Familienschicksal - Verlorenes Herz - Silvia Kaufer - E-Book

Familienschicksal - Verlorenes Herz E-Book

Silvia Kaufer

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Beschreibung

In diesem gefühlvollen Roman ist alles vereint, was Frauen sich wünschen: Spannung, Mystik, Humor, Romantik, Liebe und Leidenschaft. Geschichte: Olivia, die schon seit Jahren im Ausland lebt, ist auf der Heimreise. Sie will den Jahresurlaub bei ihrer Familie verbringen, die sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Die Wiedersehensfreude ist bei allen riesig groß. Nur ihre Mutter ist wie immer sehr kühl und zurückhaltend. Welches Geheimnis trägt sie nur in sich? Tatsächlich hat Olivia das Gefühl, dass sich jeder in ihrer Familie irgendwie rätselhaft verhält. Durch einen unglücklichen Vorfall lüftet sich das Geheimnis von Olivas Mutter. Doch der Schein trügt. In dem ganzen Durcheinander taucht plötzlich ein alter Freund ihres Vaters auf, dessen Besuch einen skurrilen Grund hat. Ihr Vater Leo, ein sehr erfolgreicher Detektiv, soll einen mysteriösen Kloster-Mord aufklären. Leo drängt seine Tochter, ihn dorthin zu begleiten. Der Aufenthalt in diesem Kloster bringt Olivia an ihre psychischen Grenzen. Durch eine mystische Begegnung kommt sie plötzlich dem eigentlichen Geheimnis ihrer Mutter auf die Spur. Wie ein Puzzle setzt sich Olivias Leben neu zusammen. So erfährt sie nach und nach, wer sie tatsächlich ist.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 1

Warum gerader dieser Zug? Mit einem mulmigen Gefühl stieg Olivia in den Intercity ein.

Kurze Zeit später ließ sie sich auf ihren Sitzplatz am Fenster fallen. Sie war erschöpft. Noch zwölf Stunden, dann würde sie endlich wieder zu Hause bei ihrer Familie sein, nach zwei Jahren das erste Mal. Nun hoffte sie auf eine ruhige und entspannte Nacht im Zug, spürte aber instinktiv, dass irgendetwas Ungewöhnliches auf sie zukommen würde, ohne dieses Gefühl näher deuten zu können. „Nun denn“, murmelte sie, „Augen zu und durch.“

Sie schaute zum Fenster hinaus, sah rennende Passanten, die ihren Zug noch erwischen wollten, glückliche Menschen, die sich freudig um den Hals fielen, aber auch traurige Personen, die sich mit Tränen in den Augen von ihren Liebsten verabschiedeten. Ihre Gedanken gingen zum letzten Telefonat mit ihrem Vater Leo zurück. „Warum tust du dir die lange Zugfahrt überhaupt an? Du könntest dir doch einen Flug leisten“, hatte er verständnislos gesagt.

„Ich kann es dir nicht sagen, Pa. Es ist so ein Bauchgefühl, dass ich nicht fliegen soll. Meine innere Stimme sagte mir, ich soll den Zug nehmen“, war ihre Antwort gewesen.

Und zwar genau diesen hier. Sie hörte ein lautes Signal und dann rollte die Bahn auch schon langsam an.

„Ich bin übrigens an einem ganz heißen Fall dran“, hatte ihr Vater noch erwähnt. „Kannst du dir vorstellen, dass in einer Bank Millionen an Kundengeldern verschoben werden, nur um Provisionen zu kassieren?“ Ihr Vater, Chef einer großen Detektei, hatte aufgeregt geklungen. Eigentlich passte das gar nicht zu ihm.

Olivia konnte sich das nicht vorstellen und es hätte sie wahrscheinlich auch recht wenig interessiert, wenn ihr nicht genau in diesem Augenblick ihr Bruder Lukas in den Sinn gekommen wäre. Er arbeitete in einer Bank und sie verspürte ein ganz sonderbares Gefühl, dass er hierin verwickelt sein könnte. Aber als sie ihren Vater bat, etwas mehr über den Fall zu erzählen, schwieg er plötzlich und wechselte das Thema. Irgendetwas stimmte mit diesem Fall nicht. Aber sie hatte keine Lust gehabt, ihn am Telefon noch weiter zu bedrängen. Sie würde ihn nach diesem Fall fragen, sobald sie zu Hause war. Eine dunkle Stimme riss sie aus ihren Gedanken.

„Ist bei Ihnen noch frei?“

Olivia zuckte zusammen. Sie schaute den Fremden ungläubig an. Das kann doch wohl nicht wahr sein, dachte sie bei sich, ohne den Blick von der für sie unheimlich wirkenden Gestalt abzuwenden. Vor Menschen in religiöser Kleidung verspürte sie, ohne genau zu wissen, warum, einen großen Respekt und so verließ sie ihre gemütliche Sitzposition und setzte sich aufrecht hin. Sie fühlte sich ertappt, als ob sie gerade bei etwas Verbotenem erwischt worden wäre.

Der Fremde trug eine schwarze Mönchskutte mit einem geflochtenen, weißen Gürtel und der dichte, weiße Vollbart ließ ihn fast wie Nikolaus aussehen. Der geduldige Mönch stand immer noch in der Tür und wartete auf eine Antwort. Olivia wollte vermeiden, dass sie die Fahrt mit einem Geistlichen zusammen verbringen musste. Sie hatte immer das Gefühl, dass religiöse Menschen mehr wissen als andere, dass sie bereits vorher wissen, was später mal passiert, und das war ihr unheimlich. So suchte sie krampfhaft nach einem Einwand, aber ihr fiel nichts Passendes ein.

Noch während sie überlegte, machte sich ihre Stimme selbstständig und sie hörte sich ganz freundlich sagen: „Selbstverständlich, kommen Sie doch bitte rein!“

Sie war über sich selbst erschrocken. Hatte sie jetzt nicht einmal mehr ihre Stimme im Griff? Sie beobachtete den Fremden. Der Mönch betrat wortlos, lächelnd, mit einem kleinen braunen Koffer in der Hand das Zugabteil. Er öffnete ihn und holte ein in weißes Papier eingepacktes Päckchen heraus. Dann folgten eine silberne Thermoskanne und ein Pappbecher. Ohne jegliche Bemerkung schloss er den Koffer wieder und verstaute ihn oben im Gepäcknetz.

„Möchten Sie auch eine Tasse Kaffee?“

Olivia schaute überrascht. „Sie sind aber sehr großzügig.“

Der Fremde blickte sie mit seinen warmen braunen Augen an, den Becher noch immer in seiner Hand. „Finden Sie das wirklich so großzügig, wenn man einer anderen Person eine Tasse Kaffee anbietet?“

Olivia zuckte leicht zusammen. Es war, als hätte sie gerade eine Ohrfeige bekommen. „Entschuldigen Sie bitte vielmals, das war nicht so gemeint. Aber Ihre Frage hat mich etwas überrascht. So eine Offenheit gegenüber Fremden ist heutzutage ja nicht gerade selbstverständlich.“

„Ihr Kaffee wird kalt!“, antwortete der Mönch und reichte ihr den Becher hinüber.

Olivia nahm ihm diesen ab, dankte mit einem Kopfnicken und nippte ganz vorsichtig am Becherrand.

„Ich heiße übrigens Olivia Sander.“

Der Mönch stutzte, wobei er seine rechte Augenbraue etwas nach oben zog. „Freut mich sehr Sie kennenzulernen, Olivia. Ich bin Pater Frederic.“

„Haben Sie hier in der Gegend Urlaub gemacht?“, fragte Olivia und bemühte sich, ein lockeres Gespräch zu beginnen.

„Nein, und Sie?“

„Nein, ich auch nicht. Ich arbeite in Rom als Restauratorin.“

Olivia bemerkte, wie der Pater erneut seine rechte Augenbraue nach oben zog.

„Interessant! Und jetzt besuchen Sie Ihre Familie?“

„So ungefähr. Ich habe mir eine Auszeit genommen. Ich brauche einfach mal Abstand, um über mein Leben nachzudenken.“

„Sind Sie unzufrieden mit Ihrem Leben?“, fragte der Pater interessiert.

„Unzufrieden?“ Olivia schaute nachdenklich an die Decke. „Nein! Aber ich frage mich, ob ich das, was ich gerade mache, wirklich bis zu meiner Rente machen möchte.“

„Möchten Sie nicht?“

Olivia lächelte. „Wenn ich das wüsste, würde ich nicht hier in diesem Zug sitzen, sondern im Atelier stehen.“

Der Pater lachte. „Stimmt. War eine blöde Frage von mir.“

„Ich habe das Gefühl, als wenn das Leben noch etwas ganz Besonderes für mich bereithält. Seit einiger Zeit schon denke ich darüber nach, aber ich habe noch keine Antwort gefunden, was es sein könnte“, ergänzte Olivia, ohne zu wissen, dass ihr neues Leben bereits mit dieser Zugfahrt begonnen hatte.

„Da gibt es eine Lebensweisheit von Andrew Jackson. «Nimm dir Zeit zum Nachdenken. Aber wenn die Zeit zum Handeln kommt, höre auf mit Denken und gehe los».“ Pater Frederic lächelte.

Olivia fand ihr Gegenüber mit jedem Satz sympathischer und begann ganz langsam, Vertrauen zu ihm aufzubauen.

„Standen Sie eigentlich auch schon einmal an einem Scheidepunkt in Ihrem Leben?“, fragte Olivia interessiert.

