Familie auf Europäisch - Katharina Strobel - E-Book

Familie auf Europäisch E-Book

Katharina Strobel

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Beschreibung

Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Gleichzeitig gründen immer mehr Europäer grenzübergreifend Familien. Laut EU-Kommission leben 16 Millionen internationale Paare in unserem Staatenbund. Sie machen im Kleinen vor, wie es im Großen funktionieren könnte. Sie leben Offenheit, Toleranz und Kompromissbereitschaft.
Katharina Strobel ist von Brüssel über Cambridge nach Dänemark, von Reinbek über Berlin nach Warschau, nach Verona und ins Ruhrgebiet gereist, um mit Deutschen und deren EU-ausländischen Partnern sowie mit inzwischen erwachsenen »binationalen« Kindern zu sprechen: Wie meistern Europafamilien ihren Alltag? Wie integriert sind sie in ihrem Umfeld? Welche sprachlichen, kulturellen und bürokratischen Hürden müssen sie nehmen, um in einem fremden Land anzukommen? Im Anhang des Buches finden sich eine Übersicht zu rechtlichen Regelungen und ein Wunschkatalog der Europafamilien an die Politik.

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Seitenzahl: 257

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Katharina Strobel

Familie auf Europäisch

Katharina Strobel

Familie aufEuropäisch

Liebe und Alltagzwischen den Kulturen

Die Recherche für dieses Buch wurde vom Goethe-Institut Krakaufinanziell unterstützt.

Für Meta, Freya und James

This book is also dedicated to all British people, regardlessof their vote. You have helped shape the EU – and, ironically,by rejecting it you might turn out to be its saviour.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage als E-Book, August 2017entspricht der 1. Druckauflage vom August 2017© Christoph Links Verlag GmbHSchönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0www.christoph-links-verlag.de; [email protected] Cover: Stephanie Raubach, Berlin, unter Verwendung zweier Motive von Thinkstock (Nr. 486722018 und 506916007) Lektorat: Maike Nedo, Berlin

Inhalt

AUFTAKT

Der Schlüssel zum Erfolg der EU – ein Appell

EU-Binnenmigration – Zahlen und Fakten

Die EU im Jahr 2017 – eine Karte

EUROPAFAMILIEN

Europas Reichtum entdecken

Brexit-Schatten über dem Inselglück

Die deutsch-englische Familie Schon,Cambridge, Großbritannien

Eine ganz normale Familie?

Die deutsch-dänische Familie Schmitz,Tappernøje, Dänemark

Ihana – das Leben kann so schön sein

Die deutsch-finnische Familie Steinke,Reinbek, Deutschland

Si, si, ja, ja – so leicht geht Integration

Die deutsch-spanische Familie Vidart-Diaz Dumdei,Berlin, Deutschland

Angekommen im Anderssein

Die deutsch-polnische Familie Muther,Warschau, Polen

Perfekt gibt es nicht, und wenn, dann nur für kurze Zeit

Die deutsch-italienische Familie Lorenz Marchi,Verona, Italien

Willkommen in Deutschland

Die deutsch-griechische Familie Behnke,Gevelsberg, Deutschland

In der Zukunft zu Hause

Die deutsch-niederländische Familie Schenk,Brüssel, Belgien

EUROPAKINDER

Wenn nationale Identitäten verschwimmen

»Ich komme aus der Welt«

Aleksandra Muther, 17 Jahre alt,Deutsche und Polin

»Mit nur einem Land wäre ich niemals ich«

Rebecca Meletiadis, 28 Jahre alt,Deutsche und Griechin

»Ich brauche ein Stück Finnland,um in Deutschland glücklich zu sein«

Annika Steinke, 33 Jahre alt,Deutsche und Finnin

»Der finnische Einfluss zieht sichdurch mein ganzes Leben«

Ulla Steinke, 36 Jahre alt, Deutsche und Finnin

»Es fällt mir zunehmend schwerer,Gleichaltrige zu siezen«

Christian Ludwig, 42 Jahre alt, Deutscher und Schwede

»Jetzt werde ich wieder Pässe sammeln«

Ana Mosterin, 46 Jahre alt, Deutsche und Spanierin

EUROPAPERSPEKTIVEN IN DER POLITIK

Wie viel Europa stecktin unserer Politik?

»Wir haben mit unseren Eltern gelitten«

Gitta Connemann

»Ich bin ein großer Menschenfreund«

Lars Castellucci

»Ohne die EU gäbe es mich nicht«

Kai Whittaker

AUSBLICK

Wir könnten das kostbarste Gut exportieren,das eine Gesellschaft zu bieten hat: Frieden

ANHANG

Wunschkatalog der Europafamilien

Initiativen im Ausland: Zum Beispiel Deutsche Samstagsschulenin Großbritannien

Nationales Recht gilt, europäisches Recht hilft

Abbildungsnachweis

Dank

Über die Autorin

»Wenn ich das Ganze der europäischen Einigungnoch einmal zu machen hätte, würde ich nichtbei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur.«

Jean Monnet (1888 bis 1979)

