Faschismus - Roger Griffin - E-Book

Faschismus E-Book

Roger Griffin

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Beschreibung

Der Begriff „Faschismus“ scheint zu einem Allerweltsbegriff geworden zu sein: Ausgehend von Mussolinis „Faschisten“, übernommen von den Nationalsozialisten unter Hitler, findet er sich heute in nahezu allen politischen Auseinandersetzungen: Trump, Putin, Orbán, Bolsonaro, in Deutschland Höcke, die AfD. Während einige argumentierten, dem Wort „Faschismus“ fehle es an jeglicher charakteristischen, begrifflichen Bedeutung, liefern andere ausführliche Definitionen seiner –vermeintlich oder tatsächlich – wesentlichen Merkmale. Es handelt sich zweifelsohne um einen Begriff, dessen genaue Bestimmung eine einzigartige Herausforderung darstellt. Roger Griffin, einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Faschismusforschung, analysiert mit einzigartiger begrifflicher Klarheit und zugleich sehr lesbar die Ideologie des Faschismus. Er untersucht Ursprung und Entwicklung des Faschismus als politisches Konzept von seinen historischen Anfängen im Italien der 1920er-Jahre bis hin zur Gegenwart – und leitet uns durch das verworrene Labyrinth an Debatten über Natur, Bedeutung und Definitionen des Faschismus. Mit Kompetenz und Präzision beleuchtet Griffin die faschistische Dynamik als utopische Ideologie von nationaler und zugleich ‚rassischer‘ Wiedergeburt. Dabei untersucht er insbesondere auch die Wandelbarkeit des Faschismus über den Zweiten Weltkrieg hinaus und ermöglicht so ein Verständnis faschistischer Elemente in gegenwärtigen politischen Phänomenen wie der griechischen Goldenen Morgenröte, Marine Le Pens Rassemblement National oder der Partei Alternative für Deutschland. Nicht nur für Studierende der politischen Theorie, der Ideengeschichte und der Neuesten Geschichte Deutschlands, Europas und der Welt ist dieser kompakte und fesselnde Band von großem Interesse, sondern auch für alle, die angesichts des vieldiskutierten Ansteigens faschistischer politischer Aktivitäten in Sorge sind. Roger Griffins Einsichten in die Faschismusforschung werden dabei erstmalig in deutscher Sprache zugänglich gemacht. In einem hochaktuellen Nachwort widmet sich Fabian Virchow, Professor für Politikwissenschaften und Experte für Rechtsextremismus und Neonazismus, der Frage, inwieweit sich der Faschismusbegriff auch auf die gegenwärtige Partei Alternative für Deutschland anwenden lässt.

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2020

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Die besondere Rolle der Faschismusforschung in Deutschland – eine Einleitung des Übersetzers

Begriffliche Herausforderungen durch die englischsprachig geprägte Faschismusforschung

Die Entwicklung der Faschismusforschung in Deutschland

Der gegenwärtige Nutzen von Roger Griffins Ansatz für die deutschsprachige Forschung

Geleitwort von Andreas Kemper

Danksagungen

1 Einführung: Warum der Faschismus ein „Schlüsselbegriff“ ist

Was ist also Faschismus?

Warum der Faschismus nicht das Gleiche wie eine Ente ist

Die in diesem Band verwendete narrative Geschichte des „Faschismus“

Weitere Gründe, ein Buch dem Faschismus als Schlüsselbegriff der politischen Theorie zu widmen

Die Struktur dieses Buches

2 Den Faschismus begreifen: Marxistische und frühe liberale Ansätze

Die Suche nach einer Definition

Die marxistische Schule: Faschismus als Avantgarde der kapitalistischen Reaktion

Die Agententheorie

Die bonapartistische These

Spätere Entwicklungen in der marxistischen Theorie

Die politische Sirene

Die Verwirrung der liberalen Historikerinnen und Historiker

Ein Ausweg aus dem Labyrinth

3 Eine Arbeitsdefinition: Faschismus als revolutionäre Form des Nationalismus

Ein dritter Weg, Faschismus zu verstehen

Palingenetischer Ultranationalismus

Eine Ein-Satz-Definition des Faschismus

Wie methodische Empathie den faschistischen Mythos der ultranationalistischen Erneuerung hervorhebt

Die Verbreitung des neuen Paradigmas

In Richtung einer neuen Welle der Zusammenarbeit in der Faschismusforschung

Die Etablierung des neuen Paradigmas

Einige Ratschläge zur Anwendung des empathischen Paradigmas

4 Der Faschismus der Zwischenkriegszeit: Varianten des revolutionären Nationalismus

Die wandelbare Beschaffenheit der faschistischen Ideologie

Die Ultra-Nation des italienischen Faschismus

Die Ultra-Nation des Nationalsozialismus

Die Vielfalt der Gründungsmythen des Faschismus

Die Vielfalt der faschistischen Genderpolitik

Die Vielfalt der faschistischen Moderne

Die Vielfalt der faschistischen Wirtschaftspolitik

Die Vielfalt des Scheiterns des Faschismus

5 Neofaschismus: Entwicklung, Anpassung, Verwandlung

Der für den Faschismus reduzierte politische Handlungsraum in der Nachkriegszeit

Die Kontroverse um den „Neofaschismus“

Das Scheitern des Neofaschismus als populistische revolutionäre Kraft

Das Scheitern der faschistischen Nachkriegsparteien

Die Ausnahmeerscheinungen in der Ukraine, in Ungarn, in Griechenland und in der Slowakei

Das kultische Milieu des Neofaschismus der Splittergruppen

Die Internationalisierung des Faschismus in der Nachkriegszeit

Cyberfaschismus, Metapolitisierung, Geschichtsrevisionismus

Terroristischer Neofaschismus

Neofaschisten: nicht im Einklang mit der Gegenwart, aber immer noch entschlossen, Geschichte „zu schreiben“

6 Fazit: Faschismus, Post-Faschismus und nach Faschismus

Vier Leitsätze für die produktive Anwendung des Begriffs „Faschismus“

Den Fisch fangen, ohne sich im Netz zu verheddern

Nach Faschismus: Was man aus der vergleichenden Faschismusforschung mitnehmen kann

Was zur nächsten Phase der Faschismusforschung beigetragen werden kann

Ein neuer Faschismus?

Ist die AfD faschistisch? Nachwort von Fabian Virchow

Literaturhinweise und Bibliographie

Die besondere Rolle der Faschismusforschung in Deutschland – eine Einleitung des Übersetzers

