Faszination frühe Christen - Roland Werner - E-Book

Faszination frühe Christen E-Book

Roland Werner

0,0
17,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Die ersten Christen lebten radikal anders als die Menschen ihrer Zeit. Trotz Verfolgung setzten ihre Werte einen nachhaltigen Wandel im römischen Reich in Gang. Ein Buch über den Glauben, die Standhaftigkeit und die revolutionäre Kraft der ersten Kirche.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Roland WernerFaszination frühe Christen

http://www.fontis-verlag.com

Roland Werner

Faszination frühe Christen

… und ihre Strahlkraft für unsere ZeitEine EinführungMit einem Beitrag von Guido Baltesüber Juden, Christen und Judenchristenin der frühen Kirche

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2025vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.© 2025 by Fontis-Verlag BaselFontis AGSteinentorstr. 234051 [email protected] in der EU:Fontis Media GmbHBaukloh 158515 Lü[email protected] Bibelstellen wurdenfolgenden Übersetzungen entnommen:DBU – Das Buch. Neues Testament, Psalmen, Sprichwörter – übersetzt von Roland Werner, © 2022 SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen; LUT 17 – Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart; ZB – Zürcher Bibel, © 2007 Theologischer Verlag Zürich; ELB – Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen; EU – Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift © 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart.Umschlag (Gestaltung und Fisch-Grafik):Carolin Horbank, D-LeipzigE-Book-Herstellung: InnoSET AG, CH-Basel & KehrsitenISBN (EPUB) 978-3-03848-479-0

Inhaltsverzeichnis
Impressum
Einführung
I. FUNDAMENTE
1. Kontraste: Wie die frühen Christen ihre Strahlkraft entfalteten
2. Quellen: Woher wir überhaupt etwas von den frühen Christen wissen
Archäologische Zeugnisse
Literarische Zeugnisse
Außerchristliche schriftliche Quellen
Das erstaunliche Zeugnis von Flavius Josephus
Tacitus und der Brand von Rom
Sueton und die Vertreibung der Juden aus Rom
Innerchristliche schriftliche Quellen
Die Sammlung der apostolischen Schriften
Der Codex – eine wirkmächtige Innovation
Heilige Schriften der apostolischen Zeit
Eine erstaunliche Produktivität
Die Apostolischen Väter
Der Brief des Clemens von Rom an die Christen in Korinth
Die Briefe von Ignatius von Antiochien
Der Brief von Polykarp von Smyrna an die Gemeinde in Philippi
Der Bericht über das Martyrium von Polykarp
Die «Didache» – ein frühchristlicher Glaubens- und Lebenskurs
Der Barnabasbrief – der Weg vom Alten zum Neuen Bund
Barnabasbrief: Der Weg des Lichts
Barnabasbrief: Der Weg der Finsternis
Der Brief an Diognet – eine leidenschaftliche Apologie
Das Quadratusfragment – und die Wunder von Jesus
Der zweite Clemensbrief – und die Zentralität von Jesus
Der Hirte des Hermas – und eine Vision von Kirche
Der Hirte des Hermas – der Beginn der Offenbarungen
Der Hirte des Hermas – der Bau des Turms
Der Hirte des Hermas – Ratschläge für das Leben als Christ
Der Hirte des Hermas – Warnung vor dem Bösen
Der Hirte des Hermas – Ermutigung zum Guten
Der Hirte des Hermas – Reichtum und Verantwortung
Der Hirte des Hermas – sich für andere einsetzen
Die Apostolischen Väter – Einblicke in die frühchristliche Zeit
Die Schriften der Kirchenväter
Apologie – das Gebot der Stunde
Die Apostolischen Konstitutionen und die Didaskalia
Gemeindeordnungen – Struktur und Freiheit
Die Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea
Apokryphe und gnostische Schriften
Fenster in die Wirklichkeit der frühen Christen
II. FASZINATION
1. Euangelion: Die Kraft der Botschaft
2. Koinonia: Die Kraft der Gemeinschaft
3. Metanoia: Die Kraft der Umkehr
4. Didache: Die Kraft der Orientierung
5. Apologia: Die Kraft der Wahrheit
6. Martyria: Die Kraft des Zeugnisses
7. Diakonia: Die Kraft der Barmherzigkeit
8. Basileia: Die Kraft der Hoffnung
III. FOLGERUNGEN
Was wir von den ersten Generationen der Christenheit lernen können
IV. ANHANG
Literatur
Anmerkungen

Einführung

Faszination frühe Christen

Faszination frühe Christen. Das ist das Thema dieses Buchs. Wahrscheinlich denken wir dabei zunächst an die ganz frühen Christen, also die ersten Jünger von Jesus und die Urgemeinde. Wahrscheinlich haben die meisten eine gewisse Vorstellung von ihrem Leben, ihrer Gemeinschaft und den Konflikten, in denen sie standen. Im Neuen Testament spiegeln vor allem die Apostelgeschichte und die Briefe der Apostel diese grundlegende Zeit der christlichen Kirche wider.

Diese erste Epoche endete einige Jahrzehnte nach dem Tod und der Auferstehung von Jesus. Manche setzen das Ende dieser urchristlichen Zeit an mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im Jahr 70 n. Chr. oder kurz davor mit dem Märtyrertod der Apostel Petrus und Paulus unter Kaiser Nero. Andere sehen das Sterben von Johannes, dem letzten überlebenden Apostel, um 98 n. Chr. als Endpunkt.

Drei grundlegende Jahrhunderte

Doch was geschah nach dieser urchristlichen Zeit? Wie entwickelte sich die Jesusbewegung weiter? Welche Überzeugungen prägten die frühen Christen? Was gab ihnen die Kraft, auch in Widerständen und Verfolgungen durchzuhalten und schließlich das römische Weltreich von innen her zu verändern?

Um diese Kraft, die bis heute noch ausstrahlt, geht es in diesem Buch. Aufgrund von Quellentexten aus den ersten Jahrhunderten wird ein Bild vom Glauben und Leben der frühen Christenheit entfaltet. Dabei konzentrieren wir uns auf die Zeit von Jesus Christus bis hin zu Kaiser Konstantin, also auf die Zeit von etwa 30 n. Chr. bis 330 n. Chr.

Ganz anders und doch vergleichbar

Ein Blick in diese ersten drei Jahrhunderte zeigt zum einen, wie sehr sich unsere heutige Zeit von der Antike unterscheidet, und auf der anderen Seite, wie sehr wir zugleich vor ähnlichen Fragen und Herausforderungen stehen wie die frühen Christen damals.

Auf jeden Fall ist der Abgleich zwischen heute und damals spannend und lehrreich. Vielleicht können wir in einem – zumindest im Westen – zunehmend nachchristlichen Zeitalter von den Glaubenseltern der Frühzeit lernen, wenn wir darauf schauen, wie sie ihr Leben im antiken, vorchristlichen Umfeld gestalteten. Denn auf der einen Seite war die vorchristliche Kultur von völlig anderen Werten und Vorstellungen geprägt als unsere heutige westliche Kultur – was wir aufgrund der noch immer nachwirkenden jahrhundertelangen christlichen Prägung unserer Gesellschaft meist nicht klar genug sehen. Und zugleich gibt es in unserer zunehmend nachchristlichen Gesellschaft und Kultur erstaunliche Parallelen zu der Zeit «vor Christus», gerade dadurch, dass manche vom Christentum geprägte Wertvorstellungen heute wieder zurückentwickelt werden.