AUFTAKT

Der Schlüssel zum Erfolg der EU – ein Appell

60 Jahre nach der Unterzeichnung der Verträge von Rom steckt die Europäische Union in ihrer bislang tiefsten Krise. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte möchte ein langjähriges Mitglied austreten. Werden weitere Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen? Betrachtet man die wachsende Anzahl von Europäern, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen und in anderen Ländern leben, arbeiten und Familien gründen, ergibt sich ein anderes Bild als das des krisengeschüttelten Kontinents an seinem Tiefpunkt: Die EU hat Millionen von Europäern den Weg zu einem friedlichen Miteinander unter einem gemeinsamen Dach geebnet. Warum wird davon so wenig erzählt? In diesem Buch werden europäische Lebenswelten geschildert, die zeigen, dass die Geschichte der EU auch eine Erfolgsgeschichte ist. Die Europäische Union hat möglich gemacht, wovon meine Großeltern nicht zu träumen gewagt hätten. Für meine Kinder und alle Nachfahren auf diesem Kontinent wünsche ich mir, dass wir uns auf diesen Erfolg besinnen und auf ihm aufbauen.

Wenn meine Kinder in ihrer Schule in Belgien, an der über 70 Nationen vertreten sind, den Internationalen Tag feiern und in den Trachten ihres Heimatlandes erscheinen sollen, haben sie die Wahl zwischen Schottenrock und Matrosenhemd. Sie könnten sich auch in den Farben der belgischen Flagge kleiden oder in Weiß-Rot, wie das englische Sankt-Georgs-Kreuz. Die Frage »Wo kommt ihr her?« können sie nicht mit einem Land beantworten, aber ein Wort ginge schon: Europa. Sie sind ein bisschen deutsch, ein bisschen britisch und fühlen sich auch den Belgiern nahe, weil sie in Belgien leben. Wie mein Nachwuchs entstammen immer mehr Kinder auf unserem Kontinent Europafamilien, deren Mütter und Väter aus unterschiedlichen Ländern der Europäischen Union kommen, und wachsen oft, aber nicht immer, multikulturell und mehrsprachig auf. EU-weit sind es Millionen.

Mit diesem Buch möchte ich auf Europafamilien und ihre speziellen Lebenswelten aufmerksam machen, denn der Brexit und nationalistische Strömungen in vielen EU-Ländern stellen infrage, was in ihnen längst zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist: europäisches, interkulturelles Miteinander unter einem gemeinsamen Dach. EU-Skeptiker bezweifeln, dass die EU-Staaten sich in den entscheidenden Fragen einigen können, und EU-Gegner erklären die europäische Idee gar für tot. Viele Menschen glauben, dass die EU-Staaten allein besser aufgestellt sind als im Verbund. Sind sie das wirklich?

Gerade der Brexit führt uns vor Augen, was wir aneinander haben und welche Komplikationen sich durch einen EU-Austritt ergeben – auf politischer und wirtschaftlicher Ebene und im Alltag der Europäer, die direkt davon betroffen sind. Plötzlich stelle ich mir Fragen, von denen ich überzeugt war, sie gehören in die Vergangenheit: Brauche ich künftig ein Visum, um in die britische Heimat meines Partners und die meiner Kinder zu reisen? Wird mir die Arbeitserlaubnis entzogen oder verwehrt, sollten wir zurück nach Schottland ziehen? Werde ich den britischen Gesundheitsdienst NHS nicht mehr kostenfrei nutzen dürfen? Müssen meine Kinder sich irgendwann zwischen der deutschen und der britischen Staatsangehörigkeit entscheiden? Das sind Fragen, von denen ich niemals geglaubt hätte, dass sie für mein Leben je relevant sein würden, und die mehr Menschen betreffen, als die Allgemeinheit annimmt. Sollte die EU auseinanderbrechen, würden sich Millionen von Europäern mit diesen Fragen beschäftigen müssen.

Die Idee für dieses Buch stammt aus dem Frühjahr 2015, als von einem britischen Referendum zur EU noch keine Rede war. Erst im Dezember desselben Jahres kündigte der damalige Premier Großbritanniens, David Cameron, die Abstimmung über den Austritt aus der EU an. EU-Skepsis geisterte zu diesem Zeitpunkt jedoch schon lange als ein immer bedrohlicher wirkendes Gespenst durch fast alle europäischen Staaten. Zu Recht regte sich in vielen Ländern Europas Unmut über zentral getroffene Entscheidungen, für die niemand zur Rechenschaft gezogen werden kann.

In Deutschland war es die zunehmende Ablehnung des Euro und der europäischen Wirtschaftspolitik, aus der die EU-kritische »Alternative für Deutschland« (AfD) erwuchs. In Spanien kämpften die Menschen mit den Auswirkungen der Finanzkrise. Vieles läuft fatal schief in unserem Staatenbund. Krisen mit katastrophalen Auswirkungen für weite Teile der Bevölkerung, vor allem im Süden Europas, erschüttern den Kontinent seit vielen Jahren. Aber ist wirklich die EU die Verursacherin dieser Missstände?

