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Hannes Hofbauer

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Beschreibung

Hannes Hofbauer verfolgt das Phänomen der Russophobie zurück bis ins 15. Jahrhundert, als der Zar im Zuge der kriegerischen Reichsbildung gegen Nordwesten zog. Es ging um Herrschaft, Konkurrenz und Meereszugang. Der Kampf um reale wirtschaftliche und (geo)politische Macht wurde auch damals schon ideologisch begleitet: Der Russe galt seinen Gegnern als asiatisch, ungläubig, schmutzig und kriecherisch, Stereotypen, die sich über Jahrhunderte erhalten haben. Das Feindbild-Paradigma zieht sich wie ein roter Faden durch die Rezeption Russlands im Westen. Aktuell reagiert diese empört auf die Politik des Kreml, der mit der Machtübernahme Wladimir Putins innenpolitisch auf Konsolidierung und außenpolitisch auf Selbständigkeit setzt. Die Wegmarken der neuen Feindschaft sind zahlreich. Sie reichen vom Krieg der NATO gegen Jugoslawien (1999) über die Verhaftung des Oligarchen Michail Chodorkowski (2003) und die Osterweiterung der NATO, den mit US- und EU-Geldern unterstützten "Farbrevolutionen" bis zum Krieg um die georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien (2008) und hinterlassen die bislang tiefste Kluft im Kampf um die Ukraine (2015), die am überwunden geglaubten West-Ost-Konflikt auseinander gebrochen ist. "Feindbild Russland" erzählt die Beziehungsgeschichte des Westens mit Russland und spürt den wirtschaftlichen und geopolitischen Grundlagen der Russophobie nach.

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Hannes Hofbauer Feindbild Russland

© 2016 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-833-9

(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-401-0)

Fordern Sie unsere Kataloge an: Promedia Verlag Wickenburggasse 5/12 A-1080 Wien

E-Mail: [email protected] Internet:

Über den Autor

Hannes Hofbauer, geboren 1955 in Wien, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien und arbeitet als Publizist und Verleger. Im Promedia Verlag sind von ihm zuletzt erschienen: Verordnete Wahrheit, bestrafte Gesinnung. Rechtsprechung als politisches Instrument (2011) und Die Diktatur des Kapitals. Souveränitätsverlust im postdemokratischen Zeitalter (2014).

Inhalt
Über den Autor
Vorwort
Russische Reichsbildung
Länder sammeln
Das Russlandbild im Westen
Überdehnte Expansion
»Kaiser aller Reußen/Russen«
Eurasisches Herzland
Napoleons großer Feldzug
Allianz gegen Russland: Vom Krimkrieg zum deutsch-russischen Zerwürfnis
Befreier oder Barbaren: Konträre Russenbilder im 19. Jahrhundert
Von den Liberalen gehasst, von den Reaktionären verehrt
Aufruf zum Krieg gegen die Barbaren
Im Krieg gegen Russland (1914–1945)
Von der britischen »Heartland«-Theorie zur deutschen Kriegserklärung
Die Ukraine zwischen den Fronten
Vom »Drang nach Osten« zum »Volk ohne Raum«
Deutsche Großraumpläne
Vom heißen zum Kalten Krieg (1945–1991)
Von Bretton Woods zum Containment
Schwierige Zeiten für US-Hegemonie: die 1970er Jahre
Amerikanische Mission unter antikommunistischer Flagge
Waffen in Stellung bringen
Moskau tappt in die Falle: Afghanistan
Keynesianismus auf Amerikanisch
Moskau bankrott
Auf die Knie! Die Ära Jelzin (1991–1999)
Das Ende der Sowjetunion
Von der IWF-gesteuerten Schocktherapie …
… zum militärischen Vormarsch der NATO
Jelzin’sche Nachwehen
Stabilisierung in Moskau (2000–2012)
Konsolidierung der Macht
Administrative Re-Zentralisierung
Ökonomische Integrationsversuche
Der starke Staat
Das Ende der Entspannung
Das georgische Abenteuer
Soft Power: das Konzept »Farbrevolution«
Den Anfang macht die Bundesrepublik
Zivilgesellschaftliches Intervenieren349
Das Geld kommt aus dem Westen
An Russlands Grenzen363
Wer revoltiert?
Proteste in Russland
Moskau ist gewarnt
Kampf um die Ukraine
Die Europäische Union prescht vor: das Assoziierungsabkommen 2013389
Die Transformation des europäischen Ostens in den 1990er Jahren
Die »Ostpartnerschaft«
Zuckerbrot und Peitsche
Jazenjuk und Poroschenko unterschreiben
Vom Majdan zum Bürgerkrieg
Die Ukraine zerfällt – die Krim wird bzw. bleibt russisch
Massaker in Odessa und Repression in Kiew
Krieg im Donbass
Die Volksrepubliken
Aus Fronten werden Grenzen
Vom Einsatz gegen »Terroristen« zum Stellvertreterkrieg gegen Russland
Bringt Minsk II den Frieden?499
Wirtschaftlich am Ende
Sanktionsregime gegen Moskau
Prophylaxe gegen den Anschluss der Krim
Von Personensanktionen zum Wirtschaftskrieg
Olympia-Boykott
Mobbing und Russen-Bashing
Sanktions- und Embargofolgen für den Westen
Moskau reagiert
Die große Schlacht um Öl und Gas
Zäsuren westlicher Russophobie (ab 1999)
Gegen Putin, die Inkarnation des Bösen
Russland eindämmen
Medienmeute losgelassen
»Medizinische Diagnose« statt politischer Analyse
Feind-Freund-Wahrnehmung
Die Putin-Versteher
Russland-Deutung: national, etatistisch, eurasisch
Literaturverzeichnis
Bücher, Beiträge und Quellen (gedruckt)
Internet
Filme
Zeitschriften/Zeitungen/Agenturen
Gesprächspartner

Vorwort

Pünktlich zum Gedenkjahr an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges schwoll im Westen die lange vorhandene russophobe Grundstimmung zu manifestem Russenhass an. Ende 2013 eskalierte die Ukrainekrise, kurz darauf war zwischen Washington, Brüssel und Berlin die Feindortung erfolgt. Die trans­atlantische Gemeinschaft nahm Moskau ins Visier, erließ Einreiseverbote gegen Diplomaten, verhängte Sanktionen, sperrte Konten, schloss Russland aus Gremien aus, boykottierte politische, kulturelle und sportliche Groß­ereignisse und mobbte sogenannte »Russlandversteher« in den eigenen Reihen. Stellvertreterkriege in der Ukraine und in Syrien verfestigten das gegenseitige Misstrauen. Ein altes Feindbild war neu erstanden.

Feindbilder – das wissen wir bereits aus der Friedensforschung der späten 1960er Jahre1 – begleiten militärische Aggressionen oder gehen diesen voraus bzw. bereiten das Publikum an der Heimatfront auf entsprechende Maßnahmen vor. Sie sind Instrumente einer »psychischen Herrschaftssicherung zur Herstellung einer Massenloyalität«,2 wie es der Soziologe Hans Nicklas auf den Punkt bringt.

»Auf der Basis von Feindbildern«, so der Friedensforscher Dieter Senghaas, »läßt sich jegliche Verteidigungsmaßnahme potentiell rechtfertigen«. Ihre Propagierung bestimmt »das Spektrum möglicher Konflikterwartungen.«3 Was Senghaas im Kontext der NATO-Aufrüstungspolitik in Zeiten des Kalten Krieges analysiert, kann mühelos auf andersgeartete geopolitische Konfliktfelder übertragen werden. Die EU-Osterweiterung von NATO und Europäischer Union seit den 1990er Jahren stellt dafür ein beredtes Zeugnis aus. Solange diese in ihren Anfängen nicht auf Widerstand in Moskau stieß und in der Person des damaligen Präsidenten Boris Jelzin sogar einen indirekten Unterstützer fand, war vom »bösen Russen« im Westen nichts zu hören. Erst als sich das Land unter Wladimir Putin nach dem Jahr 2000 zu konsolidieren begann, schlug die westliche Freude über das Ende der kommunistischen Epoche in Skepsis um, der die Feindbildkonstruktion folgte.

Auch die Suche nach den historischen Wurzeln des scheinbar ewigen negativen Russlandbildes bestätigt den Zusammenhang zwischen geopolitischem Konflikt, hinter dem in aller Regel wirtschaftliche Interessen stehen, und der Herstellung eines Feindbildes. Das westliche Klischee vom »barbarischen, asiatischen Russen« taucht zum ersten Mal Ende des 15. Jahrhunderts beim Krakauer Philosophen Jan z Głogowa (Johannes von Glogau) auf, just in jenen Jahren, als der Deutsche Orden gegen den erstarkenden Moskauer Zaren Iwan III. Krieg führt.

Über 500 Jahre lang wechseln einander seither positive und negative Zuordnungen zu Russland und den Russen ab, wobei die negativen im Zeitenlauf deutlich überwiegen. Diese Tatsache hat mich auch dazu gebracht, das Buch »Feindbild Russland« zu nennen, wohl wissend, dass es Epochen gegeben hat, in denen dieses Bild nicht oder nur für einen Teil der Gesellschaften in Westeuropa Gültigkeit in Anspruch nehmen kann.

Zur Zeit der Drucklegung dieses Buches Anfang 2016 beherrscht die Lage im Nahen Osten die außenpolitische Diskussion. Ob das militärische Eingreifen Moskaus in den Konflikt seit Ende September 2015 die Kräfteverhältnisse wesentlich verschiebt, ist nicht absehbar, noch weniger eine ernst gemeinte Allianz für eine friedliche Lösung. Anstatt des Abbaus bestehender Feindbilder steht deren Multiplizierung an. Maßgebliche Stimmen wie jene von Papst Franziskus warnen bereits vor einem sich schleichend breitmachenden dritten Weltkrieg. Für das Verhältnis des Westens zu Russland stehen die Zeichen weiter auf Konfrontation.

Um ein Buch wie das vorliegende zu schreiben, bedarf es neben dem Studium möglichst mannigfaltiger Lektüre und dem Sammeln von Informationen aller Art vor allem auch ständiger Diskussionen mit Kennerinnen und Kennern historischer und aktueller Zusammenhänge. Stellvertretend für eine Vielzahl von Kol­legIn­nen und FreundIn­nen, die meine Arbeit auf solch diskursive Weise begleitet und damit erst möglich gemacht haben, möchte ich an dieser Stelle meiner Lebensgefährtin Andrea Komlosy danken. Ihre wirtschafts- und sozialhistorische Expertise ebenso wie die Aufmerksamkeit, mit der sie aktuelle Ereignisse verfolgt, sind in den Text eingegangen.

