Feine Freunde - Donna Leon - E-Book

Feine Freunde E-Book

Donna Leon

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Beschreibung

Eine Ermittlung gegen Brunetti? Unmöglich. Zwar geht es nur um seine Eigentumswohnung und die Baubewilligung, doch Brunetti muß das Schlimmste befürchten. Als der zuständige Beamte wenig später von einem Baugerüst stürzt, weiß Brunetti mit Sicherheit, daß es in diesem Fall keineswegs nur um seine eigene Wohnung geht. Seine Ermittlungen führen Brunetti in die venezianische Drogenszene, zu Wucher und Korruption. Nur Feine Freunde können da noch helfen.

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Seitenzahl: 349

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Donna Leon

Feine Freunde

Commissario Brunettis neunter Fall

Roman Aus dem Amerikanischen von

Titel des Originals:

›Friends in High Places‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2001 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, Lucio Silla,

in der Übersetzung von Traude Freudlsperger,

Reclam Verlag, Stuttgart 1990

Umschlagfoto:

›Procuratie Vecchie‹

Copyright © Sarah Quill/

Venice Picture Library

Für Christine Donougherund Roderick Conway-Morris

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23339 1 (14. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60068 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Autorenbiographie

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…Ah, dove Sconsigliato t’inoltri? In queste mura Sai, che non è sicura La tua vita

Ach, Unbesonnener, wo willst du hin? Du weißt wohl, daß in diesen Mauern

[7] 1

Als es klingelte, lag Brunetti mit einem offenen Buch auf dem Bauch im Wohnzimmer auf dem Sofa. Da er allein in der Wohnung war, wußte er, daß er gleich aufstehen und an die Tür gehen mußte, vorher aber wollte er den letzten Absatz des achten Kapitels von Xenophons Anabasis fertig lesen, weil er gespannt war, welch neue Katastrophen die Griechen auf ihrem Rückzug erwarteten. Es klingelte wieder, zwei fordernde kurze Töne, und er legte das Buch hin, die aufgeschlagenen Seiten nach unten, nahm seine Brille ab, deponierte sie auf der Sofalehne und erhob sich. Seine Schritte waren langsam, mochte das Läuten auch noch so dringlich geklungen haben. Es war Samstag vormittag, er hatte dienstfrei und die ganze Wohnung für sich, da Paola zum Rialtomarkt gegangen war, um frische Krabben zu kaufen, und ausgerechnet jetzt mußte es klingeln.

Er nahm an, daß es einer von Chiaras oder Raffis Freunden war oder, schlimmer, irgend so ein religiöser Wahrheitsverkündiger, dem es den größten Spaß machte, die Ruhe der Arbeitsamen zu stören. Brunetti wünschte sich doch vom Leben nichts weiter, als auf dem Rücken liegen und Xenophon lesen zu dürfen, während er darauf wartete, daß seine Frau mit den frischen Krabben nach Hause kam.

»Ja?« brummte er abweisend in die Sprechanlage, um jugendlichen Müßiggang gleich zu entmutigen und Fanatismus jeden Alters abzuschrecken.

»Guido Brunetti?« fragte eine Männerstimme.

[8] »Ja. Was gibt’s?«

»Ich komme vom Katasteramt. Wegen Ihrer Wohnung.« Als Brunetti schwieg, fragte der andere: »Haben Sie unseren Brief nicht bekommen?«

Bei der Frage erinnerte Brunetti sich dunkel daran, vor etwa einem Monat irgendwas Amtliches erhalten zu haben, ein Schriftstück voller Behördenkauderwelsch, in dem es um die Besitzurkunden zur Wohnung oder die zu den Besitzurkunden gehörigen Baugenehmigungen ging, genau wußte er das nicht mehr. Er hatte das Ding nur kurz überflogen und sich über die gestelzte Sprache aufgeregt, bevor er den Brief wieder in den Umschlag gesteckt und in die große Majolikaschale auf dem Tisch rechts neben der Tür geworfen hatte.

»Haben Sie unseren Brief bekommen?« wiederholte der Mann.

»Äh, ja«, antwortete Brunetti.

»Ich bin hier, um mit Ihnen darüber zu reden.«

»Worüber?« fragte Brunetti, während er den Hörer der Gegensprechanlage ans linke Ohr klemmte und sich nach dem Stapel Papiere in der Schale reckte.

»Über Ihre Wohnung«, antwortete der Mann. »Unser Schreiben an Sie.«

»Ach ja, natürlich.« Brunetti wühlte in den Umschlägen und Briefbögen.

»Ich würde darüber gern mit Ihnen sprechen, wenn es recht ist.«

Das Ansinnen traf Brunetti so unvorbereitet, daß er nur »Ja, gut« sagte und schon auf den Knopf drückte, der vier Treppen tiefer die Eingangstür öffnete. »Ganz oben.«

[9] »Ich weiß«, sagte der Mann.

Brunetti hängte ein und zog ein paar Umschläge von zuunterst aus dem Stapel. Eine Stromrechnung, eine Postkarte von den Malediven, die er noch gar nicht gesehen hatte und jetzt schnell las. Dann der Umschlag mit dem blau aufgestempelten Namen der absendenden Dienststelle in der linken oberen Ecke. Er zog den Brief heraus, entfaltete ihn, hielt ihn auf Armeslänge von sich ab, bis die Buchstaben scharf wurden, und überflog ihn.

Dieselben unverständlichen Formulierungen sprangen ihn an: ›Gemäß Statut Nummer 1684B der Kulturgüterkommission‹; ›Unter Verweis auf Absatz 2784 Artikel 127 des Zivilrechts vom 24. Juni 1948, Unterabschnitt 3, Paragraph 5‹; ›Versäumnis, der absendenden Dienststelle die einschlägigen Dokumente zu unterbreiten‹; ›Wert geschätzt gemäß Unterabschnitt 34–V–28 der Verfügung vom 21. März 1947‹. Er überflog die erste Seite nur und blätterte zur zweiten um, fand aber immer noch nur Amts-Chinesisch und Ziffern. Langjährige Erfahrung im Umgang mit der venezianischen Bürokratie hatte ihn gelehrt, daß im letzten Absatz noch etwas versteckt sein konnte, weshalb er sich diesem zuwandte und hier tatsächlich darüber belehrt wurde, daß er weitere Mitteilungen von seiten des Katasteramts zu erwarten habe. Er blätterte an den Anfang zurück, doch aller Sinn, der sich hinter den Worten verbergen mochte, entging ihm.