Mir ist es ein Anliegen, bei aller berechtigten Kritik an der EU auf ihre positiven Errungenschaften zu verweisen. Die EU hat unser europäisches Bewusstsein geschärft und uns zu einer Großfamilie werden lassen. Viele Menschen empfinden es so. Allen voran die Europafamilien, die im Kleinen vormachen, wie es im Großen funktionieren könnte. Die EU hat möglich gemacht, dass wir innerhalb unseres Staatenbundes in jedem Land leben und arbeiten können. Viele unserer Privilegien – wie das Recht auf Freizügigkeit – sind für uns zur Normalität geworden. Der Brexit macht deutlich, wie schnell es damit vorbei sein kann. Wollen wir das? Seit dem Votum der Briten hat mein Anliegen eine neue Dynamik und Dringlichkeit bekommen. Jetzt ist Handeln angesagt. Der EU muss neues Leben eingehaucht werden, wenn wir sie erhalten wollen.

Dieses Buch ist ein Appell: Was die europäischen Länder in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsam erreicht haben, sollten sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Zu groß sind die Errungenschaften, zu klein die Länder, um im globalen Kontext auf sich selbst gestellt zu sein. Wir fangen gerade erst an, den grenzenlosen Raum der Möglichkeiten, der unser Staatenbund ist, für uns zu entdecken. Ich wünsche mir, dass die Entscheidungsträger der 28 EU-Staaten sich ein Beispiel an den Europafamilien nehmen. Im Umgang der Europafamilien miteinander und in ihren multinationalen Lebenswelten liegt der Schlüssel zum Erfolg. Erst dann, wenn die Chefs unserer Länder sich auf Augenhöhe begegnen und das Gemeinwohl der gesamten Großfamilie im Blick haben, können sie eine Politik betreiben, mit der die Europäer sich identifizieren. Gerade zeigt sich in der Art und Weise, wie die Verhandlungspartner in den britischen Austrittsgesprächen miteinander umgehen – nämlich kühl, kalkulierend und, ja, leider auch feindselig –, das Gegenteil.

Familie auf Europäisch: Wie funktioniert das? Zwischen Juli 2016 und März 2017 bin ich quer durch die EU gereist, um dieser Frage im Gespräch mit Familien auf den Grund zu gehen. Wie kommen Europafamilien zustande, und was macht sie anders? Wie meistern sie ihren Alltag, und wie integriert sind sie in ihrem Umfeld? Die Antworten, die ich in den verschiedenen Familien gefunden habe, sind so facettenreich wie unser Kontinent. Aber eine herausragende Eigenschaft ist mir bei allen Müttern, Vätern und auch den inzwischen erwachsenen Europakindern, denen ich ein eigenes Kapitel widme, begegnet: Offenheit! Für fremde Sprachen und Kulturen, neue Traditionen und auch für dieses Buchprojekt, das ohne die großzügig gewährten Einblicke in die Privatsphären der Befragten nicht zustande gekommen wäre.

Mitglieder der Europafamilien müssen viele Hürden nehmen, um in einem fremden Land anzukommen oder, andersherum, Ausländer in den eigenen Kreis aufzunehmen. Sie überwinden sprachliche, kulturelle, geografische und bürokratische Barrieren, denn nur so können sie – getreu dem EU-Motto aus dem Jahr 2000 – »in Vielfalt geeint« als grenzübergreifende Familieneinheit in ihrem jeweiligen Umfeld bestehen. Eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer Europafamilie ist die Kompromissbereitschaft. Die Deutsche Katharina Lorenz nimmt als in Deutschland ausgebildete Rechtsanwältin berufliche Nachteile und eine große geografische Distanz zu ihrer Familie in Sachsen-Anhalt in Kauf, um mit ihrer italienischen Familie in Verona leben zu können. Oliver Schon, in Deutschland geboren und in England zu Hause, hat sich damit abgefunden, dass seine beiden Söhne die deutsche Sprache nur verstehen, nicht aber auf muttersprachlichem Niveau sprechen lernen, weil das englischsprachige Umfeld dominiert. Doch der Balanceakt zwischen dem unbedingten Willen, das multikulturelle Familienprojekt gelingen zu lassen, und den Abstrichen, die man – vor allem als Zugereister – zu machen bereit ist, entpuppt sich als nicht immer einfach. Die Polin Iza Muther bewertet ihre Chancen, in Deutschland beruflich Fuß zu fassen, als sehr gering. Also zieht sie mit ihrem deutschen Mann und ihrer kleinen Tochter von Berlin zurück nach Warschau.

Was können Politiker von diesen Beispielen lernen? Die Einbußen, die man für ein harmonisches Zusammenleben unter einem gemeinsamen Dach hinnehmen muss, können schmerzhaft sein. Die bürokratischen Barrieren machen es nicht einfacher. Nicht überall beherzigen die Behörden in den EU-Ländern das Recht auf Gleichstellung der EU-Ausländer. Oft müssen sie erst mit der Faust auf den Tisch hauen und nach dem Chef verlangen, um zu bekommen, was ihnen zusteht. Aber würden die Betroffenen die interkulturelle Lebenswelt, die sie sich geschaffen haben, deshalb aufgeben? Nein, lautet die eindeutige Antwort der Europafamilien. Sie wissen, dass sich die Mühe lohnt.