Hannes Hofbauer

Wien, im Februar 2016

1 Vgl. Dieter Senghaas, Aggressivität und Gewalt. Thesen zur Abschreckung. In: Herbert Marcuse u. a. (Hg.), Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft. Frankfurt/Main 1968, S. 128ff. Zit in: Imad Mustafa, Feindbild Islam. Die politische Instrumentierung »orientalischer Feindbilder« in den Medien, Frankfurt/Main 2008 (Magister­arbeit), S. 7

2 Hans Nicklas, Die politische Funktion von Feindbildern. Thesen zum subjektiven Faktor in der Politik. In: Gert Sommer/Johannes Becker (Hg.), Feindbilder im Dienste der Aufrüstung. Beiträge aus Psychologie und anderen Humanwissenschaften. Marburg 1992, S. 34. Zit. in: Mustafa 2008, S. 18

3 Dieter Senghaas, Zur Analyse von Drohpolitik in den Internationalen Beziehungen. In: ders. (Hg.), Rüstung und Militarismus. Frankfurt/Main 1972, S. 42

Russische Reichsbildung

Beginnen wir unseren historischen Rückblick mit dem Jahr 1480. Es steht für eine bedeutende Zäsur in der russischen Geschichte. Jahrhunderte waren vergangen, seitdem der schleichende Niedergang der Kiewer Rus zur Mitte des 11. Jahrhunderts die mittelalterliche Reichsbildung in Vergessenheit geraten ließ. Vom Glanz des einstigen Kiew mit seinen 100.000 Ein­wohnerIn­nen war schon lange vor der Ankunft der Mongolen nicht mehr viel übrig geblieben. Die Eroberung der alten Hauptstadt im Dezember 1240 durch die »Goldene Horde« gilt bis heute als russisches Trauma.

240 Jahre später schüttelte ein Regent aus dem Moskauer Zweig der Rurikiden-Familie die mongolisch-tatarische Oberherrschaft ab. Unter ihr hatte sich zwar eine gewisse politische Autonomie und religiöse Selbstverwaltung behaupten können, die Tributpflicht gegenüber dem Khanat blieb jedoch ökonomisch bestimmend. Unter Iwan III. fanden die Tributzahlungen an die Tataren, die sich zu Herrschaftsträgern4 der »Goldenen Horde« entwickelt hatten und in deren Fußstapfen getreten waren, im Jahr 1480 ein Ende. Dies war nicht zuletzt der Zersplitterung tatarischer Reiche in die Khanate Kasan, Astrachan und Krim geschuldet. Ihre Raubzüge und Sklavenjagden blieben indes für ein weiteres Jahrhundert eine bestimmende Konstante im Leben der Moskowiter. So überfielen noch im Mai 1571 Einheiten der Krimtataren Moskau und brannten es nieder. Die oberherrschaftliche Stellung der turksprachigen Tataren-Khane endete allerdings 1480.

Bereits einige Jahre vor dem Ende der Tributpflicht, die in der russischen Literatur als »Tatarenjoch« bezeichnet wird, sandte Iwan III. kräftige Zeichen einer Konsolidierung der slawisch-russischen Herrschaft an das eurasische Kernland. 1472, knapp zwei Jahrzehnte nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453), ehelichte er die letzte byzantinische Prinzessin, Sophia Palaiologa, genannt Zoe. Durch diese Verbindung sah sich der russische Führer in den Rang eines byzantinischen »Selbstherrschers« gehoben, einen Titel, mit dem sich Iwan III. in die (ost)römisch-christliche Traditionslinie setzte. Wie der Kaiser im Westen Europas legte sich das russische Fürstengeschlecht einen Doppeladler als Wappentier zu und ließ sich mit »Großfürst und Zar«, der russischen Entsprechung von Cäsar, ansprechen.5 Es sollte noch weitere 100 Jahre dauern, bis mit der Einsetzung eines Moskauer Patriarchen im Jahre 1589 die politische und territoriale Konsolidierung Russlands auch kulturell und religiös ihre Entsprechung fand. Seit damals postuliert das Moskauer Patriarchat mit seiner Erhebung zum »Dritten Rom« einen christlich-universellen Herrschaftsanspruch. Die orthodoxe Mission kennt im Gegensatz zur weströmisch-katholischen nicht Feuer und Schwert, war also weniger gewalttätig.6 Sie beruhte im Kern auf wirtschaftlichem Druck. Religiöse Toleranz und die Kooptierung von nicht-russischen Eliten gehörten bis ins 18. Jahrhundert zur Herrschaftspraxis. Erst unter dem Einfluss des Westens kam es zu Zwangsmissionierungen von muslimischen Tataren an der Wolga und von »heidnischen Völkern« in Sibirien.7 Sie verliefen allerdings weit weniger aggressiv als in den Amerikas.8 Vertreibungen von Andersgläubigen fanden kaum statt, was auch einen ökonomischen Sinn hatte. Dem orthodoxen Herrscher waren Steuer- und Tributleistungen der Untertanen wichtiger als ethnische oder religiöse Homogenität.

Länder sammeln

Das legendäre »Sammeln der russischen Erde«, wie es in jeder Historiografie Russlands ausführlich dargestellt ist, kann in erster Linie als Machtkampf des Moskauer Fürsten und Zaren um die Ausschaltung herrschaftlicher Konkurrenten interpretiert werden. Die ganzen 1470er Jahre hindurch benötigte Iwan III., um die im russischen Nordwesten bestehenden autonomen slawischen Fürstentümer unter Moskauer Kontrolle zu bringen. Jaroslawl, Rostow Weliki, Wladimir sowie die lange Zeit bedeutende, selbstständig agierende Stadtrepublik Nowgorod wurden gewaltsam annektiert und dem Moskauer Reich eingegliedert. Die Einnahme Twers gelang parallel zur Überwindung der mongolisch-tatarischen Oberhoheit im Jahre 1478. Der Aufstieg Moskaus zum Zentrum der russischen Welt war damit historisch besiegelt.

Gegen Ende seiner Regentschaft setzte Iwan III. das Ländersammeln im Nordwesten fort, indem er militärische Konflikte mit dem polnischen-litauischen Nachbarn eskalieren ließ. Die unter litauischer Heerführung kämpfende Allianz aus livländischer Konföderation und Deutschem Orden, Teilen der mongolischen Streitkräfte und Khan Achmat erlitt 1503 eine schwere Niederlage.9 Weite weißrussische Gebiete fielen daraufhin der Moskauer Kontrolle anheim. Kurz darauf erfolgte die Eingliederung Pskows und Rjasans in den Moskauer Staat unter dem Sohn Iwan des III., Wassili III., in den Jahren 1510 bis 1521. Eine Generation später saß Wassilis Sohn Iwan IV., genannt Grosny, der Schreckliche, auf dem Zarenthron. Seine Expansionsstrategie ließ er im Inneren von einem repressiven Regime begleiten, für das er eine eigene Verwaltungseinheit schuf, die Opritschnina.10 De facto war dies eine dem Zaren hörige Truppe von 5000 kampfbereiten Gardisten. Sie trugen schwarze Kleider und führten einen Hundekopf mit sich, der den »Feinden des Zaren« (den Hunden) zeigen sollte, wie sie mit ihnen umzugehen beabsichtigten. Die ordensmäßig organisierte Opritschnina wütete in weiten, aber genau abgegrenzten Teilen des Landes. Ihre Mitglieder gingen insbesondere gegen die Häupter jener Bojarenfamilien vor, die der Zar des Verrats im Krieg gegen die Livländer bezichtigte. An die Stelle der geschwächten Bojaren setzte Iwan IV. einen willigen Dienstadel, gut entlohnte Staatsbeamte. Und ganz nebenbei presste die Opritschnina noch aus dem Volk heraus, was die vergleichsweise selbstverwalteten Bauerngemeinden (mir) dem Zaren nicht zu geben bereit waren. Die Schreckensherrschaft im Inneren gegen Adel und Volk nutzte Iwan IV. für seine Erweiterungspläne im Nordwesten wie im Osten. Noch zur Herrschaftszeit Grosnys kamen die Wolga, Astrachan und die fruchtbaren Schwarzerde-Böden unter die Fittiche Moskaus. Ende des 16. Jahrhunderts stand das Tor zur Kolonisierung Sibiriens offen.

Zu dieser Zeit lebten fast 7 Mio. Menschen unter dem russischen Doppeladler im Einflussbereich des Moskauer Zaren; über 90% von ihnen von der Landwirtschaft.

Das Russlandbild im Westen

Feindschaft erzeugt Feindbilder. Mit dieser ebenso einfachen wie historisch unstrittigen Tatsache erklärt sich bereits der Kern jenes Russland und die Russen diffamierenden Bildes, das während des 16. Jahrhunderts im Westen Europas vorherrschte. Zwischen 1492 und 1582 führten Moskau und Polen-Litauen bzw. das bis 1561 unter Deutscher Ordensherrschaft stehende Livland insgesamt sechs Kriege gegeneinander. Während der Hälfte dieser Zeit (von 1492–1494, 1500–1503, 1507–1508, 1512–1522, 1534–1537 und 1558–1582) sprachen die Waffen. Dementsprechend gestaltete sich die Wahrnehmung des Feindes. Das im Westen des Kontinents verbreitete Bild vom »asiatischen, barbarischen Russland« ist in dieser Epoche grundgelegt. Und es waren vor allem polnische Intellektuelle, die es verbreiteten und ideologisierten. Der Krakauer Philosoph und Mathematiker Jan z Głogowa (Johannes von Glogau) ergänzte im Jahre 1494 eine kosmografische Ausgabe des klassischen Ptolomaios-Atlas und bezeichnete darin Moskau als »asiatisches Sarmatien«.11 Der Zeitpunkt dieser mutmaßlich ersten Orientalisierung Russlands in der europäischen Geistesgeschichte ist bemerkenswert. Johannes von Glogau reagierte mit der Zuordnung Moskaus als »asiatisch« auf den ersten Krieg der polnisch-litauischen Union gegen Iwan III. Die militärische Auseinandersetzung zweier in der Folge sich gegenseitig als »natürliche Feinde« betrachtenden Reiche und Fürstenhäuser lag somit am Ursprung der Entstehung eines Vorurteils, das über die folgenden 500 Jahre immer wieder die Wahrnehmung Russlands im Westen Europas geprägt hat. Und »asiatisch« war schon damals abwertend gemeint, obwohl die Herkunft des Wortes (asu) auf das Assyrische zurückgeht und keinerlei negative Konnotation aufweist. Im Gegenteil: dort bedeutet es nichts anderes als »hell« bzw. beschreibt den Ort, wo, vom Zentrum des assyrischen Reiches im mesopotamischen Zweistromland des Euphrat und Tigris aus betrachtet, die Sonne aufgeht. Dem entgegen steht im Assyrischen das Wort erp, was so viel wie »dunkel, finster, düster« heißt – dort, wo die Sonne untergeht.12 In den Begriffen »Morgenland« und »Abendland« spiegelt sich noch dieselbe Herkunft. Im später über die griechische Mythologie verbreiteten »Europa« dürfte der assyrische Wortstamm erp stecken.