Da er sich so nah an der Wohnungstür befand, hörte er die Schritte auf dem letzten Treppenlauf und konnte schon öffnen, bevor es klingelte. Der Mann kam soeben die letzten Stufen herauf und hatte bereits die Hand zum [10] Klopfen gehoben, so daß Brunetti als erstes den krassen Widerspruch zwischen der erhobenen Faust und dem ganz und gar bescheidenen Mann dahinter wahrnahm. Dem jungen Mann, den die plötzlich aufgehende Tür wohl erschreckt hatte, stand die Überraschung im Gesicht geschrieben. Dieses war länglich und hatte, wie man es bei Venezianern oft sieht, eine Nase, die aussah wie ein schmaler Schnabel. Der Mann hatte dunkelbraune Augen und braunes Haar, das frisch geschnitten wirkte. Er trug einen Anzug, der vielleicht blau war, aber ebensogut auch grau sein konnte. Die Krawatte war dunkel und hatte ein kleines, nicht erkennbares Muster. In der rechten Hand hielt der Mann eine braune, abgewetzte lederne Aktentasche; sie vervollkommnete das klassische Bild des farblosen Bürokraten – als sei es Teil ihrer Ausbildung, sich möglichst unscheinbar zu machen.

»Franco Rossi«, stellte er sich vor, wobei er die Aktentasche in die andere Hand nahm und seine Rechte ausstreckte.

Brunetti trat nach kurzem Händedruck einen Schritt zurück, um ihn hereinzulassen.

Rossi bat zuerst höflich um Erlaubnis, dann betrat er die Wohnung. Drinnen blieb er stehen und wartete, daß Brunetti ihm den Weg wies.

»Bitte hier herein«, sagte Brunetti, wobei er ihn in das Zimmer führte, in dem er gelegen und gelesen hatte. Er ging zum Sofa, steckte den alten Vaporetto-Fahrschein, den er als Lesezeichen benutzte, in das Buch und legte es auf den Tisch. Dann bedeutete er Signor Rossi, ihm gegenüber Platz zu nehmen, und setzte sich aufs Sofa.

[11] Rossi ließ sich auf der Sesselkante nieder und legte die Aktentasche auf seine Knie. »Ich weiß, daß Samstag ist, Signor Brunetti, und will mich darum bemühen, Ihnen nicht allzuviel Zeit zu stehlen.« Er sah zu Brunetti hinüber und lächelte. »Sie haben also unseren Brief erhalten, nicht wahr? – Ich hoffe, Sie hatten Zeit, darüber nachzudenken, Signore«, fügte er mit einem weiteren kurzen Lächeln hinzu. Er senkte den Kopf, öffnete seine Aktentasche und entnahm ihr eine dicke blaue Mappe, die er peinlich genau mitten auf die Tasche legte. Dann schnippte er gegen ein unbotmäßiges Blatt Papier, das unten herauszurutschen drohte, bis es wieder wohlbehalten im Stapel steckte.

»Genaugenommen«, sagte Brunetti und zog den Brief aus der Tasche, in die er ihn beim Türöffnen gestopft hatte, »war ich gerade dabei, ihn noch einmal zu lesen, und ich muß sagen, daß ich die Ausdrucksweise ein wenig unverständlich finde.«

Rossi blickte auf, und Brunetti sah einen Ausdruck ehrlicher Verblüffung über sein Gesicht huschen. »Ach ja? Und ich dachte, sie sei sehr klar.«

Brunetti antwortete mit freundlichem Lächeln: »Sicher ist sie das für Leute, die mit so etwas tagtäglich zu tun haben. Aber wer mit der speziellen Fachterminologie Ihrer Dienststelle nicht vertraut ist, nun, für den ist das etwas schwierig zu verstehen.« Als Rossi darauf nichts sagte, fuhr Brunetti fort: »Sicher beherrschen wir alle den jeweiligen Jargon unseres eigenen Metiers; wahrscheinlich finden wir immer nur den der anderen schwierig.« Er lächelte wieder.

»In welchen Metiers kennen Sie sich denn aus, Signor Brunetti?«

[12] Brunetti, der normalerweise nicht damit hausieren ging, daß er Polizist war, antwortete nur: »Ich habe Jura studiert.«

»Aha«, meinte Rossi. »Dann würde ich aber nicht denken, daß unsere Terminologie sich allzusehr von der Ihren unterscheidet.«

»Vielleicht liegt es einfach daran, daß ich mit den Zivilrechtsartikeln, auf die in Ihrem Brief verwiesen wird, nicht so vertraut bin«, räumte Brunetti ein.

Rossi dachte darüber kurz nach und meinte dann: »Ja, das kann durchaus sein. Aber was ist es denn genau, was Sie nicht verstehen?«

»Worum es überhaupt geht«, antwortete Brunetti ohne Umschweife, denn er hatte keine Lust mehr, so zu tun, als hätte er überhaupt etwas verstanden.

Wieder dieses verdutzte Gesicht, so offen und ehrlich, daß Rossi fast jungenhaft aussah. »Was sagten Sie?«

»Worum es dabei geht. Ich habe den Brief gelesen, aber da ich, wie gesagt, nichts von den Bestimmungen verstehe, auf die er sich bezieht, weiß ich nicht, was das Ganze bedeutet, also worum es geht.«

»Natürlich geht es um Ihre Wohnung«, gab Rossi schnell zur Antwort.

»Ja, soviel habe ich begriffen«, sagte Brunetti, sehr um einen geduldigen Ton bemüht. »Da der Brief von Ihrer Behörde kam, konnte ich mir soviel immerhin denken. Wobei ich allerdings nicht verstehe, welche Art von Interesse Ihre Behörde an meiner Wohnung haben könnte.« Abgesehen davon verstand er auch nicht, was einen Beamten dieser Behörde umtrieb, an einem Samstag bei ihm vorstellig zu werden.

[13] Rossi blickte die Mappe auf seinem Schoß an, dann Brunetti, der plötzlich erstaunt feststellte, wie lang und dunkel die Wimpern des jungen Mannes waren, fast wie bei einer Frau. »Aha, aha«, sagte Rossi nickend und senkte den Blick wieder auf seine Mappe, die er dann aufklappte, um eine andere, kleinere herauszuziehen, kurz die Aufschrift zu betrachten und sie Brunetti mit den Worten hinüberzureichen: »Vielleicht macht das die Sache klarer.« Bevor er die Mappe, die noch auf seinem Schoß lag, wieder zuklappte, schob er sorgsam die Blätter darin übereinander.