Als ich in meiner Schulzeit das erste Mal bewusst mit dem Begriff „Faschismus“ in Kontakt kam und nach dessen Bedeutung fragte, antwortete mein brillanter Geschichtslehrer, ohne den ich später nie Geschichte studierte hätte, mit einer Art mathematischen Gleichung: Faschismus sei wie der Nationalsozialismus, lediglich ohne den Antisemitismus. Er erklärte somit den Faschismus gleichsam durch die Folie des eigentlichen Themas des Unterrichts, das Dritte Reich. Nicht zuletzt unterschied er den italienischen Faschismus vom deutschen Nationalsozialismus, ohne auf eine allgemeingültige, sprich generische Gattung einzugehen. Diese stark verkürzte, und, wie ich im Laufe meines Studiums erfahren sollte, längst überholte Erklärung, der Faschismus unterscheide sich vom Nationalsozialismus lediglich durch das Fehlen des Wesensmerkmals Antisemitismus, verdeutlicht ein Problem, welches die Debatten um einen generischen Faschismusbegriff im deutschsprachigen Kontext lange begleitete: Das Primat des deutschen Nationalsozialismus gegenüber allen anderen Formen faschistischer Bewegungen innerhalb der Wahrnehmung, sei es im Geschichtsunterricht, in der Literatur, im Feuilleton, in Filmen, in Museen und Gedenkstätten sowie, nicht zuletzt, in der Forschung. Dies ist in Anbetracht der grausamen Geschichte des Dritten Reiches als Verantwortlicher des Zweiten Weltkrieges mitsamt eines Vernichtungskrieges mit millionenfachem Mord an den europäischen Juden weder verwunderlich noch verwerflich. Dieser Umstand trübte jedoch lange den Blick dafür, dass der Nationalsozialismus idealtypisch betrachtet als ideologisch geprägtes politisches Phänomen Teil einer Gattung mehrerer „Faschismen“ sein könnte, die, wie Roger Griffin in diesem Band argumentiert, einer theoretischen Erklärung bedarf. Die Subsumtion des deutschen Nationalsozialismus der 1920er Jahre bis 1945 unter eine international anwendbare Definition, die auch Bewegungen der Gegenwart umfasst, soll dabei weder die „Einzigartigkeit“ (Kershaw 2004) der NS-Zeit schmälern, noch deren Verbrechen minimalisieren. Im Gegenteil, der größtenteils angelsächsische Blick der sogenannten „dritten Welle“ der vergleichenden Faschismusforschung (vgl. Reichardt 2007) seit Beginn der 1990er Jahre vermag es, auch deutschsprachigen Studierenden und Interessierten eine Perspektive zu bieten, um transnationale, internationale und globale Forschungsdesiderate innerhalb der NS-Forschung zu beleuchten. So sprach selbst Hans Mommsen, einer der führenden Historiker auf dem Gebiet der NS-Zeit, von der „Notwendigkeit, die Geschichte des Nationalsozialismus in den internationalen Zusammenhang zu stellen“ (Mommsen 2007: S. 21).

Obgleich in Deutschland die Faschismusforschung fast ausschließlich am Beispiel des Nationalsozialismus exemplifiziert wurde und lange nur als vernachlässigte Subdisziplin der NS-Forschung galt, mangelte es auch hier nicht an Theoretikerinnen und Theoretikern, die sich anschickten, eine Theorie des Faschismus aufzustellen, die sich verschiedentlich mit dessen Ideologie und Praxeologie auseinandersetzte. In dieser Einleitung möchte ich daher einen kurzen (und dadurch notwendigerweise auch unvollständigen) historischen Umriss der explizit deutschsprachigen Annäherungen an eine Theorie des Faschismus geben, um die besondere Rolle dieses Forschungszweiges in Deutschland hervorzuheben. Die Einleitung endet mit einem Blick auf den gegenwärtigen Nutzen für die deutschsprachige Faschismusforschung aus dem in diesem Buch vorgestellten Ansatz Roger Griffins. Beginnen möchte ich jedoch damit, sprachliche Begrifflichkeiten und Unterschiede zwischen der deutschen und der bis heute zweifellos dominierenden anglophonen Faschismusforschung zu reflektieren.

Begriffliche Herausforderungen durch die englischsprachig geprägte Faschismusforschung

Während sich in der englischsprachigen Forschung der Begriff fascist studies durchgesetzt hat, wie etwa im ursprünglichen Titel dieses Bandes Fascism. An Introduction to Comparative Fascist Studies, konkurrieren im deutschsprachigen Raum Bezeichnungen wie Faschismusstudien, Faschismustheorien (wie z.B. im deutschen Wikipedia-Artikel) und der von mir gewählte Terminus Faschismusforschung miteinander. Letzterer im Singular stehende Begriff soll keineswegs eine nicht vorhandene Einheitlichkeit und einen Konsens innerhalb dieser Subdisziplin der Geschichts- und Politikwissenschaft vortäuschen. Auch innerhalb eines Forschungszweiges können konkurrierende, teilweise sich diametral gegenüberstehende Theorien, Methoden und Interpretationen auftreten, wie nicht zuletzt auch die in Deutschland dominierende NS-Forschung mit ihren eigenen Kontroversen eindrücklich beweist. Dennoch hebt sich der Begriff der Faschismusforschung gerade mit dem Zusatz des Adjektivs „vergleichend“ von den Faschismusstudien und den Faschismustheorien ab, da Roger Griffin in diesem Band eine einheitliche Vorgehensweise für die gesamte, sich vergleichend mit dem Phänomen des Faschismus beschäftigende Forschung vorschlägt, die die interpretatorische Unordnung und Eigenwilligkeit vorheriger Studien und Theorien (wie sie in Kapitel 2 dargelegt werden) zu überwinden sucht.

Die im angelsächsischen Raum übliche Unterscheidung zwischen dem großgeschriebenen Fascism als Ausdruck der ursprünglichen italienischen Form und dem kleingeschriebenen fascism als Ausdruck des generischen, also die allgemeingültige Gattung betreffende Form, ergibt im deutschen Kontext der immer großgeschriebenen Substantive wenig Sinn. Dort bietet sich die Unterscheidung zwischen generischem Faschismus und italienischem Faschismus am ehesten durch den Hinweis auf das Ursprungsland Italien an. Vorsicht geboten ist auch beim Begriff des Nazism, der im Englischen synonym zu National Socialism verwendet wird. Im hier vorliegenden Band wird der Begriff jedoch immer, wenn er sich auf die NS-Bewegung der 1920er bis 1945 bezieht, mit „Nationalsozialismus“ übersetzt, da dies die offizielle Eigenbezeichnung der NS-Führung gewesen ist. Die in anderen Texten vorzufindende Alternative „Nazismus“ war vor allem in der DDR als Fremdbezeichnung verbreitet (möglicherweise, um den dort positiv konnotierten Begriff „Sozialismus“ aus dem NS-Kontext zu streichen). Im Unterschied hierzu wird der deutlich verbreitetere Begriff des „Neonazismus“ (populärwissenschaftlich vor allem in der Bezeichnung „Neonazi“) auch in diesem Buch für Bewegungen der Zeit nach 1945 verwendet, ebenso wie der von Griffin verwendete Begriff des Universalnazismus (Universal Nazism).

Wenn nicht die faschistischen Bewegungen, sondern die handelnden Personen, im englischen Original also „the fascists“, adressiert werden, so muss das Thema Gender reflektiert werden. „Faschisten“ werden in diesem Buch bewusst immer in der männlichen Form und nicht irreführend als „Faschistinnen und Faschisten“ oder „Faschist*innen“ bezeichnet, da es sich bei faschistischen Bewegungen fast ausschließlich um männlich dominierte Bewegungen mit extrem patriarchal-sexistischer und homophober Ideologie handelte. Dies schließt jedoch weder aus, dass es auch zahlreiche Faschistinnen gab und gibt, noch dass faschistische Bewegungen in Teilen eine „moderne“ und antikonservative Genderpolitik anstreben konnten (siehe das Unterkapitel zur Genderpolitik in Kapitel 4). Selbstverständlich möchten aber weder der Autor, der Übersetzer noch der Verlag durch diese Sprachregelung die Beförderung patriarchaler Unterdrückungsstrukturen intendieren.