Den Siegeszug der Zuordnung des Asiatischen als barbarisch und fremd konnte die Etymologie des Begriffes nicht aufhalten. Er orientierte sich am damaligen militärischen Feindbild. Und den Feind galt es nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch philosophisch und geistig zu bekämpfen. Ein wesentlicher Kampfplatz dafür war die Kirchenkanzel, denn parallel zur Asiatisierung Russlands und der Russen wurde das sich konsolidierende Moskau von seinen Gegnern als Hort des Antichristen definiert. Die meisten westeuropäischen Autoren des 16. Jahrhunderts sahen die östlich von Polen-Litauen siedelnden Slawen als außerhalb des »orbis christianus« – des christlichen Erdkreises – lebende Menschen. Ihnen galten Polen-Litauen und Livland als Bollwerke der Christenheit.13

Es war nicht die Geografie, die Russland außerhalb Europas imaginierte, denn die meisten diesbezüglichen Gelehrten folgten seit der Neuzeit der antiken Tradition, nach der die Grenze zwischen Europa und Asien am Don bzw. am Asowschen Meer verlief; Moskau lag ohne Zweifel im »europäischen Sarmatien«; erst mit der Einnahme des Khanats Astrachan im Jahre 1556 griff das Moskauer Zarenreich auch auf asiatische Gebiete über.14 Das Bild vom »asiatischen Russland« entstand infolge politischer Interessen. Es war eine polnische Erfindung, die dazu diente, den »Erzfeind des Jagiellonenstaates gleichsam als ein ›Reich des Bösen‹ hinzustellen.«15 Die Krakauer Universität als führende Lehrstätte jener Tage produzierte die im Kampf gegen Moskau benötigte Ideologie. Als intellektuelle Drehscheibe strahlte sie auch in den deutschen Sprachraum aus; gerade die Vorlesungen des Johannes von Glogau waren stark von deutschen Studenten besucht. Eine später erstellte Studie listet für die Jahre 1460 bis 1520 fast 60 deutsche Gelehrte auf, die an der Universität Krakau ihre Ausbildung erhalten hatten.16 Sie trugen das negative Russlandbild in den Westen des Kontinents. Eigene, in sogenannten Felddruckereien hergestellte Flugschriften verbreiteten während der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts antirussische Propaganda in mehreren Sprachen.17 Polnische Autoren gaben die Linie vor.

Als ideales Instrument der Feindbildkonstruktion diente die Religion. Seit dem großen Schisma von 1054 galten die oströmisch Betenden den Päpsten in Rom als Schismatiker. Die russisch-orthodoxe Kirche bildete dabei keine Ausnahme. Im Gegenteil: Jenseits der sogenannten »Vormauer der Christenheit« – antemurale christianitatis18 –, deren Verteidigung sowohl das polnische Königreich als auch die ungarischen Herrscher für sich in Anspruch nahmen, anerkannte die katholische Kirchenlehre keine christliche Gemeinschaft. Die orthodoxen Metropolien und erst recht das Patriarchat des »Dritten Rom«, Moskau, galten als Horte der Abtrünnigen. So entwarf der einflussreiche Gelehrte und Rektor der Krakauer Universität, Johannes Sacranus, im Jahr 1500 in seiner Schrift Elucidarius errorum ritus Ruthenici die Vorstellung, bei den Russen handle es sich um ein »Ketzervolk mit Verbindungen zu den Türken«.19 Schlimmer hätte man ein west­römi­sches Feindbild in jenen Zeiten nicht zeichnen können.

Anfang des 16. Jahrhunderts hielt der osmanische Vormarsch die abendländischen Herrscherhäuser in Atem. 1517 eroberte Sultan Selim I. Palästina, 1526 rissen die Türken dann die »Vormauer der Christenheit« im ungarischen Mohács nieder, 1529 standen sie vor Wien. Der katholischen Propaganda waren Türken und Russen gleichermaßen hassenswert. Dies kam an prominenter Stelle zum Ausdruck, als im Jahr 1518 während des Reichstages zu Augsburg Erasmus Ciołek, der Bischof von Płock, eine Brandrede gegen die »Moskowier« hielt. Niemand geringerer als der polnische König Sigismund I. übertrug dem Bischof von Płock das Wort. Und dieser griff vor versammeltem Reichstag den Moskauer Zaren frontal an, indem er ihn mit der türkischen Bedrohung auf eine Stufe stellte: »Es existiert noch ein zweiter, nicht geringerer Feind, der in Richtung auf das feste Siebengestirn diesseits des Eismeeres verharrt, der Herzog von Roxolanen, den wir den Moskowier nennen; dieser ist für ödes Heidentum und fluchwürdiges Schisma berüchtigt. Tagtäglich bedrängt er überdies einen Teil des Reiches, nämlich die Provinz der Litauer, durch große Kriegsleidenschaft.«20 460 Jahre später war es der höchste Repräsentant der katholischen Kirche, Papst Johannes Paul II. – auch er polnischer Abstammung –, der am Katholikentag in Wien die Verbindung von Türken- und Russengefahr herstellte. In seiner Rede am 10. September 1983 erinnerte er an den 300. Jahrestag der Türkenbelagerung und warnte zugleich vor der neuen Gefahr aus dem Osten: dem russischen Kommunismus.

Zurück ins 16. Jahrhundert. Der Reichstag war die höchstrangige politische Veranstaltung des Heiligen Römischen Reiches, die man sich vorstellen konnte, eine dortige Feindnennung entsprechend bedeutsam. Das Bild vom barbarischen und unchristlichen Russen hat sich im 16. Jahrhundert weit über das Heilige Römische Reich hinaus bis nach England21 festgesetzt und kreierte dort sogar eine Theatermode unter dem Kürzel »Moscovite monsters«. Seit damals fräste es sich – wie auch jenes des muslimischen Türken als Feind der Christenheit – in das historische Gedächtnis Westeuropas ein.

Überdehnte Expansion

Im Krieg um Livland, eine päpstliche Bastion an der Ostsee, die dem Deutschen Orden als Kolonie anvertraut worden war und das auf dem Gebiet des heutigen Estland und Lettland liegt, erschöpften sich die Heere Moskaus. 25 Jahre lang, von 1558 bis 1582, führte Iwan IV. seine Soldaten in Richtung Nordwesten. Um die Skepsis der Bojaren und Adeligen gegenüber diesem Waffengang zu brechen, errichtete er ein wahrhaftes Terrorregime im Inneren und zog den Krieg in die Länge. Am Ende lag die Wirtschaft danieder, ganze Landstriche waren verwüstet, die Bevölkerung von Hunger und Krankheiten dezimiert. Die soziale und wirtschaftliche Misere spiegelte sich in der politischen Schwäche des Zarenthrons. Anstatt neue Gebiete zu erobern, verlor Russland den Zugang zur Ostsee, und die Newa mündete nicht mehr auf russischem Gebiet ins Meer. Nach 1561 übernahmen Polen und Schweden die Herrschaft in Livland. Historiker nennen die Jahrzehnte nach dem Tod Iwan IV. die »Zeit der Wirren«.22 Herrschaftsgeschichtlich ist damit jene relativ führungslose Epoche zwischen dem Aussterben der Rurikiden 1598 und der ersten Thronbesteigung eines Romanow 1613 gemeint. Es war auch die Zeit, in der polnische Truppen bis Moskau vordrangen und kurzfristig den Kreml und Kitaj-Gorod einnahmen.23

Die Wahl des damals erst 16jährigen Michail Romanow zum Zaren auf der Moskauer Versammlung der Adeligen, dem sogenannten Sobor, zeugt von der Schwäche der Zentralmacht. Michail, der in jenen kalten Januartagen des Jahres 1613 auf den russischen Herrscherthron gehievt wurde, entstammte einer vergleichsweise unbedeutenden Bojarenfamilie; der Sobor war überzeugt davon, mit seiner Wahl die Position des Zaren im eigenen Interesse lokaler Adelsfamilien und Städte schwach halten zu können. Die Geschichte sollte jedoch zeigen, dass der Bojarensprössling eine dreihundertjährige Herrscherfamilie begründete, die erst von den Räten der Oktoberrevolution 1917 beendet werden konnte.

Anfang des 17. Jahrhunderts sah sich das gerade erst einmal 100 Jahre alte Zarentum mit widerstreitenden Machtansprüchen konfrontiert. Auf dem Boden der heutigen Ukraine bedrohten Kirche auf der einen und Kosaken auf der anderen Seite die Ansprüche Moskaus.

Im damals unter polnisch-litauischer Verwaltung stehenden, heute weißrussischen Brest gelang dem römischen Papst ein genialer Schachzug, als er 1596 die Union von Brest verkündete, die Katholisierung der orthodoxen Kirche im litauisch-polnischen Herrschaftsgebiet. Diese kirchenpolitische Anbindung an den Westen war die Grundlage für die Herausbildung einer entsprechenden Orientierung ukrainischer Christen in Abgrenzung zu ihren orthodoxen Glaubensbrüdern, die östlich des polnischen Herrschaftsgebietes unter dem Moskauer Patriarchat lebten. Damit war die ukrainische Christenheit in eine west-unierte und eine russisch-orthodoxe Gemeinde gespalten.24

Mit der Anerkennung des Papstes als oberstem und einzigem Vertreter Gottes auf Erden und Roms als Zentrum der Christenheit begab sich die unierte Kirchenhierarchie – trotz starkem Widerstand vor allem der Lemberger orthodoxen Bruderschaft25 – unter die weströmische Logik und Herrschaft. Die Beibehaltung orthodoxer liturgischer Besonderheiten konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Jahr 1596 die wichtigste Zäsur in der Kirchengeschichte seit dem großen Schisma 1054 symbolisiert. Rom konnte mit der Union von Brest im Kampf mit Moskau um die slawisch-orthodoxen Seelen seinen Einfluss erweitern und auch geopolitisch einen Markstein setzen, den in späteren Jahrhunderten die Habsburger in Galizien zu nutzen wussten. Wer erlebt hat, mit welcher Verbitterung, ja mit welchem Hass 400 Jahre später die Nachfahren der in sowjetischen Zeiten verbannten und verbotenen unierten griechisch-katholischen Popen Anfang der 1990er Jahre um orthodoxe Gotteshäuser kämpften, der erahnt die historische Bedeutung des weströmischen Ausgriffs nach Osten. Im Kapitel über die Ukraine wird uns die Aktualität dieses Themas begegnen.