Von seiner griechischen Familie lernte der Deutsche Karsten Behnke, eine gewisse Gelassenheit dem Leben gegenüber zu entwickeln und Stolz zu empfinden, ohne sich dafür schämen zu müssen. Bernhard Schmitz lernte in Dänemark, nicht durchs Leben zu hetzen wie seine Eltern. Die Deutschen Oliver Schon und Christian Ludwig können sich nicht mehr vorstellen, in einem Unternehmen zu arbeiten, dass hierarchische Strukturen bedient, denn in Großbritannien und Schweden lernten sie das Gegenteil kennen und schätzen. Mitglieder der Europafamilien wissen aus eigener Erfahrung, dass Differenzen keine Hürden, sondern eine Bereicherung darstellen können. Diese Einstellung zieht sich durch ihr ganzes Leben. Auch Menschen in gleichstaatlichen Beziehungen können zu dieser Erkenntnis gelangen. Aber sich für ein fremdes Land, eine fremde Sprache und eine fremde Kultur zu öffnen – wissentlich, dass man dadurch Nachteile erfahren kann –, erfordert ein besonderes Maß an Freimut und Offenheit.

Nicht immer funktioniert das multikulturelle Familienprojekt: Es kann an unterschiedlichen Auffassungen und Gewohnheiten scheitern. Manche Zugereiste bekommen Heimweh, und gerade im Alter sehnen sich einige nach ihrem Herkunftsland und ihrer Muttersprache zurück. Aber viele Europafamilien schaffen es. Die Kinder, die aus diesen Beziehungen hervorgegangen sind, können sich ein Leben in nur einem Land oft nicht vorstellen, wie ich in meinen Gesprächen mit den Europakindern erfahren habe. Ihr Verständnis reicht weit über Ländergrenzen hinaus und lässt sich nicht auf eine Länderperspektive reduzieren. Der Horizont, der sich auftut, wenn man sich auf fremde Sprachen und Kulturen einlässt, ist gewaltig und nicht nur eine gute Voraussetzung für ein Leben in der EU, sondern auch im globalisierten 21. Jahrhundert, wo die Fähigkeit, sich auf andere Kulturen einzulassen, immer gefragter ist. Würden die Staats- und Regierungschefs der EU mit derselben Offenheit aufeinander zugehen und sich schlussendlich selbst als die Großfamilie begreifen, zu der sie über die Jahrzehnte zusammengewachsen sind – vielleicht hätte der Brexit vermieden und andere EU-Krisen besser bewältigt werden können.

Nie zuvor in der Geschichte unseres Kontinents haben so viele Europäer unterschiedlicher Nationalitäten zueinandergefunden und grenzübergreifend Familien gegründet. Der Trend ist paradox: Während die Medien EU-Krisen in den Fokus ihrer Europa-Berichterstattung rücken, wachsen Europafamilien, von der Öffentlichkeit wenig beachtet, zu einer immer größeren Gesellschaftsgruppe innerhalb der EU heran. Mit Familienporträts aus Nord-, Süd-, West- und Osteuropa will dieses Buch auf die gesamteuropäischen Ausmaße hinweisen und zeigen, dass die europäische Alltagsrealität eine andere ist, als in vielen Medien dargestellt. Aber wie lange noch? Ist die Europafamilie, gerade erst zum Blühen gekommen, schon wieder ein Auslaufmodell?

Die Gefahr ist real. Die Möglichkeit, dass die EU in einzelne Teile zerbricht, wenn weitere Länder einen Austritt ansteuern, besteht. Es sind nicht allein die Europafamilien, deren Lebensmodell durch eine zerfallende EU infrage gestellt oder, schlimmer noch, unmöglich gemacht werden würde. Etwas über vier Millionen EU-Ausländer leben derzeit in Deutschland, Tendenz steigend. In anderen EU-Ländern ist die Zahl ähnlich hoch. Auch Bewegungen wie der Pulse of Europe zeigen, dass viele Europäer europäischer denken, als die politische Elite es ihnen zutraut. Ein Leben ohne die EU können und wollen sie sich nicht vorstellen. Nicht weniger, sondern mehr Europa wünschen sie sich. Ein konsequentes Weiterdenken des europäischen Gedankens, das in Taten mündet. Im Anhang findet sich ein Wunschzettel, der an die Entscheidungsträger adressiert ist.

Wir Europäer haben es geschafft, innerhalb von drei Generationen von Feinden zu Freunden zu werden. Meine Kinder nehmen sowohl Großbritannien als auch Deutschland als ihre Heimat an. Hätten meine oder die Großeltern meines englischen Partners, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, sich das je vorstellen können? Die EU hat die Rahmenbedingungen geschaffen, die unser gemeinsames Leben möglich machen. Ohne diese Voraussetzungen wäre ich 2002 kaum nach Edinburgh zu meinem Partner gezogen. Ich hätte dort keine berufliche Perspektive gehabt. Wir wären später nicht gemeinsam nach Brüssel gegangen, um in Belgien zu arbeiten. Wären unsere Kinder jemals geboren worden?

