Familienreisen - Kirsten Harms - E-Book

Familienreisen E-Book

Kirsten Harms

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Beschreibung

Familien sind Vielfalt Eine Patchworkfamilie mit jugendlichen Kindern stellt andere Anforderungen an den Urlaub als ein junges Paar mit Säugling. Genau darin steckt die Herausforderung für die Tourismuswirtschaft. Kirsten Harms und Kerstin Heuwinkel stellen das Phänomen Familienurlaub vor. Konkret gehen sie u. a. auf die Reisemotive, die Bedürfnisse und die Reiseentscheidung ein. Auch die Angebotsgestaltung, z. B. die Anreise, Unterkunft, Freizeitgestaltung und Verpflegung, lassen sie nicht außer Acht. Ein aufschlussreiches Buch für Tourismusstudium und -praxis, z. B. Hotellerie, Reiseveranstalter und Reisebüros. Es ist auch für reisende Familien eine informative Lektüre.

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Seitenzahl: 254

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Kirsten Harms / Kerstin Heuwinkel

Familienreisen

Wünsche, Anforderungen, Barrieren

Umschlagabbildung: © Imgorthand ∙ iStock

Autorinnenbild Kirsten Harms: © privat

Autorinnenbild Kerstin Heuwinkel: © privat

 

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381122820

 

© UVK Verlag 2025‒ Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 2701-2212

 

ISBN 978-3-381-12281-3 (Print)

ISBN 978-3-381-12283-7 (ePub)

Inhalt

Anstelle des Vorworts – Drei FragenHinweise zum BuchTeil I ∙ Eine Einführung und die Grundlagen des Familienurlaubs1 Was wir von Modern Family und den Simpsons lernen können – Eine Einführung1.1 Basiswissen Familie1.2 Familien unter Druck1.3 Wie reisen Familien?1.4 Was wir über Familien gelernt haben2 Urlaubsträume von Familien2.1 Was suchen Familien im Urlaub?2.2 Was schränkt Familien ein?2.3 Bedürfnisse und Entscheidungen rund um den Familienurlaub2.4 Ein Blick in die Entwicklung von Kindern2.5 Was bringt der Urlaub?2.6 Gemeinsame Zeit – Ganz einfach?Teil II ∙ Familien als Zielgruppe3 Familien als Zielgruppe im Tourismus – Wie gestalte ich Angebote für Familien?3.1 Selbstverständnis3.2 Kommunikation3.3 Anreise und Abreise3.4 Familienorientierte Ausstattung3.5 Freizeitprogramm und Unterhaltung3.6 Gastronomie und Verpflegung3.7 Sicherheit3.8 Buchungsverhalten und preisliche Angebotsgestaltung3.9 Personal und Mitarbeitende3.10 Zertifizierungen3.11 Praxistransfer4 Checklisten für die Praxis✎ Checkliste Hotel, Pension, Bauernhof✎ Checkliste Ferienwohnung und Appartementanlagen✎ Checkliste Campingplatz✎ Checkliste Museen✎ Checkliste Zoo, Tierpark, Naturpark✎ Checkliste Indoorspielplatz, Freizeitpark✎ Checkliste mobile Erlebnisse (z. B. Schifffahrten)✎ Checkliste Schwimmbad✎ Checkliste Skigebiet✎ Checkliste DestinationTeil III ∙ Wohin geht die Reise? Resümee und AusblickVerzeichnisseQuellen➲ Websites | Organisationen und Unternehmen➲ Websites | Good-Practice-FamilienreisenAbbildungsbelegeRegister

Anstelle des Vorworts – Drei Fragen

Warum dieses Buch?

▶ Kirsten: Weil es mir in meiner Arbeit gefehlt hat.

 

▷ Kerstin: Die kurze Antwort ist, dass Kirsten ein Buch für die Arbeit fehlte. Die längere Antwort ist, dass Familie sowohl für mich persönlich als auch innerhalb der Gesellschaft an Bedeutung gewinnt bzw. das Bewusstsein dafür, wie wertvoll Familie sein kann, gestiegen ist.

Wie bist Du als Kind mit Familie gereist?

▶ Kirsten: Auf jeden Fall sehr gerne und viel. Wenn auch nicht so weit. Dänemark und die Mittelgebirge waren die jährlichen Ziele, Highlights waren Touren nach Berlin oder dann sogar Paris. An Hotelurlaub kann ich mich nicht erinnern. Meist waren wir in Ferienwohnungen und irgendwann gab es dann einen selbstausgebauten Camper, das fand ich wunderbar abenteuerlich! Als Einzelkind war ich alleine mit meinen Eltern unterwegs und wir haben die Zeit zusammen in der Natur verbracht, gerne erinnere ich mich an wilde Wanderungen immer querfeldein – bei denen viel und schräg (jedenfalls von mir) gesungen wurde.

 

▷ Kerstin: Ich habe im Garten meiner Tante in England laufen gelernt und dieser Garten hat mich viele Jahre begleitet. Meistens waren wir in den Oster- und Herbstferien dort. Der Sommerurlaub fand regelmäßig an der Nordsee mit Eltern, Tante, Oma und Opa statt. Es gab auch mal eine Flugreise nach Griechenland. Als Zwölfjährige reiste ich alleine zu einer befreundeten Familie in die USA. Das bedeutete vier Wochen Heimweh.

Wie reist Du heute?