Fundamente, Faszination, Fokus, Folgen

So begeben wir uns auf die Spur der frühen Christen. Dabei gehen wir in vier großen Schritten voran: Fundamente, Faszination, Fokus, Folgerungen.

Im ersten Hauptteil mit der Überschrift «Fundamente» beschäftigen wir uns unter den Stichworten Kontraste und Quellen mit grundlegenden Fragen: Wie entfalteten die frühen Christen ihre Strahlkraft? Und woher wissen wir überhaupt etwas über sie?

Danach folgt der zweite Hauptteil mit der Überschrift «Faszination». Anhand von acht zentralen griechischen Stichworten steigen wir ein in den Glauben und das Leben der frühen Christen: «Euangelion» (Gute Nachricht), «Koinonia» (Gemeinschaft), «Metanoia» (Umkehr), «Didache» (Orientierung), «Apologia» (Wahrheit), «Martyria» (Zeugnis), «Diakonia» (Barmherzigkeit), «Basileia» (Gottesherrschaft).

Wir wählen also eine thematische und keine chronologische Zugangsweise. Leider ist es aufgrund der räumlichen Begrenzung nicht möglich, alle wünschenswerten Themen und Fragestellungen aus der Urkirche ausführlich zu behandeln. «Faszination frühe Christen» soll deshalb als Einführung dienen und hoffentlich auch als Inspiration, sich weiter mit dieser spannenden Frühzeit zu beschäftigen, deren Auswirkungen bis in unsere Zeit spürbar sind.

Unter dem Stichwort «Fokus» sind drittens zwischen die thematischen Kapitel Lebensbilder von Christinnen und Christen aus den ersten Jahrhunderten eingestreut. In diesen geistlichen Porträts lernen wir Clemens von Rom, Papias von Hierapolis, Polykarp von Smyrna, Perpetua und Felicitas aus Karthago in Nordafrika sowie Irenäus von Lyon kennen. In ihrem Leben und Wirken sehen wir wie in einem Brennglas, was die frühen Christen bewegte. Wir nehmen Anteil an ihren Kämpfen und Siegen, an ihren Niederlagen und Hoffnungen, an ihrem Glauben und ihrer Liebe zu Gott und den Menschen. Daneben entfalten zwei dieser Einschübe thematische Panoramen, einmal zum Thema der Frauen in der frühen Christenheit sowie zum zweiten zum Thema des Umgangs der frühen Christen mit Krisen und Pandemien anhand der Schriften von Cyprian von Karthago und Dionysius von Alexandrien.

Im Abschlussteil «Folgerungen» versuchten wir, einige Erkenntnisse unserer Spurensuche festzuhalten und daraus Einsichten für unseren Glauben und unser Leben als «spätere Christen» zu ziehen. So wird in den vier Schritten Fundamente, Faszination, Fokus und Folgerungen der Bogen von den ersten Jahrhunderten bis in unsere Zeit gespannt.

Juden, Christen, Judenchristen

Zum Abschluss rundet ein Beitrag von Guido Baltes dieses Buch ab. Er schreibt zum Thema «Juden, Christen, Judenchristen: Gemeinsame und getrennte Wege zwischen Kirchen und Synagogen der ersten Jahrhunderte» und schließt damit eine wichtige Lücke in unserer Wahrnehmung der frühchristlichen Zeit. Ich bin dankbar für dieses weitere faszinierende Fenster hinein in die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung. Genauso wie die christliche Kirche nicht ohne ihre Verwurzelung im Gottesvolk Israel zu verstehen ist, müssen wir neu die Kluft zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Nachfolgern des Messias Jesus überwinden. Nur gemeinsam können wir unsere Identität als Volk Gottes annehmen und neue Strahlkraft gewinnen.

Die Bedeutung der frühen Kirche für folgende Zeiten

So tauchen wir ein in einen der spannendsten Abschnitte der Weltgeschichte. Wir erleben die Zeit des Wachstums der christlichen Gemeinde von einer missverstandenen Minderheit hin zu einer das Weltreich umspannenden Kirche. Wir nehmen Anteil an ihrem geistigen Kampf mit den konkurrierenden Philosophien und Ideologien der Zeit.

So sollen hier die Erfahrungen und Entscheidungen der frühen Christen aus dem Grab des Vergessens geholt werden. Denn schließlich waren die ersten Jahrhunderte nach Christus normativ für die Entwicklung der gesamten Christenheit in Ost und West, in Nord und Süd.

Weil diese erste Epoche von so grundlegender Bedeutung ist, spielten auch die Schriften der frühen Christen eine entscheidende Rolle in den theologischen Auseinandersetzungen der Kirchengeschichte. Das sehen wir zum Beispiel in den Kämpfen der Reformation: Martin Luther und die anderen Reformatoren, genauso wie auch die Gegner der Reformation, argumentierten nicht allein auf der Grundlage der Heiligen Schrift, sondern zogen auch die Kirchenväterschriften als Unterstützung ihrer Positionen heran. Der Grund dafür leuchtet ein: In den ersten Jahrhunderten hatten die späteren schicksalhaften Trennungen der christlichen Kirche in orientalische, orthodoxe, katholische und protestantische Kirchen und Konfessionen noch nicht stattgefunden. Deshalb konnten und können sich alle Zweige der Christenheit auf die frühe Kirche berufen, die trotz aller Unterschiedlichkeiten in den wesentlichen Fragen des Glaubens noch eins war.

Natürlich gab es auch in den ersten Jahrhunderten schon Verwerfungen und Spaltungen, zum Beispiel zwischen Judenchristen und Heidenchristen.

Es gab auch damals schon gefährliche Angriffe auf den innersten Kern des christlichen Glaubens, unter anderem durch gnostische Strömungen. Diese Umdeutungen der christlichen Glaubenslehre breiteten sich mit großer Wucht aus. Die gnostischen Lehrer versuchten die Christen zu verwirren und zu verführen – mit neu geschriebenen apokryphen (das heißt: verborgenen) Evangelien, mit fantastischen Geschichten und einer geschichtslosen, spiritualisierten Version des Evangeliums.

Doch die frühen Christen hatten die Kraft und geistig-geistliche Klarheit, diese inneren Angriffe abzuwehren. Genauso waren sie in der Lage, die äußeren Angriffe abzuwehren, in den Verleumdungen und Verfolgungen fest zu stehen, zueinander zu stehen und vor allem zu ihrem Herrn, zu Jesus Christus.

Eine Gemeinschaft im Widerstand

So bildeten sie gegen alle Anfeindungen von innen und außen, gegenüber allen Abwegen und Irrwegen eine fest verbundene Gemeinschaft im Widerstand. Sie hatten den Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Sie wagten es, in einer anti-christlichen Gesellschaft gegenkulturell zu leben und das Bekenntnis zur Wahrheit des einen Gottes gegen die Multireligiosität ihrer Zeit zu behaupten. Sie fanden darüber hinaus die Kraft, aus diesem Bekenntnis heraus eine Liebe gegenüber allen Menschen zu entwickeln und auch praktisch zu leben.

Dazu halfen ihnen einige grundlegende Entscheidungen, die ihr Profil und ihre Identität stärkten. Die von den frühen Christen gelebte alternative Kultur durchdrang die antike Welt wie ein Sauerteig. Ihre geistliche und intellektuelle Klarheit, ihre praktische Liebe und ihr in ethischen Überzeugungen und Praxis von der Mehrheit deutlich unterschiedenes Leben entwickelten eine starke Dynamik. Es war ein Kraft, die das mächtigste Weltreich der Antike, das kaiserliche Römische Reich, von innen her transformierte. Nicht etwa durch Anpassung an die Umwelt, sondern vielmehr durch eine überzeugende und letztlich nicht zu zerstörende neue Lebensweise: Ihr gesamtes Leben verstanden die frühen Christen als Zeugnis des Messias Jesus.