Zurück zur Union von Brest, dem Ausgangspunkt einer ersten Verwestlichung ostslawischer Siedlungsgebiete: Es dauerte nicht lange, bis als Reaktion darauf erste Stimmen in Westeuropa laut wurden, die auch das Bild von Russland als Hort des Antichristen in Frage zu stellen begannen. Wenn sich Kleinrussen (Ukrainer) in Richtung Rom bekehren lassen, so lautete das Motto, kann man auch Russen nicht pauschal den Vorwurf machen, schismatisch zu sein und sie aus dem System der Christenheit ausschließen. Ein eindrückliches Zeugnis eines solchen, nach der Union von Brest nun positiv gewendeten Russlandbildes liefert ein französischer Militär, der 1607 aus Russland heimkehrt. Jacques Margeret, der sein Traktat über den Aufenthalt in Moskau König Heinrich dem IV. von Frankreich widmet, notiert darin: »Russland ist einer der besten Wegbegleiter der Christenheit« und sein Zar »gut gegen die Skythen und andere Mohammedaner« gerüstet.26 Die westeuropäische Wahrnehmung Russlands beginnt sich im 17. Jahrhundert zu ändern; die Hinwendung der west-ukrainischen Kirche nach Rom spielte dabei eine wichtige Rolle. Genauso wesentlich für den Meinungsumschwung waren schwankende Allianzen westlicher Mächte gegen die Türken. Im Abwehrkampf gegen die Hohe Pforte in Konstantinopel brauchte man die Russen fallweise als Verbündete.27

Während Moskau durch die Katholisierungsbemühungen im Westen seines Herrschaftsbereiches unter Druck geriet, waren es im Süden die Kosaken, die für das Zarenreich eine Herausforderung darstellten. Auch diese Auseinandersetzung spielte sich auf dem Territorium der heutigen Ukraine ab. Kosake bezeichnete einen Grenzer, der im Gebiet zwischen dem Einflussbereich Moskaus und den tatarischen, häufig nomadisierenden Muslimen lebte und keiner adeligen Herrschaft zu Abgaben oder Fron verpflichtet war.28 Kosaken waren leicht bewaffnet, oft als Händler unterwegs oder ernährten sich von Fischfang an den Ufern des Dnepr. Im 16. und 17. Jahrhundert bildeten sie stabile Gemeinschaften, die sich selbst verwalteten. Entlang ihres Herrschaftsgebiets entstanden befestigte Burgen (samok) und Forts (gorodok). Die größte und langlebigste dieser Kosakenfestungen hielt sich an den Stromschnellen des Dnepr nahe der heutigen Stadt Saporoschschje/Saporischschja. Die sogenannte »Saporoschschjer Sitsch«, was so viel wie »der Ort hinter den Stromschnellen, an dem die Bäume gefällt wurden« heißt,29 ist die historisch am besten dokumentierte Kosakensiedlung, die auf der Insel Chortyzja mitten im Dnepr liegt. Ein von allen wehrfähigen Männern gewählter Hetman führte das Gemeinwesen, das durch die natürlichen Gegebenheiten des breiten, mäandernden und von Stromschnellen durchzogenen Flussbettes gegen äußere Feinde geschützt war. Die heute musealisierte und touristisch genützte, in den Löß der Dnepr-Böschung gehauene Festung bietet interessierten Zu­sehern Reiterspektakel aller Art und dient politisch dem neu erwachten ukrainischen Nationalgefühl. Eine aufwendig gestaltete Ausstellung stellt die Saporoschschjer Kosaken des 17. Jahrhunderts als Vorläufer einer modernen ukrainischen Staatlichkeit dar, die schon vor 350 Jahren eine politische Eigenständigkeit behauptete. Die Dnepr-Kosaken zur Mitte des 17. Jahrhunderts kämpften gleichermaßen gegen die polnische Adelsrepublik – die sogenannte Rzeczpospolita – und den Moskauer Zaren. Den polnischen Magnaten waren sie verhasst, weil massenhaft vor Repressionen flüchtende Bauern in den Kosaken­heeren Unterschlupf fanden und sich diese dann in zahllosen Aufständen gegen Polen wandten. Die Kosaken behaupteten gegenüber den polnischen Landesherren ihre Unabhängigkeit. Gleichwohl zogen sie fallweise auch im Verbund mit polnischen Adeligen gegen Osmanen und Russen. Ihr berühmtester Hetman, Bohdan Chmelnyzkyj, zerschlug 1648 das polnische Kronheer und führte einen allgemeinen ukrainischen Aufstand gegen Polen, Juden und Jesuiten.30 Daraus entstand im Osten der heutigen Ukraine eine von Warschau und Moskau sowie auch vom Krim­khanat unabhängige Kosakenrepublik. Nach kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Polen, Russland und Schweden, die um Gebiete der heutigen Ukraine geführt wurden, bildete der Fluss Dnepr ab den 1670er Jahren die Grenze zu Russland, wobei bemerkenswerter Weise auch das rechts­ufrige Kiew unter Moskauer Verwaltung kam. Im Vertrag von Andrussowo aus dem Jahr 1667 schlossen Moskau und Polen-Litauen einen Waffenstillstand, der auf mittlere Sicht das Ende der polnisch-litauischen Vorherrschaft im osteuropäischen Raum bedeutete und Russland Gebietsgewinne zusprach. Im »Ewigen Frieden« von 1686 fand die Jahrhunderte lange Feindschaft zwischen Russland und Polen (vorläufig) ihr Ende.

»Kaiser aller Reußen/Russen«

Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wird Russland zu einem globalen Spieler in Europa. Im Norden schlagen zaristische Verbände nach jahrelangen, verlustreichen Schlachten die Armee des Schwedenkönigs Karl XII. aus dem Feld (1709); und im Süden beginnen die großen russisch-türkischen Kriege um das Erbe des schwächelnden Osmanischen Reiches. Die Eroberung der türkischen Festung Asow an der Mündung des Don im Jahr 1696 stellt insofern eine historische Zäsur dar, als Russland damit erstmals – wenn auch vorläufig nur für 15 Jahre – einen Zugang zum Schwarzen Meer erhält. Ein jahrzehntelanges Ringen um den Ausbruch aus dem Binnenlandcharakter Russlands in Richtung Süden war damit eröffnet.

Im Norden stellt sich die Lage geopolitisch betrachtet ähnlich dar. Auch hier geht es um den Zugang zur Welt und ihren Märkten über das Meer. Mit dem Sieg in der Schlacht von Połtawa Ende 1709 gegen die technisch überlegenen, aber an Soldaten quantitativ unterlegenen Schweden festigt Russland seinen Zugang zur Ostsee, den es wenige Jahre zuvor mit der Eroberung der schwedischen Festung Nyenschanz, an der unteren Newa gelegen, erreichen konnte. Hier an der Newa-Mündung legt Zar Peter I. ab 1703 die Grundsteine für Sankt-Peterburg, das 1712 zur Haupt- und Residenzstadt des Russischen Reiches wird.

Der schon im zarten Alter von zehn Jahren als Zar titulierte Peter war jahrelang von seiner Halbschwester Sofija und seiner Mutter Natalja in Regierungs­geschäften begleitet worden, bis er 1694 die Alleinherrschaft antrat. Er war der erste russische Herrscher, der in den Jahren 1697 bis 1698 nach Westeuropa reiste. Mit einer Delegation von fast 300 Begleitern machte er sich für 18 Monate auf eine der seltsamsten Reisen der Weltgeschichte. Zar Peter lernte Artillerietechnik in Königsberg, besuchte Werften in Amsterdam und Eisen­produk­tions­stätten in England, traf den brandenburgischen Kurfürsten Friedrich II. (der als Friedrich I. zum Preußenkönig wurde) in Berlin und schmiedete mit dem sächsischen Kurfürsten August dem Starken Pläne gegen Schweden, die kurz darauf in die Tat umgesetzt wurden. Seine Eindrücke von auf Pfählen errichteten holländischen Städten inspirierten ihn später angesichts der Sumpflandschaft des Newa-Deltas beim Bau von Russlands »Tor zum Westen«.

Peters Politik der Verwestlichung Russlands umfasste alle Bereiche. Und sie war gewalttätig. Den Auftakt machte eine öffentliche Hinrichtungsorgie von 1182 Palastgardisten, sogenannten Strelizen,31 einer Einheit, die seit den 1550er Jahren exekutive Funktionen wahrgenommen hatte. Der als begeisterter Handwerker bekannte Zar war sich nicht zu schade, bei den Hinrichtungen selbst Hand anzulegen. Mit Kleidervorschriften und Bart­erlass erzwang er die Durchsetzung westeuropäischer Modevorschriften in den Städten. Und für den Aufbau seiner neuen Hauptstadt an der Newa-Mündung musste das Volk bluten. Erstmals in der russischen Geschichte wurde eine Kopfsteuer erlassen, die Bauern und Knechte zu »Steuerseelen« machte, womit sie alle Rechte verloren. Das traditionelle russische Recht, nach dem Bauern ihren Gutsherren wechseln und von dessen Hof abziehen durften – so sehr dies auch fallweise durch sogenannte »Verbotsjahre« eingeschränkt wurde –, war schon mit dem Gesetzbuch von 1649 aufgehoben worden. Seit damals ist der russische Bauer an die Scholle gebunden und kann mit dem Land verkauft werden, er ist leibeigen. Peter I. verschärft nun mit der Einführung der Kopfsteuer diese Praxis, indem er alle unfreien Knechte und noch freien Bauern zu »Steuerseelen« erklärt. Als solche sind sie nicht mehr an die Scholle – also den Ort –, sondern an den Gutsherren direkt gebunden. Das heißt, Grundbesitz ist gar nicht mehr notwendig, um »Steuerseelen« sein eigen zu nennen, was Kaufleute animieren sollte, Manufaktur- Produktionsstätten zu gründen, auf denen dann Leibeigene (auch fern der Landwirtschaft) tätig waren.