▶ Kirsten: Das Campen habe ich irgendwann wiederentdeckt, ansonsten nutze ich gerne die Bahn. Beruflich bin ich viel im deutschsprachigen Raum unterwegs und versuche dabei immer noch ein bisschen Zeit zum Entdecken neben den Terminen einzuplanen. Im Sommer genieße ich die jährlich wiederkehrenden Campingtreffen mit vielen Menschen aus dem Freundeskreis – von Klein bis Groß, eine kleine Urlaubsfamilie für ein Wochenende.

 

▷ Kerstin: Meine Reisen sind sehr vielfältig. Es gibt sowohl berufliche kürzere Reisen innerhalb Deutschlands und Europas als auch mal eine Fernreise. Letztere versuche ich so verantwortungsvoll wie möglich zu gestalten. Mit der Familie sind wir gerne am und auf dem Wasser. Schön ist es, wenn ich in einem Land Kolleg:innen habe und diese mit uns gemeinsam etwas unternehmen. Ein Höhepunkt war das Sammeln von Pfifferlingen und Blaubeeren in Finnland.

 

Lübeck und Köln, im Winter 2024/2025

Kirsten Harms und Kerstin Heuwinkel

Hinweise zum Buch

Der Schwerpunkt dieses Buches liegt auf Familienurlaubsreisen, insbesondere der Haupturlaubsreise. Ergänzend wird auf Kurztrips oder auch Trends wie Workation eingegangen. Die in → Kapitel 3 und → Kapitel 4 formulierten Aussagen fokussieren auf Familienurlaub in Deutschland. Dennoch gelten die dort gemachten Aussagen grundsätzlich ebenfalls für andere Länder. Zu berücksichtigen sind jedoch immer kulturelle, wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen, welche einen erheblichen Einfluss auf das Familienleben und -reisen haben.

Das Buch besteht aus zwei Teilen, die sich in weitere Kapitel unterteilen. Der erste Teil umfasst → Kapitel 1 und → Kapitel 2, der zweite Teil → Kapitel 3 und → Kapitel 4. Während der erste Teil stärker auf (theoretische) Grundlagen fokussiert, hat der zweite Teil eine klare Praxisorientierung, was sich unter anderem in der hohen Anzahl von Fallbeispielen zeigt.

Der erste Teil (→ Kapitel 1 und → Kapitel 2) vermittelt erforderliches Wissen rund um Familien und Familienreisen, hier insbesondere, wie oben erläutert, bezogen auf Familienurlaubsreisen. Ausgehend von einer definitorischen Klärung von Familien, werden Besonderheiten und Merkmale von Familien untersucht und in Bezug zum Reisen gesetzt. Zahlen zur Anzahl von Familien, zu Familienformen und zur wirtschaftlichen Stellung von Familien ermöglichen ein Verständnis der gesellschaftlichen Bedeutung. Eine wichtige Ergänzung sind Probleme und Konflikte, die von außen auf Familien einwirken, aber auch innerhalb von Familien existieren. In einem nächsten Schritt werden vorliegende Daten und Erkenntnisse zu Familienurlaubsreisen vorgestellt. Es geht dabei um eine Beschreibung des Ist-Zustandes sowie um eine Skizzierung von Veränderungen und Trends. Die beschreibenden Darstellungen des ersten Kapitels werden in → Kapitel 2 um Theorien zu Bedürfnissen und Motiven von Familien, Reiseentscheidungen und entwicklungspsychologische Erkenntnisse ergänzt. Hier gilt ein Dank Antje Mein für ihre Mitarbeit an diesem Kapitel und ihre Expertise.

Gegenstand des zweiten Teils (→ Kapitel 3 und → Kapitel 4) ist die Anwendung der zuvor erarbeiteten Erkenntnisse für die Gestaltung von Familienurlaubsreisen. Es fließen die Erfahrungen der drei Netzwerkpartnerinnen Antje Mein, Anne von Winterfeld und Kirsten Harms der Familientourismusberatung „Gäste von Morgen“ ein – dreimal 30 Jahre Erfahrung in der Beratung von Destinationen, Beherbergungsbetrieben und Reiserveranstaltern. In → Kapitel 3 erfolgt die Darstellung entlang der touristischen Dienstleistungskette und der unterschiedlichen Bedürfnisse von Familien. Ergänzt mit Interviews und angereichert mit vielen Praxisbeispielen werden Optionen aufgezeigt, die auf Anbieterseite umgesetzt werden können, um zu einem gelungenen Familienurlaub beizutragen. Abschließend gibt es einen Überblick über spezialisierte Reiseveranstalter, Hotels und Zertifizierungsinitiativen.

Das → Kapitel 4 fasst die Erkenntnisse und Anregungen aus den vorherigen Kapiteln in verschiedenen Checklisten zusammen. Diese können zum einen dazu dienen, den Status quo im eigenen Unternehmen zu bestimmen und zum anderen als Grundlage für eine weitere Qualitätsentwicklung.

Im dritten Teil werden Themen genannt, die aus Sicht der Autorinnen sowohl für erfolgreiche Familienreisen als auch für eine Gesellschaft, in der Familien gut und gerne leben und reisen können, essenziell sind.

