchte sind paradox; sie stellen Öffentlichkeit her und repräsentieren sie. Wer sie erwähnt, meint eine Nachricht und zugleich ihr Medium, die Botschaft und den Boten. Dem entspricht mein Begriff von Gerücht: Ich verstehe darunter zunächst das, was man als solches bezeichnet, also eine sich geschichtlich wandelnde Konvention, die ganz verschiedene Phänomene meinen kann. Zum anderen ist »Gerücht« eine aktuell in einer Gruppe kursierende Information im Medium des Hörensagens oder verwandter Formen der Kommunikation; was alle sagen, ist noch kein Gerücht, sondern das, von dem man sagt, dass es alle sagen. Gerüchte sind Zitate oder Variationen von Zitaten mit einer bedeutsamen Auslassung: Wen sie zitieren, bleibt unbestimmt; niemand weiß, wer in ihnen spricht.

Dieser doppelte Begriff von Gerücht erlaubt es, Gerüchte historisch »dicht« zu beschreiben: als soziale Rede und zugleich als deren Reflexionen in Texten und Bildern. Gerüchte spiegeln sich in psychologischen und sozialwissenschaftlichen Abhandlungen wider, in Anekdoten, Biografien, Dramen, Epen, Erzählungen, Filmen, Formeln, Forschungstagebüchern, Fragebögen, Gedichten, Geschichtsbüchern, Ikonologien, Internetseiten, Kriegserinnerungen, Pamphleten, Polizeiberichten, Propagandainstruktionen, Romanen, Statistiken, Statuten, Theaterkostümen, Wörterbüchern, Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten der Kunst, der Medien, des Alltäglichen. Mit Gerüchten kann es jeder zu tun haben, sei es als ihr Gegenstand, sei es als ihr Adressat oder Weiterverbreiter.

Foto-Fama im Medium des Internets: Der Wold Trade Center Tourist wurde zur berühmtesten Fälschung seiner Tage.

Wie schwierig es sein kann, das Gerücht begrifflich zu bestimmen, zeigen einige verbreitete Missverständnisse. Zum ersten: Gerüchte sind nicht notwendig falsch, überhaupt sind sie nicht aussagelogisch definiert, obwohl man sie natürlich entsprechend in »wahre« und »falsche« einteilen kann. Auch bilden Gerüchte nicht einfach eine Großform des Klatsches. Klatsch ist formal und inhaltlich beschreibbar, er beruht auf der besonders austarierten, bisweilen scheinhaften Nähe von »Klatschenden« und »Beklatschten«, die im Prinzip ihre Rollen tauschen können. Er ist die »Sozialform der diskreten Indiskretion«.4 Dabei kann er freilich die Form des Gerüchts annehmen. Das gilt auch für die gezielt intrigante Angestelltenversion des Klatsches, das Mobbing.

Ebenso sind Gerüchte keine Lügen; zwar lassen sie sich steuern, wenn das Wissen und die Umstände zusammenkommen. In der Regel aber spielt die Motivation der Beteiligten hier eine untergeordnete Rolle, denn das Hörensagen hat kein individuelles Subjekt.5 Wer ein Gerücht aufnimmt und weitergibt, reiht sich ein in die Sequenz der »Leute«, die das »man«, den Agenten der kollektiven Rede, ausmachen.

Häufig verweist ein Gerücht auf ein Vorurteil, und oft dienen Gerüchteopfer als Sündenböcke. Aber das Vorurteil ist kein soziales Ereignis, sondern Teil des kognitiven Systems. Gerüchte hingegen sind wesentlich aktuell. Deshalb können sie ein latentes Vorurteilswissen zwar ausdrücken oder bestärken, identisch mit dem Vorurteil sind sie jedoch nicht.

Auch ist das Gerücht kein Medium, wie oft behauptet wird.6 Im Unterschied zum Massenmedium im modernen Sinne beruht es ursprünglich auf der gleichzeitigen Anwesenheit zumindest zweier Teilnehmer, umgekehrt kann es sich aber auch der Massenmedien bedienen. Es erzählt vom Erfolg einer Erzählung und ist zugleich Faktor und Signal dieses Erfolgs. In der Struktur von einführender Wendung und abhängiger Aussage der indirekten Rede verweist es auf das, was »die Leute« sagen; es ist vermittelte, abhängige Rede, das Zitat von einem Zitat. Deswegen haben es Dementis schwer; den Hauptsatz des Gerüchts – »die Leute sagen« – können sie nicht widerlegen, und die Gerüchtebotschaft – »dass der Präsident der Vereinigten Staaten eine Affäre hat« – bleibt gegen das Dementi immun, weil die Aussagelogik des gesamten Satzes nicht von ihm berührt wird. Ein Gerücht lässt sich schwer dingfest machen, es ist die heiße Kartoffel, an der sich jeder die Hände wärmt, bevor er sie weiterreicht. Genaugenommen handelt jedes Gerücht von einem Gerücht; es ist wesentlich eine rhetorische Figur, eine Form der Aussage.

Daher rührt auch das Unheimliche des Gerüchts: Seine Erzählung findet in sich selbst ihren Halt und berichtet zugleich von einem anderen. Gerüchte sind suggestiv und plausibel, und, darin ähneln sie dem Klatsch, sie haben Macht. Oft prägen sie die Einstellungen und das Verhalten von Menschen stärker, als es verlässliche Informationen vermögen.7 Wie das Lachen über den Dritten, so aktualisiert auch das Reden über die angeblichen Pläne, Mängel oder Untaten dieses anderen gesellschaftliche Spannungen. Insofern gleicht das Gerüchtekollektiv dem der gemeinsam Lachenden.8 Auch im Gerücht ist man nicht allein; das ist sein ambivalentes Versprechen. Immer hat es mit den Ängsten, Hoffnungen und Erwartungen der Leute zu tun, und die wollen geteilt sein. Wie und warum das in der Wirklichkeit vonstatten geht, lässt sich am besten in der Fiktion beobachten:

»Außerdem wurde noch erzählt, dass Kinder gefangen, im Wald aufgehängt und mit Messern aufgeschlitzt wurden, und das Blut wurde in Kolben gesammelt.«

»Wozu?«

»Dazu, um es bei der Blutübertragungsstation abzuliefern und riesige Summen dafür zu kassieren.«

»Was für ein Quatsch!«

»Von wegen Quatsch! Du hörst doch, dass Kinder gefangen, im Wald aufgehängt und mit Messern aufgeschlitzt wurden, und das Blut wurde in Kolben gesammelt.«9