Doch mit der Kopfsteuer allein war es für den Zaren nicht getan. Die neue Hauptstadt Sankt-Peter­burg erforderte mehr; der Aufbau einer russischen Flotte, die dereinst Wache am Schwarzen Meer und an der Ostsee schieben sollte, musste bezahlt werden. Dafür wurde u. a. eine eigene Galeerensteuer aufgelegt, die Gutsherren zu vermehrten Abgaben verpflichtete. Und diese gaben den Druck nach unten weiter.

Politisch spiegelte sich die neue Ordnung von Peter I. im Aufbau einer strengen Zentralisierung der Macht wider. Auch dabei folgte er dem westeuropäischen Vorbild, wo das absolutistische Zeitalter im 17. Jahrhundert Einzug hielt. Ziel war die Etablierung einer unbeschränkten Staatsgewalt und die Zurückdrängung des adeligen, ständischen und kirchlichen Einflusses. Um zu dieser damals als modern eingestuften Staatlichkeit zu kommen, schaffte Peter I. die Duma der Bojaren, die seit dem 11. Jahrhundert als beratendes Gremium dem Moskauer Großfürsten bzw. Zaren zur Seite gestanden war, im Jahr 1711 ab. Auch schwächte der Imperator die orthodoxe Kirche, indem er 1721 das Amt des Patriarchen schließen ließ und stattdessen einen Synod als Kirchenbehörde einsetzte, der in die staatliche Verwaltung eingegliedert wurde und dessen Prokurator er selbst ernannte. Im selben Jahr 1721 nahm der mittlerweile 49jährige Romanow den Titel »Imperator und Selbstherrscher« an und ließ sich als »Kaiser aller Russen – von Moskau, Kiew, Nowgorod, Wladimir, Kasan und Astrachan« huldigen. Die russische Reichsbildung – nun »Rossija« statt dem bis dahin gebräuchlichen »Rus« oder »Moskowien« – war auf ihrem ersten Höhepunkt angelangt.

Im Westen war man von dem »modernen« Zaren an der Newa, der streng genommen nun den Titel »Imperator« trug, anfangs begeistert. Seine Europa-Euphorie und die zur Schau gestellte Lernbegierde auf seiner »großen Gesandtschaft« in den Jahren 1697 und 1698 schmeichelten vor allem den deutschen Fürsten und Meinungsträgern. Die harte Hand gegen den aufmüpfigen Adel und die Einführung einer zentralen Steuergesetzgebung entsprachen der auch im Westen üblichen absolutistischen Staatsform. Die Modernität jener Epoche spiegelte sich in der Selbstherrschaft des Monarchen.

Der entscheidende Punkt für das in Westeuropa weit verbreitete positive Russland-Bild zu Ende des 17. Jahrhunderts lag jedoch weniger in der Bewunderung der petrinischen Reformen und der Europa-Liebe des Herrschers begründet, sondern basierte schlicht auf einer – relativ kurzfristigen – militärischen Allianz. Russland stand im Krieg gegen die Osmanen auf der Seite des Heiligen Römischen Reiches. Mit der sogenannten Zweiten Türken­belagerung Wiens im Jahr 1683 hatte der osmanische Vormarsch nach Westen einen neuen Höhepunkt erreicht. Ihn zurückzuschlagen galt als oberste Christenpflicht. Das russische Zarenreich wiederum stand an anderer Front, im Süden, gegen die Osmanen. Es ging um den Zugang zum Schwarzen Meer und die Befreiung von der Last ständiger Tataren-Einfälle. Diese nahmen seit Jahrhunderten ihren Ausgang vom Khanat der Krim, das in engem Bündnis mit der Hohen Pforte stand. Die Militärallianz des Russischen Imperiums mit dem Heiligen Römischen Reich entsprang dem gemeinsamen geopolitischen Interesse, die Osmanen zurückzudrängen.

In dieser historischen Situation am Ende des 17. Jahrhunderts erreichte die Russophilie im Westen einen Höhepunkt, der Zar erschien vielen als Retter der Christenheit und Freund der Moderne. »Ich sehe gar nicht, wie ein großer Fürst einen schöneren Plan machen kann als den, seine Staaten blühend zu machen und die Pflanzung, die ihm Gott anvertraut hat, zur Vollkommenheit zu entwickeln,« schmiert der große deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz dem Herrscher in Sankt-Peter­burg Honig ums Maul. Und weiter: »Der Große Zar der Russen zeigt eine außerordentliche Höhe seines Genies und seines Heldenmutes nicht nur in den Angelegenheiten des Krieges, sondern auch in der Regierung, indem er Pläne faßt und ausführt, an die keiner seiner Vorfahren mit Erfolg zu denken gewagt hat.« Des Weiteren rühmt Leibniz in seinem 1697 an Peter den Großen verfassten Brief die Kraft, die der Zar »gegen den gemeinsamen Feind« (die Osmanen, d. A.) aufwendet und vermerkt, wie wichtig die von den Russen mit der siegreichen Schlacht um die an der Mündung des Don gelegenen Festung Asow eröffnete zweite Front im Osten für das Überleben der Christenheit ist. In den Worten Leibniz’ liest sich das folgendermaßen: »Das ist umso beachtenswerter, als die Not drängend ist und man Anlass hat zu glauben, dass ohne diese Ablenkung unsere Angelegenheiten in Ungarn eine schlechte Wendung genommen hätten.«32 Mit »Ablenkung« ist wohl der russische Sieg über die Osmanen am Don gemeint, während die »Angelegenheiten in Ungarn« das Zurückschlagen der Türken nach ihrer gescheiterten Offensive vor Wien anspricht.

Das positive Russlandbild im Westen verblasste nach dem Friedensschluss von Karlowitz 1699 schnell. Dieser beendete zwar den Krieg, fand jedoch keine Antwort auf die drängende Frage Russlands nach Zugang zum Schwarzen Meer. Schon 1711 eroberten die Osmanen die Festung Asow zurück und ab 1721 tobten insgesamt elf russisch-türkische Kriege um Land und Meeres­zugang sowie die Schutzmachtfunktion über die orthodoxen Christen unter dem Halbmond. Erst 100 Jahre nach Karlowitz war die Krim russisch. Im Jahr 1783 gehörte das Khanat der Vergangenheit an und Russland verfügte über einen strategischen Hafen am Schwarzen Meer.

Eurasisches Herzland

Die Konsolidierung zaristischer Macht verband sich das gesamte 18. Jahrhundert hindurch mit Gebietserweiterungen. Die geopolitischen Konkurrenten im Konzert der europäischen Reiche waren alarmiert.

Eine Prinzessin aus dem deutschen Adelsgeschlecht Anhalt-Zerbst stand wie keine andere für das Vorrücken Russlands. Nach der Ermordung ihres Gatten bestieg sie als Katharina II. – von der Nachwelt »die Große« genannt – 1762 den Zarenthron in Vertretung ihres damals achtjährigen Sohnes. Für 35 Jahre sollte sie das Zepter bis zu ihrem Tod im Jahr 1796 nicht mehr aus der Hand geben.

Auf das von inneren Querelen geschwächte Polen, in dem verschiedene Adelsgeschlechter sich Jahrzehnte lang gegenseitig und damit auch die Reichstage (Sejm) blockierten, übten Katharina II. und ihr preußisches Gegenüber Friedrich II. gehörigen politischen Druck aus. Dort in Warschau hatte die katholische Gegenreformation bereits früher sämtlichen Nichtkatholiken, insbesondere Protestanten im Norden und Orthodoxen im Osten und Südosten, ihre religiösen und politischen Rechte aberkannt, was Berlin und Sankt-Peter­burg, die sich als unausgesprochene Schutzmächte der Diskriminierten verstanden, gehörig empörte. Versuche, in dieser Frage zu einer Einigung zu kommen, scheiterten auch daran, dass der einstige Günstling und Geliebte Katharinas und spätere polnische König, Stanisław Poniatowski, sich von seiner Förderin abwandte. Mit einem Truppeneinmarsch im Jahr 1766 wollte Russland den religiösen und politischen »Dissidenten«, wie die Nichtkatholiken genannt wurden, zu Hilfe kommen.33 Dies war zugleich der Anfang vom Ende der polnischen Staatlichkeit. Die Teilung des Landes geschah auf Vorschlag Friedrich II. Russland, Preußen und Österreich bedienten sich in den Jahren 1772, 1795 und 1795, wobei der größte Teil Polens mit fast zwei Dritteln der Landmasse und der Hälfte der Bevölkerung an Russland fiel. Nach der dritten polnischen Teilung grenzte das Zarenreich direkt an Preußen und Österreich.

Die Expansion im Osten und Süden schritt zeitgleich und mit ebensolchem Tempo voran. Hier war es das im schleichenden, aber konstanten Rückzug aus Europa befindliche Osmanische Reich, das sich russischen Eroberungsplänen gegenübersah. Katharina II. hatte für diesen Vormarsch, gemeinsam mit einem ihrer Höflinge, Grigori Potjomkin, ein großes Dessin entworfen. Der als »Griechisches Projekt«in die Geschichtswissenschaft eingegangene Plan sah die Schaffung eines orthodoxen Reiches vor, das von der Tundra und den Steppen Eurasiens bis zum Schwarzen Meer und nach Konstantinopel ans östliche Mittelmeer reichen sollte.34 In dieser Dimension blieb das »Griechische Projekt« ein Wunschbild russisch-weltherrschaftlicher Pläne; mehrere Kriege gegen die Türken fügten dem Zarenreich jedoch Mosaikstein für Mosaikstein neue Gebiete hinzu. Die nördliche Bergkette des Kaukasus wurde 1763 eingenommen, im Frieden von Küçük Kaynarca 1774 erhielt das Russische Reich von der Hohen Pforte über die Flussmündungen von Dnepr und Don Zugang zum Schwarzen Meer. Das letzte Khanat, das sich in der Herrschaftstradition der Mongolen verstand, das Krim-Khanat, verschwand 1783 von der Landkarte, und nach einem weiteren Waffengang gegen die Türken Ende der 1780er Jahre kam die gesamte Nordostküste des Schwarzen Meeres unter russische Kontrolle. Die planmäßige Gründung der Stadt Odessa im Jahr 1794 an der Stelle des türkischen Hafens Hacıbey war als Tor zur Welt am Rande neurussischer Siedlungsgebiete gedacht, die zum Neurussischen Gouvernement wurden.