Brunetti öffnete die kleinere Mappe und nahm die Papiere heraus. Als er die kleine Schrift sah, griff er nach links hinüber und nahm sich seine Brille. Oben auf dem ersten Blatt stand die Adresse des Hauses, darunter waren Grundrißpläne der Wohnungen unter Brunettis eigener zu sehen. Das nächste Blatt war ein Verzeichnis früherer Besitzer dieser Räumlichkeiten, beginnend mit den Lagerräumen im Erdgeschoß. Auf den nächsten beiden waren anscheinend alle Restaurierungsarbeiten, die seit 1947 in dem Gebäude vorgenommen worden waren, in Kurzform festgehalten und die Daten aufgeführt, zu denen bestimmte Genehmigungen beantragt und erteilt worden waren, sowie das Datum, an dem die Arbeiten tatsächlich begonnen hatten, und schließlich das Datum, an dem die fertige Arbeit abgenommen worden war. Brunettis Wohnung wurde nirgendwo erwähnt, woraus er schloß, daß die betreffenden Informationen in den Papieren sein mußten, die Rossi noch auf dem Schoß liegen hatte.

Soweit für Brunetti ersichtlich, war die Wohnung unter der seinen zuletzt 1977 restauriert worden, als die [14] derzeitigen Besitzer einzogen. Zuletzt offiziell restauriert, heißt das. Sie hatten schon öfter bei den Calistas zu Abend gegessen und sich an dem fast völlig freien Blick erfreut, den man aus ihren Wohnzimmerfenstern hatte, aber die in dem Plan eingezeichneten Fenster sahen doch eher klein aus, und zudem waren es offenbar nur vier, nicht sechs. Er sah in dem Plan auch nirgendwo die kleine Gästetoilette links neben der Eingangsdiele. Wie kann das nur angehen? überlegte er, aber Rossi schien ihm nicht der Mann zu sein, den man so etwas fragen sollte. Je weniger das Ufficio Catasto über Um- und Anbauten in diesem Gebäude wußte, desto besser für alle, die darin wohnten.

Er sah zu Rossi hinüber und fragte: »Diese Unterlagen gehen ja weit zurück. Haben Sie eine Ahnung, wie alt das Haus ist?«

Rossi schüttelte den Kopf. »So genau nicht. Aber aus der Lage der Fenster im Erdgeschoß würde ich schließen, daß der ursprüngliche Bau frühestens im späten fünfzehnten Jahrhundert errichtet wurde.« Er hielt kurz inne und überlegte, bevor er hinzufügte: »Und das oberste Geschoß wurde nach meiner Schätzung im frühen neunzehnten Jahrhundert hinzugefügt.«

Brunetti sah erstaunt von den Plänen auf. »Nein, viel später. Nach dem Krieg.« Und als Rossi nichts darauf sagte, ergänzte er: »Dem Zweiten Weltkrieg.«

Als Rossi noch immer nicht darauf einging, fragte Brunetti: »Würden Sie das nicht bestätigen?«

Nach kurzem Zögern sagte Rossi: »Ich sprach vom obersten Stockwerk.«

»Ich auch«, versetzte Brunetti scharf, denn allmählich [15] ärgerte es ihn, daß dieser Vertreter einer Behörde, die sich den ganzen Tag mit Baugenehmigungen befaßte, etwas so Simples nicht begriff. Dann fuhr er in etwas sanfterem Ton fort: »Als ich die Wohnung gekauft habe, ging ich davon aus, daß sie nach dem letzten Krieg hinzugefügt wurde, nicht im neunzehnten Jahrhundert.«

Statt einer Antwort deutete Rossi mit einer Kopfbewegung auf die Papiere in Brunettis Hand. »Vielleicht sollten Sie sich die letzte Seite einmal etwas genauer ansehen, Signor Brunetti.«

Verwundert las Brunetti die letzten Absätze noch einmal durch, aber soweit er verstand, betrafen sie immer noch nur die beiden Wohnungen unter ihm. »Ich weiß nicht recht, was ich da Ihrer Meinung nach sehen soll, Signor Rossi«, sagte er, indem er aufblickte und seine Brille abnahm. »Das hier betrifft nur die Wohnungen unter uns, nicht unsere. Von diesem Stockwerk hier ist gar nicht die Rede.« Er drehte das Blatt um, ob auf der Rückseite noch etwas stand, aber sie war leer.

»Deswegen bin ich hier«, sagte Rossi und richtete sich bei diesen Worten in seinem Sessel ein wenig auf. Dann bückte er sich kurz und stellte die Aktentasche links von seinen Füßen auf den Boden, nur die Mappe behielt er auf dem Schoß.

»So?« meinte Brunetti und reichte ihm die andere Mappe wieder hinüber.

Rossi nahm sie und öffnete sie. Er schob die kleinere Mappe sorgsam wieder hinein und klappte das Ganze zu. »Ich muß Ihnen leider sagen, daß es gewisse Zweifel hinsichtlich des amtlichen Status Ihrer Wohnung gibt.«

[16] »›Amtlicher Status‹?« wiederholte Brunetti, wobei er links an Rossi vorbei auf die solide Wand und dann nach oben zu der ebenso soliden Decke blickte. »Ich glaube, ich verstehe nicht so recht, was Sie damit meinen.«

»Es gibt hinsichtlich dieser Wohnung gewisse Zweifel«, sagte Rossi mit einem Lächeln, das Brunetti ein bißchen nervös vorkam. Ehe er aber wieder um Klärung bitten konnte, fuhr Rossi fort: »Das heißt, daß es im Ufficio Catasto keine Dokumente gibt, die besagen, daß für dieses gesamte Stockwerk jemals eine Baugenehmigung erteilt wurde, oder daß es nach dem Bau amtlich abgenommen wurde, oder…« – und hier lächelte er wieder – »…daß es überhaupt je gebaut wurde.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Nach unseren Unterlagen ist das Stockwerk unter diesem hier das oberste.«

Zuerst hielt Brunetti das für einen Witz, doch dann sah er das Lächeln im Gesicht des anderen schwinden und merkte daran, daß Rossi es ernst meinte. »Aber sämtliche Unterlagen sind bei den Dokumenten, die wir beim Kauf der Wohnung bekommen haben.«

»Könnten Sie mir diese Dokumente zeigen?«

»Natürlich«, sagte Brunetti und stand auf. Ohne sich zu entschuldigen, ging er in Paolas Arbeitszimmer, wo er einen Moment stehenblieb und die Buchrücken betrachtete, die drei Wände des Zimmers einnahmen. Schließlich griff er ins oberste Fach und zog einen großen, prall mit Papieren gefüllten Umschlag heraus, den er mit in das andere Zimmer nahm. An der Tür hielt er inne, um den Umschlag zu öffnen, und zog die graue Mappe heraus, die sie vor fast zwanzig Jahren von dem Notar bekommen hatten, der den [17] Wohnungskauf für sie getätigt hatte. Dann ging er zu Rossi und gab ihm diese Mappe.