Mit der Anerkennung des Christentums als religio licita – als erlaubte, rechtmäßige Gottesverehrung – durch die Kaiser Galerius (311 n. Chr.) sowie Konstantin I. und Licinius (313 n. Chr.)1 – endete jene frühe Phase der Kirchengeschichte. Diese häufig so genannte «konstantinische Wende» leitete ein neues Kapitel der Kirchen- und Weltgeschichte ein, das bis heute nachwirkt – im Positiven genauso wie im Negativen.

Eine Wende mit zweischneidigen Folgen

Positiv war, dass der Druck auf die Christen und das Leid der Verfolgungen aufhörten und sich die Gemeinden jetzt ungehindert in ihrer Verkündigung und dem Aufbau kirchlicher, diakonischer und sozialer Strukturen entfalten konnten. Die zunehmend christliche Bildung größerer Bevölkerungsschichten führte zu einer positiven Durchdringung und Umwandlung der antiken Gesellschaft mit vielen Folgen: Aufbau von Schulen und Krankenhäusern, eine höhere Wertschätzung der Frauen bei gleichzeitiger Einschränkung der Verfügungsgewalt der Ehemänner, längerfristig auch Abschaffung der Sklaverei und viele weitere soziale Verbesserungen.

Die allmähliche Christianisierung der gesellschaftlichen Wertevorstellungen bedeutete für viele – einschließlich der Kinder, der Waisen, Witwen, Kranken und sonstiger Bedürftigen sowie auch der Sklaven und Fremden – mehr Schutz und Sicherheit.

Auf der negativen Seite ist jedoch die immer stärker sich ausbildende Verknüpfung von Kirche und Staat zu nennen, verbunden mit der politischen Beeinflussung kirchlicher Entscheidungen, und schließlich die Absage an die bis dahin geltende Verpflichtung der Christen zur Gewaltlosigkeit. Im Lauf der Zeit wurde das Band zwischen Thron und Altar immer enger. Diese neue Haltung und gesellschaftliche Stellung der Christen hatte bald schon weitreichende und zum Teil erschreckende Folgen. Sie begannen nun, staatliche Gewalt um Hilfe anzurufen, damit diese gegen andersdenkende Christen vorging.2 Waren die Christen bisher eine vom Staat verfolgte Minderheit, konnten schon wenige Jahrzehnte nach dem Ende der letzten Christenverfolgung manche Gemeindeführer der Versuchung nicht widerstehen, sich in ihren Auseinandersetzungen mit christlichen Abweichlern auf die Gewalt des Staates zu stützen.

Die enge Verknüpfung von Kirche und Staat verstärkte sich im Lauf der Jahrhunderte bis zur schlussendlichen Herausbildung von Staatskirchen und sogar eines Kirchenstaates. Es ist erschreckend, wie leichtfertig die Warnung von Jesus vergessen oder verdrängt wurde, der gegenüber dem Vertreter der römischen Staatsgewalt gesagt hatte: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt!»3 So kann man etwas zugespitzt sagen: In den ersten drei Jahrhunderten überwanden die Christen das Römische Reich von innen, doch nun begann das Reich, die Kirche von innen auszuhöhlen. Die Spätfolgen dieser unglücklichen Verbindung von Kirche und Staat sind noch heute zu spüren und werden erst langsam und in schmerzhaften Prozessen abgebaut.

Die Christen außerhalb des Römischen Reiches

Die enge Verbindung von Kirche und Staat wurde durch Konstantin eingeleitet und von den folgenden Kaisern, insbesondere Theodosius dem Großen (379–395 n. Chr.) und Justinian (527–565 n. Chr.), weiter verstärkt. Dennoch war sie nicht die einzige Lebensbedingung, unter der die christliche Gemeinde von nun an lebte – ein Umstand, der in unserer auf den Westen fokussierten Sichtweise der Kirchengeschichte häufig übersehen wird. So erging es den Christen in Persien, im islamischen Reich, aber auch an der indischen Küste und bis nach China hinein anders. Auch wenn sie teilweise große Minderheiten und manchmal sogar die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, waren sie selbst in den besten Zeiten nur als Bürger zweiter Klasse geduldet und wurden nicht selten auch aktiv verfolgt.

Folgen der Verbindung von Staat und Kirche

Und selbst innerhalb des inzwischen christianisierten Römischen Reiches, vor allem in den Randgebieten, so im syrischen Raum oder auch in Ägypten, wo sich ab dem 4. und 5. Jahrhundert christliche Konfessionen herausgebildet hatten, die andere Schwerpunkte und Überzeugungen hatten als die von den Kaisern geförderte Konfession, wurden die Christen bedrängt. Ihre Leiter wurden ins Exil verbannt, und nicht selten wurden ihnen Kirchengebäude und Klöster weggenommen.

Doch mit dieser Betrachtung sind wir schon weit vorausgeeilt in eine Zeit, in der sich nach Auffassung der Herrschenden die Idee eines geeinten politischen Reiches auch in einer einzigen christlichen Konfession widerspiegeln sollte.

So führte die Verbindung zwischen Thron und Altar im byzantinischen, also im christlich-Römischen Reich im Osten, und im so genannten christlichen Abendland im Westen häufig dazu, dass in Glaube oder Lebensführung abweichende christliche Gemeinschaften verfolgt wurden, oft mit Billigung oder Unterstützung der Kirche. Das staatliche Schwert erhob sich jetzt, auch im Namen Christi, gegen christliche Abweichler.

Das bekamen im 5. Jahrhundert die Donatisten in Nordafrika genauso zu spüren wie später im Mittelalter die Waldenser und Hussiten sowie die reformatorischen Täufer und allgemein evangelische Christen im Zeitalter der Reformation und danach.

Angesichts dieser wachsenden politischen Verflochtenheit der christlichen Kirche in späteren Jahrhunderten ist es gut, zurückzugehen – in die Zeit vor dieser Verquickung, die Zeit, als die Christen noch eine bedrängte Minderheit waren. Hier sind die Konturen noch deutlicher zu erkennen als später, wo alle und alles «irgendwie christlich» waren.

Deshalb schauen wir hier auf die ersten drei Jahrhunderte. Von den Christen dieser frühen Zeit wollen wir lernen.

Aus diesem Grund, und um möglichst viel von dieser Atmosphäre aufnehmen zu können, werden immer wieder längere Originaltexte eingestreut. Gerade da, wo sie ganz anders sind als das, was wir heute gewöhnlich lesen und hören, können sie uns inspirieren. Und sie können uns dazu locken, weiter voranzugehen auf unserer Spurensuche nach der Faszination, die von den frühen Christen ausging.

Roland Werner, Ostern 2025

I.FUNDAMENTE

1. Kontraste:Wie die frühen Christen ihre Strahlkraft entfalteten

Die Leute, die die ganze bewohnte Welt auf den Kopf stellen, sind jetzt auch hier aufgetaucht!