Ich kenne keinen Kontinent auf dieser Welt, auf dem man zwischen so vielen Ländern wählen kann, um zu lieben, zu leben und zu arbeiten. Wollen wir diese Freiheit aufgeben? Wir sind an einem historischen Wendepunkt angelangt, an dem wir uns entscheiden müssen, ob wir den europäischen Gedanken weiterdenken und europäisch leben wollen – so wie die Europafamilien es vormachen – oder ob wir die Privilegien, wie den gemeinsamen Binnenmarkt und das Freizügigkeitsgesetz, die die EU geschaffen hat, wieder aufgeben wollen. Tatsächlich geht es um weit mehr: Wenn wir uns gegen die EU entscheiden, verabschieden wir uns von der Hoffnung, diesen Kontinent friedlich und wirtschaftlich erfolgreich in die Zukunft steuern zu können. Die Grundsatzfrage lautet: Ziehen wir gemeinsam an einem Strang – oder sind wir uns selbst am nächsten? Die Antwort liegt auf der Hand. Millionen von uns betrachten Europa als Heimat und haben begriffen, dass wir gemeinsam besser aufgestellt sind als allein.

Auch für die drei Bundestagsabgeordneten, die ich für dieses Buch interviewt habe, steht die Antwort fest. Alle drei sind als Europakinder aufgewachsen und dem europäischen Gedanken sehr verbunden. Die Deutsch-Niederländerin Gitta Connemann erlebte als Kind, wie es ist, wenn Nachbarnationen sich bestenfalls mit Argwohn, meistens jedoch mit Hass und Verachtung betrachten. Selbstverständlich wünscht sie sich eine starke EU. Andere Politiker hat erst das britische Votum wachgerüttelt. Seit der Brexit einschlug wie ein Blitz und die Europäer elektrisierte, erklären Bundespolitiker den gemeinsamen europäischen Weg zu einem ihrer wichtigsten politischen Ziele. In seiner ersten Rede als Bundespräsident vor dem Europäischen Parlament appellierte Frank-Walter Steinmeier im April 2017 an die Europaabgeordneten: »Es liegt jetzt an uns, dass der europäische Traum auch in der nächsten Generation nicht ausgeträumt ist.« Tatsächlich sind jetzt die Politiker gefragt, Europapolitik so zu gestalten, dass sie die Menschen erreicht und überzeugt. Nicht nur mit Worten. Jetzt ist es an der Zeit für Taten. Die Brüsseler Entscheidungsprozesse müssen transparenter gemacht und Politiker zur Rechenschaft gezogen werden. Bisher sprach die EU selten aus einem Munde. In der Vergangenheit kam es den Staats- und Regierungschefs oft gelegen, wenn sie unpopuläre Entscheidungen mit dem Verweis auf »Brüssel« von sich weisen konnten, anstatt selbst die Verantwortung zu übernehmen. Globale Probleme, wie die Flüchtlingskrise, verlangen nach einer gemeinsamen Lösung.

Die Erkenntnis, dass die europäische Lebensart immer mehr Zuspruch findet, sollte die Staats- und Regierungschefs leiten, wenn sie zu ihren Gipfeltreffen in Brüssel zusammenkommen. In Brüssel vertreten sie nicht Deutsche, Franzosen oder Ungarn, sondern alle Europäer. Wenn es den Griechen schlecht geht, bekommen das irgendwann auch die Schweden oder Esten zu spüren. Wäre es da nicht naheliegend, Hilfe anzubieten? Nicht umsonst schreiben wir Solidarität auf unsere Wertefahne. Es ist an der Zeit, sich zur EU und einer gemeinsamen europäischen Zukunft zu bekennen. Wir sind über die Jahre zu einer Großfamilie geworden, die viel mehr verbindet als trennt.

Die EU-Kommission spricht von 16 Millionen internationalen Paaren in der EU. Das sind jene EU-Bürger, die mit einem Partner aus einem anderen EU- oder einem dritten Land liiert sind. Dabei wurden Nicht-Verheiratete oder frisch Verliebte noch gar nicht mitgerechnet – und es werden immer mehr. Ausgehend von diesen Menschen entstehen europäische Lebenswelten, die sich zwischen unseren zahlreichen Kulturen verbergen. Offenheit, Toleranz und Kompromissbereitschaft werden in ihnen kultiviert. Sie sind der Schlüssel zum Erfolg der EU.

EU-Binnenmigration – Zahlen und Fakten

Bei der EU-Binnenmigration gibt es einen eindeutigen Trend: Die Anzahl der Europäer, die ihren Wohnsitz innerhalb der EU verlegen, nimmt konstant zu. Mit den Erweiterungsrunden der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die im Jahr 1957 von Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Belgien und den Niederlanden gegründet wurde und aus der später die EU mit ihren mittlerweile 28 Mitgliedsstaaten hervorging, nahm auch die innereuropäische Mobilität zu. Der freie Personenverkehr ist ein Grundpfeiler des europäischen Binnenraums.

Die wichtigste Form der EU-Binnenmigration ist die Arbeitskräftewanderung. Durch den gemeinsamen Binnenmarkt ist jedoch mittlerweile ein Angleichungsprozess der Wirtschaftssysteme feststellbar. Eine durch höhere Einkommen motivierte Binnenmigration wird auf lange Sicht eine immer geringere Rolle spielen.