 

Teil I ∙ Eine Einführung und die Grundlagen des Familienurlaubs

 

1Was wir von Modern Family und den Simpsons lernen können – Eine Einführung

Die Simpsons, Modern Family, Dallas und der Denver Clan oder auch Unsere kleine Farm stellen Familien in den Mittelpunkt des Geschehens. Folge für Folge werden Geschichten rund um die Personen erzählt, die zur Familie gehören oder sich dieser zugehörig fühlen. Das Publikum kann verfolgen, wie Kinder von Säuglingen zu Erwachsenen heranreifen. Es werden Feste gefeiert, es wird getrauert, gestritten und wieder Frieden gefunden. Zentral sind neben den einzelnen Personen die Beziehungen innerhalb der Familien, insbesondere zwischen Eltern und Kindern oder zwischen den Geschwistern. Rivalitäten und Neid werden ebenso gezeigt, wie Zuneigung und Unterstützung. Ein weiteres Element ist die Bedeutung jedes einzelnen Familienmitglieds für die Gemeinschaft. Selbst die vermeintlich schwachen Personen tragen allein durch ihre Existenz zur Familie bei und formen diese.

Das entscheidende Thema, das sich durch die meisten Serien zieht, ist die Familie in ihrer Geschlossenheit trotz innerer Konflikte. Es geht um Zusammengehörigkeit und -halt, auch wenn diese immer wieder hinterfragt und auf die Probe gestellt werden. Selbst die Familienmitglieder, die sich distanzieren und die Familie spöttisch betrachten, erkennen die Kraft, die in dieser liegt.

Die Beliebtheit von Familienserien führt dazu, dass in einer Seriendatenbank (Serienjunkies, 2024) rund 90 Familienserien gelistet werden. Diese thematisieren Handwerker- und Patchworkfamilien, alleinerziehende Personen (Single Parents) und imaginäre Freundinnen (Imaginary Mary).

Bezüge zum Tourismus sind vielfältig, vor allem dann, wenn die Familien innerhalb der Serien verreisen. Die Simpsons reisen in 25 Staffeln mehr als vierzigmal (Simpsonspedia, 2024). Neben US-amerikanischen Destinationen gehören auch europäische Länder (Frankreich, Island, Italien) und Städte (Paris) sowie Länder auf anderen Kontinenten (Indien, Kuba, Kanada und Brasilien) dazu. Reiseanlässe sind Schüleraustauschprogramme, der Besuch von Attraktionen (Maya-Tempel, Loch Ness) und touristischen Bildern (Paris, die Stadt der Liebe). Unabhängig von Destination und Anlass intensiviert die Reise die Wechselwirkungen in der Familie und es wird die Einheit der Familie betont, auch wenn ab und zu ein Mitglied vergessen wird – bei Kevin Allein zu Haus ist das im Übrigen der Kern der Geschichte.

Obwohl es sich bei den Serien und Filmen um Fiktion handelt, weisen die Reisen der Filmfamilien drei Merkmale auf, die ebenfalls für die Reisen realer Familien gelten:

Hohe Erwartungen und Wünsche: Die Zeit vor der Reise wird begleitet von Träumen und Vorstellungen. Es werden Erwartungen an die besondere Zeit des Urlaubs gestellt.

Extremsituation: Die Reise wirkt wie ein Katalysator, welcher sowohl positive Stimmungen als auch mögliche Konflikte verschärft.

Routine mit leichten Abweichungen: Die im Alltag gelebten Routinen werden im eingeschränkten Maß auch auf der Reise fortgeführt.

Bevor in → Kapitel 1.3 das Reiseverhalten von Familien untersucht wird, folgt zunächst eine Klärung des Begriffs Familie, da dieser sehr unterschiedlich verwendet werden kann.

1.1Basiswissen FamilieFamilie

Der Begriff Familie ist mit vielen Assoziationen verbunden und in den folgenden Abschnitten finden sich Beispiele für veränderte Familienformen. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt auf offiziellen Definitionen, welche die Grundlage für statistische Erhebungen liefern. Auf deren Grundlage kann ein Verständnis für die gesellschaftliche Bedeutung von Familien sowie für die ökonomischen Potenziale geschaffen werden. Im Mittelpunkt steht das in Deutschland verwendete Verständnis von Familie, da sich dieses in Abhängigkeit von kulturellen Normen und Praktiken deutlich vom Alltagsverständnis oder von anderen Ländern unterscheiden kann (Steinbach & Hank, 2020, S. 442). Kulturelle Vorstellungen wirken beispielsweise auf die Rollengefüge (z. B. Beziehung zwischen Eltern und Kindern) und Hierarchien (z. B. Stellung des erstgeborenen Kindes) innerhalb der Familie.

Neben kulturell bedingten Unterschieden zeigen sich Veränderungen im zeitlichen Verlauf. Vorstellungen von der Familie in den 1960er-Jahren sind z. B. weniger vielfältig als das heutige Verständnis. Das gilt insbesondere für die Frage, wer und wie viele Menschen Eltern sein können und worauf die Elternschaft gründet.

Die Familienwissenschaft betont, dass das FamilienmodellFamilienmodell der 1950er- und 1960er-Jahren mit Vater (Vollzeit), Mutter (Hausfrau) und zwei Kindern eine historische Ausnahme war (Steinbach & Hank, 2020, S. 441). Da es jedoch für zwei Jahrzehnte das dominante Modell in Westeuropa und Nordamerika war und von dort aus medial verbreitet wurde, entsteht der Eindruck, dass dieses bürgerliche Ideal für eine viel längere Zeit vorherrschte und als Standard dienen könnte.