Apg 17,6 (DBU)

Dieser Aufschrei der Bürger der Stadt Thessalonich in der Mitte der 50er Jahre unserer Zeitrechnung war nicht viel mehr als ein Präludium für die Wellen der Empörung, die die Christen in den ersten drei Jahrhunderten immer wieder überrollen sollten. Im Römischen Reich, zu dessen höchsten Zielen Ordnung und Ruhe gehörten, waren die Jesusnachfolger einfach Störenfriede.

Ihre Ablehnung der antiken Götter und ihre Weigerung, dem Kaiser göttlichen Status zuzuerkennen, machte die frühen Christen zu Außenseitern. Sie mieden die Theater, denn kein Schauspiel kam ohne Bezug auf die olympischen oder römischen Götter aus. Sie hielten sich auch fern von den Gladiatorenspielen, weil dort Blut vergossen und furchtbarste Grausamkeiten gegen Menschen und Tiere als Volksbelustigung gefeiert wurden. Sie betrachteten Berufe wie Soldat oder Richter als unvereinbar mit christlichen Prinzipien. An vielen Stellen machten sie einfach nicht mit.

Ihr Protest äußerte sich zumeist still und war doch kaum zu überhören. Sie suchten nicht die Anerkennung der Menge, und in der Gesellschaft geachtet zu sein, war für sie kein Ziel an sich. Von den Herrschenden gelobt zu werden, sahen sie nicht als ein Sprungbrett für missionarischen Erfolg, sondern als Gefährdung ihrer christlichen Identität. Wie Jesus waren sie bereit, auf die Anerkennung ihrer Umwelt zu verzichten, gemäß der Aussage im Hebräerbrief:

Er hat außerhalb der Stadttore gelitten, um durch sein eigenes Blut das Volk rein und heilig vor Gott zu machen. Lasst uns deshalb aus dem Lager hinausgehen, hin zu ihm, und die Verachtung, die ihm entgegengebracht wird, gemeinsam mit ihm tragen! Denn hier haben wir sowieso keine für immer bleibende Stadt, sondern wir halten Ausschau nach der Stadt der Zukunft.4

So orientierten sie sich nicht an Roma Aeterna, der angeblich ewigen Hauptstadt Rom, sondern richteten ihren Blick auf das neue Jerusalem, die Stadt Gottes.5

Unsoziale Atheisten?

Kein Wunder, dass den Jesusnachfolgern vorgeworfen wurde, unsozial zu sein. Man verdächtigte sie des Hasses, des odium generis humanis, also des Hasses gegen die Menschheit. Die Christen wurden je länger desto mehr zu den Outcasts der antiken Gesellschaft. Besonders anstößig war ihre Ablehnung dessen, was ihrer Umgebung heilig war: Die antiken Götter galten ihnen als Götzen. So wundert es nicht, dass sie als verbohrte Götterleugner galten, als Atheisten, die den religiösen Frieden gefährdeten.

Der Vorwurf der Gottlosigkeit erklang leise geflüstert in den Kneipen und laut geschrien in den Zirkusarenen. Er ertönte auch beim Martyrium des Polykarp, des über achtzigjährigen Leiters der christlichen Gemeinde von Smyrna, als der Prokonsul ihn aufforderte, sich mit dem Ruf «Weg mit den Gottlosen!» von der christlichen Gemeinde loszusagen. Polykarp nahm seinerseits ihr Stichwort auf und rief mit einer abweisenden Handbewegung, auf die aufgeheizten Zuschauer deutend: «Weg mit den Gottlosen!».6

Das brachte ihm nicht die Sympathie der Masse ein. Und doch beeindruckte sein furchtloses Auftreten angesichts des Scheiterhaufens nicht nur seine Mitchristen, sondern sicher auch manche der heidnischen Zuschauer. Überhaupt war es so, dass gerade die öffentlichen Martyrien je länger je mehr am Gewissen und Bewusstsein der Menschen rüttelten. Sie suchten nach Erklärungen für das ihnen unerklärliche Verhalten der Christen, für ihren Mut und ihre Standhaftigkeit angesichts des Todes. Unsozial und verrückt in ihren Glaubensvorstellungen mochten sie ja sein, aber eins musste man ihnen lassen: Sie hatten offenbar keine Angst vor dem Tod. Das machte Eindruck.

Und doch herrschte die negative Sicht auf die Christen vor. Sie waren ein Störfaktor im römischen Staatswesen. Sie passten einfach nicht dazu und mussten möglichst kleingehalten werden. Angesichts dieser Wahrnehmung der Christen als suspekte und die gesellschaftliche Harmonie störende Minderheit ist es mehr als erstaunlich, dass die christliche Bewegung nicht nur überlebte, sondern sich immer mehr ausbreitete, um schließlich zur Meinungsführerin im Reich zu werden.

Mut zum Anderssein

Wenn etwas bei den frühen Christen zu bewundern ist, dann ihr Mut und ihre Entschlossenheit, gegen den Strom zu leben. Während die religiös untermauerte Staatsdoktrin den Kaiser als gottähnlichen kyrios, als Herrn, verehren ließ, beharrten die Christen im Römischen Reich darauf: Jesus allein ist der kyrios! Nur ihm steht dieser Hoheitstitel zu.

Während alle dem Genius des Kaisers opferten, indem sie Weihrauch auf den vielerorts aufgerichteten Kaiseraltären verbrannten, weigerten sich die Jesusnachfolger, diese kleine symbolische Handlung vorzunehmen. Ihre Begründung: Nur Jesus allein steht Anbetung zu.

Während die römischen Männer ihre Sklaven, Frauen und Kinder als Besitz behandeln konnten und vollständige Verfügungsgewalt über sie ausübten, schufen die Christen eine neue Gemeinschaft mit alternativen Werten. In ihr waren nicht nur Männer und Frauen gleichberechtigt, sondern es wurden sogar Sklaven als Gemeindeleiter eingesetzt. Menschen unterschiedlichster sozialer und ethnischer Herkunft nahmen einander an als Brüder und Schwestern, als Teil einer neuen Familie.

Während Abtreibung und Kindesaussetzung als normal galten, sodass vor allem Kinder mit Behinderungen und Mädchen jämmerlich verhungerten, im Wald von wilden Tieren aufgefressen oder von Bordellbesitzern als zukünftige Sexsklavinnen eingesammelt wurden, ließ die christliche Ethik eine ganz neue Atmosphäre des Respekts und Schutzes entstehen. Die biblische Lehre, dass jeder Mensch im Bild Gottes geschaffen wurde, und das Beispiel von Jesus, der gerade auch die Kinder segnete, änderte zuerst in der christlichen Gemeinde und allmählich auch in der Gesellschaft den Blick auf die Unmündigen.

Sklaven und Kriegsgefangene fristeten in den Manufakturen und Bergwerken und auf den ausgedehnten Landbesitzungen der Reichen ein mühsames, oft durch Entbehrung, Krankheit und Willkür bestimmtes Dasein. Währenddessen genossen die Mitglieder der herrschenden Gesellschaftsschicht ihre ausschweifenden Partys und ihren luxuriösen Lebensstil.

Doch in der christlichen Gemeinde wurden diese monumentalen Unterschiede überwunden. Alle sahen sich als Schwestern und Brüder. Frauen und Männer, Kinder und Erwachsene, Alte und Junge, Leibeigene und Freie erlebten hier Wertschätzung und Würde.