Vorsicht geboten ist auch bei Begriffen, die sowohl im Alltagsgebrauch als auch in der Wissenschaft im Englischen noch geläufig sind, aber im deutschen Sprachraum durch die Zeit des Nationalsozialismus gewissermaßen „kontaminiert“ wurden und daher im wissenschaftlichen Diskurs kaum mehr Verwendung finden. Beispielhaft dafür ist der Begriff der Rasse (im Englischen Race), der, obgleich er noch in Artikel 3 im deutschen Grundgesetz vorzufinden ist, im biologischen Sinne nur noch taxonomisch auf Haustiere und Kulturpflanzen angewendet wird. Als Bezeichnung für eine abgrenzbare soziale Gruppe an Menschen hat sich dagegen der Begriff „Ethnie“ durchgesetzt. Lediglich die vom Rassebegriff im abwertenden Sinne entlehnten Bezeichnungen „Rassismus“ und „Rassisten“ finden in aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten weiterhin Anklang, da sie auf alltägliche und strukturelle Diskriminierungen verweisen. Im Unterschied dazu wird der englische Begriff Race nach wie vor insbesondere im amerikanischen Sprachraum zur Klassifizierung von Menschen verwendet, auch wenn er aufgrund seiner rassistischen, kolonialistischen und pseudowissenschaftlichen Begriffsgeschichte umstritten ist. Wird im Folgenden also von „Rassen“ gesprochen, so bezieht sich dies auf den im 19. und 20. Jahrhundert geläufigen, von den Nationalsozialisten pervertierten Quellbegriff zum besseren Verständnis des Faschismus. Als analytischer, anthropologischer und vermeintlich wissenschaftlicher Begriff hat „Rasse“ im gegenwärtigen deutschsprachigen Diskurs jedoch ausgedient.

Die Entwicklung der Faschismusforschung in Deutschland

Die ersten zeitgenössischen theoretischen Analysen des Phänomens Faschismus stammten, wie Roger Griffin eingehend in Kapitel 2 erläutert, von seinen kommunistischen sowie sozialdemokratischen, liberalen und konservativen Widersachern. Diese Interpretationen bezogen sich zunächst auf das Original des italienischen Faschismus unter Führung des Duce Benito Mussolini, wurden aber auch bald generisch auf die NSDAP in Deutschland und andere europäische Bewegungen angewandt. Eine der frühesten marxistischen Interpretationen stammte von der Politikerin und Friedensaktivistin Clara Zetkin, die bereits 1923, ein Jahr nach dem Machtantritt Mussolinis, auf einer Tagung des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern) mit ihren Thesen zum Klassencharakter des Faschismus Aufsehen erregte. Anstelle der kommunistischen Überzeugung, Mussolinis Bewegung sei bloßer bürgerlicher Terror, erklärte sie: „Es [der Faschismus] ist das Stocken, der schleppende Gang der Weltrevolution infolge des Verrats der reformistischen Führer der Arbeiterbewegung“ (Zetkin 1923). Als eine der ersten anerkannte sie den Faschismus in Teilen als eigene Ideologie und warnte vor dessen Anziehungskraft auf die Arbeiterschaft. Unter den ersten deutschen Kommentatoren tat sich auch der Kommunist August Thalheimer hervor, der zunächst als KPD-Ideologe in Erscheinung getreten war, aber im Laufe der 1920er Jahre mit der offiziellen, von der Komintern verbreiteten Lehre brach. Anstelle der Agententheorie der Komintern, die gemäß Georgi Dimitroff den Faschismus als direkten Vertreter des Kapitalismus interpretierte, vertrat Thalheimer (1928) die aus der marxistischen Lehre entwickelte bonapartistische These, die den Faschismus als eigenständige, teils feindlich gegenüber der Bourgeoisie gesinnte und gleichzeitig von ihr ausgenutzte Kraft erachtete. Ein weiterer Vertreter dieser Theorie war der österreichische Begründer des Austromarxismus Otto Bauer. Die unter deutschen Kommunisten weitaus einflussreichere, 1924 von Grigori Sinowjew entwickelte „Sozialfaschismusthese“ (siehe S. 43), die die Sozialdemokratie bis 1935 mit dem Faschismus gleichsetzte und gleichsam zum Hauptfeind erklärte, hatte in der Weimarer Republik besonders fatale Auswirkungen, da sie ein Bündnis zwischen KPD und SPD gegen den Aufstieg der NSDAP verhinderte. Die ihr zugrunde liegende Agententheorie des Faschismus als Handlanger des Großkapitals sollte schließlich auch die Geschichtsschreibung der DDR maßgeblich prägen (vgl. Röhr 2001), die in der kapitalistischen Bundesrepublik den ideologischen Nachfolger des Dritten Reiches ausmachte und sich selbst als „antifaschistischen Staat“ bezeichnete. Indirekt wurde so gar die Berliner Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“ legitimiert.

Unter den zeitgenössischen Interpretation des Faschismus im deutschsprachigen liberal-konservativen Lager (in Unterscheidung zum kommunistischen Lager) trat etwa Erwin von Beckerath (1927) schon früh mit einer Analyse des italienischen Faschismus hervor, die den modernen autoritären Staat Italiens in Zusammenhang mit dem Absolutismus des 18. Jahrhunderts brachte. Mit seinem Werk Europa und der Faschismus (1929) führte Hermann Heller den Begriff des Totalitarismus in die Debatte um den italienischen Faschismus ein, verknüpfte diesen jedoch später auch mit dem Nationalsozialismus. Der Totalitarismus, so Heller, sei eine neue Form der Diktatur, die sich durch „eine programmatische Programmlosigkeit“ auszeichne (Maier 1995: 393). Daran anknüpfend wurde Waldemar Gurian schließlich zum Wegbereiter der in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik dominanten Schule der Totalitarismustheorien: In Bolschewismus (1931) verknüpfte Gurian diesen mit dem Faschismus und wurde somit, beeinflusst von den Werken italienischer Kollegen, zu einem der Urheber der vergleichenden Totalitarismustheorie. Der auch von anderen (selbst marxistischen) Wissenschaftlern verwendete Totalitarismus-Begriff, der davon ausging, dass beide totalitären Systeme auf ähnliche Weise Freiheiten bedrohten und das parlamentarische System sowie den Rechtsstaat untergruben, gewann im Laufe der 1930er erheblich an Aufschwung.

Mit dem Ausbau des NS-Staates ab 1933 wurden kritische Analysen sowohl des italienischen Faschismus als auch des Nationalsozialismus, verstärkt durch deren außenpolitische und ideologische Annäherung in der „Achse Berlin-Rom“ im Jahre 1936, durch Verfolgung und Zensur in Deutschland zunehmend unmöglich. Symbolisiert wurde diese Unterdrückung schon im Mai 1933 durch die Bücherverbrennung, weshalb sich kritische Theoretikerinnen und Theoretiker eher im Exil an das heiße Eisen der Faschismustheorien wagten. Zu diesen gehörte Hermann Rauschning, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, welcher durch seine später als Fälschung enttarnten Gespräche mit Hitler (1940) international Bekanntheit erlangte. Zuvor lieferte er jedoch eine Interpretation des NS-Regimes als Die Revolution des Nihilismus (1938), die die Zerstörung der persönlichen Freiheiten und den moralischen Nihilismus aus bürgerlich-konservativer Perspektive als Folge der Entchristlichung der Gesellschaft erklärte. Deutlich bedeutender für die NS-Forschung waren jedoch die ebenfalls im Exil auf Englisch verfassten Analysen The Dual State von Ernst Fraenkel (1941) und Behemoth von Franz Neumann (1942), die sich mit der Umformung des NS-Staates im Dritten Reich beschäftigten. Fraenkel und insbesondere Neumann entstammten dem Umfeld des 1924 in Frankfurt am Main gegründeten Instituts für Sozialforschung (IfS), das ebenso wichtige Denkanstöße zur Faschismusforschung lieferte und nach der Zeit des Exils in engem Zusammenhang mit der von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse begründeten Kritischen Theorie der Frankfurter Schule stand. Neumann und Fraenkel prägten hernach die modernen Politikwissenschaften in der Bundesrepublik maßgeblich. Vergleichende Analysen mit anderen faschistischen Bewegungen spielten indes in liberal-konservativen Interpretationen des Faschismus ob der schieren Dominanz der nationalsozialistischen Ideologie und Praxis kaum eine Rolle, trotz der nationalsozialistischen Vorbildfunktion für kollaborative Bewegungen während des Zweiten Weltkrieges wie beispielsweise die norwegische Nasjonal Samling oder die kroatische Ustascha.