Rossi öffnete sie und begann zu lesen, wobei er mit dem Finger langsam die Zeilen entlangfuhr. Er blätterte um und las die nächste Seite, und so ging es weiter bis zum Ende. Einmal entfuhr ihm ein gedämpftes »Hmm«, aber er sagte nichts. Er las die ganze Akte, klappte sie zu und ließ sie auf seinen Knien liegen.

»Ist das alles an Dokumenten?« fragte Rossi.

»Ja, nur das.«

»Keine Pläne? Keine Baugenehmigungen?«

Brunetti schüttelte den Kopf. »Nein. An so etwas erinnere ich mich nicht. Das sind die einzigen Unterlagen zu dem Kauf, die wir damals bekommen haben. Ich glaube, seitdem habe ich sie nie mehr angesehen.«

»Sie sagen, Sie haben Jura studiert, Signor Brunetti?« fragte Rossi endlich.

»Ja, genau.«

»Praktizieren Sie als Anwalt?«

»Nein, das nicht«, antwortete Brunetti und beließ es dabei.

»Wenn Sie nämlich praktizierender Anwalt wären – oder damals gewesen wären, als Sie diesen Vertrag unterschrieben –, dann müßte ich mich doch sehr wundern, daß Sie auf Seite drei der Urkunde den Absatz übersehen haben, der besagt, daß Sie die Wohnung ›in dem äußerlichen Zustand und dem rechtlichen Status‹ kaufen, in dem sie sich Ihnen am Tag der Inbesitznahme präsentierte.«

»Das ist doch wohl die in allen Kaufverträgen übliche Formulierung«, sagte Brunetti, der sich vage an die [18] Vorlesungen in Zivilrecht erinnerte und hoffte, daß er sich das richtig gemerkt hatte.

»Das mit dem äußerlichen Zustand ja, aber nicht das mit dem rechtlichen Status. Und ganz gewiß auch nicht dieser Satz«, sagte Rossi, wobei er die Mappe wieder aufschlug und suchte, bis er den Satz gefunden hatte: »›Bei Nichtvorliegen einer Baugenehmigung verpflichtet sich der Käufer, eine solche fristgerecht nachträglich zu beantragen, und stellt den Verkäufer hiermit von allen Verpflichtungen und Folgekosten frei, die sich aus dem rechtlichen Status der Wohnung und/oder dem Nichteinholen der nachträglichen Baugenehmigung ergeben könnten.‹« Rossi sah auf, und Brunetti meinte in seinen Augen eine tiefe Traurigkeit ob des bloßen Gedankens zu erkennen, daß ein Mensch so etwas unterschrieben haben konnte.

Brunetti erinnerte sich gar nicht an einen solchen Satz. Überhaupt waren sie damals beide so erpicht auf den Kauf der Wohnung gewesen, daß er nur getan hatte, was der Notar ihm sagte, und unterschrieb, was der Notar ihm vorlegte.

Rossi wandte sich wieder dem Deckblatt zu, auf dem der Name des Notars stand. »Hatten Sie sich diesen Notar ausgesucht?« fragte er.

Brunetti, der sich nicht einmal an den Namen erinnerte, mußte erst einen Blick auf das Deckblatt werfen. »Nein, der Verkäufer hatte ihn uns empfohlen, und wir haben ihn daraufhin genommen. Warum?«

»Ach, nur so«, antwortete Rossi etwas zu schnell.

»Warum? Wissen Sie etwas über ihn?«

»Ich glaube, er praktiziert nicht mehr als Notar«, sagte Rossi leise.

[19] Brunetti ging angesichts von Rossis Fragerei allmählich die Geduld aus. »Ich möchte jetzt wissen, Signor Rossi«, herrschte er ihn schließlich an, »was das alles heißen soll. Steht es vielleicht in Frage, wem die Wohnung gehört?«

Rossi setzte wieder sein nervöses Lächeln auf. »Ich fürchte, es ist noch ein wenig komplizierter, Signor Brunetti.«

Brunetti konnte sich nicht denken, was denn noch komplizierter hätte sein können. »Und das wäre?«

[20] 2

»Wie bitte?« entfuhr es Brunetti, bevor er sich bremsen konnte. Er hörte die Empörung in der eigenen Stimme, versuchte aber gar nicht erst, sie zu mäßigen. »Was soll das heißen, ›nicht existiert‹?«

Rossi drückte sich in seinem Sessel ganz weit nach hinten, wie um aus der unmittelbaren Reichweite von Brunettis Zorn herauszukommen. Er machte ein Gesicht, als wollte ihm nicht einleuchten, wieso jemand so heftig darauf reagierte, daß er die Existenz einer wahrnehmbaren Wirklichkeit in Frage gestellt hatte. Als er aber sah, daß Brunetti nicht handgreiflich werden wollte, wurde er etwas lockerer, rückte die Papiere auf seinem Schoß zurecht und sagte: »Ich meine, sie existiert für uns nicht, Signor Brunetti.«

»Aha, für Sie – und das heißt?« fragte Brunetti.

»Das heißt, es gibt bei uns keinerlei Unterlagen. Keine Anträge auf eine Baugenehmigung, keine Pläne, keine Endabnahme der abgeschlossenen Baumaßnahmen. Kurz, es gibt keinerlei Urkunden darüber, daß diese Wohnung je gebaut wurde.« Bevor Brunetti etwas einwenden konnte, ergänzte Rossi, eine Hand auf der Mappe, die ihm Brunetti gegeben hatte: »Und Sie können uns bedauerlicherweise auch keine liefern.«

Brunetti mußte an eine Geschichte denken, die Paola ihm über einen englischen Schriftsteller erzählt hatte, der, konfrontiert mit einem Philosophen, der behauptete, es gebe keine Wirklichkeit, mit dem Fuß gegen einen Stein getreten [21] und zu dem Philosophen gesagt hatte, er solle solange die nehmen. Er richtete seine Gedanken wieder auf das Näherliegende. Seine Kenntnisse über die Zuständigkeiten anderer städtischer Dienststellen mochten lückenhaft sein, aber seines Wissens registrierte das Katasteramt nur die Eigentumsverhältnisse. »Ist es eigentlich normal, daß Ihre Dienststelle derartige Nachforschungen anstellt?«