Eine wirksame Gegenkultur

In all diesen wesentlichen Bereichen entfalteten die frühen Christen eine einzigartige, wahrnehmbare Kontrastgesellschaft. Und die wirkte wie ein Sauerteig. Die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung anfangs verschwindend kleine Gruppe der Jesusnachfolger wuchs und wuchs, allen Widerständen zum Trotz. Weder Verächtlichmachung und Verfemung noch regionale oder reichsweite Verfolgungen konnten sie aufzuhalten. Am Ende bildeten sie eine so bedeutende Minderheit, dass es die römischen Kaiser Anfang des 4. Jahrhunderts für politisch geboten hielten, das Christentum zur erlaubten Gottesverehrung zu erklären.7

Der Weg bis zu diesem Punkt war lang, fast 300 Jahre dauerte er. Doch am Ende stand fest, was Kaiser Julian (360–363 n. Chr.) – von späteren Christen mit dem Beinamen Apostata («der Abtrünnige») belegt – nach seinem verzweifelten Versuch, das Christentum zurückzudrängen und die traditionellen Kulte wieder verbindlich einzuführen, der Legende nach ausgerufen haben soll: «Du hast gesiegt, Galiläer!» Ob Julian diese Worte so gesagt hat oder nicht, ist umstritten. Doch die Tatsache bleibt bestehen: Der christliche Glaube hatte das Imperium überwunden. Und das ohne Gewaltanwendung.

Zu einem gewaltsamen Aufstand wäre die Minderheit der Christen sowieso nicht in der Lage gewesen, und das hätte auch in keiner Weise ihrer Ethik entsprochen. Sie waren bereit, zu sterben, doch sie waren nicht bereit, andere zu töten. Aber gerade durch ihre absolute Gewaltlosigkeit waren sie unbesiegbar in dem Geisteskampf, in dem sie standen. Für sie galt: «Sie haben ihn durch das Blut des Gotteslammes besiegt und durch das Wort, mit dem sie sich zu ihm bekannt haben, und sie haben ihr Leben nicht bis zum Tod geliebt!»8

Das unbedingte Bekenntnis der frühen Christen zu Jesus als Herrn, verbunden mit der Bereitschaft, für dieses Bekenntnis auch ihr Leben hinzugeben, entfaltete eine Kraft, der die spätantike Welt auf Dauer nichts entgegenzusetzen hatte. Das Blut der Märtyrer, der Zeugen, hatte sich wirklich als Same der Kirche erwiesen, wie Tertullian es um 200 n. Chr. ausdrückte.9

Kein Grund zur Glorifizierung

Dennoch sollen hier die Christen der ersten drei Jahrhunderte nicht als makellose Helden dargestellt werden. Sie waren weder immer standhaft angesichts des Verfolgungsdrucks, noch waren sie in allen Lebensbereichen ethisch über ihre Mitmenschen erhaben, noch lebten sie ständig in ungetrübter Einigkeit und Einmütigkeit. Nein, auch unter den Christen gab es Spaltungen und Streit, Ungerechtigkeiten und Unmoral. Auch sie setzten ihre Ideale oder, besser gesagt, die Werte, die sie von Jesus und den Aposteln gelernt hatten, nicht immer um. Auch die frühen Christen waren keine Übermenschen oder unangefochtenen Glaubenshelden.

Und dennoch, selbst noch in ihrer Unvollkommenheit und in ihren Begrenzungen hoben sie sich deutlich von ihrer Umwelt ab. Sie zogen Verachtung und Bewunderung in gleicher Weise auf sich. Ihr Verhalten wurde immer wieder missverstanden und ihre Glaubensüberzeugungen von Außenstehenden meist verzerrt dargestellt. Und doch blieb genug an Strahlkraft, an Glaubensmut und Einsatz für die Nächsten, um in ihrer heidnischen Umgebung Eindruck zu machen.

Leben in Kontrasten

Die Gegenkultur der ersten Christen war trotz aller Abgrenzung von ihrer Umwelt zugleich geprägt von Hilfe und Engagement für die Außenstehenden. Diese doppelte Positionierung nach innen und nach außen war eins der wichtigsten Merkmale dieser einzigartigen Bewegung. Ihre Eindeutigkeit im Glauben und Leben führte nicht zu einer grundsätzlichen Abschottung der frühen Christen. Die Klarheit ihrer Überzeugungen verhinderte nicht den Dialog mit Andersdenkenden. Ihre innere Kraft und Überzeugung befähigte sie vielmehr dazu, zugleich «nicht von der Welt», aber auch «in der Welt» und «für die Welt» zu sein, so wie ihr Meister Jesus es seinen Nachfolgern ins Stammbuch geschrieben hatte.10 Dass sie diese Spannung aushielten und den Kontrast zur Mehrheitsgesellschaft bei gleichzeitigem Einsatz für die Menschen um sich herum kreativ lebten, ist einer der Gründe für ihre Strahlkraft durch die Zeiten hindurch bis heute.

2. Quellen:Woher wir überhaupt etwas von den frühen Christen wissen

Es sind noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.

Joh 21,25 (LUT 17)

Was sind unsere Quellen für die frühen Christen? Woher wissen wir überhaupt etwas über die ersten Jahrhunderte des Christentums? Wo finden wir verlässliche Informationen und gesicherte Kenntnisse über diese formative Zeit? Beim Versuch, sich ein Bild von Geschichte zu machen, sind wir grundsätzlich angewiesen auf die zur Verfügung stehenden Quellen. Diese können naturgemäß sehr unterschiedlich sein in Bezug auf ihre Art, Verlässlichkeit und Aussagekraft.

So ist es auch bei der Geschichte der frühen Christen. Ganz grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen schriftlichen Quellen und archäologischen Funden, also zwischen literarischen und materiellen Zeugnissen. Beide müssen gesichtet, bewertet und dergestalt miteinander verglichen und verbunden werden, dass ein möglichst zutreffendes Bild der Vergangenheit entsteht.

Dabei ist es sehr zufällig, ob in Bezug auf einen bestimmten Sachverhalt überhaupt etwas Aussagekräftiges erhalten ist. Auch kann es selbst bei einer auf den ersten Blick guten Quellenlage nie eine lückenlose Dokumentation der Geschehnisse geben. So ist es ratsam, bei historischen Urteilen eine gewisse Zurückhaltung walten zu lassen.

In Bezug auf die frühen Christen ist es alles in allem dennoch erstaunlich, wie viel Verlässliches wir wissen. Bei aller Vorsicht können wir aufgrund der uns überlieferten archäologischen Zeugnisse und schriftlichen Quellen eine klare Vorstellung von der faszinierenden Lebenswirklichkeit der frühen Christen entwickeln.

Archäologische Zeugnisse

Es gibt erstaunlich viele Gegenstände und Artefakte, die die Zeiten überdauert haben und den Fundus archäologischer Zeugnisse für die Zeit der frühen Christen ausmachen. Dazu gehören beispielsweise die schon ab dem Ende des 1. Jahrhunderts nachweisbaren Graffiti und Fresken in den Katakomben, also den unterirdischen Beerdigungsbauten in der Nähe von Rom. Etwas später kommen auch Grabinschriften und Sarkophage mit christlichen Symbolen hinzu. Darunter finden sich Darstellungen des guten Hirten, der sein Schaf auf den Schultern trägt, aber auch Symbole wie der Anker oder auch der Fisch, jener wohl als versteckter Hinweis auf das griechische Wort ichthys (Fisch), das zugleich als Akronym (Kurzbezeichnung) für «Jesus Christus Gottes Sohn Retter» gelesen werden kann,11 sowie auch das Christus-Monogramm XP12. Eher selten sind Kreuze, doch ab dem 3. Jahrhundert erscheinen sie immer häufiger.