Während man nach dem Krieg in der DDR an der in den 1920ern von der Komintern geprägten Definition des Faschismus als Handlanger des Kapitalismus festhielt, zeigte die in der jungen Bundesrepublik dominierende Totalitarismustheorie, dass vergleichende Analysen durchaus en vogue waren. Bedeutende Werke von Hannah Arendt (1951), die das Element des Terrors in den Mittelpunkt stellte, sowie von Carl J. Friedrich und Zbigniew Brzeziński (1956) verglichen dabei den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus und standen damit, ebenso wie die Forschung in der DDR, ganz im Zeichen des Kalten Krieges. Die sich langsam in Westdeutschland entwickelnde NS-Forschung, die etwa durch die von den Alliierten angeregte Gründung des Instituts für Zeitgeschichte vorangetrieben wurde, scheute jedoch eine internationale, vergleichende Perspektive und Debatten um einen generischen Faschismusbegriff, der scheinbar der Singularitätsthese des Holocaust widersprach. Historiker der NS-Forschung wie Wolfgang Schieder, Jürgen Kocka und Hans Mommsen forderten zwar eine heuristisch brauchbare Faschismusdefinition ein, „ohne sich jedoch selbst daran zu versuchen“ (Griffin 2014: 28). Stattdessen versteifte sich die deutsche NS-Forschung auf interne Kontroversen zwischen sogenannten Intentionalisten auf der einen und Funktionalisten bzw. Strukturalisten auf der anderen Seite (vgl. Mommsen 2007). Erstere wie Karl Dietrich Bracher oder Saul Friedländer interpretierten den Nationalsozialismus ideologisch aus der Intention Adolf Hitlers und anderer Führungsfiguren des NS und deren frühen Plänen heraus, die so die Politik und Praxis des Dritten Reiches vorbestimmt hätten. Zweitere wie Hans Mommsen oder Martin Broszat interpretierten die zerstörerische Dynamik des NS-Herrschaftssystems weniger ideologisch, sondern strukturell und eigendynamisch, als Politik aus dem Gegen- und Miteinander rivalisierender Gruppen und selbst geschaffenen Sachzwängen. Die von Ulrich Herbert angestoßene und seit den 1990ern in den Fokus gerückte „Täterforschung“ versuchte, wie etwa Michael Wildt betonte, diese Kontroverse um Intention und Funktion zu lösen (Wildt 2002: 856f.). Im Großen und Ganzen hielt sich die deutsche Forschung jedoch fern von den sich in den 1960ern und 1970ern verstärkenden angelsächsischen Debatten der fascist studies, was nicht bedeutete, dass nicht einzelne deutschsprachige Untersuchungen, etwa von Klaus Vondung (1971) und Klaus Theweleit (1978, 1978), wichtige Impulse für diese Konjunkturphase der internationalen Faschismusforschung geben konnten.

Als Ausnahme bestätigte Ernst Nolte die Regel, der in Faschismus in seiner Epoche (1963) einen Meilenstein in der vergleichenden Faschismusforschung setzte. 1986 wurde er im Zuge des Historikerstreits in Deutschland auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als er den Holocaust als nationalsozialistische Reaktion auf vorausgegangene Massenverbrechen in der Sowjetunion und das dortige Gulag-System darstellte. Nolte rief dadurch heftige Gegenreaktionen hervor und wurde unter anderem von Jürgen Habermas des Geschichtsrevisionismus bezichtigt. Zwei Jahrzehnte zuvor war er jedoch einer der ersten, der sich an eine Definition des generischen Faschismus wagte, in dem er Nationalsozialismus, italienischen Faschismus und die französische Action française miteinander verglich. Er verstand den Faschismus primär als antimarxistische Bewegung. Seine geschichtsphilosophische Definitionsformel des Faschismus als Widerstand gegen die theoretische und praktische Transzendenz kritisiert Griffin jedoch in dem vorliegenden Band als ohne heuristischen Mehrwert für die empirische Forschung und als „abstrakt und obskur“ (auf Seite 62). Dies hinderte Griffin jedoch nicht daran, Anfang der 1990er das von Nolte eingeführte Konzept eines „faschistischen Minimums“ zu übernehmen (bei Nolte bestehend aus Antimarxismus, Antiliberalismus und tendenziellem Antikonservativismus sowie dem Führerprinzip, der Parteiarmee und einem Totalitätsanspruch), um es mit seinem eigenen Inhalt des „palingenetischen Ultranationalismus“ zu füllen (siehe Kapitel 3).

Letzten Endes waren es aber trotz Noltes Beitrag anglophone Forscher wie Roger Griffin, Stanley Payne und Robert Paxton, die in den 1990er Jahren die dritte Welle der vergleichenden Faschismusforschung (in Abgrenzung zu den Konjunkturen zwischen den 1920ern und den 1940ern sowie den 1960ern bis in die 1970er hinein) einleiteten, die in Deutschland erst in den 2000er Jahren und oft auch nur in Ansätzen wahrgenommen wurde (vgl. Reichardt 2007). Diese produktive und immer stärker anwachsende Subdisziplin der Geisteswissenschaften (siehe Kapitel 6) lief aber ebenso wenig spurlos an der deutschen Forschung vorbei wie die allgemeinen Trends der transnationalen und globalen Geschichtsforschung. So traten in den vergangenen beiden Jahrzehnten des neuen Jahrtausends auch zahlreiche Historikerinnen und Historiker aus Deutschland und der Schweiz hervor, die oft in Bezugnahme auf eine generische Version des Faschismus als heuristisches Mittel ihrer Forschung transnationale oder globale Fragen stellten, die die nationalen Perspektiven der NS-Forschung bereicherten. Stellvertretend können hier die Forschungen von Sven Reichardt, Arnd Bauerkämper, Andreas Umland, Paula Oppermann, Fernando Esposito und Daniel Hedinger genannt werden. Nicht alle deutschsprachigen vergleichenden Faschismusforscherinnen und -forscher folgen dabei dem in diesem Band von Griffin dargelegten Ansatz. Wolfgang Wippermann bot in Faschismus: Eine Weltgeschichte vom 19. Jahrhundert bis heute (2010) etwa eine alternative Theorie zum Griffinschen Konzept eines faschistischen „Idealtypus“ an. Stattdessen leitete Wippermann vom italienischen Faschismus einen „Realtypus“ ab. Auch wenn dieser sich in der Forschung (noch) nicht durchsetzen konnte, trug er so zum Aufschwung der komparativen Methode in der deutschen, sich mit Faschismustheorie befassenden Geschichtswissenschaft bei. Diese Trendwende gelang trotz einer Anfang der 2000er von Roger Griffin angeregten hitzigen Debatte, in der er die deutsche NS-Forschung in seinen eigenen Worten „arrogant“ aufgefordert hatte, „endlich Anschluss an die internationale Forschung zu gewinnen, um so den Nationalsozialismus im europäischen Zusammenhang begreifen und verorten zu können“ (Griffin 2014: 29), wodurch er heftige Gegenreaktionen hervorrief. Mittlerweile sind sich die deutschsprachige NS-Forschung und die anglophone Faschismusforschung jedoch deutlich nähergekommen und alte Grabenkämpfe scheinen im Lichte einer transnationalen, vergleichenden, auch deutschsprachige Akademikerinnen und Akademiker mit einbeziehenden Kooperation in Vergessenheit zu geraten.