»Nein, jedenfalls war es das früher nicht«, antwortete Rossi mit einem schüchternen Lächeln, als wüßte er es zu schätzen, daß Brunetti immerhin gut genug informiert war, um diese Frage zu stellen. »Aber aufgrund eines neuen Erlasses wurde meine Dienststelle beauftragt, eine vollständige computerisierte Aufstellung aller Wohnhäuser in der Stadt anzufertigen, die von der Kulturgüterkommission zu historischen Denkmälern erklärt wurden. Dieses Haus gehört dazu. Wir sind dabei, alle Unterlagen und Akten aus den verschiedenen Ämtern in der Stadt zusammenzutragen. So wird dann eine zentrale Behörde, nämlich unsere, Kopien von sämtlichen Dokumenten zu jeder der fraglichen Wohnungen haben. Am Ende wird dieses zentralisierte System ungeheuer viel Zeit sparen.«

Als Brunetti das zufriedene Lächeln sah, mit dem Rossi das erzählte, mußte er an den Artikel im Gazzettino vor zwei Wochen denken, in dem es hieß, daß die Stadt wegen Geldmangels das Ausbaggern der Kanäle eingestellt habe. »Wie viele Wohnungen gibt es denn?« fragte er.

»Oh, das wissen wir selbst nicht. Unter anderem wird diese Erhebung ja deswegen gemacht.«

»Wann wurde damit angefangen?«

»Vor elf Monaten«, antwortete Rossi so prompt, daß [22] Brunetti sicher war, auf Nachfrage auch noch das genaue Datum mit Tag und Stunde genannt zu bekommen.

»Und wie viele Akten sind inzwischen komplett?«

»Also, da viele von uns aus freien Stücken auch samstags arbeiten, sind es jetzt schon über hundert«, antwortete Rossi nicht ohne Stolz.

»Und wie viele Leute arbeiten an dem Projekt?«

Rossi blickte auf seine rechte Hand und begann, mit dem Daumen angefangen, die Kollegen an den Fingern abzuzählen. »Acht, wenn ich keinen vergessen habe.«

»Acht«, wiederholte Brunetti. Er riß sich von den Berechnungen los, die er im Geiste angestellt hatte, und fragte: »Was hat das nun alles zu bedeuten? Speziell für mich?«

Rossis Antwort kam prompt. »Wenn wir für eine Wohnung keine Unterlagen haben, bitten wir als erstes den Eigentümer, sie uns zur Verfügung zu stellen. Aber hierin finde ich nichts Geeignetes.« Er zeigte auf die dünne Mappe. »Sie haben nur die Kaufurkunde, also müssen wir annehmen, daß Sie vom Vorbesitzer keine Unterlagen erhalten haben, die sich auf den ursprünglichen Bau beziehen.« Ehe Brunetti ihn unterbrechen konnte, fuhr Rossi rasch fort: »Das heißt, sie sind entweder verlorengegangen, was voraussetzt, daß sie einmal existiert haben, oder eben nicht. Existiert haben, meine ich.« Er sah zu Brunetti hinüber, der schwieg, und fügte hinzu: »Wenn sie aber verlorengegangen sind und Sie sagen, Sie hätten nie welche gehabt, dann müssen sie wohl bei einer der städtischen Behörden verlorengegangen sein.«

»Was würden Sie in diesem Fall denn unternehmen, um sie wiederzufinden?« fragte Brunetti.

[23] »Oh«, begann Rossi, »so einfach ist das nicht. Wir sind nicht verpflichtet, Kopien dieser Dokumente aufzubewahren. Das Zivilrecht stellt klar, daß es die Aufgabe dessen ist, dem die in Frage stehende Liegenschaft gehört. Ohne eigene Kopien können Sie nicht bemängeln, daß die unseren verlorengegangen sind, wenn Sie verstehen, was ich meine«, sagte er mit einem erneuten Lächeln. »Und es ist uns nicht möglich, eine Suche nach den Dokumenten zu veranlassen, da wir es uns nicht leisten können, Arbeitskräfte für eine Suchaktion abzustellen, die sich als vergeblich erweisen könnte.« Als er Brunettis Gesicht sah, erklärte er: »Weil es ja sein könnte, daß es die Dokumente gar nicht gibt, verstehen Sie?«

Brunetti biß sich auf die Unterlippe, dann fragte er: »Und wenn sie nun nicht verlorengegangen sind, sondern einfach nie existiert haben?«

Rossi senkte den Blick und drückte an seiner Armbanduhr herum, bis sie genau auf der Mitte des Handgelenks saß. »In diesem Fall, Signore«, erklärte er endlich, indem er zu Brunetti aufblickte, »ist es so, daß nie eine Genehmigung erteilt und die fertige Arbeit nie abgenommen wurde.«

»Das ist durchaus möglich, nehme ich an?« sagte Brunetti im Frageton. »Es ist ja nach dem Krieg unglaublich viel gebaut worden.«

»O ja«, bestätigte Rossi mit der gespielten Bescheidenheit dessen, der sein ganzes Arbeitsleben genau mit solchen Dingen zu tun hat. »Aber die meisten dieser Projekte, egal ob kleine Restaurierungsarbeiten oder ausgiebige Umbauten, wurden nachträglich genehmigt und sind somit legal, jedenfalls für uns. Das Problem bei Ihnen ist, daß es auch [24] keine nachträgliche Genehmigung gibt«, erklärte er mit einer Handbewegung, die alle die anstößigen Wände, Decken und Fußböden erfaßte.

»Wenn ich meine Frage wiederholen darf, Signor Rossi«, sagte Brunetti mit einer geradezu olympischen Gelassenheit in der Stimme, »was hat das nun alles für mich und meine Wohnung zu bedeuten?«

»Ich bin bedauerlicherweise nicht befugt, Ihnen diese Frage zu beantworten, Signore«, sagte Rossi, indem er Brunetti die Mappe zurückgab. Er bückte sich, nahm seine Aktentasche vom Boden und erhob sich. »Meine Aufgabe ist es nur, die Wohnungsbesitzer aufzusuchen und festzustellen, ob die fehlenden Papiere sich in ihrem Besitz befinden.« Sein Gesicht wurde ernst, und Brunetti glaubte, ehrliche Enttäuschung darin zu erkennen. »Es betrübt mich, erfahren zu müssen, daß sich in Ihrem Besitz keine befinden.«

Brunetti stand auf. »Und was jetzt?«

»Das hängt vom Katasterausschuß ab«, sagte Rossi mit einem Schritt zur Tür hin.