„Als Familie definiert der Mikrozensus alle Eltern-Kind-Gemeinschaften, die in einem Haushalt leben. Im Einzelnen sind das Ehepaare, Lebensgemeinschaften sowie alleinerziehende Mütter und Väter mit ledigen Kindern.“ (Statistisches Bundesamt, 2021, S. 58)

Als entscheidendes Kriterium für die statistische Definition von Familie dient, dass mindestens ein lediges Kind, unabhängig vom Alter, mit einem Elternteil gemeinsam in einem Haushalt lebt. Eingeschlossen sind leibliche Kinder, Stief-, Pflege- oder Adoptivkinder. Ausgehend von dieser Definition leben 12,0 Mio. Familien in Deutschland (Statistisches Bundesamt, 2024a, o. S.). Die Anzahl der Familien mit mindestens einem minderjährigen Kind lag 2019 bei 8,2 Mio. und damit ähnlich hoch wie 2009 (Statistisches Bundesamt, 2021 S. 58).

Die gesellschaftliche Bedeutung von Familien wird deutlicher, wenn die Lebensform Familie in Relation zur Bevölkerung gesetzt wird. Zwar ist der Anteil gesunken, aber die Lebensform Familie ist mit 49 Prozent noch immer für fast die Hälfte aller Menschen in Deutschland die aktuelle Lebensform (Statistisches Bundesamt, 2024b). Dabei existieren deutliche Unterschiede zwischen den Bundesländern mit einer Tendenz, dass Bundesländer in Ostdeutschland einen geringeren Prozentsatz aufweisen (Sachsen-Anhalt 42,8 Prozent) als Bundesländer im Westen (Baden-Württemberg 52 Prozent). Mit Ausnahme der Stadtstaaten Hamburg, Bremen und Berlin sind die Zahlen überall im Vergleich zum Jahr 2005 gesunken (Statistisches Bundesamt, 2024b o. S.). Der wichtigste Grund dafür ist der Anstieg des Alters.

„49 Prozent der Bevölkerung leben in Familien – Anteil gesunken.“ (Statistisches Bundesamt, 2024b o. S.)

Eine Veränderung lässt sich bei der FamilienformFamilienform feststellen, da die Zahl der verheirateten Paare gesunken (von 6 Mio. auf 5,7 Mio.) und die der nicht verheirateten Paare gestiegen (von 702.000 auf 942.000) ist (Statistisches Bundesamt, 2021, S. 58).

Im Jahr 2019 waren sieben von zehn Elternpaaren in Fa­milien (70 Prozent) verheiratet (2009: 73 Prozent). Alleinerziehende Mütter oder Väter machten 19 Prozent aller Familien aus (2009 ebenfalls 19 Prozent). Lebenspartnerschaften1 mit Kind(ern) stellten weitere 12 Prozent aller Familien. 2009 waren es neun Prozent.

Wissen | RegenbogenfamilieRegenbogenfamilie

 

„Regenbogenfamilien sind Familien, in denen mindestens ein Elternteil gleichgeschlechtlich liebt oder transgeschlechtlich lebt.“ (LSVD, 2024, o. S.)

Diese vom Lesben- und Schwulenverband verwendete Definition ist bewusst weit gefasst, damit so viele Lebensmodelle wie möglich erfasst werden können. Beispiele sind gleichgeschlechtliche Paare mit leiblichen Kindern aus vorhergehenden heterosexuellen Beziehungen, Adoptiv- oder Pflegekinder, die bei transgeschlechtlichen Menschen aufwachsen oder auch Mehrelternfamilien, bei denen mehrere Menschen die Verantwortung für die Kinder übernehmen. Eine gesellschaftliche und politische Anerkennung, die im Familienrecht verankert ist, ist erforderlich, um das Wohl aller Beteiligten abzusichern.

Offizielle Zahlen liegen bislang nur für gleichgeschlechtliche Familien mit minderjährigen Kindern vor. 2021 betrug die Zahl circa 10.000 Familien.

 

Lesben- und Schwulenverband Deutschland LSVD

🔗 https://www.lsvd.de/de/

Bei 39 Prozent der Familien hat mindestens ein Elternteil einen MigrationshintergrundMigrationshintergrund (Statistisches Bundesamt, 2021). Diese Zahl ist für die Tourismuswirtschaft relevant, da das Motiv Visits of Friends and Relatives (VFR, Besuch von Freunden und Bekannten) sehr bedeutend für Familien ist und somit ausschlagegebend für die Reiseentscheidung und Wahl der Destination sein kann (Eurostat, 2017; Reiseanalyse, 2024). Das Bayerische Zentrum für Tourismus BZT (2020) kommt zum Fazit, dass eine Person mit Migrationshintergrund bei der Haupturlaubsreise in das Land der eigenen Herkunft oder in das Herkunftsland der Eltern reisen wird, um dort Verwandtschaft zu besuchen und die Kultur zu erleben. Dieses scheint insbesondere (mehr als 70 Prozent) für Menschen mit einem italienischen oder türkischen Migrationshintergrund zu gelten (BZT, 2020, S. 6). Nicht geklärte Fragen sind:

Welche Destinationen wählen Familien, bei denen ein Elternteil einen Migrationshintergrund hat und der andere nicht? Wie entscheiden Eltern, die beide einen Migrationshintergrund haben, aber aus unterschiedlichen Ländern stammen?

Über wie viele Generationen hinweg ist der Migrationshintergrund relevant für den Wunsch, das Herkunftsland vorheriger Generationen zu besuchen?

Nicht nur die Anzahl der Familien, sondern auch die FamiliengrößeFamiliengröße ist mit rechnerisch 1,65 minderjährigen Kindern pro Haushalt im Vergleich zwischen 2009 und 2019 stabil (Statistisches Bundesamt, 2021, S. 60)2. 51 Prozent der Haushalte betreuen ein Kind, 37 Prozent zwei Kinder, neun Prozent drei Kinder und drei Prozent der Familien betreuen vier und mehr Kinder.