So geht es, und so wird es wohl weitergehen, solange geredet wird. Der Alltag des Gerüchts ist oft unauffällig, es ertönt meist zuerst im Nebenraum der Geschichte, unbemerkt entsteht es aus einer Frage oder Vermutung. Gegen das »Du hörst doch, dass« gibt es kein Argument. Die lose chronologische Anlage dieses Buches bedeutet nicht, dass die Geschichte des Gerüchts linear von einem »Ursprung« hin auf ein festes Ziel verlaufe.10 Es geht mir vielmehr darum, einige geschichtliche Parallelen, Verteilungen und Horizonte erst zu erschließen; als »Material« dazu dienen mir jeweils ausgesuchte exemplarische Einzelfälle. Denn nicht alles, was vergangen ist, gehört notwendig auch zur Historie; Geschichte existiert, wie es Paul Veyne formuliert, »nur im Verhältnis zu den Fragen, die wir an sie richten.«11

Mythos, Fama, Rumor, Krieg, Stigma, Kontrolle, Formel: Im folgenden möchte ich anhand einiger Denkfiguren »gewisse gemeinsame Grundzüge«12 des Gerüchts zeigen und ihre historischen Echos überprüfen. Soweit das mein Vorgehen erklären hilft, komme ich dabei von Fall zu Fall auch auf theo retische Fragen und Probleme dieser Denkfiguren zu sprechen; weitere Hinweise finden sich in den Anmerkungen.13 Die Reflexions-Modelle, die diese Figuren darstellen, erinnern an selbstgebastelte Schiffchen. Man lässt sie zu Wasser, beobachtet, ob sie schwimmen, und sieht sie »den Fluss der Zeit« hinab- oder hinauftreiben; dabei, so schrieb Fernand Braudel, ist der Augenblick des Schiffbruchs »immer der bedeutendste Moment«14. Weil die historische Gültigkeit meiner Modelle begrenzt ist, gelten sie jeweils anderen Seiten des Gerüchts:

Zu Beginn zeige ich das Verhältnis der »göttlichen Stimme« zum griechischen Mythos und zur jungen Geschichtsschreibung; schon damals geht es, wie nicht nur das Beispiel eines Athener Friseurs lehrt, um das Problem der Zeugenschaft. Lange später erscheint das Gerücht den Römern als das Ungeheuer Fama; das zweite Kapitel zeigt diese Gottheit als eine rhetorische Strategie, der Vielfalt des politischen Geredes in Rom Herr zu werden durch ein poetisch verdichtetes Konzept.

In späterer Zeit entwickelt sich Fama zur Ikone des Ruhmes; verstärkt seit dem Mittelalter begegnet man deshalb dem Hörensagen, jener Technik aufrührerischer, anonymer Rede, mit anderen Mustern wie etwa der Figur des Rumor. Dass Gerüchte auch die Moderne beherrschen, erweist der Erste Weltkrieg, von dem im vierten Kapitel die Rede ist: Als man das Töten perfektioniert und die Nachrichtentechnik revolutioniert, finden sich europäische Soldaten und Historiker plötzlich in die beängstigenden Zeiten mythischer Mündlichkeit zurückversetzt.

Fama schaut voraus, in die Gegenwart und ins Vergangene; diesen Blickrichtungen widmet sich ein Exkurs über Maria und andere Ufos. Antisemitische Pogrome bezeugen die erfinderische Macht des Gerüchts seit Jahrhunderten; im fünften, besonders auf literarische Funde gestützten Kapitel frage ich, ob die Fiktionen des Gerüchts tatsächlich immer soziales Stigma bedeuten müssen.

In den amerikanischen »Gerüchtekliniken« entstehen dann seit den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts Mechanis men zur medialen Kontrolle der informellen Rede; sie spiegeln das bis in die digitale Gegenwart hinein spürbare Be dürfnis wider, das dahinschwindende gesellschaftliche Zen trum gegen das Wuchern der Peripherie zu verteidigen. Schließlich widme ich mich einigen Prakti ken und Modellen, mit denen Wissenschaftler seit Jahr zehn ten operieren, um das Gerücht in den Griff zu bekom men: Es erscheint ihnen als eine zwar irrationale, aber immer hin kalkulierbare Größe in den Randzonen der Gesellschaft. Gerade hier zeigt sich, dass die lange Geschichte des Gerüchts vor allem eine der Irrtümer ist.

Kleine Leute, mächtige Politiker und große Künstler haben versucht, das Gerücht mit kulturellen Praktiken zu bannen. Auch wenn hier nur einige der Merkwürdigkeiten der Fama ausreichend gesehen und betrachtet werden können, bin ich doch sicher: Auch in Zeiten des Internet wird Fama bleiben, was sie war, eine oft fatale Begleiterin der Geschichte.

Das Verlangen vorn, dem Trio aus Meinung, Streit und Zeugnis fol gen »Mein« und »Dein«. Hendrick Goltzius, Der Geiz ist die Wurzel allen Übels (o. J.).

»GÖTTLICHE STIMME«, MYTHOS UND GESCHICHTE

Ein Märtyrer des Gerüchts • »Es ist ja selbst eine Gottheit« • Die Spur der Stimme • Signalpost • Feuchter als Wasser

Wer sagt, was die Leute sagen, riskiert Leib und Leben. Diese schmerzhafte Erfahrung macht im Oktober des Jahres 413 v. Chr. ein griechischer Barbier. In seinem Laden im Piräus, dem Hafen der Metropole Athen, schneidet er einem unbekannten Kunden Bart und Haar. Er ahnt nicht, dass in den nächsten Minuten die Weltgeschichte in sein Leben einbrechen wird, um ihm die tragische Hauptrolle in einem Lehrstück über Quellenkritik zuzuspielen. Denn was der Fremde aus der Ferne mitgebracht hat, wird das Leben des Friseurs verändern. Es ist bloß eine knappe, aber furchtbare Neuigkeit: Sie hat das Mittelmeer durchquert, ist von Hafen zu Hafen gesprungen. In einem Hafen kommt sie auch an ihr Ziel, als jetzt der fremde Reisende seinem Friseur erzählt, dass die athenische Flotte im Großen Hafen von Syrakus vernichtend geschlagen sei. Demosthenes und Nikias, die Athener strategoi und Oberbe fehlshaber vor Sizilien, seien ermordet, das griechische Heer gänzlich aufgerieben. Der Bote selbst, ein Sklave, sei mit seinem Herrn entkommen. Später, in seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges, wird Thukydides dies alles bestätigen und von 7.000 gefangenen Griechen in den sizilianischen Steinbrüchen berichten.