Eine archäologische Sensation war die Entdeckung eines sehr frühen christlichen Versammlungshauses, der Hauskirche von Dura Europos am Euphrat im heutigen Syrien.13 Sie ist ein gutes Beispiel dafür, wie man aus den baulichen Strukturen und der reichen Freskenmalerei Rückschlüsse auf die Gottesdienstpraxis der Gemeinde, die sich hier versammelte, ziehen kann.

Genauso spannend ist die Entdeckung eines Gebäudes, das bei Ausgrabungen im Fischerdorf Kapernaum (Kafarnaum) am See Genezareth gefunden wurde. Hier handelt es sich mit großer Sicherheit um das Haus der Familie von Simon Petrus und seines Bruders Andreas,14 also um das Haus, in dem Jesus ein- und ausging, aß und übernachtete und das im Markusevangelium auch einmal einfach «das Haus» genannt wird.15 Wie weiß man, dass es genau dieses Haus war? Wie konnte man es bei den Ausgrabungen so sicher identifizieren? Der archäologische Befund gibt die Antwort. Nur dieses eine Haus in Kapernaum wurde im Lauf der ersten Jahrhunderte immer wieder umgebaut. Schließlich erweiterte man es im 5. Jahrhundert zu einer achteckigen Kapelle, die größeren Gruppen Platz bieten konnte. So diente das ehemalige Haus von Petrus nachfolgenden Generationen jüdischer Jesusnachfolger als Versammlungsstätte. Hinzu kommt eine schriftliche Quelle, die diesen archäologischen Befund bestätigt: Die spanische Pilgerin Egeria, die um 381–384 n. Chr. das Heilige Land bereiste, erwähnt genau dieses Haus.16

Eine weitere bemerkenswerte Beobachtung in Kapernaum ist, dass die nur gut hundert Meter entfernt liegende Synagoge, in der Jesus gelehrt und einen Besessenen geheilt hatte17, zu Anfang des 5. Jahrhunderts in großem Stil erweitert und prachtvoll ausgebaut wurde. Dieser Synagogenbau wirkt für die kleine Siedlung überproportioniert – so, als sollte damit ihre Übermacht gegenüber der judenchristlichen Hauskirche direkt gegenüber zur Schau gestellt werden. Offenbar hat hier der Konflikt zwischen dem Teil der jüdischen Bevölkerung, der Jesus als Messias verehrte, und denen, die ihn ablehnten, einen noch heute sichtbaren architektonischen Ausdruck gefunden.18 Aus den ersten Jahrhunderten nach Christus haben wir hierfür auch schriftliche Zeugnisse.19

Diese wenigen Beispiele zeigen, wie spannend es ist, den materiellen Zeugnissen aus der Zeit der Bibel und der frühen Christenheit nachzuspüren. Dabei ist besonders reizvoll, dass diese Suche noch längst nicht abgeschlossen ist. Immer wieder werden neue Entdeckungen gemacht. Gerade im Heiligen Land entdecken Archäologen regelmäßig Überreste von Bauwerken, Statuen, Inschriften, Manuskripten und alle möglichen weiteren Gegenstände, die neues Licht auf die biblische Geschichte werfen und sie erstaunlicherweise immer wieder bestätigen. Ähnliches gilt für die Geschichte der frühen Christenheit, wobei hier natürlich das gesamte Gebiet des Römischen Reiches, von Syrien bis Marokko und von Gallien und Germanien bis Ägypten von Interesse ist.

Auch in den letzten Jahren wurden wieder viele neue Entdeckungen gemacht. So fand man vor einiger Zeit den Siegelring des Pilatus, des römischen Statthalters zur Zeit von Jesus. Genauer gesagt, der Ring war schon 1968 im Herodion bei Bethlehem gefunden worden, fristete aber 50 Jahre lang unerkannt sein Dasein in einer Schachtel, bis diese neu gesichtet wurde. Nach der Reinigung im Jahr 2018 erkannte man erst, was für ein besonderer Fund jahrzehntelang unentdeckt in einem Regal geschlummert hatte.20

Viele weitere Beispiele ließen sich nennen, so der Aufsehen erregende Fund eines Siegels aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., der einem Beamten gehörte, der in 2. Könige 23,11 Erwähnung findet,21 und auch die beiden kleinen Rollen aus Silberblech, die 1979 in einer Höhle bei Ketef Hinnom gefunden wurden. Die paläo-hebräischen Inschriften enthalten Texte, die fast wörtlich dem so genannten aaronitischen Segen beziehungsweise der Segenszusage in Verbindung mit dem ersten der 10 Gebote entsprechen.22 Auch hier bestätigen die Funde den biblischen Text und korrigieren zugleich manche kritischen Infragestellungen, da sie zeigen, dass der alttestamentliche Text doch viel älter ist, als häufig angenommen wurde.

Ein weiteres Beispiel für archäologische Funde, die biblische Aussagen bestätigen oder zumindest erhellen, ist ein 2020/2021 geborgenes Schiff, das um 300 n. Chr. vor der Hafeneinfahrt von Caesarea gesunken war. Es enthält einen Schatz von Goldmünzen. Darin fand sich auch ein Goldring mit einem Stein, auf dem ein Hirte eingraviert ist, der auf den Schultern ein Schaf trägt. Nach Ansicht der israelischen Altertumsbehörde handelt es sich um eine Darstellung von Jesus, dem guten Hirten. Der Ring gehörte offenbar einem wohlhabenden Christen, der seinen Glauben auf diese zurückhaltende und zugleich offensichtliche Weise zeigen wollte.23

Und als allerneuster Fund, der durch die Presse ging, während dieses Kapitel entstand, kann eine im Raum Frankfurt entdeckte antike Silberfolie dienen. Sie ist rund 91 Millimeter lang und war in ein Amulett eingerollt. Auf ihr findet sich ein 18 Zeilen langer lateinischer Text, darunter die Worte «sanctus, sanctus, sanctus» (heilig, heilig, heilig) sowie die Aufforderung, in Anlehnung an den Philipperbrief (3,11): «Jede Zunge bekenne sich (zu Jesus Christus).» Datiert auf 230–270 n. Chr. zeigt der Fund, dass damals schon Christen mitten in Germanien lebten, hundert Jahre früher, als bisher von der Wissenschaft angenommen.

Solche und zahllose weitere archäologische Funde werfen ihr Licht auf die biblische Zeit und die Zeit der frühen Christen. Oft erhellen sie nur einen kleinen, konkreten Punkt, der aber dennoch von großer Bedeutung sein kann. Zusammengenommen zeigen diese vielen einzelnen Funde ein immer klareres Bild von der Verwurzelung der biblischen Berichte in ihrem geschichtlichen Kontext. Und auch für die Zukunft sind noch weitere spannende Funde und Entdeckungen zu erwarten.

Literarische Zeugnisse

Mindestens ebenso wichtig wie die materiellen Funde sind die vielen schriftlichen Quellen. Dabei unterscheiden wir zwischen den Texten, in denen Außenstehende über die Christen schrieben, und den Schriften, die innerhalb der christlichen Gemeinde selbst entstanden.

Außerchristliche schriftliche Quellen

Angesichts der Tatsache, dass die Christen eine so kleine Minderheit im Römischen Reich darstellten, ist es erstaunlich, dass überhaupt Texte über die Christen existieren, die von Außenstehenden geschrieben wurden. Selbst von manchen Kaisern und anderen wichtigen Persönlichkeiten sowie von bedeutenden Ereignissen in der Antike ist teilweise kaum etwas Schriftliches überliefert.