Auch im Inneren des Russischen Reiches änderte sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert Beträchtliches. Die Ansiedlung von Kolonisten, viele von ihnen aus deutschsprachigen Ländern, diente der Urbarmachung von Wald- und Sumpfgebieten. Und in weiten Teilen der heutigen Ukraine setzte sich nach und nach die russische Gesetzgebung durch. Die Befreiung des Adels vom Dienst am Hof auf der einen Seite und die Ausdehnung der Leibeigenschaft auf ukrainische Gebiete auf der anderen Seite ließen die als soziales Gleichgewicht verstandene Gerechtigkeit (prawda) zwischen Gutsherren und Untertanen zerbrechen, was zu bäuerlichen Aufständen führte.35 Deren heftigster fand unter der Führung des Donkosaken Jemeljan Puga­tschow statt und wurde von Katharina II. blutig niedergeschlagen. Anfang des 19. Jahrhunderts führte die russische Verwaltung Regie von Kam­tschatka im fernen Osten bis zur Krim am Schwarzen Meer, und tief hinein in polnische Gebiete bis ins Baltikum.

Napoleons großer Feldzug

Den Westmächten war das von Sankt-Peter­burg aus gesteuerte Russland zu mächtig geworden. Aus dem eurasischen Herzland, das fern vom Zugang zu Meeren und Weltmärkten rund um sein Zentrum Moskau kreist, wurde innerhalb eines Jahrhunderts ein Reich, das östlich an den Pazifik, südlich ans Schwarze Meer und nördlich – neben dem unzugänglichen Eismeer – an die Ostsee grenzte. Der Ausbruch aus einer vorgeblich naturräumlich gegebenen Isolation konnte vor der Welt und den europäischen Mächten nicht augenscheinlicher vollzogen werden.

Ende des 18. Jahrhunderts erschütterte der Sturm auf die Pariser Bastille Europa. Die Französische Revolution ließ die Herrscherhäuser auf dem ganzen Kontinent erzittern. Instinktiv formten Kaiser, Könige und andere Fürstenhäuser Koalitionen gegen die Revolutionäre von Paris. Auch der Zar von Moskau folgte der internationalen Reaktion gegen die Französische Republik. Nachdem diese von innen ausgehöhlt und im Macht- und Expansionsstreben Napoleons zerborsten war, wandten sich die Herrscherhäuser wieder den alten Feindschaften zu. Nach wechselnden Bündnissen gegen Großbritannien und Frankreich schloss Zar Alexander i., ein Enkel von Katharina II., am 7. Juli 1807 Frieden mit Napoleon. In einem geheimen Zusatzprotokoll zum Frieden von Tilsit wurde Frankreich die Kontrolle über Deutschland und Spanien anheim gestellt, während Russland schwedische und türkische Gebiete einnehmen durfte, ohne in Konflikt mit Paris zu geraten.

Alexander I. nahm dies als Freibrief. Im fünften russisch-türkischen Krieg besetzten Truppen des Zarenreiches die rumänischen Donaufürstentümer Moldau und Walachei, die seit dem 15. Jahrhundert dem Osmanischen Reich tributpflichtig waren.36 Im Jahr 1810 erklärt Sankt-Peter­burg die beiden Fürsten­tümer als annektiert und lässt sich die Gebietsgewinne im Frieden von Bukarest 1812 bestätigen.

Nur wenige Wochen danach, im Sommer 1812, überschreitet Napoleon mit der mutmaßlich stärksten Armee der Weltgeschichte, die fast 500.000 Soldaten umfasst, die russische Grenze. Der russisch-französische Vertrag von Tilsit wie auch seine Zusatzabkommen sind damit Makulatur. Die personell und technisch wesentlich schwächeren und vom Angriff überraschten zaristischen Truppen ziehen sich in den russischen Raum zurück. Die legendär gewordene Strategie der verbrannten Erde lässt die Franzosen rasch bis nach Moskau vordringen, wo sie eine fast gänzlich leere Stadt vorfinden, die am 15. September 1812 in Flammen aufgeht, nachdem sie der russische Gouverneur Rostop­tschin in Brand stecken hatte lassen.37 Damit verloren die Franzosen jede Möglichkeit, ihre immer noch mehr als 100.000 Mann zählende Armee zu versorgen und über den Winter zu bringen. Der Rest ist Weltgeschichte. Im verlustreichsten Rückzug einer großen Armee erschöpft sich das Napoleonische Heer völlig und wird in der Folge auch aus deutschen Landen vertrieben. Am 30. März 1814 rücken Soldaten des Zaren in Paris ein. Tags darauf reitet Alexander I. gemeinsam mit dem Preußenkönig Friedrich Wilhelm II. und dem österreichischen Feldmarschall Karl Philipp zu Schwarzenberg über die Champs-Élysées. Er lässt sich von deutschen Fürstenhäusern als Befreier feiern, womit politisch eine Phase der Reaktion eingeleitet wird. Der Zar wird zum Sinnbild der Bewahrung einer monarchischen Ordnung.38 Vage versprochene Verfassungsänderungen und Demokratisierungen fanden nicht statt, was vielerorts die Kluft zwischen Adel und Volk vertiefte.

Am Wiener Kongress des Jahres 1815 wurde eine post-napoleonische Neuordnung des Kontinents beschlossen und die Grenzen neu gezogen. Russland endet nun im Westen an der Oder, nachdem ihm Kongresspolen zugestanden wurde. Im äußersten Osten rücken russische Grenzsteine über die Beringstraße auf den amerikanischen Kontinent vor. Die Einigung auf dem als »tanzender« Kongress titulierten Groß­ereignis wird geopolitisch durch die Gründung der »Heiligen Allianz« der Herrscherhäuser Österreichs, Preußens und Russlands begleitet. Von der Aufbruchsstimmung der Französischen Revolution bleibt nichts übrig.

Allianz gegen Russland: Vom Krimkrieg zum deutsch-russischen Zerwürfnis

Vom Osmanischen Reich verweigerte Schutzrechte für orthodoxe Popen und Gläubige, wie sie Russland als Reaktion auf die Entfernung eines silbernen Sternes von der Geburtskirche Jesus in Bethlehem gefordert hatte, waren der formale Auslöser für den Waffengang am nördlichen Ufer des Schwarzen Meeres. Er fand als »Krimkrieg« seinen Platz in den Geschichtsbüchern und dauerte von 1853 bis 1856. Während dieser Zeit fanden, bedingt durch technische Neuerungen und die schlechte Versorgungslage, die blutigsten und verlustreichsten Schlachten zwischen dem Napoleonischen Russlandfeldzug (bis 1815) und dem Ersten Weltkrieg (ab 1914) statt.

Geo- und machtpolitisch ging es, wie schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, um die Aufteilung des Osmanischen Reiches, das von innen langsam erodierte und von außen immer mehr unter Druck kam. Erstmals tauchte im Osten Europas ein neuer »globaler Spieler« auf: Großbritannien. Das britische Herrscherhaus war entschlossen, seine und die Interessen der erstarkenden britischen Industrie im Raum zwischen Balkan und Schwarzem Meer wahrzunehmen und dafür auch entsprechend militärisch aufzutreten. Einem solchen Plan stand in erster Linie Russland entgegen. Also trieb man in London die Kriegspläne gegen Sankt-Peter­burg voran. Vorerst geschah dies indirekt, indem man Konstantinopel dazu drängte, Russland den Krieg zu erklären. Am 1. Oktober 1853 war es soweit. Fünf Monate später fuhren britische und französische Flottenverbände über die Dardanellen ins Schwarze Meer ein, landeten in der Bucht von Jewpatorija auf der Krim und nahmen die Hauptstadt Sewastopol ein. Odessa wurde einen ganzen Tag lang beschossen und dabei zerstört. Nach drei Jahren Schlachtengeheul standen 150.000 Soldaten aus Frankreich, Großbritannien und Sardinien auf der Krim. Russlands Armee war gedemütigt, die Schwarzmeerflotte versenkt.

Der Krimkrieg beendete die Vision von einem »Griechischen Projekt«, wie es Katharina II. imaginiert hatte. Der Zugang zum Mittelmeer, eine der wesentlichen Triebkräfte zaristischer Expansionsbestrebungen, blieb Russland verwehrt. Der Frieden von Paris 1856 goss die auf dem Schlachtfeld erlittene Demütigung in einen Vertrag. Darin verlor das Zarenreich seinen Zugang zur Donaumündung, Teile Bessarabiens sowie die Schutzmachtfunktion über Christen im Osmanischen Reich. Die 40 Jahre zuvor rund um den Wiener Kongress gegründete »Heilige Allianz« aus Österreich, Preußen und Russland zerbrach. Sankt-Peter­burg stand isoliert wie kaum zuvor auf der Weltbühne. Und das Russlandbild im Westen des Kontinents, aber auch in Deutschland, wandelte sich schlagartig. Nun fand sich Russlandhass nicht mehr nur unter Revolutionären und national orientierten studentischen Burschenschaften, die den Idealen der Französischen Revolution anhingen, sondern auch herrschende Kreise – allen voran das britische Königshaus und sein Regierungs­kabinett – entwarfen das Bild vom russischen Feind und dichteten ihm entsprechend negative Charaktereigenschaften an.

Die Einbußen im Westen konnte das Zaren­reich durch den Vormarsch in Zentral­asien nicht adäquat kompensieren. Zwar unterwarfen russische Truppen zwischen 1864 und 1885 turk­sprachi­ge Gebiete südlich von Sibirien bis hin zum Hindukusch,39 aber die Expansion stieß bald an innere und äußere Grenzen. Im Inneren kämpfte der Zar mit Aufständen eben eroberter Völkerschaften und deren Eliten; der äußere Widerstand war indes bedeutsamer, denn an der Nordgrenze Afghanistans begann der britische Einflussbereich, der weitere russische Erweiterungspläne Ende der 1880er Jahre zum Stillstand brachte. Der Vertrag von Sankt Petersburg 1907 schrieb die Demarkationslinie zwischen dem Zarenreich und dem Britischen Empire fest. Afghanistan wurde darin das Schicksal eines Pufferstaates zugedacht.