Ein Märtyrer des Gerüchts

Soviel kann der Barbier nicht wissen. Ihm genügt, was er gehört hat, und rasch macht er sich auf den Weg in das sechs Kilometer entfernte Athen, um die Nachricht denen mitzuteilen, die sie angeht: dem Volk und der Obrigkeit der Polis. »Den Augenblick verließ er seine Werkstätte und lief eilends in die Stadt, dass ihm keiner käme zuvor, den Ruhm ihm entrisse, diese Nachricht in der Stadt verbreitet zu haben«, berichtet viel später Plutarch, der die Geschichte des Barbiers überliefert.1 Die bestürzten Athener versammeln sich, um der Sache auf den Grund zu gehen; schließlich handelt es sich bei dem Überbringer um den Vertreter eines nicht gerade für seine Zuverlässigkeit gerühmten Gewerbes. »Es ist gar kein Wunder, dass die ganze Zunft der Barbiere so geschwätzig ist«, räsonniert der Chronist. »Denn die ärgsten Schwätzer kommen bei ihnen zusammen und sind beständig in ihrer Gesellschaft, so dass sie sich endlich selbst auch dieses Laster angewöhnen müssen.«2 Das scheinen auch die Athener des Jahres 413 zu wissen.

»Der Barbier wurde also vorgeführt und befragt«, berichtet Plutarch weiter. »Da er aber nicht einmal seinen Ge währsmann angeben konnte, sondern sich auf eine namenlose, unbekannte Person berief, geriet die ganze Versammlung in Zorn und rief: Fort mit dem Bösewicht! auf die Folter mit ihm! das ist erlogen und erdichtet! Wer hat was davon gehört? Wer kann so etwas glauben?« Was ist Lüge, was ist Dichtung? Die Suche nach der historischen Wahrheit setzt sich fort mit den damals üblichen derben Methoden der Quellenkritik; »martyros« lautet das griechische Wort für den, der dabei war und sich erinnert, für den Zeugen: »Es wurde ein Rad gebracht und der Unglückliche darauf gespannt« und »lange Zeit gefoltert«, solange, bis andere Quellen schließlich die Nachricht des »Windbeutels« absichern, bis aus dem Gerücht Gewissheit wird, bis nämlich Augenzeugen und Boten auftreten, »die aus der Schlacht selbst entflohen waren und jene schreckliche Nachricht bestätigten. Sogleich liefen alle auseinander, jeder sein eigenes Unglück zu beweinen, und ließen den Elenden gebunden auf dem Rade liegen«, berichtet der Chronist über Undank und Quellenpflege in Athen.3

Eine deutliche Spur des Gerüchts zieht sich durch die griechische Antike. Biografien, Epen, Lieder, Dramen und andere Dokumente halten den tiefen Eindruck fest, den das Gerücht auf die Menschen der Zeit macht. Oft geht es, wenn von ihm die Rede ist, um den Krieg, und sehr oft auch um den Mythos und sein Verhältnis zur Geschichte. In einer weitgehend mündlichen Gesellschaft bergen solche Fragen naturgemäß Gefahren. Wie man sieht, besonders für unbedarfte Boten.

Plutarch erzählt seine kleine Friseurgeschichte zweimal: einmal als abschreckendes Beispiel in seiner Abhandlung über die Schwatzhaftigkeit, also mit didaktischer Absicht. Zum anderen kommt sie in seiner Biografie des Feldherrn Nikias vor, also in einem historiografischen Kontext. Aus heutiger Sicht lässt sich nicht entscheiden, ob Plutarch mit seinem Barbier eine »tatsächliche« historische Realität wiedergibt, ob er einen Mythos aufgreift oder einen erfindet. Zwischen dem Geschehen und seiner Aufzeichnung liegt etwa ein halbes Jahrtausend. Wahrscheinlich schaltet Plutarch als guter Historiograf eine Nebenfigur ein, um seine Geschichte vom Untergang des Nikias anschaulicher zu gestalten.

Der kleine Friseur fügt sich nur zu gut in das Gewebe der Erzählung. Die Figur erlaubt die Engführung eines abstrakten Vorgangs, sie konterkariert die Hauptaktion des Textes durch einen sozial tiefer gelegenen Nebenschauplatz und verdichtet das Geschehen zusätzlich dadurch, dass der Barbier stellvertretend erduldet, was die Athener erleiden: den Schmerz der schlechten Nachricht. Und was die Ethnografie des späten zwanzigsten Jahrhunderts als Entdeckung stilisiert, war für den Schriftsteller Plutarch sicher selbstverständlich, »dass nämlich das, was wir als unsere Daten bezeichnen, in Wirklichkeit unsere Auslegungen davon sind, wie andere Menschen ihr eigenes Tun und das ihrer Mitmenschen auslegen«4. Ob nun historische oder mythische Realität: Die Erzählung über das Schicksal des Friseurs erschließt einige für die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten in der Antike bemerkenswerte Details. Sie charakterisiert das Milieu, in dem Gerüchte entstehen und wachsen, und sie gibt Hinweise auf den gesellschaftlichen Status der informellen Rede sowie auf den Charakter der übermittelten Gerüchtebotschaft.

Das Gerücht vom Untergang der Flotte taucht zuerst an der Peripherie der Weltstadt Athen auf. Wie die Schuhmacher läden und besonders die Ateliers der Parfümeure5 gelten Friseurläden seit der Antike als Orte von Klatsch und Gerede. Ob Männer, Frauen oder Sklaven: In solchen Etablissements kann jeder am Gerücht teilhaben; wo das Öffentliche und das Private einander durchdringen, findet der logopoios, der Erfinder und Geschichtenspinner, eine ideale Bühne.6 Hier kommen sich Fremde nahe, und gerade diese von Ferne durchkreuzte und oft behagliche Nähe lädt ein zum Austausch von Geschichten und zum schmückenden Ornament. Dem Märtyrer des Gerüchts wäre einiges erspart geblieben, hätte er dies bedacht und seine Geschichte nur unter seinen Kunden verbreitet. Das Mikromilieu des Bartscherers liegt zudem in einem charakteristischen Umfeld. Häfen sind Umschlagplätze von Waren und Menschen ebenso wie von Nachrichten. Nicht nur, wer von einer Reise zurückkehrt, hat etwas zu erzählen, auch wer ein Schiff landen sieht, wer das Löschen der Ladung beobachtet und mit fremden Seeleuten redet, kann Geschichten in die Welt setzen, verbürgte, wahrscheinliche und erfundene. Jedes Schiff ist ein Kassiber.