Pater Frederic nickte. „Ja. Mehr als nur einmal“, kam eine fast genauso knappe Antwort wie die bisherigen auch.

„Es war schon immer mein Traum, mit einem so gesprächigen Mönch zusammen in einem Zugabteil zu sitzen“, scherzte Olivia und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Ja ja, so ist das Leben“, schmunzelte der Pater, „es geschehen immer noch Wunder, und zwar immer dann, wenn man nicht damit rechnet.“ Dann zwinkerte er Olivia zu.

Die Stimmung war entspannt und Olivia wollte gerade nach seinen Erfahrungen fragen, da kam ihr Pater Frederic zuvor.

„Ich würde nun gerne ein wenig schlafen“, sagte er und gähnte laut. „Ich bin schon sehr lange unterwegs und müde. Aber wir beide haben ja noch viel Zeit bis München. Viel Zeit zum Plaudern.“

Olivia saß da und schaute, als ob sie gerade ein Gespenst gesehen hätte. Sie war auf dem Weg von Rom nach München – ja das war korrekt. Aber woher wusste dieser Pater das? Der Zug hatte bis dahin ja noch so einige Haltestationen und München war auch nicht die Endstation.

Diese Frage ging Olivia nicht aus dem Kopf.

„Sagen Sie, Pater Frederic, woher wissen Sie eigentlich, dass ich bis München fahre?“

Olivia wusste nicht, ob der Pater ihre Frage nicht gehört hatte oder ob er sie vielleicht sogar bewusst überhörte. Er jedenfalls schloss seine Augen und schlief direkt ein.

Sie grübelte und studierte ihr Gegenüber, der leise, aber doch hörbar zu schnarchen begann. Dabei hatte er einen lieben, sehr friedvollen Gesichtsausdruck, mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. Auf seinem Kopf war nur ein dichter Haarkranz zu sehen, der die Glatze des Oberkopfes umrahmte. Seine sympathische Art ließ das Unbehagen, das Olivia noch am Anfang empfunden hatte, weichen. Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende sechzig. Er könnte ihr Vater sein.

Plötzlich regte sich der Pater. Er zog, mit weiter verschlossenen Augen, an seinem Gürtel, rückte seine schwarze Kutte wieder zurecht und schlief friedlich weiter.

Olivia schloss nun ebenfalls ihre Augen. Auch sie überkam jetzt eine große Müdigkeit. Ihre Gedanken gingen auf eine Reise – auf eine Reise ganz viele Jahre zurück in ihre Vergangenheit.

* * *

Sie hatte gerade ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert und verbrachte zwei herrliche Wochen bei ihren Großeltern in Schweden, in Storebro, wo sie geboren war und die ersten fünf Jahre ihrer Kindheit verbracht hatte, bis sie nach Deutschland ausgewandert waren.

Es war der letzte Urlaubstag und Olivia musste in zwei Stunden an den Flughafen, um die Heimreise anzutreten. Sie saß mit ihrer Oma Maja, wie so oft, im Garten. Sie genossen die Zeit auf dieser kleinen, blauen, mit weißen und gelben Blumen bemalten Holzbank, die unter einer sehr großen Eiche stand. Dieser Garten war Omas Paradies. Obwohl sie schon über achtzig war und gesundheitlich nicht mehr so fit, konnte man sehen, wie viel Zeit und Liebe sie hier hineinsteckte. Genau dieser Platz war aber auch schon immer Olivias Lieblingsplatz gewesen. Schon als Kind hatte sie sich von diesem Garten sehr angezogen gefühlt. Er hatte für sie etwas Geheimnisvolles und sehr oft hatte sie das Gefühl, sie sei nicht alleine in diesem Garten. Dann führte sie Selbstgespräche und es schien, als ob da wirklich noch jemand anderes wäre.

Ein Phänomen, das sich niemand erklären konnte, war außerdem, dass in diesem Garten das ganze Jahr über alle Pflanzen blühten. Keine Pflanze welkte oder verlor Blätter, und obwohl Olivia ihre Oma immer wieder mit der Frage „Warum ist das so?“ nervte, klärte Oma das Geheimnis nie auf, bis zu diesem Tag.

„Wie die Zeit vergeht“, murmelte Oma Maja und nahm Olivia in den Arm. „Zwölf Jahre ist es jetzt schon her, dass ihr aus Schweden fortgegangen seid, und ich bin so froh, dass du dieses Jahr deinen Urlaub hier bei uns verbracht hast. Aber ich bin auch sehr traurig, dass die schöne Zeit schon bald vorbei ist.“

Olivia lachte herzlich und gab ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange. „Hey, wer wird denn da melancholisch werden. Spätestens Weihnachten bin ich doch wieder hier, und dann sitzen wir doch auch wieder gemeinsam zusammen.“

Ihre Großmutter lächelte sie an und Olivia sah eine Träne in ihren Augen.

„Oma, bitte nicht traurig sein. Weißt du, ich bin auch so richtig glücklich, hier zu sein. Ich hätte auch mit Papa nach Amerika fahren können, aber irgendwie verspürte ich den innigen Wunsch, unbedingt hierher zu kommen. Jetzt frag mich aber bitte nicht, warum, ich kann es dir nämlich nicht erklären!“

„Das brauchst du auch gar nicht, ich kenne den Grund!“, antwortete Oma Maja mit einer ganz leisen, merkwürdigen Stimme.

„Du kennst den Grund? Sag ihn mir!“ Olivia war sehr überrascht und ihre Neugierde war geweckt.

„Das kann ich leider nicht, auch wenn ich es wollte.“

Olivia schaute ihre Oma verständnislos an. „Warum kannst du es nicht?“

„Ach Olivia. Du wirst das alles noch früh genug erfahren“, versuchte Oma Maja sie zu beschwichtigen und strich liebevoll über Olivias Haar.

„Was werde ich noch früh genug erfahren, Oma?“ Olivias Bitte wurde jetzt eindringlicher. Was wusste ihre Oma, was sie irgendwann einmal erfahren sollte? „Wenn ich es doch eh erfahre, kannst du es mir doch auch heute sagen.“

Oma Maja atmete tief ein und aus. Olivia spürte, dass ihre Großmutter gerade mit sich selbst haderte.

„Jetzt komm, Oma, gib dir einen Ruck. Was ist es?“

Olivia ließ nicht locker. Sie bettelte so lange, bis ihre Oma dann doch weich wurde.

„Eigentlich solltest du das erst nach meinem Tod erfahren“, sagte sie leicht erschöpft, „aber so warst du schon als kleines Kind. Du konntest so lange bohren, bis man irgendwann weich wurde.“

Olivia grinste über diese Bemerkung. Ja, wenn sie etwas wollte, konnte sie schon sehr beharrlich sein. „Oma, was sollte ich erst nach deinem Tod erfahren?“

Oma Maja schaute Olivia erneut zögernd an. „Olivia, ich werde dir heute ein Geheimnis anvertrauen.“

Olivia riss die Augen weit auf. „Ein Geheimnis? Etwa das Geheimnis dieses Gartens?“

„Ja. Das Geheimnis dieses Gartens.“ Oma Maja schaute nach oben zum Himmel, als ob sie sich die Zustimmung für diese Enthüllung holen wollte.

In diesem Moment kam Olivia ihre Großmutter sehr sonderbar vor, sodass sie es nun doch ein wenig mit der Angst bekam. Obwohl der blaue Himmel wolkenlos war, die Sonne in einer gigantischen Farbenpracht schien, zog plötzlich eine einzige große, dunkle Wolke auf. Von einem wundervollen Sommertag spürte Olivia auf einmal nichts mehr. Sie begann zu frieren, wollte weg, wollte am liebsten zurück ins Haus. Aber sie konnte nicht, sie war wie angenagelt. Warum drehte sich das Wetter so plötzlich? Was hatte diese dunkle Wolke zu bedeuten? Was war es, was die Welt plötzlich so veränderte, oder veränderte es nur ihre, Olivias Welt?

Olivia war das alles nicht geheuer und sie schaute ihre Großmutter mit ängstlichen Augen an. Ihre Augen schienen zu sagen: Behalte es doch bitte für dich. Aber tief im Inneren wollte Olivia ja doch wissen, was für ein Geheimnis Oma Maja ihr anvertrauen wollte.

Und dann hörte sie ganz aufmerksam den Worten ihrer Großmutter zu.

„Hast du schon einmal davon gehört, dass jemand ein Ereignis vorhersagen konnte?“

Olivia überlegte kurz. „Meine Arbeitskollegin war vor einigen Wochen bei einem Wahrsager und der sagte ihr, dass sie innerhalb von zwei Wochen ihre große Liebe finden wird.“

„Und?“

„Die zwei Wochen sind schon lange vorbei und sie wartet noch immer auf ihren Traumprinz“, lachte Olivia herzlich.

„Die Arme“, lächelte nun auch Oma Maja. „Was hältst du denn von diesem Thema, Vorahnungen oder Hellseherei?“

„Also ich persönlich finde, das ist alles Hokuspokus und fauler Zauber“, sagte Olivia und rümpfte die Nase. „Aber warum fragst du mich das?“

Oma Maja zögerte einen Moment und war sich nicht sicher, ob es wirklich gut war, Olivia heute schon dieses Geheimnis zu verraten. Aber sie würde es ja eh bald erfahren. „Ich habe dich das gefragt, weil ich genau diese telepathischen Fähigkeiten habe. Ich kann Ereignisse vorhersehen, aber auch unklare Dinge oder Geheimnisse der Vergangenheit auflösen.“

„Dann bist du eine Hellseherin?“ Olivias Augen wurden immer größer.