In den 1870er Jahren nutzte Russland nationale Erhebungen am Balkan, die sich gegen die Hohe Pforte und die Verwaltung des Sultans richteten, für einen weiteren Versuch, Einfluss in Südosteuropa zu erhalten. Dabei geriet es in direkte Konkurrenz mit Österreich-Ungarn, dem Deutschen Reich und Großbritannien. Im Februar 1878 standen zaristische Soldaten vor den Toren Konstantinopels. Und wieder war es das britische Königshaus, diesmal im Verein mit den Habsburgern aus Wien, das den Osmanen zu Hilfe eilte. London drohte dem Zaren mit einer Kriegserklärung und unterstrich dies durch eine massive Präsenz der britischen Flotte in den Dardanellen. Das hielt die Russen ab, das Zentrum Ostroms und der Osmanen im Sturm zu nehmen. Der Friedensschluss zwischen dem Zaren und dem Sultan vom 3. März 1878 in San Stefano bestätigte die territorialen Verluste des Osmanischen Reiches auf dem Balkan und die Gebietsgewinne Bulgariens, Serbiens und Montenegros. Er sollte nicht lange halten. Denn durch das Erstarken Russlands und seiner mit ihm sympathisierenden slawischen Staaten alarmiert trat Berlin auf den Plan und richtete nur drei Monate später eine große internationale Konferenz aus. Am 13. Juni 1878 fanden sich die Vertreter der europäischen Großmächte zur Eröffnung des Berliner Kongresses ein und gaben sich ein koloniales Stelldichein.40 Der Zar verlor an eben gewonnenem Einfluss, San Stefano wurde revidiert, die Osmanen – wenngleich stark geschwächt – im europäischen Spiel gehalten. Die in Berlin vereinbarte Neuordnung Südosteuropas brachte die internationale Bestätigung der staatlichen Anerkennung für Serbien, Montenegro und Rumänien. Großbritannien entriss dem »kranken Mann am Bosporus« Zypern. Österreich-Ungarn wurde das Besatzungsrecht für Bosnien-Herzegowina eingeräumt. Die Kartografen hatten Hochsaison; Europas Landkarte musste neu gezeichnet werden.

Die Parteinahme des österreichischen Kaisers für den Sultan rund um die russische Balkanpolitik entfremdete Wien von Sankt-Peter­burg. So verwundert es nicht, dass die sogenannte Bulgarische Krise des Jahres 1885/86, im Zuge derer der russische Einfluss zurückgedrängt wurde, einen geo­poli­ti­schen Frontenwechsel auslöste. Der nur für wenige Jahre – seit 1881 – bestehende und auf den Herrscherfamilien Romanow, Hohenzollern und Habsburg fußende Dreikaiserbund zerbrach. Zwar unterzeichneten der deutsche Kanzler Otto von Bismarck und der russische Außenminister Nikolaj de Giers im Juni 1887 ein gegenseitiges Stillhalte- oder Neutralitätsabkommen, ein als »Rückversicherungsvertrag« bekannt gewordenes Protokoll. Seine Geheimhaltung war indes schon der damals vorherrschenden antirussischen Stimmung im Deutschen Reich geschuldet. Und als Kaiser Wilhelm II. Bismarck schließlich im März 1890 entließ,41 war an eine Verlängerung des Rückversicherungsvertrages nicht mehr zu denken. Das änderte die deutsch-russische Beziehung grundlegend. Der Russland-Historiker Hans-Heinrich Nolte misst diesem Kurswechsel historische Bedeutung bei, wenn er schreibt, dass innerhalb von zwei Jahren aus Bundesgenossen potenzielle Gegner wurden. Er erklärt auch die wirtschaftspolitischen Hintergründe für diese bedeutende geopolitische Wende: »Auslösend für die Veränderung war vor allem die deutsche Führung, welche aufgrund ihrer durch Industrialisierung und Bevölkerungs­explosion überproportional angestiegenen Machtmittel glaubte, auf das auch im deutschen Nationalismus unpopuläre Freundschaftsverhältnis mit dem Haus Romanow nicht mehr angewiesen zu sein.«42 Russland wandte sich notgedrungen Frankreich zu und schmiedete ein Bündnis mit Paris. Es kann davon ausgegangen werden – und eine Reihe von Historikern bestätigt dies mit ihrer Arbeit –, dass mit dem 1894 beschlossenen französisch-russischen »Zweiverband« die geopolitischen Weichen am Vorabend des Ersten Weltkrieges neu gestellt wurden.

4 Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Rußlands. Stuttgart 2003, S. 65

5 Offiziell wurde der Zarentitel erst 1547 anerkannt. Nolte 2003, S. 59; vgl. auch Andreas Kappeler, Russlands zen­tralasiatische Kolonien. In: Bert Fragner/Andreas Kappeler (Hg.), Zentralasien. 13. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft. Wien 2006, S. 139

6 Nolte 2003, S. 65f.

7 Hans-Heinrich Nolte, Deutsche Ostgrenze, russische Südgrenze, amerikanische Westgrenze. Zur Radikalisierung der Grenzen in der Neuzeit. In: Joachim Becker/Andrea Komlosy (Hg.), Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien 2004, S. 62f.

8 Gespräch mit Alexej Klutschewsky am 30. September 2015

9 Christoph Schmidt, Bäuerliche Freiheit gegen Schollenpflicht. Schweden und Polen als konträre Muster auf dem Weg in die Neuzeit. In: Andrea Komlosy/Hans-Heinrich Nolte/Imbi Sooman (Hg.); Ostsee 700–2000. Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur. Wien 2008, S. 61, 72

10 Nolte 2003, S. 61

11 Ekkehard Klug, Das »asiatische« Russland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils. Nach einem Gastvortrag am Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität Köln, gehalten am 12. Dezember 1986, S. 273

12 Immanuel Geiss, Identität Europas. In: Universitas. Zeitschrift für Wissenschaft und Kultur, Nr. 9/2004 (Stuttgart)

13 Andreas Kappeler, Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Rußlandbildes. Bern/Frankfurt am Main 1972, S. 242

14 Konstanty Zantuan, The Discovery of Modern Russia: Tractatus de duabus Sarmatiis. In: Russian Review 27 (1968), S. 327f.; zit. in: Klug 1986, S. 271f.

15 Klug 1986, S. 274

16 Gustav Bauch, Deutsche Scholaren in Krakau in der Zeit der Renaissance, 1460-1520, in: 78. Jahresbericht der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Breslau 1901, S. 2f. In: Klug 1986, S. 274

17 Andreas Kappeler, Die deutschen Flugschriften über die Moskowier und Iwan den Schrecklichen im Rahmen der Rußlandliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Mechthild Keller (Hg.), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert. München 1985, S. 170

18 Vgl. Wolfgang Geier, Europabilder. Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren. Wien 2009, S. 35

19 zit. in: Klug 1986, S. 275

20 zit. in: Klug, S. 279

21 vgl. Karl-Heinz Ruffmann, Das Rußlandbild im England Shakespeares. Göttingen 1952, S. 82

22 Vgl. z. B. Manfred Hilderheimer, Geschichte Russlands: Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2013, S. 281; siehe auch: Nolte 2033, S. 68f.

23 Nolte 2003, S. 71

24 Stefan Donecker, Konfessionalisierung und religiöse Begegnungen im Ostseeraum. In: Komlosy/Nolte/Sooman 2008, S. 98

25 Gespräch mit Alexej Klutschewsky am 30. September 2015

26 Jacques Margeret, Estat de L’Empire de Russie et Grande Duché de Moscovie. Paris 1669, VI. Zit in: Klug 1986, S. 289

27 Andreas Kappeler, Russland und Europa – Russland in Europa; in: Thomas Ertl/Andrea Komlosy/Hans-Jürgen Puhle (Hg.), Europa als Weltregion. Zentrum, Modell oder Provinz? Wien 2014, S. 100

28 Nolte 2003, S. 75

29 siehe: Guide of the Museum of the History of Zaporozhzhyan Cossaks. The national reserve »Khortitsya«. Saporoschschje o.J. (2004), S. 8

30 Nolte 2003, S. 77

31 Seit ihrer Gründung Mitte der 16. Jahrhunderts entwickelte sich die Elitetruppe mehr und mehr zu einem Staat im Staate. Nach mehreren Aufständen warf ihr Peter der Große Verschwörung vor und hielt ein martialisches Blutgericht. Siehe: Mathias Schreiber, Tyrannischer Aufklärer. In: Uwe Klußmann/Dietmar Pieper (Hg.), Die Herrschaft der Zaren. Russlands Aufstieg zur Weltmacht. München 2013, S. 62

32 Waldemar Guerrier, Leibniz in seinen Beziehungen zu Russland und Peter dem Großen. St. Peterburg/Leipzig 1873 (Nachdruck: Hildesheim 1975), S. 14f.; in: Hans-Heinrich Nolte/Bernhard Schalhorn/Bern Bonwetsch (Hg.), Quellen zur Geschichte Russlands. Stuttgart 2014, S. 91/92

33 Peter Rehder (Hg.), Das neue Osteuropa von A bis Z. München 1993, S. 505, 693

34 Edgar Hösch, Das sogenannte »griechische Projekt« Katharinas II. Ideologie und Wirklichkeit der russischen Orientpolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Band 12 (Neue Folge), München 1964, S. 168f.

35 Nolte 2003, S. 115

36 Hannes Hofbauer/Viorel Roman, Bukowina, Bessarabien, Moldawien. Vergessenes Land zwischen Westeuropa, Ruß­land und der Türkei. Wien 1993, S. 57, 182f.

37 Dies berichtet Napoleon in einem Brief an seine Frau Marie-Louise am 16. September 1812. Zit. in: Klußmann 2013, S. 113

38 Peter Jahn, Befreier und halbasiatische Horden. Deutsche Russenbilder zwischen Napoleonischen Kriegen und Erstem Weltkrieg. In: Unsere Russen, unsere Deutschen. Bilder vom Anderen 1800 bis 2000. Berlin 2007, S. 17

39 Nolte 2003, S. 142

40 vgl. Hannes Hofbauer, Experiment Kosovo. Die Rückkehr des Kolonialismus. Wien 2008, S. 35

41 http://www.wilhelm-der-zweite.de/kaiser/kritik_bismarck.php (17.4.2015)

42 Nolte 2003, S. 146

Befreier oder Barbaren: Konträre Russenbilder im 19. Jahrhundert

In der wechselhaften Vorstellung, die sich Westeuropäer und insbesondere Deutsche über Russen und Russland im 19. Jahrhundert machten, spiegelt sich nicht nur die Geschichte des Kontinents wider, sondern auch die soziale und politische Differenz, die mit der Französischen Revolution offenkundig geworden war. Der Russe als Projektion unterschiedlicher gesellschaftlicher Ansichten konnte mal als Sinnbild des Befreiers von als national erlebter Unterdrückung, mal als Bewahrer der alten Feudalordnung und in wieder anderen Zusammenhängen als Bedrohung derselben auftauchen. Was in all den unterschiedlichen Zuordnungen auffällig ist, ist seine starke Präsenz. Vor allem in deutschen Landen war die Bezugnahme auf Russland und die Russen, ob durch die Herrschaft oder das Volk, seit den napoleonischen Kriegen eine Konstante. Als Freund oder Feind, als Guter oder Böser: Der Russe schien allgegenwärtig.