Während sich, wie man vermuten kann, die Nachricht des unbekannten Sklaven im Piräus weiter verbreitet, läuft der Bote, den Hafen hinter sich lassend, an den Langen Mauern entlang in die Stadt. Damit wählt er den Weg, den kurz nach dem Beginn des Peloponnesischen Krieges auch die große Seuche nahm. Massen von Flüchtlingen suchten damals zwischen den als uneinnehmbar gelten den Langen Mauern Zuflucht vor den Angriffen der Spartaner. Die entsprechenden hygienischen Bedingungen sorgten dafür, dass sich, vom Hafen ausgehend, der wohl aus Pocken, Typhus und Fleckfieber bestehende »seuchenhistorische Kentaur«7 in rasender Geschwindigkeit ausbreitete: zwischen den Langen Mauern, dann aber auch in der Stadt. Ein Drittel der Einwohner Attikas, unter ihnen auch Perikles, fiel der Epidemie zum Opfer. Das Gerücht folgt also der Seuche, und auch was die Athener mit dem Hafenfriseur anstellen, als er endlich aufgeregt die Stadt erreicht, erinnert an seuchenhygienische Maßnahmen: Man isoliert die Befallenen, um das Infektionsrisiko für die Gesunden zu reduzieren.

Als Gegner der Epikuräer lehnt Plutarch das müßige Gerede ab. Deshalb auch breitet er die Geschichte des Barbiers in aller Länge aus, und genüsslich spricht er von anderen Fällen, in denen Schwätzer und Gerüchtemacher harte Strafen zu erleiden haben. Natürlich muss längst nicht jeder, der unbestätigte Nachrichten verbreitet, wie der Bartscherer vom Piräus enden, und viele entgehen auch den gerechten Folgen ihrer Tratschsucht. Aber manchen kostet sein Gerede sogar Kopf und Kragen. Der Tyrann Dionysius etwa ließ, wie Plutarch erwähnt, seinen Friseur ans Kreuz schlagen, nicht weil er zuviel wusste, sondern weil er zuviel sagte. Den Hintergrund von Plutarchs Kritik an Gerücht und Gerede aber bildet der besondere Status der informellen Rede. In Athen zumindest hat man ein feines Gespür für die Nuancen der diabole, der üblen Nachrede und Verunglimpfung, der Verleumdung und des Klatsches.

Wie geschickte Redner es verstehen, Gerüchte vor Gericht als Zeugen gegen ihre Prozessgegner zu zitieren, das erfährt im Jahre 345, fast siebzig Jahre nach dem Tag des Barbiers, der athenische Finanzpolitiker Timarchos, ein anderes Opfer des unbestätigten Geredes. Sein Widersacher, der Redner Aeschines, hängt ihm eine Affäre wegen gewerblicher Prostitution an. In der Schamgesellschaft Athens droht der geschickt instrumentalisierte Skandal dem belasteten Politiker das Genick zu brechen. Um ihre Anschuldigung zu untermauern, wartet die Anklage allerdings nicht mit einer wirklichen Person auf, sondern mit einem unsichtbaren Zeugen. Aeschines muss nur auf das Hörensagen verweisen, um seinen Gegner politisch hinzurichten. Denn pheme, der göttlichen Stimme8, wagt niemand ernsthaft zu widersprechen. Dazu passt sie allzugut in das Kalkül des politischen Rhetors.

So sehr diese Stimme auch Respekt einflößen mag, der Ruf derer, die sie verbreiten, ist doch fragwürdig. Lange vor Plutarch beschreibt Theophrast, ein weiterer erklärter Gegner des Geschwätzes, wie der Gerüchteschmied sein Eisen im Feuer hält. Mit seiner Skizze aus den »Charakteren« legt der Schüler des Aristoteles den Akzent auf die ethische Seite von Klatsch und Gerücht:

Der Gerüchtemacher ist […] einer, der bei der Begegnung mit einem Freund gleich seine Zurückhaltung aufgibt und ihn lächelnd fragt: Woher kommst du? Was sagst du, was meinst du? Kannst du darüber Neues sagen?[…] Seine Berichte sind so, dass sich niemand daran halten kann. Er erzählt, Polyperchon und der König hätten eine Schlacht gewonnen, Kasandros sei gefangen. Wenn ihm aber einer sagt: Glaubst du das selber? wird er entgegnen, das Ereignis werde ja in der Stadt ausposaunt, die Geschichte mache die Runde, alle stimmten überein, denn sie berichteten dasselbe über die Schlacht, und es sei da eine schöne Suppe eingebrockt worden. […] Alle Ein zelheiten erwähnt er, und er klagt so, dass man ihm glaubt: Unseliger Kasandros, wie bist du von Unglück geplagt. Erkennst du nun das Walten des Schicksals? Umsonst warst du mächtig. – Und übrigens: Du darfst das nur ganz allein wissen! Doch er hat es schon überall in der Stadt herumerzählt.9

Charakteristisch sind die drei Stufen in der Arbeit des Gerüchteschmieds: Er aquiriert die Nachricht, indem er fragt, was es »Neues« gebe. Er spricht den Empfänger der Botschaft persönlich und scheinbar exklusiv an und profitiert so von der sozialen Dynamik des Geheimnisses; und schließlich beherrscht er die Kunst des Zitats, der indirekten Rede, indem er statt auf Fakten auf die Leute verweist, auf »alle«, die »dasselbe« erzählen. Diese kritische Gebrauchsanleitung für Gerüchte in Form eines Sitten spiegels konnte der arme Barbier nicht kennen. Anderenfalls hätte er sie vielleicht als Warnung davor begreifen können, sich als Bote der göttlichen Stimme in Dienst nehmen zu lassen. Denn die Kunst der indirekten Rede taugt nur solange, wie es dem Sprecher gelingt, sich selber angesichts der im Zitat übermittelten Botschaft vergessen zu machen.