1960 kamen in der Bundesrepublik Deutschland 5314 Kinder zur Welt, die jeweils einen deutschen und einen EU-ausländischen Elternteil hatten. Eine überschaubare Zahl in den Jahren der Babyboomer, die es 1964 auf einen Höhepunkt von 1,4 Millionen Neugeborenen brachten. Dennoch nahmen seit Beginn der 1960er-Jahre die Mischehen kontinuierlich zu.

1991 waren es 26 974 Europakinder in Deutschland, von insgesamt 830 019 Geburten. Der Anstieg der Geburten von Kindern mit EU-ausländischen Elternteilen ist insofern imposant, weil zur gleichen Zeit die Geburten insgesamt drastisch zurückgingen. Der Trend setzte sich fort: 2010 wurden 51 392 Europakinder geboren, insgesamt waren es aber nur 677 947.

Von den rund acht Millionen Ausländern, die Ende 2016 in Deutschland gezählt wurden, kamen laut Statistischem Bundesamt 3,8 Millionen (siehe Tabelle) aus dem EU-Ausland. Das sind nicht alles Europafamilien. Aber einige davon schon. Manche werden es vielleicht demnächst.

Nach Angaben des Mikrozensus hatten im Jahr 2014 von den 80,9 Millionen Einwohnern in Deutschland etwa 16,4 Millionen Personen einen Migrationshintergrund. Davon sind etwa 9,2 Millionen deutsche Staatsbürger und 7,2 Millionen Menschen mit ausländischem Pass.

Die Alterspyramide der Bevölkerung in Deutschland für das Jahr 2014 zeigt, dass der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund in den jüngeren Jahrgängen am größten ist. So besitzen mehr als ein Drittel der Kinder unter zehn Jahren einen Migrationshintergrund. Auch in den anderen Altersgruppen bis 45 Jahre liegt der Anteil der Personen mit Migrationshintergrund mitunter deutlich über 20 Prozent. Dagegen liegt der Migrantenanteil in der Altersgruppe ab 65 Jahren bei lediglich 9,2 Prozent.

Was zumindest einige Europafamilien angeht, so sind die Zahlen der EU-Kommission interessant: Sie sprach 2014 von einer Million Erasmus-Babys. Das sind Kinder, die seit 1989 aus dem europäischen Uni-Austauschprogramm Erasmus hervorgegangen sind und in den meisten Fällen Eltern mit unterschiedlicher Staatsangehörigkeit haben.

2011 wurden EU-weit 18,8 Millionen Menschen gezählt, die nicht in dem EU-Land geboren wurden, in dem sie lebten, sondern in einem anderen Mitgliedsstaat. Das sind 3,7 Prozent der gesamten EU-Bevölkerung. In Luxemburg lebten im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung des Landes die meisten Menschen, die in einem anderen EU-Land geboren wurden, nämlich 31,4 Prozent der luxemburgischen Bevölkerung. In Estland, Litauen, Polen, Rumänien und Bulgarien lebten mit weniger als einem Prozent die wenigsten nicht in diesen Ländern Geborenen.

Länder in Zahlen. Ein Überblick über die Gesamtbevölkerung und den Anteil der EU-Auslandsbevölkerung in einer kleinen Auswahl von EU-Ländern (Angaben in Millionen):

Im März 2017 sind das die aktuellsten Zahlen von Eurostat, dem Europäischen Statistikamt. Da Polen im Jahr 2000 noch nicht zur EU gehörte, fehlt hier eine Angabe.

Die EU im Jahr 2017

Die Jahreszahlen unter den Ländern beziehen sich auf den Beitritt zur EU. Deutschland, Italien, Frankreich, Belgien, die Niederlande und Luxemburg begründeten 1957 mit der Unterzeichnung der Verträge von Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), aus der später die EU entstand.

Meine Reisen zu den Familien zwischen Juli 2016 und März 2017

EUROPAFAMILIEN

Europas Reichtum entdecken

Wie sehr Europa sich in den letzten Jahrzehnten verändert hat, merkt jeder, der sich mit der Vergangenheit seiner Familie beschäftigt. Meine Großmutter kam während des Zweiten Weltkriegs mit der deutschen Besatzungsmacht nach Brüssel. In der Rue de Trèves, im heutigen Europaviertel, übersetzte sie französische und englische Nachrichten ins Deutsche. Dabei hörte sie britische Bomber über sich in Richtung Deutschland fliegen. Es war eine Zeit, die aus heutiger Sicht so weit entfernt liegt, dass es schwer ist, sich vorzustellen, wie es damals gewesen sein muss: für die besetzten Belgier, für die Besatzer, wie meine Großmutter, für britische Piloten und die Menschen in den Städten, auf die Bomben fielen. Andersherum hätte das Vorstellungsvermögen meiner Großmutter damals nicht ausgereicht, um für möglich zu halten, dass Brüssel einmal den Beinamen »Hauptstadt der Europäischen Union« tragen und ihre Enkeltochter dorthin ziehen würde, um über europäische Politik zu berichten und mit einem Engländer eine Familie zu gründen. Jeden, der es ihr prophezeit hätte, hätte sie wahrscheinlich für verrückt erklärt. Dass die Geschichte uns beide, meine Großmutter und mich, unter derartig unterschiedlichen Umständen an denselben Ort gebracht hat, macht deutlich, welchen Turbulenzen Europäer ausgesetzt waren – und sind.