„Hm, so möchte ich das nicht nennen. Ich habe einfach nur diese außergewöhnliche Gabe. Wie soll ich dir das erklären? Es ist eine übersinnliche Wahrnehmung, die sich auf vergangene als auch auf künftige Ereignisse bezieht.“

„Ähm, und wie geht das? Wie funktioniert das?“ Olivia war irritiert. Mit diesem Thema konnte sie bisher noch nichts anfangen.

„Also wenn ich etwas vorhersehen kann, dann kann es mit einem Schwindel oder grellem Blitz beginnen. Danach erscheinen vor meinem geistigen Auge Bilder. Manchmal nur eins, manchmal auch mehrere Bilder und manchmal sogar ein ganzer Film.“

„Aha“, bemerkte Olivia ungläubig, aber interessiert.

„Es gibt aber auch Situationen, wo ich ganz plötzlich und ohne Vorwarnung statt eines Bildes ein Gefühl verspüre. Das ist allerdings ein absolut zutreffendes Gefühl, das ich dann im Bauch habe. Weißt du, mit der Zeit habe ich gelernt, damit umzugehen und auch, wie ich diese Hinweise richtig deuten muss.“

„Okay.“ Olivia runzelte die Stirn.

Sie war hin und her gerissen. Eigentlich hielt sie davon ja gar nichts, aber jetzt, wo ihre Oma darüber sprach, löste das ein anderes Gefühl in ihr aus. Sie war skeptisch einerseits, hatte aber andererseits den starken Drang, mehr darüber erfahren zu wollen.

„Kannst du mir mal ein Ereignis nennen, also etwas, was du vorab gesehen hattest und was dann auch wirklich so eingetroffen war?“

„Ja natürlich, wenn es dich interessiert.“ Oma Maja lächelte und hatte nun keine Zweifel mehr, dass der Zeitpunkt, Olivia in das Geheimnis einzuweihen, der richtige war.

Olivia nickte erwartungsvoll.

„Mein erstes Erlebnis, wo ich etwas vorhersehen konnte, liegt allerdings schon sehr viele Jahre zurück. Dein Opa und ich waren gerade erst ein paar Wochen verheiratet, als wir in dieses Haus hier eingezogen sind. Eines Mittags kam eine ältere Dame, um uns willkommen zu heißen. Es war unsere Nachbarin. Ich fand sie sofort sehr sympathisch, kochte spontan einen Kaffee und wir setzten uns hier in den Garten und plauderten etwas.“ Oma Maja machte eine kurze Pause und trank einen Schluck Wasser, bevor sie fortfuhr.

„Unsere Nachbarin erzählte mir, dass ihre Tochter am nächsten Tag zu Besuch kommen würde. Ich spürte, wie sehr sie sich darauf freute, sie vom Bahnhof abholen zu können. Dann zeigte sie mir ein Bild von ihr und ich sah darauf eine junge hübsche Frau. Und genau in diesem Moment durchfuhr mich ein Blitz und es zog mich wie ein Magnet zu diesem Fliederbaum.“ Oma Maja deutete auf den lila blühenden Baum direkt vor ihnen.

„Als ich unter diesem Baum dort stand, entwickelte sich ganz langsam vor meinem geistigen Auge ein Bild. Auf diesem war ein Zug zu sehen, der verunglückt war. Es war ein so schreckliches Bild. Im Hintergrund war schemenhaft diese junge Frau zu sehen.“

Olivia lief es kalt den Rücken runter.

„Ich bat unsere Nachbarin, ihre Tochter anzurufen, dass sie bitte nicht diesen Zug nehmen sollte. Ich weiß noch, wie verdutzt sie mich damals angeschaut hat, aber sie ist meiner Bitte gefolgt. Ihre Tochter lachte sie zuerst aus, entschloss sich dann aber, mit dem Auto zu fahren. Tja, und am nächsten Tag haben wir in den Nachrichten gesehen, dass dieser Zug nur knapp einem Unglück entkam.“

„Uih“, stöhnte Olivia und war sehr berührt. „Das ist ja heftig.“

„Ja das ist es. Viele Jahre funktionierte diese Wahrnehmung nur hier im Garten und dann meistens nur unter diesem Fliederbaum.“

„Das ist also das Geheimnis dieses Gartens. Hier wirken besondere, sehr starke Kräfte.“ Olivia spürte, wie ihre Faszination, die sie schon immer für diesen Garten hatte, nun eine Erklärung bekam.

„Ja, das ist das Geheimnis“, antwortete Oma Maja und stutzte einen Moment. „Aber da ist nicht alles, da ist noch etwas“, sagte sie kaum hörbar.

Doch diesen letzten Satz hatte Olivia nicht gehört. Stattdessen stellte sie eine andere Frage, die sie brennend interessierte. „Funktioniert deine Gabe nur hier oder auch woanders?“

„Mittlerweile überall. Nachdem ich diese Gabe nach Jahren endlich annehmen konnte und sie verinnerlicht hatte, konnte ich die Hinweise auch abrufen, wann immer es notwendig war. Ansonsten bekomme ich diese Informationen in Form von Bildern oder eines Gefühls. Das geschieht dann meist völlig unerwartet.“

„Macht dir das keine Angst?“, fragte Olivia und streichelte liebevoll die Hand ihrer Oma.

„Am Anfang ja. Aber im Laufe der Jahre habe ich gelernt, damit umzugehen.“

„Was sagen denn andere dazu?“ Olivia interessierte das Thema nun doch sehr.

„Von meiner Gabe weiß eigentlich auch nur unsere Familie, aber auch nicht so besonders viel. Ich habe das meistens für mich behalten und kaum mit jemandem darüber gesprochen. So kam ich auch nicht in Erklärungsnot.“ Oma Maja lächelte zaghaft. „Hattest du schon mal so ein Gefühl, etwas im Vorhinein zu ahnen, was dann auch eingetroffen ist?“

„Nicht dass ich mich daran erinnern könnte“, antwortete Olivia ehrlich.

Oma Maja schaute nach oben, als ob sie etwas nachrechnen müsste. „Ich war damals gerade achtzehn, als ich das erste Mal mit dieser Gabe konfrontiert wurde. Genauso alt wie du jetzt bist.“

„Oh Gott, wenn ich mir vorstelle, dass ich jetzt über so eine Fähigkeit verfügen würde. Boah, unglaublich. Ich wüsste gar nicht, ob ich das überhaupt wollte.“ Olivia schüttelte nachdenklich mit dem Kopf.

„Ja, so ging es mir auch. Am Anfang habe ich mich sehr dagegen gewehrt, aber ich spürte auch, dass ich irgendwann mal unter dieser Last zusammengebrochen wäre, und deshalb habe ich versucht, mich mit meiner Fähigkeit zu arrangieren.“

„Ich glaube, das kann ich verstehen. Erzählst du mir irgendwann noch mehr davon, was du so vorhergesehen hast?“

„Wenn es mir möglich ist, selbstverständlich“, antworte Olivias Großmutter mit einem sehr traurigen Blick, wobei sie in diesem Moment ahnte, dass es nicht mehr dazu kommen würde.

„Weißt du, Olivia, diese telepathischen Fähigkeiten hast du auch in dir. Aber erst im Augenblick meines Todes wirst du mit ihnen so richtig in Berührung kommen.“

„Du meinst, ich kann dann auch Ereignisse vorhersagen?“, fragte Olivia und zog ihre Augenbrauen nach oben.

„Ja“, antwortete Oma Maja, während sie einen Blick auf ihre Uhr warf. „Olivia, du musst leider gleich zum Flughafen. Ich möchte dir aber vorher unbedingt noch etwas sagen.“

„Du bist so ernst“, bemerkte Olivia, „das bin ich gar nicht gewohnt von dir.“

„Ja, ich weiß. Schau, du wirst diese Fähigkeit der übersinnlichen Wahrnehmung nach meinem Tod übernehmen! Lerne bitte, diese Gabe anzunehmen, und gehe mit ihr sehr sorgfältig um. Setze sie bitte immer nur dann ein, wenn du anderen damit helfen kannst!“

Olivia konnte dies nicht so ganz verstehen. Sie wollte einiges fragen, aber sie war wie blockiert. So drückte sie auch nur ganz zart und liebevoll Oma Majas Hände.

Oma Maja wusste, dass sie Olivia noch nicht alles gesagt hatte, aber sie wusste auch, dass sie dies zum richtigen Zeitpunkt erfahren würde. „Außerdem wirst du mit dieser Gabe irgendwann einmal erfahren, wer du wirklich bist.“

„Wer ich wirklich bin? Du sprichst in Rätseln.“ Nun bekam Olivia doch Angst.

„Ja, Olivia“, antwortete ihre Großmutter nun sehr müde und erschöpft. „Ich weiß, dass dies alles für dich wie ein Buch mit sieben Siegeln ist. Du hast Angst, das sehe ich. Aber du musst keine Angst haben, es wird alles gut. Ich bin immer bei dir, hörst du? Immer!“

Olivia verstand zwar im Moment nichts von dem, was ihre Oma da gerade sagte, dennoch nickte sie wortlos. Sie vertraute ihr. Und dann nahmen sich beide noch einmal liebevoll in den Arm. Olivia drückte ihre Oma ganz fest an sich und wollte sie gar nicht mehr loslassen. So sah sie den traurigen Blick und die Tränen auch nicht, die ihrer Großmutter gerade über die Wangen liefen.