Bleibt die Nachricht selbst: Was da vor zweitausendvierhundert Jahren als Schreckensbotschaft vom Untergang der griechischen Flotte aus dem peripheren »melting pot« Piräus bis in das Zentrum des athenischen Gemeinwesen, die Agora, vordringt, ist ein klassisches Gerücht: wichtig und unbestätigt zugleich. Eine Nachricht kann nur dann ein Gerücht werden, wenn sie in der Lage ist, viele Menschen anzusprechen; als Gerücht wird sie solange kursieren, wie sie nicht von öffentlich anerkannten Autoritäten bestätigt oder widerlegt wird. Als schließlich die wirklichen Augenzeugen auftreten, mutiert das Gerücht wieder zur Nachricht: »Sogleich liefen alle auseinander, jeder sein eigenes Unglück zu beweinen.«

Wer am Gerücht teilnimmt, handelt mit Bürgen und Boten, auch wenn er hadert wie die Versammlung der Athener: »Wer hat was davon gehört? Wer kann so etwas glauben?« Die Frage nach dem Zeugen gehört zum Umgang mit dem wild Erzählten. Entweder man trägt es weiter, oder man versucht, wie die Athener, die »eine namenlose, unbekannte Person« näher zu definieren. Die schmerzhafte herme neutische Prozedur, die Plutarchs Barbier dabei erdulden muss, demonstriert ein Nebeneinander zweier unterschiedlicher Auffassungen derselben Sache. Verhängnisvoll wird, dass sie ineinander greifen: Wenn pheme unsterblich und eine Göttin ist, müsste sie ihren Schutz auch auf den armen Barbier ausdehnen.

Der handelt also nicht nur blauäugig (wie sein nachgeborener, ganz psychologisch denkender Chronist glauben machen möchte), wenn er zuversichtlich und stolz auf den zu erwartenden Ruhm die Botschaft in die Stadt und vor die Obrigkeit trägt, sondern er bewegt sich durchaus auf mythologisch sicherem Terrain. Vielleicht glaubt er, dass die furchtbare Botschaft auch den Sinn hat, die mythische Ordnung zu bestätigen.10 Umso mehr wird es ihn überraschen, dass Athens Mächtige die Schreckensnachricht als den unstatthaften Eingriff eines Schwätzers in die labile Ordnung ihrer Kriegs-Gesellschaft begreifen. Das Gemeinwesen schirmt sich ab gegen die wild erzählende pheme. Athen holt den Tölpel des Mythos zurück in die historische Wirklichkeit. Das tut weh, muss aber sein; deshalb ist von einer Entschuldigung danach auch keine Rede.

Charlotte Seiler (acht Jahre), Das Gerücht (1998).

Zu seinem größten Tag ist der Friseur in die Stadt geeilt; es wird sein schlimmster. Dem törichten Boten wird zum Verhängnis, dass er, schnell wie das Hörensagen, eine Nachricht aus dem Kontext des Geredes in den der politisch relevanten Rede überführen will. »Erst spät am Abend wurde er losgemacht«, erfährt man über seine Qualen. Bis dahin hatte der Schmerzensmann des Gerüchts, ausgestreckt auf das Rad des Henkers, unter der herbstlichen Sonne Athens gelegen und Anlass gehabt, über den Lauf der Welt und besonders die Macht des Gerüchts nachzudenken.

Vielleicht fiel dabei sein Blick auf den Altar der pheme11, der die Agora damals schon seit fünfzig Jahren zierte und ihm vor Augen hielt, dass eine Nachricht immer anders behandelt wird als ihr Überbringer. Die darin liegende Ironie wird der Gefolterte gewiss übersehen haben. Von einigem, das ihm an diesem langen Nachmittag eingefallen sein mag, von anderem, das ihm unfehlbar entgehen musste, handeln die folgenden Überlegungen zur Trias von Krieg, Mythos und Gerücht. Um den bedauernswerten Barbier selbst (oder um seine Fiktion) braucht man sich indes keine allzugroßen Sorgen zu machen; auch unter der Folter blieb sein wichtigstes Körperteil, die Zunge, unversehrt. Denn kaum wurde der Märtyrer der pheme und Dilettant des Mythos losgebunden, »war doch das erste, worum er den Henker fragte, ob man nicht gehört hätte, wie der Feldherr Nikias umgekommen sei«.

»Es ist ja selbst eine Gottheit«

Krieg und Gerücht gehören zusammen; das ist keine Erfindung Plutarchs. Schon lange bevor der Chronist die Anekdote um den Barbier aufzeichnet, zeigen die homerischen Anfänge des Kriegsberichts, dass die Griechen vor, bei und nach ihren Schlachten – und vor allem in deren Pausen – Gerüchte vernehmen, und zwar als eine Macht, die mit den Göttern im Bunde ist: als Botin der Unsterblichen und als göttliche Stimme.

Bereits der zweite Gesang der Ilias zeigt das Hörensagen, die Botin des Zeus, in Aktion: Die griechischen Armeen liegen vor Troja. Neun Jahre Belagerung haben die Krieger ausgezehrt, sie spüren, dass die Götter ihnen im Kampf gegen die perfekt befestigte Stadt des Priamos nicht immer zur Seite stehen. Aber ohne göttliche Gunst kann keine Schlacht gewonnen, keine Mauer geschleift werden. Da träumt der Atride Agamemnon, der »Hirte der Völker«, seinen berühm ten, von Zeus gesandten trügerischen Traum vom nahen Sieg. Aufgewacht, bespricht sich der Oberbe fehls haber mit den anderen Heerführern; die Hoffnung keimt, plötzlich scheinen die Zeichen auf Sieg zu stehen. Auch die Soldaten bekommen Wind von der frohen Nachricht:

Da strömten die Mannen zusammen. […]

Also wälzten in Strömen sich rings von den Schiffen und Zelten

Vielerlei Scharen entlang dem tiefgebuchteten Ufer,

Haufen nach Haufen zum Rat; denn rings wie ein Feuer

durcheilte

Alle ein treibend Gerücht, Zeus’ Bote: so kamen sie alle.12

Schnell wie die Naturgewalten ruft die Botin des Gottes, ossa, den ersten Thing der Literatur zusammen. Mit promptem Erfolg: »so kamen sie alle«. Die gleiche Stimme wird viel später, am Ende der Odyssee, nach dem Gemetzel an den Freiern die Kunde vom blutigen Sieg des Odysseus verbreiten. Auch hier, auf Ithaka, versammelt sie die zuvor verstreuten Menschen. Während drinnen Odysseus und seine Getreuen das Siegesmahl einnehmen, schweift sie draußen umher: »Ossa aber, die Kunde, durchrannte eilend die Feste / Und berichtete rings der Freier grause Ermordung.«13 So ist ossa aggelos zum einen die Stimme des Zeus, also seine Funktion, zum andern eine selbständig wirkende Macht. Ihre Nachricht übersteigt das Partikulare. Sie schafft, was den Heerführern vor Troja nicht mehr gelingt: Sie vereint selbst ein über die Küste hin verteiltes und zerstrittenes Heer. Wer das vermag, muss mit den Göttern im Bund sein.