Der gegenwärtige Nutzen von Roger Griffins Ansatz für die deutschsprachige Forschung

Das in diesem Buch von Griffin vorgeschlagene „emphatische Paradigma“ des Faschismus, der als palingenetischer Ultranationalismus definiert wird, ermöglicht deutschsprachigen Forschenden nicht nur eine neue, transnationale Perspektive auf den deutschen Nationalsozialismus der Zwischenkriegszeit sowie zahlreiche andere historische Bewegungen, die sich den NS-Staat zum Vorbild nahmen und teilweise während des Zweiten Weltkrieges mit diesem kollaborierten, sondern bietet auch einen neuen Blick für die Analyse der gegenwärtigen Entwicklungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und darüber hinaus. Hatte Ernst Nolte den Faschismus noch „in seiner Epoche“ und damit als abgeschlossenes historisches Phänomen interpretiert, bietet Griffins in diesem Band dargestellter Ansatz auch eine Möglichkeit zur Untersuchung faschistischer Phänomene nach 1945 bis hin zur Gegenwart (siehe Kapitel 5). Im Unterschied zu anderen „Idealtypen“ des Faschismus ermöglicht Griffins Herangehensweise dadurch die Erforschung verschiedenster Formen des (Neo-) Faschismus, wie beispielsweise die „metapolitische“ Neue Rechte mit Autoren wie Alain de Benoist, Pierre Krebs (dem Gründer des rechtsextremistischen Thule-Seminars) und Alexander Dugin. Im deutschsprachigen Kontext gehören hierzu auch Phänomene wie die Wochenzeitschrift Junge Freiheit, die eine Art Sprachrohr der Neuen Rechten darstellt, das publizistische Schaffen Götz Kubitscheks sowie die transnational agierende aktionistische Identitäre Bewegung, die sowohl vom deutschen als auch vom österreichischen Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird. Griffins Ansatz tritt dabei auch der Tendenz entgegen, alle Manifestationen des Rechtspopulismus wie etwa den „Trumpismus“ sowie im deutschsprachigen Kontext die Alternative für Deutschland (AfD), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und die Schweizerische Volkspartei (SVP) als faschistisch zu klassifizieren. Bei dieser Unterscheidung zwischen Populismus und Faschismus stellt die AfD als aktuelle Fallstudie eine besondere analytische Herausforderung dar, wie der Sozialwissenschaftler und Experte für Rechtesextremismus Fabian Virchow im Nachwort dieses Bandes eingehend erläutert (siehe Seite 211-215). Bei der Verwendung von Griffins Ansatz zur Beantwortung der Frage, ob die AfD faschistisch sei, konkludiert Virchow, dass, obgleich nicht die Partei als Gesamtes, so doch zumindest einer der drei konkurrierenden Strömungen rund um den vom thüringischen AfD-Chef Björn Höcke angeführten „Flügel“ als faschistisch interpretiert werden kann. Daran ändert auch die offizielle Auflösung des Flügels im März 2020 nichts, nachdem der Bundesverfassungsschutz diesen aufgrund seiner erwiesen extremistischen Bestrebung gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Beobachtungsfall eingestuft hatte. Der Wortführer Höcke vertritt weiterhin eine Ideologie, die, wie Andreas Kemper (2016) eingehend erforschte und in dem hier folgenden Geleitwort (siehe Seite 21-22) aufgreift, der Griffinschen Faschismusdefinition als palingenetischer Ultranationalismus entspricht (siehe Seite 75). So ist nicht nur aus rechtlicher Perspektive bemerkenswert, dass das Verwaltungsgericht Meiningen 2019 in einem Eilverfahren entschied, dass Höcke offiziell als „Faschist“ bezeichnet werden darf.

Am 19. Februar 2020 ermordete ein Rechtsextremist, der Roger Griffins Typus des fanatischen neofaschistischen Terroristen entspricht (siehe Seite 180-183), in Hanau 10 Menschen. Dies zeigt, wie aktuell Griffins in Kapitel 3 präsentierter Idealtypus auch für die Erforschung der gegenwärtigen Bundesrepublik ist. Er hilft bei der Erklärung einer Ideologie, die etwa den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zu seiner Mordserie veranlasste, die in der Bundesrepublik zahlreiche rechtsextreme Gewalttaten wie etwa den Mord an dem Politiker Walter Lübcke motivierte und die nicht zuletzt den völkischen Flügel der AfD um Björn Höcke zur politischen Aktivität inspiriert. Durch die Übersetzung dieses Buches hoffe ich zumindest einen kleinen Teil zu einer internationalen kooperativen Wissenschaft rund um das Thema Faschismus beigetragen zu haben – eine Wissenschaft, die den Faschismus nicht nur rückwirkend erklären können muss, sondern auch dabei behilflich sein sollte, ihn gegenwärtig einzudämmen.

Martin Kristoffer HamreBerlin, Frühjahr 2020

Geleitwort von Andreas Kemper

Roger Griffins „Einleitung in die vergleichende Faschismusforschung“ ist aus zwei Gründen ein lesenswertes Buch. Zum einen bietet es einen fundierten Überblick über das Wirrwarr in der Geschichte der Faschismustheorien, in der sich nach und nach Konzeptionen bewährten und zu einer internationalen Forschung führten. Zum anderen stellt Griffin noch einmal mit verständlichen Worten seine Faschismusdefinition vor. Diese ermöglichte es, Björn Höcke bereits in der Entstehungsphase der AfD 2014 als Vertreter einer faschistischen Ideologie zu identifizieren. Gebräuchlich waren in der Zeit in Deutschland Kennzeichnungen wie ‚national-konservativ‘, ‚rechtspopulistisch‘ oder ‚rechtsextrem‘. Der Begriff ‚Faschismus‘ galt – mehr noch als der Begriff ‚Rassismus‘ Jahrzehnte zuvor – als Begriff der Geschichtsforschung. Er war der Kennzeichnung einer Bewegung vorbehalten, die zu Auschwitz geführt hatte, dann aber auch mit dieser Bewegung für immer unterging. Spätestens mit dem Fall der Mauer, dem ‚antifaschistischen Schutzwall‘, war in Deutschland der Begriff ‚faschistisch‘ „verbrannt“. Wer dennoch aktuelle Akteure bzw. deren Ideologien als ‚faschistisch‘ bezeichnete, galt seinerseits als verbohrt kommunistisch oder als jemand, der andere beleidigen wollte.