Die Grundlagen dieser Art von Fremdwahrnehmung bildeten sich in der Französischen Revolution heraus. Mit ihr wurde das Bild von der Gottgegeben­heit fürstlicher Herrschaft gesellschaftlich überwunden.43 Und dies war notwendig, um Debatten darüber überhaupt führen zu können. Wenn einmal die allumfassende Zuständigkeit Gottes in Frage gestellt ist, müssen Antworten auf die Fragen nach den Ursachen von politischen, sozialen, wirtschaftlichen, nationalen oder kulturellen Prozessen und Differenzen im Diesseits gesucht werden. Historische Verantwortung wird zuordenbar, Klasseninteressen werden wahrnehmbar, Nationen formieren sich.

Der napoleonische Feldzug in die Tiefe Russlands (1812), sein Scheitern und die anschließend als »Befreiungskriege« (1813/14) in die Literatur eingegangenen Schlachten prägten das Bild von Russland und den Russen bis zur Revolution von 1848 und darüber hinaus. Spätestens mit der drei­tägigen »Völker­schlacht« bei Leipzig, die 100.000 Tote auf dem Feld zurückließ, vermischte sich das Blut deutscher, österreichischer und russischer Soldaten in der Kriegspropaganda zu einer gemeinsamen Opfergabe, die für den Sieg über Napoleon notwendig war. In deutschen Landen überwog die Dankbarkeit gegenüber den russischen Truppen für die Hilfe bei der Befreiung vom französischen Joch. Dafür ertrugen die Bürger die harten Lasten des Krieges, Einquartierungen und Plünderungen.44 Der preußische Hof mit seinem Stab sowie die adeligen Gutsherren und Groß­agrarier, die von der Kapitulation Napoleons durch Gebietsgewinne direkt profitierten, wussten ohnedies, was sie den zaristischen Truppen schuldig waren. Daraus entstand ein in adeligen Kreisen positives Russlandbild, das sich danach praktisch ohne Unterbrechungen über die turbulenten Revolutionszeiten im Jahr 1848 bis zum Zusammenbruch der Monarchien Anfang des 20. Jahrhunderts halten sollte.

Parallel zum Image als Befreier haftete dem russischen Soldaten jedoch bei jenen, die ihn hautnah am Schlachtfeld zu spüren bekommen haben, das Bild des grauenhaften Schlächters an. Die zig-tausenden Toten, die die Heerstraßen säumten, prägten sich tief ins kollektive Gedächtnis nicht nur französischer, sondern auch deutscher und österreichischer Erzählungen ein. Die Brutalität von Kosaken-Überfällen war sprichwörtlich; sie ließen Angstbilder von Russen entstehen, vor denen der politische Nutzen der Befreiung von napoleonischer Herrschaft abstrakt erschien. Konkret galt »der Russe« deutschen Bürgern und Bauern nach den Franzosenkriegen als barbarisch. In einer Beschreibung aus dem Jahre 1824 wird dies deutlich: »Die meisten Soldaten verschmachteten daher an den Heerstraßen oder endigten ihr jammervolles Leben unter den Peitschenhieben wilder Kosaken und den ausgesuchten Martern, womit rache­dürstende Bauern sie zu Tode quälten. Niemals, soweit die Geschichte hinaufreicht, hat die Welt ein Schauspiel gesehen, das an Grässlichkeit mit diesem Heereszug könnte verglichen werden. Von Moskau bis an den Niemen war links der Heerstraße das Land von Leichnamen von Menschen und Pferden bedeckt.«45

Zum Barbarischen kam die Zuordnung als primitiv, trunksüchtig, asiatisch; Adjektive, die in den folgenden Jahrzehnten Russen als angebliche nationale Charaktereigenschaften zugeschrieben wurden. Auch in Russland selbst wurden die Bilder des unzivilisierten, an die Scholle gebundenen, dumpfen Bauern­tölpels von einer schmalen Schicht liberaler Westler gepflegt. Sie beschreiben den Russen als Inkarnation des Fortschrittsfeindes: »Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen«, gießt der Freimaurer Pjotr Tschaadajew seinen ans Sozialrassistische grenzenden Hass auf die eigenen Landleute aus. In dem auf Französisch verfassten Brief kommt die ganze Verachtung eines Intellektuellen, der sein Land und sein Volk nicht begreift, zum Ausdruck: »Wir haben irgendetwas im Blut, das jeden wahren Fortschritt verhindert.«46 Derlei genetische Zuordnungen wurden bei Tschaadajews Gesinnungsbrüdern im Westen begierig aufgegriffen.

Das Bürgertum und noch mehr die deutsch-nationalen Studentenschaften vergaßen recht bald die postnapoleonischen Lobpreisungen über die russische Hilfe bei der Überwindung der französischen Herrschaft. In diesen Schichten paarte sich das Bild vom mordenden Kosakentrupp mit der revolutionären Stimmung, die in den 1830er Jahren halb Europa und insbesondere deutsche Lande erfasste. Fürstenhäuser und Adelsgeschlechter wiederum sahen ihre Stellung – zu Recht – gerade dadurch bedroht. Das mit harter Hand regierte Zarenreich war ihnen Garant für die alte Ordnung und Bollwerk gegen nationales Aufbegehren des Bürgertums und soziale Begehrlichkeiten der unteren Klassen. Die unterschiedliche, ja diametral entgegengesetzte Wahrnehmung von Russland und den Russen folgte diesem Klassengegensatz. National und revolutionär gesinnte Bürger entwickelten einen wahrhaften Russenhass, während die Bewahrer der Monarchie sich an der Standhaftigkeit des Zarentums aufrichteten. Die liberale Öffentlichkeit war antirussisch, die dynastische Reaktion prorussisch gesinnt.

Eine wesentliche Rolle in dieser Auseinandersetzung spielte dabei die Einschätzung eines polnischen Aufstandes im Jahr 1830. Dieser als »November­aufstand« oder »Polnisch-Russischer Krieg« bekannte Versuch polnischer Nationalisten, die russische Herrschaft über Kongresspolen, das der Zar in Personalunion regierte, loszuwerden, fand großen Widerhall unter revolutionär gesinnten Deutschen. Am 29. November 1830 drangen polnische Militär­kadetten in den Warschauer Belvedere-Palast ein und versuchten, den Bruder des russischen Zaren und polnischen Generalstatthalter, Konstantin Pawlowitsch Romanow, zu töten. Der Anschlag misslang, wurde jedoch von einem Teil der Polen als Fanal für eine allgemeine Erhebung gegen Russland verstanden. Diese scheiterte in wenigen Monaten nicht nur am militärischen Einmarsch russischer Truppen, sondern auch an internen Querelen. Keineswegs stand, wie es die polnische Nationalgeschichte gerne darstellt, die Mehrheit der Polen hinter den Aufständischen. Nicht nur im Adel und im Bürgertum herrschte große Skepsis gegenüber der schlecht organisierten Erhebung, sondern vor allem auch die Bauernschaft verweigerte den Putschisten die Gefolgschaft.47 Ihr war in der Verfassung der Aufständischen vom Mai 1831 keinerlei soziale Besserstellung in Aussicht gestellt worden. Im Gegenteil: Die Magnaten setzten sich mit ihren Wünschen nach einer Festigung der feudalen Ausbeutungsstrukturen durch. Der Novemberaufstand scheiterte kläglich.

Dem Polen-Hype in deutschen Landen (wie auch in Frankreich) konnte dies keinen Abbruch tun.48 In romantischer Verklärung der tatsächlichen Verhältnisse interpretierten vor allem die deutsch-national gesinnten Studentenverbindungen den Machtkampf in Polen als Befreiungskrieg gegen Russland. Ein Strom von polnischen Migranten, die der zaristischen Repressionswelle entkamen, half bei dieser Interpretation der Geschichte. Übrig blieb vor allem die antirussische Stimmung in der liberalen deutschsprachigen Öffentlichkeit. Sie liest sich wie jenes damals bekannte Studentenlied von Philipp Jakob Sieben­pfeiffer, das zu mehreren Anlässen, so auch auf dem berühmten Hambacher Fest Ende Mai 1832 angestimmt wurde. Darin heißt es: »Wir sahen die Polen, sie zogen aus, als des Schicksals Würfel gefallen. Sie ließen die Heimat, das Vaterhaus, in der Barbaren Räuberkrallen: Vor des Zaren finsterem Angesicht beugt der freiheitsliebende Pole sich nicht.«49

Von den Liberalen gehasst, von den Reaktionären verehrt

Im fast lückenlos funktionierenden Zensurregime des preußischen Staates wurde jeder gnadenlos verfolgt, der Kritik an der Obrigkeit und der feudalen Ordnung mit ihren Adelsprivilegien übte. In den Jahrzehnten vor 1848 geriet deswegen ein liberal Gesinnter schnell in die Fänge der deutschen Justiz. Der Hass auf den Zaren, Russland und die Russen bot einen Ausweg. Mit ihm konnte stellvertretend für verbotene Kritik im Inneren gegen ein ähnliches Herrschaftssystem gewettert werden. Doch es war nicht nur der Zar, der als despotisch und willkürlich beschrieben wurde; die deutschen Liberalen des Vormärz entwickelten aus ihrer Feindschaft gegen ihre eigene Monarchie und das fremde Zarentum einen verachtenswerten russischen Volkscharakter. Dieser kam nie ohne die Attribute »faul«, »schmutzig«, »verschlagen«, »versoffen« – mit einem Wort: barbarisch – aus. Damit konstruierten sie die Negation des eigenen Selbstbildes, das als »fleißig«, »sauber«, »ehrlich« und »pflichtbewusst« – mit einem Wort: als »deutsch« – galt. Der »barbarische Russe« war in letzter Konsequenz ein Produkt eines innerdeutschen Machtdiskurses. Aus ihrer Gegnerschaft zum eigenen Preußenkönig entstand im deutsch-national fühlenden Bürgertum über den Umweg der Kritik an der zaristischen Alleinherrschaft ein ausgewachsener Rassismus gegen die Russen.