Auch der athenische Kult um pheme hat seinen Ursprung im Krieg. Er gilt einer der »mächtigsten aller Göttinnen«14 und geht wahrscheinlich auf das Jahr 465 v. Chr. zurück: Damals besiegte der athenische Feldherr Kimon die Perser am kleinasiatischen Fluss Eurymedon, der heute in der Türkei fließt und Köprü-Su heißt. Angeblich erreichte die Meldung von diesem Doppelsieg Athen noch am Tag der Schlacht.15 Ob bei diesem nachrichtentechnischen Meisterstück auch Hafenfriseure die »göttliche Stimme« unterstützten, ist nicht überliefert. Jedenfalls widmete man dem geschwinden Medium damals jenen Altar. Als Pausanias im späten zweiten Jahrhundert n. Chr. Athen besuchte, fand er die Kultstätte der pheme anscheinend noch vor; zumindest konnte er ihre Reste identifizieren. Sie stand wohl nicht weit von dem Altar des Triebes, Horme, und dem der sittlichen Scheu, Aidos, eine Nachbarschaft, die der berühmte Reisende als Ausweis griechischer Frömmigkeit deutet.16

Wie diese göttliche Stimme nun zu rufen ist, welche Gebete oder gar Opfer sie empfängt, all das ist nicht bekannt; ihre Konturen sind verwischt, ihr Klang verstummt. Spürbar bleibt nur der Respekt vor ihr. Dennoch lässt sich auch aus der historischen Distanz ermessen, wovon pheme spricht, wenn sie gerade nicht Nachrichten von Sieg oder Niederlage ausstreut. Nur selten aber wird, was sie wie sagt und warum, so klar und eindeutig beschrieben, wie in einer berühmten Passage aus Hesiods Werken und Tagen:

Hüte dich auch, in Mündungen meerwärts strömender Flüsse Oder an Quellen zu pissen, das musst du wirklich vermeiden. Nicht auch entleere dich dort, um kein Haar wäre das besser,

rät der Dichter, mit überzeitlicher Gültigkeit, seinem Bruder und seinen Zeitgenossen. Doch nicht aus hygienischen Gründen allein warnt er vor der Macht der pheme:

Handle du so und vermeide das üble Gerede der Menschen. Denn Gerede ist schlimm: so leicht und ganz ohne Zutun Ziehst du es dir auf den Hals, doch schwer wirst der Last du

dann ledig.

Ganz verschwindet es nie, das Gerede, wenn einmal viele Leute im Munde es führen, es ist ja selbst eine Gottheit.17

Es ist selbst eine Gottheit und nicht nur die Stimme der Menge. Das opake Wort »theos«, das Albert von Schirnding mit »Gottheit« übersetzt, muss nicht notwendig eine Person meinen, sondern kann auch für eine abstraktere Macht stehen. Doch stimmt es wohl, dass Hesiod hier die pheme »als einen neuen Gott zu den vielen seiner Theogenie«18 setzt. Wer ihr begegnet, weiß, dass er es nicht nur mit Menschenwerk zu tun bekommt, wenn es auch Menschen sind, über die die Gewalt des Geredes einsetzt und die einander mit den immer scharfen Waffen des Gerüchts und des Klatsches rigoroser sozialer Kontrolle unterwerfen.19 Diese pheme ist mehr als ein Medium; sie hat unsterbliche Macht, und sie spielt sie auch aus.

Victoria hier ohne Flügel, und Fama verkündet auch Niederlagen. Jacopo de Bar bari, Sieg und Ruhm (um 1500).

Die Spur der Stimme

Wer heute die Fährte dieser Gottheit und ihres Mythos sucht, ist angewiesen auf das literarische Echo ihrer flüchtigen Stimme. Nicht jede ihrer Spuren ist erkennbar, einige sind im Laufe der Jahrhunderte verwischt, und von manchem, das die Griechen über die »göttliche Stimme« und das Hörensagen schrieben, weiß man wiederum nur durchs Hörensagen, denn einige Texte, meist aus der Spätantike20, sind verflogen wie ihr Gegenstand. Dennoch lassen sich aus dem, was erhalten blieb, zumindest die Umrisse eines mythischen Bildes von Gerücht und Hörensagen skizzieren.

Im Einzelfall fällt es oft schwer, das Gerücht von Phänomenen wie dem Ruhm, dem Ruf und der Kunde abzugrenzen. Fast unauslotbar erscheint, was die Griechen an Bedeu tungen und Nuancen unterscheiden und miteinander verschmelzen lassen können. Je nach Autor, Zeit und Zusammenhang betonen ossa, baxis, phatis und pheme einen anderen Aspekt aus dem Imperium des Hörensagens, sei es das kaum hörbare Geraune, sei es die Botschaft, die von einem Ort zum anderen dringt, sei es der Ruf, der eine Person umgibt, oder der Ruhm, der sich in die Zeiten erstreckt. Ihnen allen ist gemein, dass sie mehr oder weniger schwer zu fassen sind, flüchtig wie ein anderes, ähnlich »liquides« Medium, das viele Griechen übrigens ebenso wie das Gerede im Munde aufbewahren, bevor sie es ausgeben: das Geld.21

Hinzu kommt die besondere, widersprüchliche und mehrdeutige Natur des mythischen Denkens, die es den logischen Präpariernadeln immer wieder entzieht. Der Mythos ist »eine Weise des Bedeutens, eine Form«, und er sagt, »was überhaupt nicht anders gesagt werden kann«.22 Er neigt dazu, widersprüchlich, vieldeutig und rätselhaft zu sprechen, zumindest, wenn man ihn mit dem Maß des Logos misst. Dass sich diese Nebel ausgerechnet dann verziehen, wenn es um die flüchtige Stimme der pheme geht, kann man kaum erwarten. Im Gegenteil, diese doppelte Unschärfe gehört zum antiken Bild von Phänomenen wie dem Gerücht und dem Hörensagen.

Die meisten der überlieferten antiken Spuren des Gerüchts finden sich an Stellen, in denen elementare Probleme von Mythos, Krieg und Geschichtsschreibung verhandelt werden. Sie haben also im weiteren Sinne mit der Frage zu tun, wie sich Ereignisse medialisieren und überliefern lassen, im Raum wie in der Zeit. Die »göttliche Stimme« erscheint dabei immer wieder als eine Denkfigur für den autopoietischen Effekt von Gerücht und Hörensagen; es scheint, dass sie wie von selbst sprechen.