Roger Griffins Herausarbeitung der Kernelemente faschistischer Ideologien war in dieser Entstehungsphase der AfD mit ihren konkurrierenden ideologischen Strömungen von unschätzbarem Wert. Ich konnte die Reden und Interviews Höckes auf ideologische Kernelemente untersuchen und entsprechend aufzeigen, dass sie der Minimaldefinition einer faschistischen Ideologie, dem ‚palingenetischen Ultranationalismus‘ nach Roger Griffin, entsprachen. Mit Griffins analytischen Werkzeugkasten war der Nachweis, dass Höckes Ideologie faschistisch und nicht „national-konservativ“ sei, nur noch eine Fleißarbeit. Der Verfassungsschutz schloss sich später meiner Einschätzung weitgehend an, Höckes ‚Flügel‘ in der AfD wurde zum Beobachtungsfall erklärt und löste sich zumindest offiziell auf. Allerdings hat dies leider nicht dazu geführt, dass der deutsche Verfassungsschutz seinen Analyseapparat in Frage stellte. Eine typisch deutsche Verhaltensweise in der Faschismusforschung, die Griffin zurecht als „deutsche Arroganz“ im akademischen Milieu bezeichnete.

Während die akademische Forschung und vor allem der Verfassungsschutz sich noch immer nicht dazu durchringen können, von Faschismus zu sprechen, haben immer breitere Teile der Bevölkerung, Journalist*innen und Politiker*innen, die sich dem ‚Nie wieder Faschismus‘ verpflichtet fühlen, damit weniger Probleme. Leider sind die Erörterungen der internationalen Faschismusforschung in Deutschland so wenig bekannt, dass die richtige Einschätzung sich notdürftig auf Gerichtsurteile zurückzieht („man darf Höcke als Faschisten bezeichnen“) und entsprechend angreifbar ist. Wichtig wäre zudem nicht nur, Faschismus theoriebegründet als Faschismus bezeichnen zu können, sondern auch die Grenzen benennen zu können: Es gibt keinen „rot-lackierten Faschismus“, keinen „Genderfaschismus“, keinen „Klimafaschismus“ – aber auch nicht alle konservativ-antidemokratischen Ansätze sind faschistisch.

Umso erfreulicher ist das Erscheinen von Roger Griffins Fascism. An Introduction in Comparative Faschist Studies (2018) in deutscher Sprache. Hier findet sich eine gut verständliche Abhandlung der Geschichte der Faschismustheorien seit den 1920er Jahren bis zur „vergleichenden Faschismusforschung“, die bereits in den 1960er Jahren mit George L. Mosse begann, aber erst in den letzten Jahren zu einem gemeinsamen Forschungsansatz fand. Wie in anderen Bereichen (Klimakatastrophe, Corona-Krise, …) ist eine gemeinsame internationale vergleichende Faschismusforschung wichtig, die uns begreifen lässt, was vor sich geht; sie ist wichtig, um entsprechend gut informiert demokratisch und couragiert Einfluss nehmen zu können.

 

 

Andreas Kemper ist freischaffender Publizist und Soziologe mit den Schwerpunkten AfD, Antifeminismus und Klassismus.

Danksagungen

Diese kurze, aber hoffentlich substantielle Einführung in die Faschismusforschung konnte nur durch eine kleine Gruppe von Akademikern entstehen, die eine Vielzahl von Muttersprachen sprechen und Vorreiterarbeit bei der Anwendung der methodologischen Empathie zum Verständnis der Natur der Faschismus geleistet haben. Ihre Werke wurden von den 1960er Jahren an bis 1985 publiziert, also bis zu dem Jahr, in dem ich mit meiner eigenen Faschismusforschung begann. Sie überzeugten mich davon, dass die Prämissen, unter denen ich arbeitete, nicht völlig abwegig waren (trotz der anhaltenden Skepsis einiger bedeutender Historiker). Dieses Werk ist auch einer größeren Anzahl von Kolleginnen und Kollegen zu verdanken, die sich der Faschismusforschung in einer Weise näherten, die entweder von meiner Theorie des „palingenetischen Ultranationalismus“ in einer kritischen, aber kollaborativen und wohlwollenden Art beeinflusst wurde oder mit ihr übereinstimmte. Die daraus resultierenden Synergien ermöglichten einen echten und rapiden Fortschritt, der sich von einer langen Periode absetzte, die von einer merkwürdigen methodischen Naivität und zahlreichen eigenartigen Theorien des Faschismus von minimalem Wert für praktizierende Geschichts- und Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler geprägt war.

Es ist ein glücklicher Zufall, dass die englische Erstveröffentlichung dieses Leitfadens zum Faschismus als politische Theorie im Jahr 2018 unter dem Titel Fascism mit der Gründung der International Association for Comparative Fascist Studies (Internationale Gesellschaft für vergleichende Faschismusforschung, COMFAS) an der Central European University in Budapest zusammenfiel. Dies ist ein passendes Symbol für die Art und Weise, wie sich eine früher lose Ansammlung willkürlicher, fast amateurhaft wirkender Vermutungen darüber, wie man über den Faschismus schreiben kann, zu einer dynamischen und zusammenhängenden Subdisziplin weiterentwickeln konnte. Bei allen in diesem Sinne zustimmend zitierten Akademikerinnen und Akademikern möchte ich mich an dieser Stelle implizit bedanken, einige haben mir jedoch entscheidend bei der Verbesserung eines ersten Entwurfs geholfen. Dies gilt insbesondere für meinen Redakteur beim Verlag Polity, George Owers (der bemerkenswerte Geduld zeigte, als das Projekt immer länger wurde sowie einen signifikanten Einfluss auf die endgültige Form des Werkes hatte), und meine Mitstreiter in der Forschung zu Faschismus und Neofaschismus: Aristoteles Kallis, Paul Jackson, Anton Schechowzow, David Roberts und Jakub Drabik. Besonders erwähnen möchte ich den Übersetzer dieser ibidem-Ausgabe Martin Kristoffer Hamre, der die schwierige Aufgabe übernahm, meine manchmal verschnörkelte, barock anmutende Prosa und meine Gedankengänge in verständlichem Deutsch wiederzugeben, sowie mehrere wichtige Änderungen und Korrekturen des Textes vorschlug.

Mein persönliches Interesse am Thema Faschismus wurde durch Marielle Demartinis Eintreten in mein Leben angeregt, die mir wie durch ein magisches Portal blickend die italienische Kultur, Geschichte und Sprache zu einer Zeit näher brachte, in der ich gleichzeitig einen Kurs über die „Theorien des Faschismus“ mit dem damaligen Head of Department Dr. Robert Murray an jenem Institut lehrte, welches später zur Oxford Brookes University werden sollte. Er hatte den Zweiten Weltkrieg als Soldat der anglo-amerikanischen Streitkräfte, die in Italien den Faschismus besiegten, überlebt. Sein Anliegen war es, nun als Akademiker zu verstehen, wofür er gekämpft hatte und was es eigentlich gewesen war, das er damals bekämpft hatte. Daher ist dieses Buch Mariella und Robert gewidmet.

Campomorone und Oxford, August 2017 (aktualisiert im Februar 2020)

1 Einführung: Warum der Faschismus ein „Schlüsselbegriff“ ist1

Was ist also Faschismus?