Die frühsten außerchristlichen Texte stammen aus der Zeit der Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert.

Dazu gehört die Korrespondenz zwischen Kaiser Trajan und Plinius dem Jüngeren, dem römischen Statthalter in Bithynien, einer Region Innerchristliche schriftliche Quellen in der heutigen nördlichen Türkei, über die Frage, wie Christen zu bestrafen seien. Dieser Briefwechsel24 aus dem Jahr 112 n. Chr. ist dadurch historisch so wertvoll, dass er einen konkreten situativen Anlass hat und kein kunstvolles literarisches Produkt ist. Knapp und konkret geschrieben, gewährt er einen spannenden Einblick in das alltägliche Leben der frühen Christen aus der Sicht von Außenstehenden am Anfang des 2. Jahrhunderts.

In seinem Brief erkundigt sich Plinius beim Kaiser, wie er mit den Christen umgehen soll, die ihm anonym gemeldet wurden. Die Antwort von Trajan spielte in der Folge eine wichtige Rolle bei der Behandlung der Christen im Reich und setzte den Rahmen für das Vorgehen der römischen Machthaber in den Verfolgungszeiten.

An Gerichtsverhandlungen gegen Christen habe ich niemals teilgenommen; daher weiß ich nicht, was und wie weit man zu strafen oder nachzuforschen pflegt. Ich war auch ganz unschlüssig, ob das Lebensalter einen Unterschied macht oder ob die ganz Jungen genauso behandelt werden wie die Erwachsenen; ob bei Reue Verzeihung gewährt werden soll oder ob es dem, der einmal Christ gewesen ist, nichts nützt, wenn er davon abgelassen hat; ob schon der bloße Name, auch wenn kein Verbrechen vorliegt, oder nur mit dem Namen verbundene Verbrechen bestraft werden. Einstweilen bin ich mit denen, die bei mir als Christen angezeigt wurden, folgendermaßen verfahren: Ich habe sie gefragt, ob sie Christen seien. Die Geständigen habe ich unter Androhung der Todesstrafe ein zweites und drittes Mal gefragt. Die dabei blieben, ließ ich abführen. Denn ich war der Überzeugung, was auch immer es sei, was sie damit eingestanden, dass auf alle Fälle ihr Eigensinn und ihre unbeugsame Halsstarrigkeit bestraft werden müssen. Es gab auch noch andere mit ähnlichem Wahn, die ich, weil sie römische Bürger waren, zur Überstellung nach Rom vorgemerkt habe. […] Es wurde eine Schrift ohne Verfasserangabe vorgelegt, die viele Namen enthielt. Diejenigen, die bestritten, Christen zu sein oder gewesen zu sein, glaubte ich freilassen zu müssen, da sie mit einer von mir vorgesprochenen Formel die Götter anriefen und vor Deinem Bild, das ich zu diesem Zwecke zusammen mit den Bildern der Götter herbeibringen ließ, mit Weihrauch und Wein opferten und außerdem Christus schmähten, Dinge, zu denen wirkliche Christen, wie man sagt, nicht gezwungen werden können. Andere von den Denunzianten Genannte erklärten zunächst, Christen zu sein, leugneten es aber bald wieder: Sie seien zwar Christen gewesen, hätten dann aber davon abgelassen, manche vor drei Jahren, manche vor noch mehr Jahren, einige sogar vor zwanzig Jahren. Auch diese haben alle Dein Bild und die Statuen der Götter verehrt und Christus geflucht. Sie versicherten darüber hinaus, ihre ganze Schuld oder ihr ganzer Irrtum habe darin bestanden, dass sie sich gewöhnlich an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang versammelten, Christus wie einem Gott (Christo quasi deo) einen Wechselgesang darbrachten und sich durch Eid nicht etwa zu irgendeinem Verbrechen verpflichteten, sondern keinen Diebstahl, Raubüberfall oder Ehebruch zu begehen, ein Versprechen nicht zu brechen, eine angemahnte Schuld nicht abzuleugnen. Danach seien sie gewöhnlich auseinandergegangen und dann wieder zusammengekommen, um Speise zu sich zu nehmen, und zwar ganz gewöhnliche und unschädliche; selbst das hätten sie nach meinem Erlass, mit dem ich Deinen Aufträgen entsprechend Vereine verboten hatte, unterlassen. Für um so notwendiger hielt ich es, aus zwei Mägden, die Dienerinnen genannt werden, unter der Folter herauszubekommen, was wahr sei. Ich fand nichts anderes als einen wüsten, maßlosen Aberglauben. […] Die Angelegenheit schien mir nämlich einer Beratung zu bedürfen, insbesondere wegen der Anzahl der gefährdeten Personen. Denn viele jeden Alters, jeden Ranges, auch beiderlei Geschlechts sind jetzt und in der Zukunft gefährdet. Nicht nur über die Städte, sondern auch über die Dörfer und das flache Land hat sich die Seuche dieses Aberglaubens ausgebreitet. Es scheint aber, dass sie aufgehalten und in die richtige Richtung gelenkt werden kann. Ziemlich sicher steht fest, dass die fast schon verödeten Tempel wieder besucht und die lange eingestellten feierlichen Opfer wieder aufgenommen werden, und dass das Opferfleisch, für das kaum noch ein Käufer gefunden wurde, überall wieder zum Verkauf angeboten wird. Daraus kann man leicht erkennen, welche Menge Menschen gebessert werden kann, wenn man Gelegenheit zur Reue gibt.

Die Antwort des Kaisers an Plinius lautete:

Du hast, mein Secundus, bei der Untersuchung der Fälle derer, die bei dir als Christen angezeigt wurden, die Verfahrensweise befolgt, die notwendig war. Denn etwas Allgemeingültiges, das gleichsam einen festen Rahmen bietet, kann nicht festgelegt werden. Nach ihnen fahnden soll man nicht. Wenn sie angezeigt und überführt werden, müssen sie bestraft werden, jedoch so, dass, wer leugnet, Christ zu sein, und dies durch eine entsprechende Handlung beweist, nämlich durch die Anrufung unserer Götter, wegen seiner Reue Verzeihung erhält, selbst wenn er für die Vergangenheit verdächtig bleibt. Anonym vorgelegte Klageschriften dürfen bei keiner Straftat Platz haben, denn das wäre ein schlechtes Beispiel und passt nicht zu unserer Zeit.

Ebenso beachtenswert sind die historischen Notizen des jüdischen Historikers Josephus Flavius sowie die der römischen Autoren Sueton und Tacitus. In späterer Zeit nimmt die Zahl außerchristlicher Erwähnungen zu, sowohl in offiziellen römischen Dokumenten als auch in gegen die Christen gerichteten Schriften heidnischer Apologeten wie Celsus im 2. Jahrhundert, der als Außenstehender ein erstaunlich großes Wissen über den christlichen Glauben besaß. Wir schauen uns einige dieser frühen Erwähnungen der Reihe nach an.