Doch es ist nicht einfach, die »göttliche Stimme« zwischen Mythos und Medium zu lokalisieren. Das zeigt schon Sophokles’ Tragödie über Ajax, den Prinzen von Salamis: Der nach Achill bedeutendste und stärkste Heerführer im Lager der Griechen vor Troja ist zum Tode entschlossen; sein Schwert hat er bereits mit dem Griff in den Boden gerammt, die Spitze der Waffe ragt in die Luft, bald wird sie sich in die Brust des Ajax bohren. Der wendet sich noch einmal an Zeus, um seinen letzten Willen kundzutun. Er bittet den Vater der Götter um einen vergleichsweise bescheidenen Gefallen: »Erweise mir allein die Gnade, an Teukros [seinen Bruder] einen Boten mit der traurigen Nachricht zu schicken, damit er der erste sei, der meinen von diesem blutigen Eisen durchbohrten Leichnam aufnehme.«23

Dann nimmt der Held Abschied von dieser Welt und stürzt sich in das Schwert. So weiß es die Tragödie, so erzählt es der Mythos. So raunt es das Gerücht. Schließlich hört es Teukros. Erschüttert betritt er die Szene: »O geliebter Ajax, Bruder, bist du wirklich so geendet, wie es die öf fentliche Stimme sagt?« Die öffentliche Meinung, das Hörensagen hat ihn vom Tod des Bruders verständigt: »Ein Gerücht, ein Gerücht, so schnell, dass man hätte meinen können, es käme von einem Gott, durcheilte die griechische Armee: Es sei geschehn, du seiest tot!« Der aggelos, der göttliche Bote, den Ajax erbat, hier nimmt er die Gestalt der baxis, des Geredes ein, das schnell ist, »als käme es von einem Gott«. Der Wechsel von phatis zu baxis zeigt die mythische Macht der Götter; pheme bestimmt das Medium, die Gestalt ihres Auftritts.

Das Gerücht gehört zwei Sphären an, der göttlichen wie der menschlichen. Zeus setzt es in Gang, die Menschen kommunizieren es. Schließlich erweist es sich als zutreffend.

Des Teukros Hoffnung, die baxis fehle und täusche ihn, wird enttäuscht. Nur solange das Gerücht weder bestätigt noch widerlegt wird, kann Hoffnung im Spiel sein. Sie gehört zur informellen Rede wie die Angst, der Schrecken und wie die Ambivalenz, die dem Hörensagen mehr noch als jeder anderen Überlieferung eignet.

Die göttliche Stimme richtig zu deuten, ist schwer. Denn sie ist die »Selige Stimme des Zeus!«24. Als solche spricht sie der Chor in Sophokles’ König Oidipus an: »Sag es mir, du Kind der goldenen Hoffnung, / Unsterbliche Stimme!«25. Gemeint ist der das Drama in Gang setzende Orakelspruch, mit dem Kreon aus Delphi zurückkehrt. Auch als Weissagung verfügt phama (dorisch für pheme)über die Attribute der pheme als Gerücht: Wie die im nachfolgenden Vers angesprochene Göttin Athene ist sie unsterblich. Nur schwer können die Sterblichen ihr Wesen ergründen. Denn die Tochter der Elpis, der personifizierten Hoffnung, kann sich ebenso gut mit ganz anderen Kräften verbinden, etwa mit der diabole, der Verleumdung und Verunglimpfung; dann gilt sie als kakon, als Übel, gerade weil sie wahr und falsch ungeschieden vermischt.

Die Theatergänger aus der Zeit des Sophokles konnten das Wort von der »unsterblichen Stimme« als Anspielung auf die göttliche pheme bei Hesiod verstehen. Zugleich mögen sie auch die personifizierte Kunde vor Augen gehabt haben, die Pindar in der vierten Isthmischen Ode besingt, einem Athleten-Loblied auf »Melissos von Theben und seinen Sieg im Pankration«:

[Poseidon] schenkt dem Geschlecht dieses wunderbare Lied und erhebt vom Bett die alte Kunde

von den Ruhmestaten. Denn sie war in Schlaf gesunken. Aber erweckt strahlt sie an ihrem Leib,

wunderbar anzusehen wie der Morgenstern unter den ande ren Sternen.26

Wenn sich die Nachricht vom Sieg des Allkämpfers unter den sportbegeisterten Menschen verbreitet, findet auch der Schlummer des Ruhms ein Ende: Melissos’ Geschlecht wird ge- und berühmt sein. Der aktuelle Sieg des Kämpfers verbürgt den überzeitlichen Ruhm seines Geschlechts. In dem anschaulichen Bild der zunächst eingeschlummerten, dann sich von ihrem Ruhelager erhebenden phama, verbindet Pindar Gerücht und Ruhm, die räumliche und die zeitliche Seite der Kunde, zu einem neuen Konzept: Ihr Zweck gleicht dem der Lobesdichtung. Wie eine phama soll sich auch das Gedicht in der Welt und in der Zeit verbreiten. Dabei soll es ähnliche Wege gehen wie später das Gerücht zu Zeiten des Barbiers vom Piräus: »Kein Bildhauer bin ich, dass ich verfertigte auf ihrem Sockel ruhenbleibende Standbilder. / Nein, gehe, süßes Lied, auf jedem Frachtschiff und in jedem Kahn (…) und melde, dass (…)«27 Weiter breitet sich die Botschaft aus in der Zeit: »Freilich schläft die Freude über diese alten Begebenheiten, und die Menschen vergessen sie, /wenn sie nicht zum Gegenstand hoher Dichtkunst werden / und eingefügt werden in den Fluss der Ruhmeslieder«, die eine Form sind, phama in Gegenwart und Geschichte zu verbreiten. Wenn die Wirkungshorizonte von Gedicht und Gerücht miteinander verschmelzen, strahlt die Literatur in die Gegenwart und die phama auch in die Zukunft, als geformte Rede, als Lied.

Ein Kind der Hoffnung und der Verzweiflung, verfügt das Gerücht als göttliche Stimme über elementare Macht. Es tritt auf, wo es um Siege und Niederlagen geht, um Tod oder Rettung; gerade seine Ambivalenz macht seine Nähe zu den Göttern plausibel. Pindars phama ist mehr als nur der Ausdruck und Ausfluss göttlicher Macht; sie kennt Schlafen und Wachen, und ihr Leib strahlt sternengleich. Wenn im Jahr 23 v. Chr., also etwa fünfhundert Jahre nach Pindars Geburt, Publius Vergilius Maro den Kaiser Augustus und seine Familie mit seinem Vortrag aus der Aeneisbezaubern wird, werden sich auch die Römer daran erinnern, dass Fama ein eigenes Wesen ist, das zudem seinen eigenen Kopf hat.