Vor gut sechzehnhundert Jahren schrieb Augustinus von Hippo in seinen Bekenntnissen, Buch XI: „Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand darüber fragt, so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“ Ein ähnliches Problem gilt für den Faschismus. Die meisten westlich geprägten Menschen wissen instinktiv, „was Faschismus ist“, bis sie es jemand anderem erklären müssen. Dann wird der Versuch einer Definition zunehmend verworren und inkohärent (eine Behauptung, die man in einem Seminar testen könnte). Der Grund für die Herausgabe dieses Werkes ist nicht nur, dass es unmöglich erscheint, einfach darzulegen, „was Faschismus ist“, sondern dass ein Jahrhundert, nachdem das Wort als Bezeichnung für ein neues italienisches politisches Phänomen und Programm entstanden war, dessen Definition als Begriff der politischen und historischen Analyse immer noch verblüffend vielfältig ausgelegt und heiß diskutiert wird. Daher bedarf es dieses „Handbuches für Anfänger“, welches für diejenigen entwickelt wurde, die egal auf welchem Level in den Geschichts- oder Politikwissenschaften einen Punkt erreicht haben, an dem ihnen eine synoptische Darlegung der Faschismusforschung empfohlen wurde (oder, noch besser, die selbst spontan eine Notwendigkeit dafür verspürten). Mit diesen Leserinnen und Lesern im Sinn bietet der vorliegende Text eine relativ kompakte und zugängliche Definition von Faschismus sowie einen kurzen Überblick über seine Haupteigenschaften, Geschichte und Entwicklungen, wenn diese Definition auf politische Strategien, Bewegungen und Geschehnisse angewendet wird.

Leitfäden für Studierende in den Geisteswissenschaften laufen Gefahr, frustrierend abstrakt und unklar zu sein, und erinnern dabei an Bedienungsanleitungen für selbstaufzubauende Tischtennisplatten, die erst Sinn ergeben, wenn die Platte zusammengebaut ist und mysteriöse Muttern, Schrauben und Dichtungsringe übrigbleiben (ich spreche da aus eigener Erfahrung). Dennoch hoffe ich, dass das Folgende zeigen wird, dass Faschismus zwar ein frustrierend schwer fassbares Thema sein kann, wenn es darum geht, die Definitionsmerkmale zu identifizieren, die ihn von anderen Formen rechtsextremer Bewegungen und Regimen unterscheiden. Aber vielleicht kann es gerade deshalb auch ein sehr faszinierendes und erfüllendes Thema sein. Erstens bietet der Faschismus ein hervorragendes Beispiel für das grundlegende akademische Prinzip, dass auf einem fortgeschrittenen Level niemand die Geschichte eines Aspekts eines großen Themas in den Humanwissenschaften (human science) studieren oder schreiben kann, ohne zuvorderst seine konzeptionellen Konturen zu klären und eine „Arbeitsdefinition“ unter gebührender Berücksichtigung der bisherigen Ansätze der Disziplin zu etablieren. Wenn zweitens das Kernargument dieses Werkes akzeptiert wird, entsteht ein fesselndes Narrativ darüber, wie sich der Faschismus entwickelt hat: Von seinen unheilvollen Anfängen im März 1919 als neue, aber unbedeutende politische Kraft, in Gang gebracht von einer zusammengewürfelten Gruppe italienischer Kriegsveteranen, über das Anwachsen in der Zwischenkriegszeit hin zu einer verheerenden, internationalen und „welthistorischen“ Kraft, bis zum Einfluss in der Gegenwart, trotz des radikalen Rückgangs der Unterstützerbasis seit 1945. Abschließend soll dieses Buch, selbst wenn man mit der hier vorgebrachten These nicht einverstanden ist, der Leserin und dem Leser helfen, sich selbst in der fortdauernden Debatte um den Faschismus verorten zu können. Des Weiteren soll es dazu befähigen, formulieren zu können, was man an der dominanten „Denkschule“ innerhalb der vergleichenden Faschismusforschung nicht überzeugend findet, sowie eine selbstständige Perspektive auf das Thema Faschismus innerhalb eines Essays oder eines Studienprogramms präsentieren zu können.

Warum der Faschismus nicht das Gleiche wie eine Ente ist

Dass der Begriff Faschismus im öffentlichen Diskurs so großzügig und durchsetzungsstark verwendet wird, könnte nahe legen, dass es fast übertrieben wäre, einen ganzen Band (selbst wenn er relativ dünn wie dieser ist) der Klärung des historischen Phänomens und seiner Typen zu widmen. Für viele Journalistinnen und Journalisten sowie politische Kommentatorinnen und Kommentatoren scheint es absolut klar zu sein, was Faschismus bedeutet. Auf dem Höhepunkt des US-Präsidentschaftswahlkampfes von 2016 antwortete beispielsweise der republikanische Kandidat Gary Johnson auf die Frage, ob Donald Trump ein Faschist sei, kryptisch: „Es läuft wie eine Ente, es quakt wie eine Ente.“ Lässt man die Anspielung auf die Zeichentrickfigur Donald Duck einmal beiseite, so impliziert die Antwort, dass man direkt von Trumps politischen Äußerungen und von seinem Verhalten ableiten könne, dass er in der Tat eine „Ente“, also ein Faschist, sei (Pager 2016). Nach einem Moment der Reflexion sollte jedoch für jeden offensichtlich sein, wenn auch nicht für einen Präsidentschaftskandidaten und seinen Interviewer, so doch zumindest für die Lesenden dieses Buches, dass der Faschismus nicht mit einem Wasservogel verglichen werden kann. Eine Ente ist ein lebendiges Tier, das man biologisch durch die empirisch fassbare Familie oder das Geschlecht (Anatidae) im Tierreich definieren kann und das mehrere objektiv identifizierbare Varianten (Spezies) umfasst. „Die Ente“ ist also ein taxonomisches Konzept innerhalb der Naturwissenschaften, über dessen Anwendung auf Phänomene in der realen Welt ein Konsens von Expertinnen und Experten zumindest innerhalb der professionellen Disziplin der Zoologie besteht (auch wenn man darauf hinweisen könnte, dass sogar die Familie der Enten von ungeübten Augen mit verschiedenen Typen anderer evolutionärer Zweige der Wasservögel verwechselt werden kann, etwa mit Seetauchern, Blesshühnern, Lappentauchern oder Teichhühnern).

Im Gegensatz dazu haben diejenigen, die sich mit Geisteswissenschaften beschäftigen, eindeutig gezeigt, dass es keinen solchen Konsens über die Definition von „Faschismus“ gibt – ebenso wenig wie Konsens über jedes andere generische Konzept herrscht, welches zum Verständnis von Politik, Gesellschaft oder Geschichte verwendet wird.2 Daraus folgt, dass die Bedeutung von Faschismus, ebenso wie jedes anderen generischen „Schlüsselkonzepts“ in den Geschichts-, Sozial- oder Politikwissenschaften, Gegenstand von Debatten und Meinungsverschiedenheiten sein muss. Jeder wissenschaftliche Konsens über seine Bedeutung ist daher notwendigerweise sowohl partiell (da weitere Forschung neue Fakten, Beziehungen und Fragen beleuchtet sowie neue Themen, Muster und Zusammenhänge identifiziert) als auch vergänglich (da die Geschichte und die Geschichtsschreibung sich fortlaufend weiterentwickeln). Aus diesem Grunde wird die Faschismusforschung immer work in progress sein, und auch das ihr zugrunde liegende generische Schlüsselkonzept wird umstritten bleiben, solange Akademikerinnen und Akademiker dessen Charakterisierung als würdiges Objekt intellektueller Anstrengung erachten.