Ein starkes Gefühl sagte ihr in diesem Augenblick, dass sie bleiben sollte, dass sie ihre Heimreise verschieben sollte. Aber das war ja nicht möglich, ihr Rückflug war ja schon gebucht und außerdem war es auch schon höchste Zeit, dass sie zum Flughafen fuhr. So trat sie sehr nachdenklich und unsagbar traurig die Heimreise an. Ein paar Wochen später verstarb Oma Maja. Sie schlief ganz friedlich ein.

* * *

Die ersten Sonnenstrahlen schienen schon in das Zugabteil. Olivia spürte ihre Knochen nicht mehr, als sie langsam wach wurde. Sie sehnte sich nach ihrem gemütlichen Bett. Das Sonnenlicht war so grell, dass sie erst einmal nur blinzeln konnte. Dann sah sie ihr Gegenüber, noch eher schemenhaft. Einen lächelnden Mönch mit einem Gebetbuch in der Hand. Jetzt erinnerte sie sich wieder an den vergangenen Abend. Hatte sie so lange geschlafen?

„Einen schönen guten Morgen. Sind Sie schon lange wach?“, fragte Olivia und streckte ihre noch immer ungelenken und etwas müden Glieder.

„Um genau zu sein, seit halb fünf“, antwortete Pater Frederic und klappte sein Gebetbuch zu. „Geht es Ihnen gut?“

„Ja, warum fragen Sie?“

„Sie hatten einen sehr emotionalen Traum. Da habe ich mir schon etwas Sorgen gemacht.“

Olivia schaute überrascht. Dieser Traum war eigentlich ja gar kein Traum, tatsächlich war es die Realität. Seit dem Tod ihrer Großmutter erlebte sie immer wieder diese letzte Begegnung mit ihr. Seit dieser Begegnung hatte sie ein einziges Mal eine Vorahnung von einem Ereignis gehabt, welches dann auch tatsächlich so eingetreten war.

Sie erinnerte sich an ihre Uni-Zeit in Palermo. Sie hatte mit einem Studien-Kollegen zusammen in einem Café gesessen und die bevorstehende Klausur durchgesprochen.

„Fahr bitte vorsichtig!“, hatte sie ihn damals noch gebeten, als sie sich verabschiedeten.

„Ja ja, Frauen und ihre Muttergefühle“, hatte ihr Kollege daraufhin lachend geantwortet. „Wir sehen uns morgen in der Uni“, hatte er ihr noch winkend zugerufen, bevor er mit seinem Motorrad losfuhr.

In diesem Moment war ihr schwindlig geworden und ein starker Blitz hatte ihren Kopf durchfahren. Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie ihr Kollege an der großen Kreuzung mit seinem Motorrad unter einen Lkw kam. Der Unfall ereignete sich dann genau so, wie sie es vorhergesehen hatte, nur einige Stunden nach ihrer Verabschiedung.

Dass sie dieses Ereignis so exakt hatte vorhersehen können, jagte ihr unendlich viel Angst ein. Aber noch mehr machte sie sich immer wieder große Vorwürfe, diese Vorahnung nicht ernst genommen zu haben, denn so hätte sie diesen Unfall, wo ihr Kollege schwer verletzt wurde, verhindern können. Das belastete sie derart, dass sie sich seitdem gegen jegliches Gefühl versperrte, das nur annähernd eine derartige Vorahnung bedeuten könnte.

„Darf ich Ihnen einen Rat geben?“, fragte Pater Frederic. „Es gibt Menschen, die haben telepathische Fähigkeiten. Sie, Olivia, gehören dazu. So etwas ist wie eine Berufung, und Sie können dieses Talent nutzen, um anderen zu helfen. Sie können es aber auch ablehnen. Aber dann besteht die Gefahr, dass Ihre Gabe immer weiter verkümmert, und das wäre doch sehr schade. Egal, was Sie auch tun, Olivia, es ist immer Ihre Entscheidung.“

Olivia schaute erstaunt und begann zu grübeln. Wann immer sie konnte, half sie anderen Menschen. Immer war sie für andere Menschen da. Wäre es nicht wenigstens mal einen Versuch wert, ihre Ängste zu bekämpfen und so ihrer Gabe noch einmal eine Chance zu geben?

„Übrigens weiß ich, dass Ihre Großmutter auch über diese telepathischen Fähigkeiten verfügte“, unterbrach Pater Frederic sie in ihren Gedanken.

Olivia stutzte und runzelte die Stirn. „Sagen Sie mal, Pater Frederic, woher wissen Sie denn eigentlich so viel über mich? Dass mein Ziel München ist, dass ich telepathische Fähigkeiten habe und dass meine Oma auch solche Fähigkeiten hatte?“

Pater Frederic lächelte. „Ich habe kombiniert. Als Sie mir sagten, wie Sie heißen und dass Sie in Rom als Restauratorin arbeiten, war ich mir ziemlich sicher, dass Sie die Tochter von Leo Sander sind.“

„Sie kennen auch meinen Vater?“ Olivia war verblüfft.

„Ja, er ist ein alter Schulfreund von mir. Wir haben in Schweden sogar nebeneinander gewohnt, wir waren sozusagen Nachbarsjungen.“

„Ach so. Na das erklärt ja so einiges.“

„Im Traum haben Sie dann von Ihrer Oma Maja gesprochen und da wusste ich, dass ich mit meiner Vermutung richtig lag.“

„Dann kannten Sie ja auch meine Oma persönlich?“

„Oh ja. Ihre Oma Maja war eine tolle Frau. Sie war vor allem eine sehr weise Frau.“ Pater Frederic lächelte und hatte ein Leuchten in den Augen. „So, und jetzt werde ich uns einen Kaffee holen!“ Er stand auf und verließ das Abteil.

Olivia schmunzelte. Ja, ihre Oma war wirklich eine tolle Frau gewesen. Dann stand auch sie auf und nutzte die Zeit, um sich etwas frisch zu machen. Es dauerte gar nicht lange, bis Pater Frederic mit duftendem Kaffee sowie Croissants und ein paar Schokoriegeln zurückkam.

„Werden Sie denn meinen Vater besuchen?“, fragte Olivia, während sie sich einen Kaffee einschenkte.

„Ja, ich habe es auf jeden Fall vor. Es gibt da etwas Wichtiges, was ich unbedingt mit ihm besprechen muss.“

Was hatte denn ihr Vater mit einem Mönch so Wichtiges zu besprechen? Olivia interessierte das zwar brennend, aber sie war sich nicht sicher, ob die Frage danach nicht doch zu indiskret gewesen wäre, und so ließ sie es bleiben.

„Darf ich Sie mal etwas zu Ihrem Mönchsleben fragen?“

„Was möchten Sie denn gerne wissen?“

„Sind Sie ein Benediktiner?“

Pater Frederic schaute überrascht. „Wie kommen Sie denn darauf, dass ich ein Benediktiner sein könnte? Haben Sie da schon Erfahrungen gesammelt?“

„Ja, etwas. Ich arbeite doch bei einem Restaurator in Rom. Letztes Jahr haben wir aus der kleinen Benediktiner-Kapelle des Klosters Jacobi einige Bilder restaurieren dürfen. Dabei habe ich Einblick in das Leben der Benediktiner-Mönche bekommen und es hat mich total begeistert. Diese Mönche trugen genau das gleiche Gewand wie Sie, und deshalb meine Vermutung.“

„Ihre Vermutung ist korrekt, Olivia. Ich lebe nun schon seit fast dreißig Jahren im Kloster Tasilano in Cateluciano. Es ist ein kleines Bergdorf in der Nähe von Rom. Davor war ich viele Jahre als Missionar und Entwicklungshelfer in Mexiko tätig.“

„Das hört sich ja interessant an. Meine Mama engagiert sich nämlich auch in Hilfsprojekten, hauptsächlich für Afrika-Kinder. Sie ist Schirmherrin bei «Childs-Help-Afrika». Würden Sie mir ein bisschen was über Ihre Zeit in Mexiko und Ihr Klosterleben erzählen?“

Pater Frederic hatte das Gefühl, dass Olivia sich wirklich für sein Leben interessierte, und so erzählte er ihr auch sehr gerne von seinen Lebenserfahrungen, seiner Arbeit in Mexiko und von seinem Leben im Kloster. Olivia lauschte seinen Worten sehr aufmerksam und genoss seine Erzählungen in vollen Zügen. Sie selbst hatte in jungen Jahren einmal Nonne werden wollen, und das dürfte auch der Grund sein, warum sie das Thema Kloster immer wieder so sehr faszinierte. Es zog sie förmlich in einen Bann, aus dem sie sich nur schwer befreien konnte.

Pater Frederic erzählte ihr gerade eine Episode aus der Klosterküche, als Olivia plötzlich wieder dieses befremdliche Gefühl einer Vorahnung beschlich. Das, was sie da im Moment fühlte, war ganz eigenartig.

Zuerst wollte Olivia dieses Gefühl auch wieder unterdrücken, so wie sie es ja schon die ganzen letzten Jahre gemacht hatte. Aber dann erinnerte sie sich an die Worte und den Ratschlag von Pater Frederic. Und so versuchte sie, ihre Angst zu überwinden und sich auf das Gefühl zu konzentrieren.