Ich bin dankbar, in der heutigen Zeit zu leben und unter anderen Voraussetzungen in die belgische Hauptstadt gezogen zu sein als meine Großmutter. Ich sehe meine Kinder in einem Umfeld aufwachsen, in dem englisch, französisch, niederländisch, schwedisch oder estnisch miteinander gespielt, geredet, diskutiert und gefeiert wird, und in dem auch ich als Deutsche willkommen bin. Dass es den Europäern gelungen ist, innerhalb von drei Generationen wieder zu friedlichen Nachbarn, Freunden oder gar Familien zu werden, fasziniert und erschreckt mich zugleich. Denn im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir genauso schnell wieder zu Feinden werden können. Oder etwa nicht?

Europafamilien sind für mich die Antwort auf die Frage: Wie geht es weiter mit der EU? Sie schlagen die Brücke zwischen den Nationen und holen das vermeintlich Fremde in die eigenen vier Wände. Sie schaffen im Kleinen, was bei den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs so schwierig erscheint: dem Gegenüber auf Augenhöhe zu begegnen und im Interesse der Allgemeinheit Kompromisse einzugehen. Die Staats- und Regierungschefs sind bemüht, sich als Gewinner jeder Verhandlung zu präsentieren und es nicht so aussehen zu lassen, als seien sie Kompromisse eingegangen. Warum eigentlich, wenn immer mehr Europäer in mehr als einem EU-Land zu Hause sind und sich um das Wohl des gesamten Kontinents sorgen?

In erstaunlicher Geschwindigkeit haben sich in den vergangenen Jahrzehnten Europafamilien und mit ihnen ein europäisches Bewusstsein entwickelt. War es in den 1970er- und 80er-Jahren noch etwas Besonderes, eine Mutter oder einen Vater aus einem anderen Land zu haben, ist es heute eine Selbstverständlichkeit. Meine Generation, die Ende der 1960er-, Anfang der 70er-Jahre geboren wurde, war die erste, von der viele zum Studieren und Arbeiten ins Ausland gingen, und profitierte von den Schengener Grenzöffnungen und dem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU. »Brüssel« ebnete uns den Weg. Klar haben wir uns jenseits unserer Landesgrenzen verliebt. Warum auch nicht?

Dass Europafamilien einen immer größeren Anteil der europäischen Bevölkerung ausmachen, ist bei den 28 Staats- und Regierungschefs, die sich in Brüssel hinter verschlossenen Türen treffen, um für ebendiese Bevölkerung Politik zu machen, noch nicht angekommen. Die Europäer denken europäischer, als man ihnen zutraut. Das zeigen die hier porträtierten Familien, die nicht entstanden sind, weil sie glühende Anhänger des europäischen Gedankens sind, sondern weil es möglich ist, sich in diesem Europa mit Menschen zusammenzutun, die man mag, egal, wo sie herkommen.

Europafamilien gibt es überall. Das hat meine Recherche so leicht gemacht. Auf meinen ersten Aufruf über die Deutsche Samstagsschule in Cambridge haben sich etliche Familien gemeldet, darunter eine deutsch-französische, eine deutschirische und eine deutsch-australische Familie. In meinem näheren und weiteren Bekanntenkreis wurden zahlreiche Familien gefunden. Jede kannte mindestens drei weitere Familien, die infrage gekommen wären, manche mehr. Am Ende ging es darum, die Familien nach Regionen, Himmelsrichtungen und Herkunft auszuwählen. Ich wollte eine möglichst breite Streuung der Nationalitäten und natürlich Vertreter aus Nord-, Süd-, Ost- und Westeuropa. Mit Dänemark als nördlichstem, Italien als südlichstem, Polen als östlichstem und Großbritannien als westlichstem Land ist mir das ganz gut gelungen.

Dass jeweils ein (Ehe-)Partner deutsch ist, hängt mit meiner eigenen Nationalität zusammen. Als Deutsche kann ich die kulturellen Besonderheiten, die Sprache und die Traditionen, die in den jeweiligen Familien am Leben erhalten werden, viel besser nachvollziehen. Bei einer polnisch-portugiesischen oder eine französisch-spanischen Familie hätte ich die wesentlichen Merkmale nur schwer erfassen können. Die Menge an möglichen Familien hat mich nicht überrascht, sondern mich in meinem Gefühl bestätigt, dass es immer mehr Europafamilien gibt.

Die EU hat ein vielfältiges und grenzübergreifendes Leben durch viele europaweit gültige Gesetze erleichtert beziehungsweise erst möglich gemacht. Die Freizügigkeit hat sich herumgesprochen. Sie beflügelt den europäischen Geist, es ist wunderbar zu wissen, dass man in jedem EU-Land leben darf, wenn man dort eine Arbeit findet und nicht auf staatliche Gelder angewiesen ist. Ob man auch immer überall willkommen ist, ist eine andere Frage. Aber zu wissen, dass man die Wahl und diese Freiheit hat, ist eine Errungenschaft, auf die ich als Europäerin stolz bin und die ich nicht missen möchte. Sie ist zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebensgefühls geworden.