Abb. 1:

Kinder pro Haushalt [1]

Für die Tourismuswirtschaft liefern diese Zahlen eine wichtige Planungsgrundlage, bspw., wenn Zimmer und Restaurants geplant werden. Es sollte jedoch nicht nur die Anzahl der Personen und Kinder berücksichtigt werden, sondern auch Altersunterschiede und FamilienkonstellationFamilienkonstellation. Während zwei Jugendliche sich gut ein separates Zimmer teilen können, ist das bei Kleinkindern nicht der Fall. Kinder in PatchworkPatchworkfamilie- bzw. StieffamilienStieffamilie wollen vermutlich ungern mit dem neuen Geschwisterkind direkt ein Zimmer teilen.

Neben der statistischen Definition von Familie ist ein Blick in die Meinungen von Menschen zu diesem Thema von Interesse. In einer Studie sollten Befragte bei sieben Lebensformen entscheiden, ob sie diese nach ihrem Ermessen als Familie bezeichnen würden (Lück & Ruckdeschel, 2015). Neben der Kernfamilie, bestehend aus einem verheirateten Paar (Mann und Frau), die mit einem oder mehreren Kindern zusammenleben (99,9 Prozent), fanden laut Studie auch andere Konstellationen beispielsweise ein unverheiratetes (97,4 Prozent) oder ein gleichgeschlechtliches (88,1 Prozent) Paar, das mit ihren Kindern zusammenwohnt, eine hohe Akzeptanz als familiale Lebensform. Hervorzuheben ist, dass selbst die Ausprägung „Paar aus Mann und Frau, die nicht verheiratet sind und keine Kinder haben“ ca. von einem Drittel der Befragten (32,6 Prozent) als Familie bezeichnet wird.

In diesem Buch stehen allerdings nur Familien im Mittelpunkt, die als Kern mindestens eine Eltern-Kind-Kombination aufweisen.

Während das Minimalverständnis von Familie nur zwei Menschen (Elternteil und Kind) umfasst, wird der Begriff Familie manchmal auch in Richtung VerwandtschaftVerwandtschaft ausgeweitet und umfasst in diesem Fall nicht nur eine Eltern-Kind-Konstellation, sondern ebenfalls weitere Generationen (Großeltern) und Verwandtschaftsverhältnisse zweiten und dritten Grades (Onkel, Tanten, Nichten, Neffen), die nicht in einem Haushalt leben. Bei diesem Verständnis erreicht die Familiengröße schnell einen zweistelligen Bereich zwischen 12 und 20 Personen und in Abhängigkeit von kulturellen Hintergründen auch darüber hinaus. Im Tourismus zeigt sich dieses, wenn Ferienhäuser unter dem Begriff Familienurlaub XXL vermarktet werden.

Trotz aller kulturellen und historischen Differenzen bestimmt die Familienwissenschaft die Lebensform FamilieFamilienkriterien über drei zentrale Kriterien (Steinbach & Hank, 2020, S. 441):

Funktion von Familien: Familien sind wesentlich für die biologische Reproduktion und Sozialisation. Kinder werden erzogen, die Mitglieder schützen und kümmern sich umeinander. Darüber hinaus geben Familien Raum für Emotionen und ermöglichen, dass Familienmitglieder sich ausdrücken können und Aufmerksamkeit erhalten.

Generationen: Eine Familie umfasst mindestens zwei Generationen (Kernfamilie), kann aber auch auf drei oder vier Generationen (Mehrgenerationenfamilie) ausgeweitet sein.

Rollenstrukturen: Innerhalb einer Familie erfolgt eine Verteilung von Aufgaben, Rechten und Verantwortlichkeiten, welche den Fähigkeiten der Personen geschuldet sind und sich im Laufe der Zeit verändern. Kooperation und Solidaritäten zwischen den Personen leiten sich aus diesen Strukturen ab.

Die genannten Kriterien können trotz unterschiedlicher Ausprägungen weltweit und zu allen Zeiten nachgewiesen werden. Sie verdeutlichen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung von Familien. Die hohe Bedeutung hat als Konsequenz, dass familiendemografische Veränderungen (Anzahl der Kinder, Zeitpunkt des Kinderkriegens, Wandel von Familienformen, Scheidungsrate) neben der Alterung der Bevölkerung und der Migration, die Gesellschaft maßgeblich beeinflussen und Veränderungen von familialen Strukturen eine gesellschaftliche und politische Herausforderung bedeuten.

FamilientheorienFamilientheorien

Auch wenn in den vorhergehenden Abschnitten sowohl die Bedeutung als auch die zeitliche Konstanz von menschlichen Zusammenschlüssen als Familie deutlich wurde, wurde bisher nicht darauf eingegangen, wie Familie und damit zusammenhängende Merkmale, Vorgänge und wiederkehrende Phänomene beschrieben und erklärt werden können. Zur Verfügung stehen mehrere theoretische Ansätze, die alle für sich ein spezifisches Verständnis von Familie voraussetzen und diese ausgehend vom gewählten Verständnis betrachten (Hank et al., 2023).

So bietet die FamiliensoziologieFamiliensoziologie analog zu allgemeinen soziologischen Theorien Ansätze, die von einer auf die Funktion von Familien fokussierten Analyse über ökonomische Austauschtheorien bis zu feministischen Ansätzen reichen. Alle Theorien haben ihre Berechtigung und Stärken in Abhängigkeit davon, was beschrieben und erklärt werden soll.