Während sie beiläufig Pater Frederic weiter erzählen hörte, verspürte sie ein ganz mulmiges Bauchgefühl. Es hatte etwas mit Pater Frederic zu tun, ja das spürte sie ganz genau. Sie war sich in dem Moment sogar sicher, dass ihr Gegenüber etwas verbarg. Er verschwieg etwas, aber was? Ihre innere Stimme wurde immer intensiver. Da war etwas, etwas Übles, gar Heimtückisches. Plante er etwas Grausames oder war er in eine Gräueltat verwickelt? Und dann sah Olivia dieses Bild, das ganz langsam vor ihrem geistigen Auge entstand.

Olivia wurde unruhig. Da kam sie wieder, diese Angst, die sie fast ohnmächtig werden ließ. Sie fühlte sich hin und her gerissen. Auf der einen Seite kam diese fürchterliche Angst wieder hoch, auf der anderen Seite wollte sie aber unbedingt wissen, was in diesem Bild verborgen lag. Sie atmete tief ein und aus, bis das Angstgefühl nachließ und immer schwächer wurde. Und dann endlich konnte sie das Bild auf sich wirken lassen. Zunächst sah sie alles sehr schemenhaft, bis es deutlich vor ihr war. Es war so real, so echt. Sie hatte das Gefühl, als sei sie mittendrin.

Sie erkannte einen Mann, der auf dem Boden lag. Sein Gesicht war durch eine andere Person komplett verdeckt. Diese andere Person, ein Mönch, beugte sich gerade über ihn. Olivia versuchte Details zu erkennen. Sie konzentrierte sich noch stärker. Doch was war das? Dieser Haarkranz kam ihr bekannt vor. Sie hielt einen Augenblick inne und dann wusste sie, wer genau einen solchen trug. Es war ihr Gegenüber, Pater Frederic.

Exakt in diesem Moment verblasste das Bild. Olivias Atem ging schwerer. Was hatte das zu bedeuten? Sie grübelte. Noch war es für sie ein ungelöstes Rätsel. Aber etwas ganz Wichtiges hatte sie nun erkannt. Nur dann, wenn sie es schaffte, ihre Ängste zu überwinden, konnte sie solche Hinweise wahrnehmen.

Pater Frederic merkte von all dem nichts. Er erzählte Olivia zwar gerade mit

Begeisterung, wie Bruder Robin aus selbst angebautem Obst eine leckere Marmelade machte, aber dass das Klosterleben auch seine absolut dunklen Schattenseiten hatte, darüber schwieg er. Doch er wusste, er hatte schon viel zu lange geschwiegen. Er musste sein Geheimnis nun jemandem anvertrauen. Etwas, das er wusste, das aber eigentlich niemand, schon gar nicht die Öffentlichkeit erfahren durfte. Leo, sein alter Freund, war die einzige Person, zu der er Vertrauen hatte, und die ihm auch sicher weiterhelfen konnte.

Die Zeit verging wie im Flug und so staunten die beiden nicht schlecht, als auf einmal die Durchsage kam, dass man in wenigen Minuten in den Münchner Hauptbahnhof einfahren würde. Olivia packte alle ihre Sachen zusammen. Bereits beim Einfahren in den Bahnhof sah sie ihren Bruder Lukas mit seiner Frau und den Zwillingen auf dem Bahnsteig stehen. Zwei Jahre war es jetzt her, dass sie ihre Familie das letzte Mal gesehen hatte, und sie freute sich riesig auf das Wiedersehen mit all ihren Lieben.

Sie war noch nicht einmal die letzte Stufe des Waggons herabgestiegen, da kamen die Zwillinge Hannah und Tim auch schon auf sie zu gerannt und fielen ihr stürmisch um den Hals.

„Hey, langsam ihr beiden“, lachte Olivia. „Ihr schmeißt mich ja um!“

„Bleibst du jetzt für immer hier?“, fragten beide gleichzeitig.

„Ich weiß es noch nicht. Aber auf jeden Fall bleibe ich jetzt erst einmal für ein paar Wochen hier und die werden wir intensiv genießen. Versprochen!“

„Gleich ein paar Wochen? Hoffentlich stehen wir das durch“, frotzelte ihr Bruder. „Herzlich willkommen in der Heimat, liebes Schwesterlein.“ Lukas nahm seine Schwester in den Arm und drückte sie ganz herzlich.

„Hallo Bruderherz! Was freue ich mich wieder zu Hause zu sein, das kannst du dir gar nicht vorstellen.“ Olivia genoss die brüderliche Umarmung, die ihr so viel Vertrauen gab. Sie fühlte, sie war wieder zu Hause angekommen.

Noch mitten in der Umarmung sah sie aus dem Augenwinkel, wie Pater Frederic zum Ausgang ging. Sie hatte ihn in dem ganzen Trubel stehen lassen, ohne sich zu verabschieden. Das tat ihr leid. Im Zweifel mit sich selbst, ob sie ihm nicht doch noch nachrennen sollte, hörte sie dann aber die Stimme ihrer Schwägerin.

„Darf ich jetzt auch mal Hallo sagen?“, kam es protestierend, aber lachend aus der zweiten Reihe. Olivia drückte ihre Schwägerin Anita ganz fest, konnte ihren Blick aber nicht vom Ausgang nehmen. Immer noch im Zweifel darüber, was sie tun sollte, sah sie, wie aus Pater Frederics Kutte ein Zettel herausfiel.

„Schön, dass du wieder da bist“, bemerkte Anita, doch der Satz kam bei Olivia nicht an.

„Wartet bitte!“, rief sie aufgeregt und rannte los.

„Pater Frederic!“, schrie Olivia in Richtung Ausgang, aber es war zu laut, er hörte sie nicht.

Sie rannte, so schnell sie konnte, durch den Ausgang nach draußen und suchte fieberhaft diesen Zettel. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit und dann endlich sah sie ihn. Sie bückte sich, hob das zerknüllte Stück Papier auf, aber es war zu spät. Pater Frederic war gerade in ein Taxi eingestiegen und Olivia sah den Wagen nur noch um die Ecke biegen.

„Mist!“, fluchte sie so laut, dass sich einige Passanten zu ihr umdrehten. Sie versuchte, den Zettel etwas zu glätten, warf einen kurzen Blick darauf und steckte ihn ein. Doch dann stutzte sie. Hatte sie da eben richtig gelesen? Sie kramte das zerknitterte Stück Papier noch einmal hervor und las die wenigen Worte, die mit blauer Tinte darauf standen:

«Letzte Warnung! Sieh dich vor, sonst wirst du den 24. nicht mehr erleben!»

Olivia war geschockt. Ihr blieb fast der Atem stehen. Heute war der Zwanzigste. Was hatte diese Nachricht zu bedeuten?

„Oh lieber Gott, ich wusste es!“, sagte sie leise zu sich selbst, während sie den Zettel zusammenfaltete und mit zittrigen Händen in ihre Jackentasche steckte.

Dann war mein Gefühl ja doch richtig und dieser Mönch war gar nicht so heilig, wie er sich gab. War das etwa das Wichtige, worüber dieser Pater unbedingt mit ihrem Vater sprechen wollte? Nachdenklich ging Olivia zurück zu den anderen.

Kapitel 2

„Das ist dein Auto?“, fragte Olivia überrascht, als Lukas den Kofferraum öffnete.

„Da staunst du, was?“, erwiderte Lukas ganz stolz, während er Olivias Koffer im Wagen verstaute. „Dieses Traumauto habe ich vor vier Wochen gekauft.“

„Ich wusste gar nicht, dass man auf einer Bank so viel Geld verdient, um sich solch einen Luxusschlitten leisten zu können.“

Lukas’ Antwort bestand lediglich in einem lauten Lachen. Olivia kannte den Humor ihres Bruders, aber diese Art des Lachens gefiel ihr gar nicht. Es klang in ihren Ohren eher arrogant und irgendwie auch unecht.

„Komm, Schwesterlein, steig ein. Lass dich mal in einer Limousine chauffieren.“

Die dreißigminütige Fahrt von München zum Stanzelberger See war sehr unterhaltsam. Die Zwillinge, die gerade ihren zehnten Geburtstag gefeiert hatten, redeten unaufhörlich und Olivia hatte große Mühe, den beiden in allem gedanklich zu folgen.

„Gleich sind wir zu Hause“, bemerkte Hannah, als sie in die Kreuzung einbogen.

Genau in diesem Moment trat Lukas mit voller Wucht auf die Bremse. Er riss sein Auto zunächst nach rechts und dann wieder scharf nach links, sodass Olivia und die Zwillinge, obwohl sie angeschnallt waren, auf der Rückbank durchgeschüttelt wurden.

„Du blöder Affenkopf, noch nie etwas von Vorfahrt gehört?“, schrie Lukas und war außer sich vor Wut.

„Lukas, bitte!“, ermahnte ihn Anita. „Schrei nicht so, davon wird es auch nicht besser!“

„Was ist denn das für eine alte Kiste?“, fragte Tim. „Diese türkisfarbene Schrottkiste habe ich hier ja noch nie gesehen!“

Olivia brauchte einen Moment, um sich von diesem Schrecken zu erholen. Als Lukas im Zeitlupentempo an dem alten Transporter vorbeifuhr, schaute Olivia dem Fahrer direkt in die Augen. Exakt in diesem Moment meldete sich ihr inneres Gefühl, gleichzeitig stiegen aber auch wieder diese Ängste in ihr auf. Erneut war sie gefangen, zwischen dem Wunsch, sich ihrer Fähigkeit hinzugeben, und der Angst, die das verhindern wollte. Es war wie ein Teufelskreis.