Anne Louis Girodet-Trioson (1767-1824), Das Gerücht unterrichtet Jarbas, Zeich nung (o. J .).

Aber auch wenn es wie bei Pindar der römischen Fama ähnelt, ist das griechische Konzept pheme nicht identisch mit seinem jüngeren, anthropomorphen Nachfolger.28Pheme erscheint durchweg als die Figuration einer unkörperlichen Stimme, als mythische Metapher für Ambivalenz. Was sie sagt, wird, wenn es die Götter wollen, bestätigt oder widerlegt. Die Spanne zwischen dem Moment, in dem die göttliche Stimme vernommen wird, und jenem, in dem sie sich als richtig oder falsch erweist, kann unterschiedlich lang sein. In Athen währt sie einen schmerzlichen Nachmittag, bei Sophokles macht sie die Zeit des Dramas aus.

Signalpost

Die pheme ist gebunden an menschliche Stimmen als Träger; Sklaven und Barbiere erzählen in Athen vom Untergang der Flotte, und auch Teukros erhält die Information vom Tod seines Bruders durch die »öffentliche Stimme«, durch das, was die Leute sagen. Die Dualität von göttlicher Macht und menschlichem Medium ist das Mysteriöse am Gerücht in der Antike. Niemand weiß, woran er ist mit dieser Stimme des Hörensagens; sie verweist auf andere, abwesende Erzähler, auf Leute, die nicht da sind. Im Hintergrund des Gesprächs, in dem diese Stimme spricht, gibt es eine irgendwo begonnene und sich im Irgendwo verlierende Kette anonymer Sprecher. Diese Reihe, dieses virtuelle Geflecht von weiteren Gesprächen gibt dem Gerücht seine merkwürdige Autorität: Es ist so, weil alle es sagen, und alle sagen es, weil es so ist. Pheme ist die kulturelle Konvention für den Versuch, diese machtvolle Ambivalenz als ambivalente Macht zu repräsentieren; das ist den Griechen durchaus bewusst. Der Redner Aeschines definiert die pheme präzise; sie liegt dann vor, »wenn die Menge der Bürger von selbst und aus keinem ihr suggerierten Anlass von einer Tat als geschehen spricht«.29 An der sozialen Textur des Gerüchts weben alle mit, die es erfasst, aber nur deshalb kann es jeden ergreifen und ein bedeutungsvolles Muster erschaffen, weil es einer göttlichen Direktive folgt wie das Gerede, das den Teukros über Ajax’ Tod informiert.

Übermenschlich am Gerücht wirken seine ungeheure Geschwindigkeit und seine Macht über die Gesellschaft: »Als Agamemnon nach Ilion zog, gelobte er Klytaimestra, ihr noch am Tage der Zerstörung Troias durch Fackelpost Nachricht zu geben.«30 In der Heimat hat man dieses Versprechen zehn Jahre lang nicht vergessen; damit beginnt Aischylos’ Tragödie über Agamemnons Ende. Am Anfang des Stücks liegt ein Späher, sein mühevolles Los bejammernd, »auf dem flachen Dach der Königsburg« und wartet auf »der Fackel Zeichenpost«, auf die »Kunde«, baxis, von Trojas Fall. Schon in der Exposition der gesamten Orestie offenbart sich die Tragödie als ein Drama über die Macht der Zeichen und das Dilemma ihrer Deutung. Als das vereinbarte Signal endlich erscheint, setzt es das Spiel der Interpretationen und Mutmaßungen in Gang.

Von Feuers Glücksbotschaft eilt

Die Stadt hindurch schnellen Gangs

Das Gerücht; ob’s wahrheitstreu,

Wer weiß es, oder eines Gottes Täuschung ist?31

So spekuliert der Chor über die Nachricht von der Ankunft Agamemnons, des obersten Feldherrn der Achaier. Von Signalfeuern getragen, eilt das Gerücht, ähnlich wie nach seinem Traum vor Troja, dem Atriden Agamemnon voraus. Aber alles bleibt unsicher, bevor nicht ein Herold leibhaftig bestätigen wird, was die Leute sagen. Denn das Gerede der Menschen ist »verheerend« wie »Weibes Wünschen« und flüchtig wie das »Weibsgeschwätz«32. Vor allem aber reist es schnell wie die Hoffnung, wie die Angst. Hier schnallt bereits die griechische Antike der pheme Flügel an, um ihre Geschwindigkeit metaphorisch auszudrücken. Der Chorführer fragt Klytaimestra, ob schon ein »unflügges« (oder muss es richtig heißen: »geflügeltes«?33) Gerücht hinreiche, ihr Mut zu machen. Dieses Attribut der Flügel wird das Gerücht bis in die Spätantike und weit darüber hinaus nicht mehr ablegen; es ist ein Spruch, der selbst ganz Flügel ist und auf den Schwingen des Windes reist.

Als Agamemnon endlich angekommen ist, um die Rolle des Feldherrn mit der des Königs zu vertauschen, demonstriert der erfahrene Herrscher seinen Respekt vor dem Hörensagen, der phatis demokratou:»Gefahr bringt Stadtvolks Geraun, voll von Groll.«34 Den prunkvollen Empfang, den ihm Klytaimestra bereiten will, möchte er vermeiden. Dabei scheint er Hesiods Warnung vor der pheme im Sinn zu haben; er scheut Neid, Missgunst und üble Rede: »Die Stimme, die das Volk erhebt, hat große Macht!« Als kluger König weiß Agamemnon, dass er nicht gegen ihre Gunst regieren kann. In wenigen Versen spielt Aischylos so die soziale Dimension dieser Stimme aus. Sie verbreitet Nachrichten in der Stadt und bildet den Resonanzraum für das große Geschehen im Königshaus. Pheme, phatis und baxis sorgen dafür, dass die Ereignisse aus der Welt der Paläste das kollektive Gedächtnis erreichen; die göttliche Stimme des Gerüchts überwacht die Herrscher.

Das Konzept pheme steht in engster Nachbarschaft zum Mythos. Denn pheme ist immer zugleich die aktuelle Nachricht und ihr Medium, wenn sie als Stimme des Mythos spricht: In Platons Gesetzen raunt sie von den Normen der