Brunetti machte eine Bewegung nach links, womit er sich Rossi zwar nicht direkt in den Weg stellte, aber eindeutig ein Hindernis zwischen dem jungen Mann und der Tür bildete. »Sie meinen also, das Stockwerk unter uns wurde im neunzehnten Jahrhundert hinzugefügt. Aber wenn das später war, etwa zur gleichen Zeit wie diese Wohnung hier, würde das etwas ändern?« Brunetti konnte sich noch so sehr bemühen, es gelang ihm nicht, die blanke Hoffnung aus seiner Stimme herauszuhalten.

Rossi überlegte lange, dann antwortete er schließlich in einem Ton der mustergültigen Umsicht und Zurückhaltung: [25] »Vielleicht. Ich weiß, daß für das untere Stockwerk alle Genehmigungen und Abnahmen vorliegen. Wenn also nachgewiesen werden könnte, daß dieses Stockwerk hier zur selben Zeit hinzugefügt wurde, wäre das ja vielleicht ein Hinweis darauf, daß die Genehmigungen irgendwann einmal erteilt worden sein müssen.« Er kam ins Grübeln – ein Bürokrat, der sich vor ein neues Problem gestellt sieht. »Ja, das könnte etwas ändern, obwohl ich bestimmt nicht derjenige bin, der darüber zu entscheiden hätte.«

Durch die Aussicht auf Begnadigung momentan wieder im Aufwind, ging Brunetti zur Terrassentür und öffnete sie. »Ich will Ihnen mal was zeigen«, sagte er zu Rossi und deutete durch die offene Tür nach draußen. »Ich fand schon immer, daß die Fenster unter uns genau die gleichen sind wie unsere.« Ohne sich nach Rossi umzudrehen, sprach er weiter: »Wenn Sie nur mal hier nach unten gucken, ein wenig nach links, dann sehen Sie, was ich meine.« Mit einer in langen Jahren erworbenen Lässigkeit beugte sich Brunetti, gestützt auf die weit auseinandergespreizten Hände, über die taillenhohe Mauer, um auf die Fenster der Wohnung unter seiner zu blicken. Doch bei näherer Betrachtung waren die Fenster ganz und gar nicht gleich; die unteren hatten Stürze aus weißem istrischen Marmor, während seine eigenen nichts weiter waren als in die Backsteinmauer geschnittene Rechtecke.

Er richtete sich wieder auf und drehte sich zu Rossi um. Der junge Mann stand wie angewurzelt, den linken Arm mit offener Handfläche vorgestreckt, als wollte er bösen Geistern wehren. Dabei starrte er mit weitaufgerissenem Mund Brunetti an.

[26] Der machte einen Schritt auf ihn zu, aber Rossi wich mit immer noch erhobener Hand rasch nach hinten aus.

Brunetti blieb an der Tür stehen. »Ist Ihnen nicht gut?«

Der jüngere Mann versuchte etwas zu sagen, doch es kam kein Ton heraus. Er ließ den Arm sinken und gab etwas von sich, doch seine Stimme war so leise, daß Brunetti es nicht verstand.

Um die peinliche Situation zu überwinden, sagte Brunetti schließlich: »Na ja, ich könnte mich mit den Fenstern ja auch geirrt haben, und es gibt dort gar nichts zu sehen.«

Rossis Gesicht entspannte sich, und er versuchte zu lächeln, aber seine Nervosität blieb und war ansteckend.

Um die Terrasse ganz aus den Gedanken zu verdrängen, sagte Brunetti: »Könnten Sie mir vielleicht eine Vorstellung davon geben, was das Ganze für Konsequenzen haben kann?«

»Wie bitte?«

»Was wird nun wahrscheinlich passieren?«

Rossi trat einen Schritt zurück und holte zur Antwort aus, wobei er in den litaneiartigen Rhythmus dessen verfiel, der sich selbst schon unzählige Male dasselbe hat sagen hören. »In dem Fall, daß zur Zeit des Neubaus eine Genehmigung beantragt, aber letztlich nicht erteilt wurde, wird eine Geldstrafe verhängt, deren Höhe sich nach der Schwere des Verstoßes gegen die damals gültige Bauordnung richtet.« Brunetti rührte sich nach wie vor nicht, und der junge Mann fuhr fort: »In dem Fall, daß eine Genehmigung weder beantragt noch letztlich erteilt wurde, geht die Sache weiter an die Sovraintendenza dei Beni Culturali, deren [27] Entscheidung davon abhängt, welchen Schaden der illegale Bau dem Stadtbild zufügt.«

»Und?« bohrte Brunetti weiter.

»Und manchmal wird dann eine Geldstrafe verhängt.«

»Und?«

»Und manchmal muß der beanstandete Bau abgerissen werden.«

»Was?« brauste Brunetti auf. Alle vorgetäuschte Ruhe war dahin.

»Manchmal muß der beanstandete Bau abgerissen werden.« Rossi lächelte matt, was wohl heißen sollte, daß er für diese Eventualität in keiner Weise verantwortlich war.

»Aber das ist mein Zuhause«, sagte Brunetti. »Es ist meine Wohnung, über deren Abriß Sie da reden.«

»So weit kommt es selten, glauben Sie mir«, sagte Rossi, um einen beruhigenden Ton bemüht.

Brunetti brachte kein Wort heraus. Rossi sah das und begab sich rasch in Richtung Wohnungstür. Er hatte sie gerade erreicht, da drehte sich ein Schlüssel im Schloß, die Tür wurde aufgestoßen, und herein kam Paola, deren Aufmerksamkeit zwischen zwei großen Plastiktüten, dem Hausschlüssel und den drei Zeitungen verteilt war, die ihr gerade unter dem linken Arm herausrutschten. Sie bemerkte Rossi erst, als er instinktiv einen Satz machte, um die fallenden Zeitungen aufzufangen. Erschrocken schnappte sie nach Luft, ließ die Tüten los und wich rasch nach hinten aus, wobei sie mit dem Ellbogen gegen die offene Tür stieß. Sie riß den Mund auf, vielleicht vor Schreck, vielleicht vor Schmerz, und begann ihren Ellbogen zu reiben.

Brunetti sprang schnell zu ihr. »Paola!« rief er. »Schon [28] gut, Paola. Er war zu Besuch hier.« Damit ging er um Rossi herum und legte Paola die Hand auf den Arm. »Du hast uns ganz schön überrascht«, sagte er, um sie zu beruhigen.

»Ihr mich auch«, erwiderte sie, mühsam lächelnd.

Brunetti hörte ein Geräusch hinter sich, und als er sich umdrehte, sah er Rossi, der seine Aktentasche an die Wand gelehnt hatte, auf dem Boden knien und Orangen einsammeln, um sie wieder in die Plastiktüte zu tun.