Die Wahl zu haben zwischen dem eigenen und einem anderen europäischen Land, hat viele der auf den folgenden Seiten Porträtierten dazu bewogen, sich für die Fremde zu entscheiden, um etwas Neues zu erleben und über den eigenen Tellerrand zu schauen. In manchen Fällen führten auch wirtschaftliche Zwänge zur Aus- beziehungsweise Einwanderung. Die Beweggründe sind unterschiedlich. Gemein ist den Geschichten, dass sie in eine gelungene Integration münden, auch wenn mitunter große Hürden überwunden werden mussten. In einer Welt, in der die Probleme globaler werden und wir zunehmend mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu tun haben, ist die Fähigkeit, sprachliche, kulturelle oder auch bürokratische Hindernisse zu meistern, sehr wichtig geworden. Die EU gibt uns im Kontext der 28 Mitgliedsländer die Gelegenheit, uns diese Fertigkeiten anzueignen.

Die eigene Nationalität begreift man oft erst im Ausland, wenn man als Vertreter seines Landes wahrgenommen wird. »Für uns ist es okay, dass du Deutsche bist«, begrüßten mich amerikanische Kommilitonen, viele von ihnen Nachfahren jüdischer Emigranten, als ich mit 19 Jahren zum Studium in die USA ging. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass mir bewusst wurde, dass ich als Deutsche eine gewisse Verantwortung trage. Gelernt habe ich auch, dass Menschen unabhängig von ihren individuellen Stärken und Schwächen in Schubladen sortiert werden. In meiner Zeit als Volontärin und Redakteurin in Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen war ich der Wessi, unter Hamburgern bin ich die Elbvorortlerin. Da, wo es keine Bereitschaft gibt, Vorurteile zu hinterfragen und die Menschen so zu nehmen, wie sie sind, besteht kaum eine Chance auf Verständigung.

Im Ausland existieren die länderinternen Referenzmerkmale nicht. Für einen Briten oder Spanier ist es egal, aus welchem Teil Deutschlands, geschweige denn Hamburgs, ich komme. Es gibt nationale Stereotype, aber im Ausland hat man eher die Chance, als der Mensch wahrgenommen zu werden, der man ist. Das macht den Weg frei für die Identifikation mit kulturübergreifenden Gemeinsamkeiten: Werte, an die man glaubt, zum Beispiel. Jede Europafamilie braucht so eine gemeinsame Basis, weil die kulturellen Unterschiede oft zu groß sind, um sie miteinander zu vereinbaren.

Oft ergibt sich die Präferenzkultur aus dem unmittelbaren Umfeld oder der dominanten Sprache. In Italien zum Beispiel leben die Menschen zwischen casiomai – vielleicht – und vediamo – wir werden sehen. Daran musste sich die Deutsche Katharina Lorenz, die aus Deutschland konkrete Abmachungen kannte, erst gewöhnen, als sie nach Italien zog, wo bei schönster Sonne so vieles möglich ist. Warum sich dann genau festlegen? Manche Eigenarten lassen sich nur in einer Sprache ausleben. Für die Spanierin Maria Vidart-Diaz ist die deutsche Direktheit so ein Beispiel. Bei den Griechen spüren die deutsch-griechischen Behnkes eine Gelassenheit dem Leben gegenüber, die sie ein Stück weit in ihren Alltag nach Gevelsberg importieren. Und in Schweden und Großbritannien müssen die Deutschen sich daran gewöhnen, Kollegen mit dem Vornamen anzusprechen und sie sofort zu duzen. Damit einher gehen flache Hierarchien in Unternehmen. Hat man sich erst einmal daran gewöhnt, fällt einem das Siezen in Deutschland schwer.

Die Europafamilien zeigen, wie man sich zwischen den verschiedenen Kulturen einrichten kann und das Umfeld, in dem sie leben, davon beeinflusst wird. Der Italiener Marco Marchi bringt südeuropäische Lebensfreude nach Querfurt, wenn er bei den Verwandten zu Besuch ist. Maria Vidart-Diaz sorgt in Prenzlauer Berg für spanische Wärme. Olaf Muther trägt an einer Grundschule in Warschau zur deutsch-polnischen Verständigung bei. In dem Moment, in dem Kinder die Familien bereichern, bekommt die eigene Kultur noch mal einen anderen Stellenwert. Erst in Cambridge hat Oliver Schon die Liedertexte hinterfragt, die für ihn als Kind normal waren. »Ist da wirklich von Schießgewehren die Rede?«, will seine englische Frau Sue bei »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« wissen. Europafamilien, wie sie in den folgenden acht Porträts beschrieben werden, meistern täglich den Balanceakt zwischen dem Anspruch, die eigene Kultur zu bewahren, und der Überzeugung, dass nur durch das Verständnis für andere Kulturen ein Zusammenleben möglich ist.

Überall dort, wo Menschen über Grenzen treten und sich Neuem öffnen, entsteht wieder Neues. Es ist ein unermesslicher Reichtum, der darauf wartet, entdeckt und kultiviert zu werden. Es ist eine Art immaterieller Rohstoff, der im Kontext der globalen Probleme, die es in der Zukunft zu lösen gilt, einen nicht zu unterschätzenden Wert besitzt.

Brexit-Schatten über dem Inselglück

Die deutsch-englische Familie Schon, Cambridge, Großbritannien