Eine Auseinandersetzung mit Theorien ist erstens relevant, weil diese Annahmen formulieren, die – wenn nicht korrekt behandelt – zu verzerrenden Aussagen über soziale Realität führen. Zweitens haben Theorien einen praktischen Nutzen, da diese beispielsweise in den Bereichen der Familientherapie und -förderung eingesetzt werden. Der Ansatz des family systems (White et al., 2019) sensibilisiert dafür, dass alle Familienmitglieder Einfluss auf Vorgänge innerhalb der Familie haben und nicht losgelöst davon betrachtet werden sollten. Bezogen auf Familienreisen kann dieser Ansatz dabei helfen, Urlaubsroutinen zu untersuchen oder die gegenseitige Beeinflussung der einzelnen Mitglieder bei der Auswahl der Destination zu berücksichtigen.

Ein früher Ansatz ist die Analyse der Funktionen, die eine Familie erfüllt und damit zur Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Systems beiträgt. Der zugrundeliegende Ansatz des Strukturfunktionalismus findet auch in der Tourismussoziologie (Heuwinkel, 2023) Verwendung, wenn Reisen als Äquivalent für die Funktion der Erholung und Regeneration gesehen wird. Urlaub erfüllt in dieser Sichtweise die gesellschaftliche Funktion oder den Zweck, dass die einzelnen Elemente leistungsfähig bleiben. Nicht erklärt wird jedoch, warum das Verlassen des gewohnten Umfeldes essenziell ist, welche symbolische Bedeutung das Reisen hat, welchen Einfluss Gewohnheiten (Routinen) haben oder wie Machtstrukturen innerhalb der Familie das Urlaubsverhalten prägen. Um solche Fragen zu bearbeiten, müssen Ansätze wie der Symbolische Interaktionismus, Handlungstheorien und feministische Theorien berücksichtigt werden.

In späteren Abschnitten wird weiter auf familiensoziologische Theorien eingegangen, z. B. wenn es um Entscheidungsprozesse (→ Kapitel 2) geht. Die → Tabelle 1 listet zentrale Annahmen einiger familiensoziologischer Theorien auf. Ebenfalls erfasst sind damit verbundene Fragestellungen der Familienreise.

Theorie

zentrale Annahmen

Familienreisen

Strukturfunktionalismus

Metapher des Organismus, Elemente garantieren das Funktionieren und Überleben des Gesamtsystems, indem sie Leistungen übernehmen, z. B. Sozialisation und Integration

Funktion des Reisens für Familie

 

symbolischer Interaktionismus

individuelles Handeln und Orientierung an sozialen Gegebenheiten, subjektive Interpretation von Realität

Bedeutung des Reisens

 

Veränderung der Interaktionen während des Reisens

Handlungstheorie (insbesondere rational choice)

gegenseitige Verpflichtungen und Abhängigkeiten, commitment, Dynamiken im Familienlebenslauf, Individuen versuchen den subjektiven Nutzen zu maximieren

Reisen als Annehmlichkeit

 

Kosten-Nutzen-Analysen

family system

familiale Vorgänge, Interdependenzen

Veränderung der familialen Vorgänge während einer Reise

ecological framework

Gesamtheit der Lebensumstände auf unterschiedlichen Systemebenen

Einfluss des geänderten Umfelds während der Reise auf die Familie

Familienentwicklungsmodelle

Veränderungen der Rollen- und Beziehungsmuster in der Familie im zeitlichen Verlauf, Einfluss von Entscheidungen

Einfluss des Reisens auf die familiale Entwicklung

 

Reisen als Entwicklungsschritt

feminist theory

Einfluss von Gender- und Machtstrukturen, Verteilung und Organisation von Verantwortung und Aufgabenbereichen

Einfluss von genderbasierten Strukturen auf das Familienreisen

 

Veränderung von Genderkonstellationen während der Reise

attachment theory

In der frühkindlichen Sozialisation erworbene Bindungsstile werden auch im Erwachsenenalter wirksam

Bedeutung des Reisens für frühkindliche Bindung

 

Auf Reisen gelebte Bindungen

Tab. 1:

Familientheorien und Reisen (basierend auf Hank et al., 2023, S. 35 ff.)

Ergänzend zu dem in diesem Buch gewählten Fokus auf soziologische Theorie, adressieren insbesondere Pädagogik und Psychologie theoretische Fragen rund um Familien.

FamilienpolitikFamilienpolitik

Der Familienbericht des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) analysiert sowohl die aktuelle Situation von Familien als auch Trends (BMFSFJ, 2024). Der Begriff Trends beschreibt Veränderungen in den Familienkonstellationen, wichtige Themen, Anforderungen und Hilfebedarfe, die adressiert und abgedeckt werden müssen, um den Ansprüchen von Familien gerecht zu werden. Dazu werden die Ansprüche in politische Forderungen übertragen und anschließend von der Familienpolitik umgesetzt. Ziel ist es, Familienpolitik so zu gestalten, dass Familien sowohl über Zeit als auch finanzielle und infrastrukturelle Ressourcen verfügen, um das Leben zu führen, das sie sich für die Familie wünschen.

Ein zentrales Element der Familienpolitik ist die Entwicklung und Umsetzung familienpolitischer Leistungen, welche die Familien unterstützen sollen. Die Vielfalt von Familien, unterschiedliche gesellschaftliche und wirtschaftliche Positionen sowie Fähigkeiten der Elternteile müssen berücksichtigt werden.