Das erstaunliche Zeugnis von Flavius Josephus

Flavius Josephus (ca. 37–100 n. Chr.) ist zweifellos der bedeutendste Schriftsteller für die jüdische Geschichte im 1. Jahrhundert n. Chr. Er stammte aus einer jüdischen Priesterfamilie und wurde in Jerusalem geboren. Als Kommandeur der galiläischen Truppen im jüdischen Aufstand gegen die Römer (66–70 n. Chr.) geriet er in römische Gefangenschaft und war Augenzeuge der Belagerung und Zerstörung Jerusalems. Seine beiden monumentalen Werke «Jüdische Altertümer» (Antiquitates Iudaeorum) und «Der jüdische Krieg» (De bello Iudaico) sind von unschätzbarem historischen Wert.25 Bemerkenswert ist, dass er in seinen Schriften Jesus erwähnt, und darüber hinaus viele weitere Personen, die im Neuen Testament erscheinen, unter anderem Johannes den Täufer, Pontius Pilatus, die Hohepriester Kaiphas und Hannas und den Herrenbruder Jakobus.26 So bestätigen seine Schriften und die Berichte im Neuen Testament sich gegenseitig. Das Zeugnis des Josephus ist umso wichtiger, als er selbst kein Christ war und ebenfalls kein Sympathisant der christlichen Bewegung.

In einem längeren Abschnitt in seinen Jüdischen Altertümern schreibt Flavius Josephus:

Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war der Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tag wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort.27

Selbst wenn es sich bei manchen Aussagen in diesem Abschnitt auch um spätere Interpolationen christlicher Abschreiber handeln mag, bleibt auch bei kritischer Lesung genug über Jesus als außergewöhnlichen Menschen übrig. Insgesamt ist zu sagen: Als außenstehender Beobachter bestätigt Flavius Josephus die historische Zuverlässigkeit der grundlegenden neutestamentlichen Aussagen über Jesus, sein Umfeld, sein Ergehen sowie die Existenz und den Glauben der frühen Christen.28

Tacitus und der Brand von Rom

Der römische Historiker Publius Cornelius Tacitus (ca. 58–120 n. Chr.) berichtet im Zusammenhang mit dem verheerenden Brand Roms im Jahr 64 n. Chr. vom Versuch des Kaisers Nero, die Schuld für diese Katastrophe auf die Christen abzuwälzen. Damit belegt Tacitus, dass es schon in den 60er Jahren des ersten Jahrhunderts Christen in Rom gab, die Nero deshalb als Sündenböcke benutzen konnte:

Doch weder durch menschliche Hilfe, weder durch kaiserliche Spendungen, noch durch Sühnungen der Götter ließ sich der Schimpf bannen, dass man glaubte, es sei die Feuersbrunst befohlen worden. Um daher dieses Gerede zu vernichten, gab Nero denen, die, durch Schandtaten verhasst, das Volk Christen nannte, die Schuld und belegte sie mit den ausgesuchtesten Strafen. Der, von welchem dieser Name ausgegangen, Christus, war, als Tiberius regierte, vom Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden, und der für den Augenblick unterdrückte verderbliche Aberglaube brach nicht nur in Judäa, dem Vaterland dieses Unwesens, sondern auch in Rom, wo von allen Seiten alle nur denkbaren Gräuel und Abscheulichkeiten zusammenfließen und Anhang finden, wieder aus.29

Es ist aus seiner Darstellung spürbar, dass Tacitus keine Zuneigung für die Christen empfand. Gerade dadurch sind seine Aussagen über ihre Verfolgung durch Kaiser Nero sowie seine Hinweise auf Jesus und seine Kreuzigung unter Pontius Pilatus historisch so wertvoll.

Sueton und die Vertreibung der Juden aus Rom

Der römische Chronist Sueton wiederum erwähnt Christus – den er «Chrestus» schreibt – in seinem «Leben des Claudius» in einer kurzen Notiz zum Jahr 49 n. Chr.:

Er vertrieb die Juden aus Rom, die unter ihrem Anführer Chrestus ununterbrochen Unruhe stifteten.30

Diese Aussage über die Vertreibung der Juden aus Rom wird übrigens ebenfalls in der früher verfassten Apostelgeschichte des Lukas berichtet:

Dort begegnete er [Paulus] einem Juden namens Aquila, der aus der Gegend von Pontus stammte. Zusammen mit seiner Frau Priszilla war er kurz vorher aus Italien dorthin gekommen, weil Kaiser Claudius angeordnet hatte, dass alle Juden die Stadt Rom verlassen mussten.31

Und noch ein zweites Mal erwähnt Sueton die Christen, und zwar in seinem «Leben des Nero»:

Vieles unter ihm wurde einerseits streng beachtet und bestraft, andererseits wurde auch Neues eingeführt: […] Die Christen, ein Geschlecht von Menschen mit einem neuen und gottlosen Aberglauben, wurden durch die Todesstrafe heimgesucht.32

Diese kurzen Notizen zeigen, trotz oder gerade wegen ihrer negativen Sicht auf die frühen Christen, dass diese schon ab den 40er Jahren des 1. Jahrhunderts sogar in der Hauptstadt Rom als Gruppe wahrnehmbar waren. So sind Jesus und die frühen Christen in jüdischen und römischen Geschichtsdarstellungen zweifelsfrei bezeugt.33

Innerchristliche schriftliche Quellen

Im Gegensatz zu diesen kurzen Notizen sind die von Christen selbst geschriebenen Texte naturgemäß in weit größerer Zahl vorhanden; zudem sind sie weitaus ausführlicher und detailreicher. Als frühste Zeugnisse sind die Schriften des Neuen Testamentes selbst zu nennen. Die meisten neutestamentlichen Bücher stammen aus den 50er, 60er und 70er Jahren des 1. Jahrhunderts und bieten schon allein aus historischer Perspektive einzigartige Einblicke in die frühe Jesusbewegung. Die Endfassung des Johannesevangeliums können wir in die 80er oder frühen 90er Jahre ansetzen, und das Buch der Offenbarung entstand spätestens in den 90er Jahren.34 So stammt der Großteil des Neuen Testaments aus einer Zeit, in der noch viele Augenzeugen lebten.

Gegen Ende des 1. Jahrhunderts jedoch war die Zeit abgeschlossen, in der noch Apostel und andere Personen aus der ersten Generation lebten, die mit ihrem mündlichen Zeugnis die geschriebenen Texte bestätigen konnten. Wie Papias von Hierapolis (ca. 60–130 n. Chr.) betont, war die Hochachtung vor der «lebendigen Stimme» der zu seiner Zeit noch lebenden Zeugen zumindest ebenso stark wie die Wertschätzung der neutestamentlichen Briefe und Evangelien.35 Die noch lebenden Augenzeugen galten als Garanten für die Zuverlässigkeit der Überlieferung.

Papias legt über sein Interesse, von der Generation vor ihm zu lernen, detailliert Rechenschaft ab und beschreibt, wie er bei seiner Recherche vorging:

Kam einer, der den Presbytern [d. h. Älteren] gefolgt war, dann erkundigte ich mich nach den Lehren der Presbyter und fragte: «Was sagte Andreas, was Petrus, was Philippus, was Thomas oder Jakobus, was Johannes oder Matthäus oder irgendein anderer von den Jüngern des Herrn? Und was sagen Aristion und der Presbyter Johannes, die Jünger des Herrn?» Denn ich war der Ansicht, dass aus Büchern geschöpfte Berichte für mich nicht denselben Wert haben können wie die Worte frischer, noch lebender Stimmen.36

Gerade diese mündlichen Berichte waren für Papias und die Christen seiner Zeit wichtige Quellen ihres Wissens über Jesus. Sie bildeten eine vertrauenswürdige Brücke von der Urgemeinde in die nach-apostolische Zeit.37