Die in diesem Band verwendete narrative Geschichte des „Faschismus“

Für die Lesenden kann es für das weitere Verständnis hilfreich sein, das besondere historische Narrativ dieses Buches auf der Grundlage dessen zu skizzieren, wie Faschismus hier konzeptualisiert wird. Das erste, was zu beachten ist, ist die (in der anglophonen Forschung) übliche Unterscheidung zwischen dem großgeschriebenen Fascism, welcher sich auf die historische Bewegung Mussolinis bezieht, und dem kleingeschriebenen fascism, welcher für die große Gruppe an Bewegungen in vielen weiteren Ländern steht, und der damit verbundenen Bezeichnung als Phänomen, welches als „generischer Faschismus“ (generic fascism) bekannt ist.3 Es ist dieser allgemeine generische Faschismus, der hier als Schlüsselkonzept der Politik Thema ist. Wenn man die am häufigsten verwendete wissenschaftliche Definition anwendet (die in Kapitel 3 dargestellt wird), kann man davon ausgehen, dass der Faschismus eine zentrale Rolle bei einer Reihe von bedeutsamen Ereignissen spielte, die sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts als direkte oder indirekte Folge der Allianz zwischen dem faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland ereigneten: der Krieg, den sie als Initiatoren der „Berlin-Rom-Achse“ zwischen 1939 und 1945 gemeinsam gegen viele westliche Demokratien führten sowie das Bündnis des Dritten Reiches mit der Sowjetunion von 1939 bis 1941, als Mittel- und Osteuropa gemäß dem Molotow-Ribbentrop-Pakt in zwei „Einflusszonen“ aufgeteilt wurde und die Verfolgung, Zwangsmigration und Versklavung, der Hungertod von und der systematische Massenmord an unzähligen Millionen Zivilisten als Folgen der Geschehnisse am 22. Juni 1941, als das Dritte Reich den Pakt einseitig mit einem Großangriff auf russische Positionen in Polen beendete.

Nach der nationalsozialistischen Invasion Russlands und dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941, der die Vereinigten Staaten zum Kriegseintritt veranlasste, entwickelte sich der europäische Konflikt, der durch den Aufstieg des Faschismus ausgelöst und durch die Zusammenarbeit mit einheimischen faschistischen Bewegungen in den von den Nazis besetzten Ländern und anderen profaschistischen Regierungen gefestigt worden war, schnell zu einem globalen Konflikt, mit Kriegsschauplätzen in Europa und in Asien zu Lande, zu Wasser und in der Luft. So verwundert es nicht, dass einige Historikerinnen und Historiker den Faschismus, gemeinsam mit dem Kommunismus, als den dominanten Faktor bei der geschichtlichen Entwicklung von 1918 bis 1945 betrachten, so dass sie von einer „faschistischen Ära“ oder vom Faschismus als „einer epochalen Bewegung“ sprechen. Dies ergibt durchaus Sinn, da, auch wenn nur drei vollwertige faschistische Regime etabliert wurden – in Italien unter Benito Mussolini, in Deutschland unter Adolf Hitler und in Kroatien unter Ante Pavelić, und nur die ersten beiden zu Friedenszeiten –, in europäischen Ländern zahlreiche Bewegungen entstanden, die diesen Regimen nacheiferten. Einige dienten als Marionettenregierungen und hatten dadurch entscheidenden Anteil am Erfolg des Nationalsozialismus, die Kontrolle über die „Neuordnung Europas“ so lange zu behalten, wie es ihm möglich gewesen war. Darüber hinaus „faschisierten“ sich eine Reihe von Diktaturen in Europa und Lateinamerika als Zeichen der scheinbaren Hegemonie des Faschismus und in Reaktion auf dessen Aussichten auf einen endgültigen Sieg in der modernen politischen Ära.

Nach 1945 wurde der politische Handlungsraum für den Faschismus drastisch reduziert, weshalb man argumentieren könnte, dass das Konzept in der heutigen politischen Welt längst seinen Status als „Schlüsselkonzept“ verloren habe. Wenn man jedoch eine ideologische Definition des Faschismus auf die Zeit nach 1945 anwendet, und zwar keine, die die zwischenkriegszeitliche Manifestation des Faschismus als uniformierte paramilitärische Bewegung oder totalitären Staat betont, wird deutlich, dass viele hundert Gruppierungen und Aktivitäten (in Form von Parteien, Bewegungen, Splittergruppen, Webseiten oder fanatischen Einzelgängern) existieren. Diese folgen den grundlegenden Idealen ihrer „klassischen“ Zwischenkriegsvorbilder, auch wenn sie deren Ideale erheblich überarbeiten und aktualisieren, um ihre neuen Feinde zu bekämpfen. Darüber hinaus birgt die Beharrlichkeit des faschistischen Fanatismus, schlummernde Kräfte des extremen Nationalismus und Rassismus zu wecken, und sei es nur bei isolierten Individuen, ein anhaltendes Risiko, sporadische, aber potenziell verheerende Terroranschläge auf die Zivilgesellschaft zu verursachen. Dies deutet darauf hin, dass tausende desorientierte Menschen, die nicht tolerieren können oder wollen, was sie als das kulturelle Chaos oder die „Dekadenz“ der modernen Welt wahrnehmen, die Niederlage der Achsenmächte weiterhin als eine historische Katastrophe betrachten. Unbeirrbar sehnen sie sich immer noch danach, eine Rolle beim Aufbau einer neuen faschistischen Ära zu spielen oder zumindest die faschistischen Ideale am Leben zu erhalten, indem sie jedes Ereignis oder jede Technologie ausnutzen, die es ihnen ermöglichen, die Wiedergeburt einer Nation oder Rasse4 auf Grundlage ihrer Ideale einer homogeneren, heroischeren und epischeren Zivilisation als dringende Notwendigkeit weiterzuvermitteln.

Weitere Gründe, ein Buch dem Faschismus als Schlüsselbegriff der politischen Theorie zu widmen

„Der Faschismus“ ist nicht nur wegen seiner entscheidenden Auswirkungen auf den Verlauf der Zwischenkriegsgeschichte ein wichtiges Thema, oder weil faschistische Utopien in marginalisierten politischen Gegenkulturen in der gesamten westlich geprägten Welt immer noch Akte extremer Gewalt hervorbringen können. Es ist auch wichtig, dass der Begriff möglichst präzise und forensisch verwendet wird, weil zwei weit verbreitete missbräuchliche Verwendungen des Begriffs im öffentlichen Diskurs und in den Medien verwendet werden, die seine Präzision und seinen analytischen Wert beeinträchtigen. Einerseits wird der Begriff weitgehend auf einen umgangssprachlichen Ausdruck für jedes politische System, jede staatliche Politik oder jedes Beispiel gesellschaftlicher Sitten reduziert, das die persönliche Freiheit und die individuellen Wahl- und Ausdrucksmöglichkeiten in einer manipulativen oder autoritären Art einschränkt. Die Debatte um den Klimawandel, die staatlich geförderte Behandlung von Wasser mit Fluorid, die Machenschaften des Großkapitals, die Bürokratie der Europäischen Union, Versuche von Regierungen, die Öffentlichkeit zu ermutigen, mit dem Rauchen aufzuhören, die politische Korrektheit, der Schaden, den die Modewirtschaft dem eigenen Selbstbild und gesunden Ernährungsgewohnheiten zufügt, ja sogar das staatliche Steuersystem – alle wurden schon des Faschismus bezichtigt. Diese Verwässerung des Begriffs ist kein rein westliches Phänomen. Im Jahr 2002 veröffentlichte der muslimische Kreationist Adnan Oktar, der auch als Harun Yahya (2002) bekannt ist, das Werk Fascism: The Bloody Ideology of Darwinism.5