Es kann grob zwischen finanziellen, infrastrukturellen und zeitbezogenen Leistungen unterschieden werden. Beispiele für Geldleistungen sind Kindergeld, Wohngeld und BAföG (Sozialleistungen basierend auf dem Bundesausbildungsförderungsgesetz). Hinzu kommen flankierende Maßnahmen, wie die Mitversicherung der Kinder in der Krankenkasse. Die Bereitstellung einer ausreichenden Anzahl von Betreuungsplätzen für nicht schulpflichtige Kinder sowie flächendeckende Schulangebote unterschiedlicher Schulformen, aber auch kulturelle und sportliche Angebote zählen zu den infrastrukturellen Leistungen. Zeitliche Maßnahmen sind häufig mit den finanziellen Leistungen verknüpft, bspw. Mutterschutzzeiten oder auch die Ausweitung des Anspruchs auf ein Babyjahr für Väter.

Maßgeblich für die Familienpolitik in Deutschland ist der Familienbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Der aktuelle Bericht ist aus dem Jahr 2021 (19. Wahlperiode des Deutschen Bundestages) und überschrieben mit Eltern sein in Deutschland – Ansprüche, Anforderungen und Angebote bei wachsender Vielfalt. Der Begriff VielfaltVielfalt bezieht sich auf gesellschaftliche Veränderungen, wie sich wandelnde Familienformen, Zuwanderung und digitale Transformation. Thematisiert werden die damit verbundenen Herausforderungen, z. B. Schutz der Kinder in digitalen Welten oder die Förderung von Kindern mit nichtdeutschsprachigen Eltern. Darüber hinaus soll die Inklusion (Familienmitglieder mit Behinderungen und Beeinträchtigungen) eine stärkere Berücksichtigung finden. Der Bericht adressiert ebenfalls Gefahrenzonen der Erziehung, wie Gewalt und Vernachlässigung.

Eine besondere Relevanz für den Tourismus hat das familienpolitische Themenfeld Gesundheit & Erholung. Dazu gehören Mutter- und Vater-Kind-Kuren (auch für pflegende Angehörige) als Pflegeleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sowie Familienferienstätten (→ Kapitel 1.2) und Rehabilitationsangebote für Kinder. Die genannten Bereiche werden zumeist in Zusammenarbeit zwischen medizinischen, sozialen und touristischen Leistungsträgern erbracht.

In diesem Kontext spielen BarrierefreiheitBarrierefreiheit und der Schutz vor DiskriminierungDiskriminierung eine zentrale Rolle. Auf den Aspekt der Barrierefreiheit wird in → Kapitel 3 unter Praxisaspekten eingegangen.

Gesellschaftliche Bedeutung von Familien

Die drei wiederkehrenden Merkmale von Familien – biologische und soziale Reproduktionsfunktion, Generationenbeziehungen und durch spezifische Rollenstrukturen definierte Solidaritäts- und Kooperationsbeziehungen – haben alle für sich genommen eine wichtige gesellschaftliche Bedeutung (Steinbach & Hank, 2020).

Der etwas sperrige Begriff der Reproduktions- und Sozialisationsfunktion verweist auf klassische Fragen zu Partnerschaft und Fertilität, bspw. wie Partnerschaften gebildet und stabilisiert werden, was und wer über die Anzahl von Kindern entscheidet, in welchem Altern Menschen Eltern werden und ob intergenerationale Transmissionen (→ Wissen | Intergenerationale Transmission) von sozialer Ungleichheit, Werten und Verhaltensweisen nachgewiesen werden können (Steinbach & Hank, 2020, S. 454).

Wissen | Intergenerationale Transmissionenintergenerationale Transmissionen

 

Der Begriff intergenerationale Transmission beschreibt die soziale Vererbung von a) gesellschaftlichen Positionen einschließlich der damit verbundenen Ungleichheiten, b) Verhaltensweisen sowie c) Einstellungen und Werten (Steinbach & Hank, 2020, S. 452 ff). Diese drei Bereiche werden intensiv empirisch erforscht. Theoretische Grundlagen fokussieren zum einen auf die Beeinflussung der Kinder durch die Eltern, indem Erwartungen zu Einstellungen und Werten direkt formuliert und in der Erziehung verankert werden, bspw. durch das Vorleben („Wir fahren immer mit dem Zug in den Urlaub.“) oder Belohnungen („Wenn Du die Wanderung mitmachst, bekommst Du ein großes Eis.“) und Sanktionen („Ich bin enttäuscht von Dir, dass Du die Verpackung in den Wald geworfen hast.“).

Die Weitergabe der sozialen Position und Ungleichheit wirken durch indirekte Mechanismen, z. B. werden sowohl das Interesse als auch der Zugang zu Bildung und Kultur durch sozialstrukturelle Merkmale bestimmt. Ein zentraler Begriff ist hier das kulturelle Kapital (Bourdieu, 1987; Heuwinkel, 2023, S. 148 ff.)

Für den Tourismus ist eine interessante Frage, ob und wie das Reiseverhalten als besondere Ausprägung des menschlichen Verhaltens von einer zur nächsten Generation weitergegeben wird. Empirische Untersuchungen aus anderen Bereichen belegen die Ähnlichkeit zwischen dem Verhalten der erwachsenen Kinder und dem Verhalten der Eltern (Steinbach & Hank, 2020, S. 454). Eine weitergehende Analyse dieser Fragestellung erfolgt in → Kapitel 2.1. Da das Reiseverhalten von sozioökonomischen Merkmalen beeinflusst ist, wird an dieser Stelle der Einfluss der Familie vermittelt über die sozioökonomische Position deutlich sichtbar.