»Signor Rossi«, sagte Brunetti. Der junge Mann blickte auf, und da er mit den Orangen gerade fertig war, erhob er sich und stellte die Tüte auf den Tisch neben der Tür.

»Das ist meine Frau«, erklärte Brunetti überflüssigerweise.

Paola ließ ihren Ellbogen in Ruhe und gab Rossi die Hand. Sie tauschten die üblichen Höflichkeiten, Rossi entschuldigte sich, daß er sie erschreckt hatte, und Paola erklärte es für nicht so schlimm.

»Signor Rossi kommt vom Katasteramt«, sagte Brunetti endlich.

»Katasteramt?«

»Ja, Signora«, bestätigte Rossi. »Ich wollte mit Ihrem Mann über Ihre Wohnung sprechen.«

Paola warf einen kurzen Blick zu Brunetti, und was sie in seinem Gesicht sah, veranlaßte sie, sich mit ihrem gewinnendsten Lächeln wieder Rossi zuzuwenden. »Wie mir scheint, wollten Sie gerade gehen, Signor Rossi. Lassen Sie sich bitte durch mich nicht aufhalten. Mein Mann wird mir sicher alles erklären. Kein Grund für Sie, hier Ihre Zeit zu vergeuden, noch dazu an einem Samstag.«

»Sehr freundlich, Signora«, sagte Rossi in herzlichem [29] Ton. Er wandte sich Brunetti zu, dankte ihm, daß er sich Zeit für ihn genommen habe, und entschuldigte sich noch einmal bei Paola, dann verabschiedete er sich ohne erneuten Händedruck.

Kaum hatte Paola die Tür hinter ihm zugemacht, fragte sie: »Katasteramt?«

[30] 3

Abreißen?« wiederholte Paola, die nicht recht wußte, ob sie darauf mit Erstaunen oder mit Lachen reagieren sollte. »Wovon redest du, Guido?«

»Er hat mir etwas davon erzählt, daß es im Katasteramt keine Unterlagen für unsere Wohnung gibt. Die haben nämlich angefangen, alle ihre Unterlagen zu computerisieren, aber nun finden sie keinen Beleg dafür, daß für diese Wohnung, als sie gebaut wurde, eine Baugenehmigung erteilt oder überhaupt beantragt worden ist.«

»Das ist doch absurd«, sagte Paola, während sie sich nach den Zeitungen bückte und sie Brunetti gab. Dann hob sie die restlichen Plastiktüten auf und ging über den Flur in Richtung Küche. Dort stellte sie die Tüten auf den Tisch und begann den Inhalt einzeln herauszunehmen. Während Brunetti erzählte, kamen nacheinander Tomaten, Zwiebeln und fingergroße Zucchiniblüten zutage.

Als Brunetti die Blüten sah, unterbrach er seinen Bericht über Rossi und fragte: »Was hast du damit vor?«

»Risotto, denke ich.« Sie bückte sich, um ein in weißes Papier gewickeltes Päckchen in den Kühlschrank zu legen. »Weißt du noch, wie gut der war, den Roberta uns letzte Woche vorgesetzt hat, der mit dem Ingwer?«

»Hmm«, antwortete Brunetti, der sich willig auf das viel angenehmere Thema Mittagessen bringen ließ. »Viel Andrang am Rialto?«

»Als ich hinkam, noch nicht«, antwortete sie, »aber als [31] ich wieder ging, war es gerammelt voll, meist Touristen, die, soweit ich sehen konnte, gekommen waren, um andere Touristen zu fotografieren. In ein paar Jahren werden wir schon vor Sonnenaufgang hingehen müssen, sonst können wir uns dort nicht mehr bewegen.«

»Was zieht die Leute nur zum Rialto?« fragte er.

»Der Markt vermutlich. Warum fragst du?«

»Haben sie denn bei sich zu Hause keine Märkte? Gibt es da keine Lebensmittel zu kaufen?«

»Weiß der Himmel, was sie bei sich zu Hause haben«, antwortete Paola mit leiser Entrüstung in der Stimme. »Was hat dieser Signor Rossi denn sonst noch gesagt?«

Brunetti lehnte sich mit dem Rücken an den Küchentresen. »Er hat gesagt, in manchen Fällen verhängen sie nur eine Geldbuße.«

»Das ist das Übliche«, meinte sie und blickte nun endlich, da alle Lebensmittel weggeräumt waren, zu ihm auf. »So war es bei Gigi Guerriero, als er dieses zusätzliche Bad einbaute. Sein Nachbar hat den Klempner eine Toilettenschüssel ins Haus tragen sehen und die Polizei angerufen, woraufhin Gigi eine Strafe zahlen mußte.«

»Das war vor zehn Jahren.«

»Zwölf«, korrigierte Paola aus schierer Gewohnheit. Sie sah, wie sich Brunettis Lippen spannten, und fügte hinzu: »Ist ja egal. Spielt keine Rolle. Was kann sonst noch passieren?«

»Er sagt, in manchen Fällen, wenn nie eine Baugenehmigung beantragt, die Arbeit aber trotzdem durchgeführt wurde, mußten die Leute das, was sie gebaut hatten, wieder abreißen.«

[32] »Das hat er doch sicher nur im Spaß gesagt«, meinte sie.

»Du hast Signor Rossi gesehen, Paola. Traust du ihm zu, daß er so etwas im Spaß sagt?«

»Ich habe den Verdacht, daß Signor Rossi zu denen gehört, die überhaupt nie einen Spaß machen.« Damit drehte sie sich lässig um und ging ins Wohnzimmer. Dort schob sie ein paar auf einer Sessellehne liegende Zeitschriften zusammen, dann ging sie weiter auf die Terrasse. Brunetti folgte ihr. Als sie so nebeneinanderstanden und auf die Stadt blickten, die vor ihnen ausgebreitet lag, zeigte Paola mit einer ausladenden Bewegung über alle die Dächer, Terrassen, Gärten und Dachfenster. »Möchte mal wissen, wieviel davon legal ist«, sagte sie. »Und wissen möchte ich auch, für wieviel davon die entsprechenden Genehmigungen rechtzeitig beantragt oder auch erst nachträglich erteilt wurden.« Sie wohnten beide schon fast ihr ganzes Leben lang in Venedig und kannten unzählige Geschichten von Schmiergeldern für Bauamtsinspektoren; oder von Fasergipsplatten, die, eine Sekunde nachdem der Bauamtsinspektor zur Tür hinaus war, wieder herausgerissen wurden.