Sie atmete mehrmals tief durch und fühlte dabei immer stärker, wie sie mit jedem Atemzug ihre Angst in den Griff bekam. Ein greller Blitz zwang sie allerdings, ihre Augen zuzukneifen, und dann entwickelte sich wieder ein Bild. Zunächst schemenhaft zeigte es eine total verkommene Scheune, bis es immer klarer wurde und Olivia nun auch Details erkennen konnte. Das rote Dach war sehr beschädigt, die Holztüren kaputt und die Glasscheiben waren alle zerstört. Drumherum war nur Wald und Wiese. Es gab keine anderen Gebäude, keine anderen Ställe oder gar Häuser. Es war eine alte, unbewohnte, einsame Scheune. Nach einigen Sekunden war das Bild verschwunden. Olivia war irritiert. Jetzt hatte sie es einmal geschafft, ihre Angst zu überwinden, und dann bekam sie nur eine solche nichtssagende Information. Was sollte sie damit anfangen? Fast schon ein wenig verärgert widmete sie sich wieder den Zwillingen.

„Alles okay bei dir, Tante Olivia?“, fragte Hannah, die immer noch ganz aufgeregt von der Beinahe-Kollision war. Sie liebte ihre Tante sehr und sorgte sich um sie.

„Ja, ja, es ist alles in Ordnung. Ich habe mich erschrocken, genauso wie ihr euch auch“, beruhigte Olivia ihre Nichte.

Die nächsten paar Minuten war es ruhig im Auto und so konnte jeder emotional wieder ein bisschen herunterkommen.

„Na endlich, wir sind da!“, rief Tim, als Lukas auf den Hof fuhr.

Olivia durchfuhr ein tiefes Glücksgefühl, als sie wieder ihr Zu Hause sah. „Stopp, halt bitte an, Lukas, lass mich hier aussteigen!“, bat Olivia ihren Bruder. „Ich möchte meine Ankunft und mein Zu Hause zuerst ein wenig alleine genießen.“

Lukas trat sofort auf die Bremse. „Kein Problem. Du kennst dich hier ja bestens aus. Wir sehen uns gleich beim Mittagessen.“

Olivia krempelte die Hosenbeine ihrer Jeans nach oben, schob die Ärmel ihres Karohemdes hoch und schaute sich erst einmal um. Das Anwesen war sehr groß und man musste zuerst ein Gebäude mit einem rustikalen Rundbogen durchschreiten, um in den parkähnlichen Garten mit dem großen Landhaus zu kommen.

Wie wundervoll, dachte Olivia, als sie die fantastische Grünanlage betrat. Doch dann stutzte sie. Sie wusste, dass der Park komplett neu umgestaltet worden war, aber was sie da sah, überraschte sie immens. Dieser Garten war fast eine Kopie von Omas Garten in Schweden. Olivia ging langsam weiter, immer wieder auf der Entdeckung von etwas Neuem, und sie kam sich vor, als sei sie in ihre Kindheit zurückversetzt.

Doch dann blieb ihr fast der Atem stehen. Da stand sie. Eine blaue, mit weißen und gelben Blumen bemalte Holzbank, direkt unter einer großen Eiche. Und etwas weiter daneben stand ein wunderschöner Fliederbaum. Olivia war überwältigt und Erinnerungen wurden wach. Fast andächtig setzte sie sich auf diese kleine Bank, schloss die Augen und genoss diesen einzigartigen Moment. Nach einer Weile bewegte sie ganz zaghaft ihre Hand zur Seite. Sie wollte etwas greifen, aber sie griff ins Leere. Irritiert öffnete sie ihre Augen und schaute nach links rüber. Sie hatte gerade eben ein so reales Gefühl, dass ihre Oma Maja neben ihr sitzen würde. Wie konnte das sein? Sie verstand sich in diesem Moment selbst nicht und schüttelte ratlos den Kopf. Wie konnte man etwas, das gar nicht existierte, so realistisch spüren?

Olivia war noch so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie jemand auf sie zukam.

„Das ist Genuss für die Augen, stimmt’s?“, hörte Olivia eine bekannte Stimme hinter sich. Sie schaute nach oben und sprang auf.

„Jan! Oh wie schön, dich zu sehen!“ Olivia fiel dem Gärtner, der auch ihr Vater hätte sein können, um den Hals.

Durch eine Empfehlung des Notars, der damals den Kauf dieses Anwesens abwickelte, hatte ihr Vater den Gärtner Jan kennengelernt. Jan hatte ein paar Monate vorher seine Frau an Krebs verloren und war dankbar um jeden Job gewesen, der ihn von seiner Trauer ablenkte. So bekam er den Auftrag, den total verwilderten Garten umzugestalten, und war seitdem als Gärtner, Fahrer, Hilfskoch, kurz gesagt als Mann für alle Fälle bei den Sanders tätig.

„Ach wie schön, dass du wieder da bist, Olivia. Du fehlst hier so sehr im Hause und ich hoffe, du bleibst jetzt ein bisschen länger!“

„Kann sein, ich weiß es noch nicht. Vielleicht bist du froh, wenn du mich in ein paar Wochen wieder los bist“, erwiderte Olivia lachend und ließ sich von Jan noch einmal fest drücken.

„Das glaube ich kaum, aber was hältst du davon, wenn ich dir dieses Gartenparadies jetzt erst einmal zeige? Es hat sich so viel getan.“

Olivia hakte sich bei Jan ein und mit voller Begeisterung erklärte und zeigte er ihr alles, was sich in den letzten Monaten im Garten so alles verändert hatte.

„Dein Vater hat so viele Fotos von eurem Garten in Schweden und die hat Anita als Vorlage genutzt“, erklärte Jan auf die Frage hin, wer diese Ideen hatte.

„Respekt! Diese Umsetzung ist ihr wirklich gelungen. Ich komme mir gerade vor, als mache ich eine Reise durch die Vergangenheit.“

Jan lächelte. „Schau mal, da hinten, das ist etwas ganz Besonderes!“

Olivia blickte in die Ferne, hielt sich ihre Hände über die Augen, um das Entdeckte besser erkennen zu können. Die Mittagssonne war grell und sie hatte ihre Sonnenbrille im Auto vergessen.

„Sehe ich das da hinten richtig? Runde Terrakottasteine?“

„Ja, dort hat Anita einen «Kraftplatz» angelegt. Wunderschön und ich glaube, das wird dein Lieblingsplatz werden.“

„Einen Kraftplatz?“ Olivia schaute erstaunt und spürte in diesem Moment, welche Kraft dieser Platz tatsächlich ausstrahlte. Sie fühlte sich unglaublich stark von diesem Ort angezogen, als ob eine höhere Macht im Spiel wäre.

Gerade als die beiden in die Richtung dieses Platzes gehen wollten, hörten sie ein lautes „Huhu“. Olivia drehte sich in Richtung des Rufs um und konnte Tessi auf der Terrasse entdecken.

Tessi war schon seit mehr als dreißig Jahren die Köchin im Hause. Sie war sozusagen der gute Geist und für Olivia fast wie eine Mutter. Sie hatte immer ein offenes Ohr für sie, egal wie groß die Probleme auch waren. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter, die eher froh war, sich ihre Probleme nicht anhören zu müssen und nie wirklich Zeit für sie hatte. Wie oft hatte sie als Kind bei Tessi in der Küche gesessen. Bei einer Tasse heißem Kakao und Tessis lieben Worten war jeder Kummer auch ganz schnell wieder vergessen.

„Lass uns diesen «Kraftplatz» später anschauen. Jetzt muss ich erst mal Tessi begrüßen. Kommst du mit?“, zwinkerte Olivia Jan zu und spürte, dass dieser Brunnen noch eine große Überraschung für sie haben würde.

Wenn man es nicht besser wüsste, hätte man meinen können, dass sich hier Mutter und Tochter in die Arme fielen. Tessi liefen die Tränen über die Wangen, so glücklich war sie, Olivia wiederzusehen. Sie nahm Olivia immer wieder in den Arm und drückte sie, sie war überglücklich vor Freude. Dann sprudelten die Fragen auch nur so aus Tessi heraus. Sie wollte alles von Olivia wissen. Was sie erlebt hatte, wie es ihr ging, was sie gerade machte. Jan ging derweil in die Küche und kam mit einer großen Karaffe Zitronenlimonade wieder nach draußen.

„Darf ich die Damen auf eine Limonade einladen?“ Er füllte die Gläser und die drei stießen miteinander an. Dabei entging es Olivia nicht, wie Jan die lebenslustige, hübsche Tessi anschaute. Als Jan noch mal in die Küche ging, nutzte Olivia die Gelegenheit.

„Sag mal, Tessi, hast du noch nicht bemerkt, wie Jans Augen funkeln, wenn er dich anschaut?“

Tessi zog ihre Augenbrauen nach oben. „Er hat w a s in den Augen? Ein Funkeln?“

„Ja.“ Olivia musste lachen. Tessis Blick war zu komisch. „So schaut ein Mann nur, wenn seine Fußballmannschaft gewonnen hat– oder wenn er verliebt ist.“

„Olivia, du hast Halluzinationen“, lachte Tessi herzlich. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sie leicht errötete.

Schade, dachte Olivia, dass keiner der beiden den ersten Schritt wagt, denn sie spürte, dass auch Tessi für Jan Gefühle hegte. Aber wenn jeder zu schüchtern ist, diese Gefühle zu zeigen, dann wird das ja nie was.

In dem Moment kam Jan wieder zurück und Olivia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Als sie die beiden dann so vor sich sah, überkam sie eine wahnsinnig große Lust, hier die Liebesgöttin zu spielen. Sie überlegte kurz und dann kam ihr auch schon eine geniale Idee.