In Ergänzung zu Fragen der Reproduktion und Partnerschaft ist die Sozialisation ein zentrales Thema aller Familienwissenschaften. Definitionen und Ansätze zur Sozialisation variieren, u. a. bedingt durch das zugrundeliegende Menschenbild (Geulen & Hurrelmann, 1980). Ein verbindender Gedanke ist, dass innerhalb der Sozialisation ein Mensch durch den Umgang mit und den Einfluss von unterschiedlichen Bezugsgruppen (Familie, Freundschaften, Freizeit- und Arbeitsgruppen), Werte, Normen, Praktiken und Einstellungen einschließlich stereotyper Annahmen erlernt und auf diesem Wege in die Gesellschaft integriert wird. Besonders einflussreich ist die primäre Sozialisation, die innerhalb der Familie und im direkten Kontakt erfolgt, während die sekundäre Sozialisation über Medien stattfinden kann.

Kern der primären Sozialisation sind Einflüsse im Elternhaus, denen das Kind ausgesetzt ist, zunächst unbewusst und mit steigendem Alter bewusst reflektierend und diskutierend.

Wissen | SozialisationSozialisation

 

„Dabei gehen wir davon aus, dass Sozialisation begrifflich zu fassen ist als der Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei die Frage, wie der Mensch sich zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bilde.“ (Geulen & Hurrelmann, 1980, S. 51)

Habermas (1995) geht davon aus, dass Menschen innerhalb der Sozialisation zu autonomen und reflektierten Handlungen qualifiziert werden. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf Vorgänge, in denen Subjekte lernen zu handeln. Grundqualifikationen des Handelns sind nach Habermas kognitive und moralische Fähigkeiten, die Entwicklung einer Ich-Identität sowie Interaktionskompetenz.

Giddens (1991) Analyse des Menschen in der Moderne betont den reflexiven Prozess der Identitätsbildung sowie die Notwendigkeit, den KörperKörper als ein aktives Handlungssystem zu konzipieren. Körper, Sinne und Empfindungen sind wesentlich für die kohärente Wahrnehmung des Selbst und der Entwicklung einer Identität. Das Reisen bietet eine Vielzahl an körperlichen Empfindungen, von denen viele mit dem Ortswechsel verbunden sind (Heuwinkel, 2023, S. 195 ff.).

Zusammenfassend werden in der Sozialisation Werte und Normen vermittelt, die das menschliche Handeln leiten, sei es als normkonforme oder normverändernde Handlungen. Da das Reisen als soziales Handeln definiert werden kann, das teilweise in der familiären Sozialisation erlernt wird, ist der Einfluss der Familie deutlich sichtbar.

Die Familie wirkt darüber hinaus als soziales Kontrollinstrument, da innerhalb des gemeinsamen Haushalts Handlungen der Mitglieder (besser) sichtbar sind als in der Öffentlichkeit. Dabei üben nicht nur Eltern und Großeltern Kontrolle aus, sondern auch Geschwister (Steinbach & Hank, 2020, S. 460). Es handelt sich um sehr komplexe Machtprozesse, die unter Umständen negative Auswirkungen haben, bspw., wenn ein älteres GeschwisterkindGeschwisterkind ein jüngeres systematisch unterdrückt oder ein älteres Kind immer Rücksicht auf das jüngere nehmen muss.

Somit übernimmt die Familie die wichtige Aufgabe, Werte und Normen nicht nur in der Sozialisation zu vermitteln, sondern ebenfalls konformes Verhalten zu belohnen und abweichendes Handeln der Kinder zu sanktionieren3 und dadurch eine Anpassung des Handelns zu initiieren. Wenn die KontrolleKontrolle zu intensiv wird, kann es sein, dass sich Personen aus der Familie entfernen.

Es muss ergänzend betont werden, dass Familien nicht die einzigen Räume direkter sozialer Kontrolle bilden. So existieren auch, in auf den ersten Blick anonymen Räumen, wie Großstädten, Instanzen, welche die Handlungen reglementieren. Beispiele dafür wurden bereits in den 1920ern im Bereich der Stadtforschung thematisiert und zeigten unter dem Begriff der Segregation, dass sich Menschen mit ähnlichen Werten in Gebieten von Städten konzentrieren und sich sowohl gegenseitig kontrollieren als auch unterstützen (Häußermann & Siebel, 2020, S. 794). Hausgemeinschaften, Nachbarschaften oder auch Communities bilden eine wichtige Ergänzung zu familialen Strukturen. Im Urlaub sind diese Strukturen nicht mehr existent, werden aber durch andere Communities ergänzt, bspw. andere Menschen im Hotel, die angrenzenden Zelte und Wohnwagen auf dem Campingplatz oder auch geteilte öffentliche Räume (→ Kapitel 2.3).

Familien bilden insbesondere im Kontext der Migration wichtige Ansatzpunkte für Orientierung, Sozialisation und Integration. Darüber hinaus führen die geteilte Migrationserfahrung erstens zu einer größeren Wertschätzung der Kultur des Herkunftslandes und zweitens zu einer stärkeren Verbundenheit innerhalb der Familie und zwischen den Generationen (Steinbach & Hank, 2020, S. 461). Diese Erkenntnisse können als Erklärungsansätze dafür dienen, warum Familien mit Migrationshintergrund das Herkunftsland als Destination für die Haupturlaubsreise wählen.

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