„Warum grinst du so?“, fragte Jan.

„Hab ich gegrinst?“ Olivia musste lachen. Sie stellte sich gerade das verdutzte Gesicht der beiden vor, wenn sie mit ihrer Überraschung ankäme. „Kommt, lasst uns noch mal anstoßen.“

Noch bevor sie ausgetrunken hatten, hörte Olivia ein Auto laut hupen.

„Hey, das hört sich so an, als ob Pa gerade zum Mittagessen nach Hause kommt. Wir sehen uns später noch“, rief Olivia den beiden zu, während sie eilig vors Haus lief.

Sie hatte recht. Als ihr Vater aus dem Auto stieg, stellte Olivia mit einem gewissen Anflug von Stolz fest, wie attraktiv und sportlich er doch in seinem reifen Alter noch aussah. Leo Sander ging freudestrahlend mit ausgebreiteten Armen auf Olivia zu.

„Herzlich willkommen zu Hause, mein Schätzchen. Was freue ich mich, dass du wieder da bist.“ Seine außergewöhnlichen hellblauen Augen strahlten, als er sie in den Arm nahm, wobei er sie so fest drückte, dass sie anfangen musste zu husten.

„Wenn du sie erdrückst, Leo, wirst du nicht mehr viel von ihr haben!“, hörte Olivia plötzlich ihre Mutter in einem strengen Ton rufen.

Olivia musste laut lachen. Nein, ihre Eltern hatten sich nicht verändert, kein bisschen. Mama war noch genauso penibel und bestimmend wie eh und je und ihr Vater nickte ihr nur wohlwollend mit einem Lächeln zu. Sie sah ihre Mutter auf sie zukommen. Wie schön sie doch wieder war, dachte Olivia und musterte sie von oben bis unten. Nancy Sander war nur zwei Jahre jünger als Leo und beide waren sie nun mehr als vierzig Jahre verheiratet. Solange sich Olivia zurückerinnern konnte, war ihre Mutter stets perfekt gestylt. Sie legte sehr viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres und ein angenehmes, ansprechendes Erscheinungsbild.

So erklärte es sich auch von selbst, dass im Hause Sander auf gesunde Ernährung geachtet wurde, wofür Tessi als Köchin persönlich verantwortlich war. Olivias Mutter hatte im Hause das Sagen, was Haushalt und Ernährung anging. Aus geschäftlichen Dingen ihres Vaters oder Erziehungsfragen der Zwillinge hielt sie sich immer raus. Dieses konsequente Verhalten ihrer Mutter, die Zuständigkeiten so exakt trennen zu können, bewunderte Olivia immer wieder.

„Lass dich mal drücken!“, sagte Olivias Mutter während einer zaghaften Umarmung. Stürmisch war ihre Mutter ja noch nie gewesen, aber eine etwas festere, vor allem herzlichere Umarmung hätte Olivia sich schon gewünscht.

„Das Tragen von Jeans konntest du dir wohl immer noch nicht abgewöhnen!“, kritisierte ihre Mutter und ging musternd um sie herum. „Und deine Haare, einfach nur fürchterlich. Kein bisschen Eleganz, kein bisschen Weiblichkeit an dir. Du siehst aus wie ein Mann.“

Die Haar- und Kleiderfrage war leider schon immer ein Streitthema zwischen ihnen gewesen. Olivia liebte es, sich sportlich, leger und bequem zu kleiden, und ihre langen, blonden Haare band sie fast immer zu einem Zopf.

„Du hast sehr abgenommen, stimmt’s?“, kritisierte ihre Mutter, die selbst eine wunderschöne, frauliche Figur hatte.

„Ein bisschen schon“, antworte Olivia und ärgerte sich insgeheim, dass es ihrer Mutter sofort aufgefallen war, obwohl sie es mit lässiger Kleidung zu vertuschen versuchte.

„Das stimmt allerdings“, pflichtete Leo Sander seiner Frau sehr ernst bei und Olivia spürte, dass dieses Ernste nur gespielt war. „Du siehst wirklich aus wie ein Hungerhaken. Italien ist nichts für dich. Du hast keine Kurven mehr, da ist nichts mehr zum Anfassen so wie früher einmal. Was ich sehe, ist ein Klappergerüst, auf dem man Klavier spielen kann!“

„Leo, ich bitte dich!“, reagierte Nancy sehr schroff.

Olivia liefen die Tränen über die Wangen. So herzlich laut gelacht hatte sie schon lange nicht mehr. Sie prustete und schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. So war ihr Vater. Er nahm kein Blatt vor den Mund und seinen Humor musste man einfach lieben.

„Olivia, ich weiß nicht, was es da zu lachen gibt. Du kommst wirklich ganz nach deinem Vater!“, bemerkte Nancy kopfschüttelnd.

„Ach Mama, sieh das Leben doch mal von der heiteren Seite. Schau mal, wie schön die Sonne scheint. Schau mal die wunderschönen Blumen überall, deine ganze Familie ist da und alle sind gesund. Was gibt es Schöneres?“

Nancy schaute ihre Tochter an. Es war ein fragender, fast schon ein hilfloser Blick. Sie nickte, fast nicht wahrnehmbar, und bat dann alle zum Essen hereinzukommen. Olivia kannte ihre Mutter nur zu gut. Sie engagierte sich für Afrika-Kinder in Not und das machte sie mit ganzem Herzen und voller Hingabe. Obwohl das eine Arbeit war, die mit Schicksalsschlägen, Emotionen, Mitgefühl und viel Herz zu tun hatte, konnte ihre Mutter ihre eigenen Gefühle nicht zeigen.

Von ihrem Vater erfuhr Olivia vor langer Zeit, dass dieses Verhalten ihrer Mutter nicht immer so gewesen war. Als ihr Bruder Lukas geboren wurde, ging sie in ihrer Mutterrolle komplett auf. Sie war stolz auf ihr Kind und zeigte es auch nach draußen. Sie liebte ihren Sohn abgöttisch.

Ihr Verhalten änderte sich in dem Moment, als sie erfuhr, dass sie mit Olivia schwanger war. Das war der Auslöser, dass ihre Mutter sich in ihrer Persönlichkeit total veränderte. Sie wollte plötzlich mit der direkten Kindererziehung nichts mehr zu tun haben und zog sich immer mehr zurück. Was aber noch viel schlimmer war, auch von Lukas, ihrem Kind, das sie abgöttisch liebte, wandte sie sich ganz ab. Das war der Grund, warum dann eine Köchin und eine Kinderfrau eingestellt wurden. Die Kinderfrauen wechselten sehr oft, die Köchin Tessi blieb und übernahm somit eigentlich auch die Erziehung der Kinder. Ihre Mutter flüchtete sich in ihre sozialen Projekte und zog sich immer mehr zurück. Irgendwann akzeptierten alle dieses Verhalten, auch Olivias Vater. Obwohl sie auch ihm gegenüber keinerlei Gefühle mehr zeigte, schmälerte das seine Liebe zu ihr nicht.

Olivia konnte bis heute nicht herausfinden, was den damaligen Gefühlswandel ihrer Mutter auslöste. Aber tief im Inneren spürte sie, dass ihre Mutter ein großes Geheimnis in sich trug, und sie wünschte sich von ganzem Herzen, irgendwann einmal diese Wahrheit zu erfahren.

Ihre Mutter war außerdem sehr prüde und konservativ. Genau das Gegenteil von ihrem Vater. Er war stets lustig, herzlich und hatte auch mal einen zweideutigen Witz auf Lager. Damit allerdings konnte Leo Sander seine Frau zum Kochen bringen. Das Thema Liebe oder gar Sex war in diesem Hause ein absolutes Tabuthema. Da die Zwillinge mit ihren zehn Jahren nun aber in einem Alter waren, dieses Neuland zu erforschen, kam es immer öfter vor, dass dieses Tabuthema Gegenstand einer Diskussion wurde.

„Lass uns hineingehen! Mutter hat ja auch schon zum Essen gerufen“, sagte Leo, nahm seine Tochter noch mal in den Arm und gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

Im Esszimmer war bereits lautes Stimmengewirr zu hören. Die Zwillinge saßen schon am großen Tisch und warteten auf die Suppe. Olivia begrüßte zuerst Malia, das Hausmädchen, noch ganz herzlich, bevor auch sie sich setzte.

Hier hatte sich bis auf die neuen weißen, bodenlangen Vorhang-Schals nichts verändert. Auf dem dunklen Akazienholzboden lag noch immer der beigefarbene rechteckige Teppich mit dem kuscheligen, weichen Hochflor. Darauf stand ein antiker, langer Esstisch aus uraltem Teakholz. Zwölf passende und sehr bequeme Landhaus-Stühle sorgten für eine ausreichende Anzahl an Sitzplätzen.

Obwohl Nancy Sander darauf bestand, dass beim Essen absolute Ruhe herrschte, kam sie mit ihren strengen Anweisungen bei den Zwillingen nicht sehr weit.

Malia hatte gerade den Nachtisch abgeräumt und brachte den Kaffee herein, als Tim wieder anfing, über den alten Transporter zu wettern.

„Opa, weißt du was? Vorhin wäre uns doch fast eine uralte, türkisfarbene Schrottkiste ins Auto gefahren.“

„Was ist denn passiert“, fragte Leo Sander interessiert.

„Passiert ist Gott sei Dank gar nichts“, bemerkte Lukas, „der Typ hat mir einfach die Vorfahrt genommen, und wenn ich nicht so geistesgegenwärtig reagiert hätte, wäre der mir voll in die Seite reingedonnert.“

„Man muss wirklich vorsichtig fahren, selbst hier auf dem Land“, bemerkte Leo kopfschüttelnd. „Aber habt ihr da eben von einem türkisfarbenen Auto gesprochen?“

„Ja, ein Transporter, warum? Kennst du den Affenkopf, der das Auto fährt?“

„Nein, aber im Moment sind Hundefänger unterwegs und man erzählt, dass die mit genau solch einem alten Auto unterwegs sind. Diese Farbe ist halt sehr auffallend.“

Olivia und Lukas schauten sich fragend an.

„Was für Zufälle es gibt“, sagte Olivia. „Hätte Lukas das vorhin gewusst, hätte er ihm nicht nur mit der geballten Faust gedroht, sondern ihn mit Sicherheit direkt ohne eine Vorwarnung am Hemdkragen gepackt und aus der Schrottkiste gezogen.“

Olivia musste bei dieser Vorstellung herzlich lachen und steckte Lukas mit ihrem Lachen direkt an.

„Okay, ihr zwei albernen Hühner“, unterbrach Leo sie und genoss es sehr, die ganze Familie wieder vereint zu haben. „Samstagnachmittag, was machen wir da?“, fragte er die Zwillinge.

„Wir bauen an unserem Baumhaus weiter“, kam es gleichzeitig aus deren Mund.

„Genau, so sieht es aus. Und was machst du Olivia?“

„Ich werde in mein Zimmer gehen, wenn das für euch in Ordnung ist. Ich würde gerne meine Koffer auspacken, duschen und mich dann ein wenig hinlegen. Ich habe die ganze Nacht nämlich fast kein Auge zugetan.“

„Hast du eben ‚dein Zimmer‘ gesagt?“, frage Leo schmunzelnd. Die ganze Familie lachte.

„Warum lacht ihr alle? Was ist daran so komisch, wenn ich mich zurückziehen möchte?“, erwiderte Olivia, fast schon ein wenig beleidigt.

„Am Zurückziehen ist nichts komisch. Nur, dein Zimmer, das wirst du nicht mehr finden.“

Jetzt fiel es Olivia wieder ein. Stimmt ja, ihr Vater hatte schon so etwas angedeutet und eine große Überraschung angekündigt.

„Okay, Hannah und Tim, ihr müsst euch mal noch eine halbe Stunde gedulden, bis ich Olivia ihr neues Zu Hause gezeigt habe. Aber danach komme ich zu euch in den Garten. Ihr könnt ja schon vorgehen, wenn ihr wollt.“

„Ich hätte euch so gerne begleitet“, sagte Anita, etwas traurig, dass sie bei der Präsentation der neuen Räume nicht dabei sein konnte, „aber ich habe noch einen Termin außer Haus.“

„Ich muss auch noch mal weg!“, bemerkte Lukas, während er sein Jackett anzog. Olivia sah Anitas Blick. Sie sah, wie fragend sie ihren Mann Lukas anschaute. Er aber ignorierte ihren Blick, drehte sich um und verließ den Raum. Olivia fühlte mit ihrer Schwägerin und sie tat ihr in dem Moment unendlich leid.

„Auf mich müsst ihr leider auch verzichten“, unterbrach Nancy die Stille. „Ich habe noch etwas vorzubereiten, bin aber in meinem Büro, falls mich jemand suchen sollte.“

So löste sich der Mittagstisch langsam auf und jeder ging seiner eigenen Wege.

„Nun Olivia, dann lass uns mal auf Entdeckungsreise gehen!“

Olivia war echt gespannt. Sie gingen über die breite Treppe hinauf in den ersten Stock. Dort befand sich immer ein langer Gang, von dem man, nach rechts oder links, in die einzelnen Zimmer gehen konnte. Diesen Gang gab es nicht mehr.

Stattdessen sah Olivia auf eine uralte hölzerne Schloss-Eingangstür. Olivia staunte nicht schlecht, als ihr Vater die schwere Tür öffnete. Was sie da zu sehen bekam, verschlug ihr die Sprache. Hinter dieser massiven Holztür befand sich ein sehr geräumiges, geschmackvoll eingerichtetes Apartment im rustikalen Stil. Mit dem wunderschönen Kamin und der stilvollen Wohnlandschaft hatte Olivia sofort das Gefühl, in einem noblen Bauernhaus in den Schweizer Alpen zu sein.

Ihr blieb fast die Luft weg, als Leo ihr danach das Schlafzimmer zeigte.

„Olivia, das Atmen bitte nicht vergessen!“, lachte er und freute sich über ihre Reaktion.

„Ja, da kann einem wirklich die Luft wegbleiben. Wer hatte denn diese geniale Idee?“

„Das sind alles Anitas Ideen. Sie hat sich hier innenarchitektonisch austoben können.“

„Das ist ihr echt gelungen. Das Studio ist absolut traumhaft. Es übertrifft bei Weitem alle Vorstellungen, die ich bis dahin hatte.“

„Gefällt es dir?“, fragte Leo Sander seine Tochter nach dem ausführlichen Rundgang.

„Ob mir das gefällt? Diese Frage meinst du jetzt nicht im Ernst, oder? Ich bin begeistert, ich bin sprachlos, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll!“

Olivia fiel ihrem Vater um den Hals und bedankte sich tausendmal. Sie hätte mit allem gerechnet, aber niemals mit einer solch großen Überraschung.

„So und nun kannst du auspacken, baden, schlafen, mach all das, was du gerne machen möchtest. Wenn du zum Abendessen herunterkommen möchtest, dann kommst du. Wenn du lieber schlafen möchtest, ist das auch in Ordnung. Wir sehen uns dann spätestens morgen früh zum Frühstück.“

Olivia drückte ihren Vater noch mal ganz fest, bevor er dann hinaus in den Garten ging, um mit den Zwillingen das Baumhaus weiterzubauen.

Nachdem sie sich von dieser großen Überraschung etwas erholt hatte, packte sie ihre Koffer aus, nahm ein entspanntes Bad in dem tollen Whirlpool und kroch in das romantische breite Country-Bett hinein. Sie schlief sofort ein und nicht einmal ein lautes Feuerwerk hätte sie aufwecken können.

Kapitel 3

Als Olivia wach wurde, war die Sonne schon aufgegangen. Sie hatte doch tatsächlich mehr als vierzehn Stunden geschlafen. Die Sonnenstrahlen ließ sie blinzeln und gerade als sie sich in ihrem gemütlichen Bett nochmals einmummeln wollte, klopfte es an der Tür.

„Herein!“, rief Olivia, ohne zu wissen, wer vor der Tür stand.

„Ich bin es, Malia.“

„Ahh, komm rein, ich zieh mir nur gerade meinen Bademantel drüber“, rief Olivia nach draußen.

Malia war seit mehreren Jahren Hausmädchen im Hause Sander und nur ein paar Jahre jünger als Olivia. Sie kam damals im Rahmen eines Schüler-Austauschprogrammes von Mombasa nach Deutschland und wurde von Nancy, die in diesem Projekt sehr engagiert war, im Hause Sander aufgenommen. Zwischen den beiden entstand durch diese Verbindung «Afrika» eine spezielle Beziehung und so bot Nancy Malia an, ganz nach Deutschland zu kommen. Sechs Monate später kam sie dann als Hausmädchen zu den Sanders, lernte fleißig Deutsch und gehörte seit dem auch zur Familie. Malia hat eine kleine Tochter, die bei ihrer Familie in Afrika wohnte und diese Trennung machte ihr zu schaffen und so war sie, immer Mal wieder, sehr traurig.

Als Olivia ins Wohnzimmer kam, sah sie Malia, wie sie gerade einen Kaffee einschenkte.

„Was für ein Service“, lachte sie. „Ich wäre doch zum Frühstück hinuntergekommen.“

„Ja das wissen wir doch“, sagte Malia lächelnd. „Tessi aber meinte, dass Sie vielleicht erst einmal ein Tässchen Kaffee, so ganz in Ruhe genießen möchten.“

Olivia gähnte laut. „Ja Tessi hat recht. Trubel ist beim Frühstück, allein durch die Zwillinge, schon immer genug vorhanden. Und so eine Tasse Kaffee ist jetzt gerade das Richtige.“ Olivia strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und nahm eine weitere Tasse aus dem kleinen Schrank.

„Komm schenk dir auch einen Kaffee ein, dann können wir uns noch ein bisschen unterhalten.“

„Erzähl´, wie ist es dir hier ergangen, in den letzten zwei Jahren?“, fragte Olivia neugierig.

„Sehr gut. Die Zwillinge halten einen halt immer auf Trapp. Da kommt keine Langweile auf“, erzählte Malia gut gelaunt.

„Und was macht deine Tochter?“, fragte Olivia weiter.

Malia zog aus ihrer Jackentasche ein Bild hervor. „Das ist das letzte Bild von Daya.“ Malia strich mit ihrem Finger ganz zart über das kleine Foto. „Das Bild kam mit der letzten E-Mail. Aber im Moment erreiche ich sie nicht und das macht mir etwas Sorgen.“

Olivia sah die Tränen, die über Malias Wangen liefen. Sie schluchzte nicht, sie gab kein Laut von sich. Es waren lautlose, verzweifelte Tränen einer Mutter. Die Resignation und diese tiefe Traurigkeit, die Olivia in diesem Moment bei Malia sah und fühlte, ließ ihr Herz verkrampfen.

„Gibst du mir bitte mal das Bild?“