»Die halbe Stadt ist so, Paola«, sagte er. »Aber uns haben sie erwischt.«

»Man hat uns bei gar nichts erwischt«, entgegnete sie, wobei sie sich zu ihm umdrehte. »Wir haben nichts verbrochen. Wir haben diese Wohnung in gutem Glauben gekauft. Battistini – hieß so nicht der Mann, von dem wir sie haben? – hätte die erforderlichen Genehmigungen besorgen müssen.«

»Wir hätten uns vor dem Kauf vergewissern müssen, daß [33] er sie hatte«, versuchte Brunetti zu argumentieren. »Aber das haben wir nicht. Wir brauchten nur das da zu sehen…« – er umschrieb mit einer kreisenden Armbewegung alles, was vor ihnen lag –, »…und waren verloren.«

»So habe ich es nicht in Erinnerung«, sagte Paola. Sie ging ins Wohnzimmer zurück und setzte sich.

»Ich schon«, erwiderte Brunetti.

Bevor Paola etwas einwenden konnte, fuhr er fort: »Es spielt aber keine Rolle, was wir in Erinnerung haben. Oder wie überstürzt wir damals beim Kauf gehandelt haben. Eine Rolle spielt einzig und allein, daß wir das Problem jetzt am Hals haben.«

»Battistini?« fragte sie.

»Der ist vor etwa zehn Jahren gestorben«, antwortete Brunetti. Sollte sie die Absicht gehabt haben, sich mit diesem Mann in Verbindung zu setzen, so war das hiermit erledigt.

»Das wußte ich nicht.«

»Sein Neffe – du weißt schon, der in Murano arbeitet – hat es mir erzählt. Ein Tumor.«

»Das tut mir leid«, sagte sie. »Er war ein netter Mann.«

»Stimmt. Und er hat uns einen guten Preis gemacht.«

»Ich glaube, er hatte die Frischvermählten ins Herz geschlossen«, meinte sie, und ein Lächeln der Erinnerung huschte über ihr Gesicht. »Besonders diese frischvermählten werdenden Eltern.«

»Du meinst, das könnte Einfluß auf den Preis gehabt haben?« fragte Brunetti.

»Ich habe es mir immer gern eingebildet«, antwortete Paola. »Sehr unvenezianisch von ihm, aber trotzdem [34] anständig. Allerdings nicht«, fügte sie rasch hinzu, »wenn wir die Wohnung jetzt wieder abreißen müssen.«

»Das wäre doch mehr als nur ein bißchen lächerlich, findest du nicht?« fragte Brunetti.

»Du arbeitest jetzt seit zwanzig Jahren bei der Stadt, richtig? Du solltest inzwischen gelernt haben, daß es absolut keine Rolle spielt, ob etwas lächerlich ist oder nicht.«

Brunetti mußte ihr da wohl oder übel recht geben. Dieser Obstverkäufer fiel ihm ein, der ihm gesagt hatte, wenn ein Kunde sein Obst oder Gemüse anfasse, so müsse er, der Händler, eine halbe Million Lire Strafe zahlen. Widersinn schien keiner Verordnung, die man sich bei der Stadt einfallen ließ, im Weg zu stehen.

Paola ließ sich in ihrem Sessel nach hinten sinken und legte die Füße auf das niedrige Tischchen zwischen ihnen. »Was soll ich also tun? Meinen Vater anrufen?«

Brunetti hatte gewußt, daß diese Frage früher oder später kommen würde, und war froh, daß sie eher früh als spät kam. Conte Orazio Falier, einer der reichsten Männer der Stadt, konnte dieses Wunder leicht bewirken, es bedurfte dazu nur eines Telefongesprächs oder einer kleinen Bemerkung bei einem Abendessen. »Nein, ich glaube, ich möchte das selbst in die Hand nehmen«, sagte er, mit Betonung auf dem »selbst«.

Zu keinem Zeitpunkt wäre es ihm – so wenig wie Paola– in den Sinn gekommen, die Sache legal anzugehen, also die zuständigen Dienststellen und die Namen der richtigen Leute herauszufinden und dann die geeigneten Schritte einzuleiten. Auch kamen beide nicht auf die Idee, daß es einen vorgeschriebenen Dienstweg geben könnte, auf dem [35] das Problem zu lösen wäre. Falls es so etwas gab oder man es herausfinden konnte, pflegten die Venezianer es doch zu ignorieren, weil man eben wußte, daß solche Dinge sich nur mit conoscenze regeln ließen, als da waren: Bekannte, Freunde, Beziehungen und geschuldete Gefälligkeiten, die man im Laufe eines Lebens angesammelt hatte, weil sie unausweichlich anfielen im Umgang mit einem System, das alle – sogar diejenigen, die in seinem Sold standen, vielleicht gerade diejenigen, die in seinem Sold standen – für ineffizient bis hin zur totalen Nutzlosigkeit hielten, anfällig für die Mißbräuche, die aus Jahrhunderten der Korruption erwachsen waren, und beschwert durch einen byzantinischen Hang zu Heimlichtuerei und Gleichgültigkeit.

Paola beachtete Brunettis Ton nicht. »Er könnte das sicher regeln«, sagte sie.

Ohne sich Zeit zum Nachdenken zu lassen, rief Brunetti: »Ah, wo blieb der Schnee vom vorigen Jahr? Wo sind die Ideale von achtundsechzig?«

Paola war augenblicklich auf der Hut. »Was soll das bitte heißen?« blaffte sie.

Er sah sie an, wie sie dasaß, den Kopf zurückgeworfen und zu allem bereit; dabei wurde ihm klar, wie einschüchternd sie im Hörsaal wirken mochte. »Es soll heißen, daß wir früher einmal beide an die politische Linke geglaubt haben, an soziale Gerechtigkeit und Dinge wie Gleichheit vor dem Gesetz.«

»Und?«

»Und jetzt überlegen wir als erstes, wie wir uns an den Anfang der Schlange mogeln könnten.«

»Sprich aus, was du sagen willst, Guido«, begann sie. [36] »Und rede bitte nicht von ›wir‹, wenn ich diejenige bin, die den Vorschlag gemacht hat.« Sie hielt kurz inne und fügte hinzu: »Deine Prinzipien sind ja noch intakt.«

»Und was soll das bitte heißen?« erkundigte er sich, wobei sein Ton schon nicht mehr ironisch war, aber auch noch lange nicht böse.

»Daß die meinen es nicht mehr sind. Wir haben uns jahrzehntelang zum Narren halten lassen und selbst zum Narren gehalten, wir mit unseren Hoffnungen auf eine bessere Gesellschaft, unserem idiotischen Glauben daran, daß dieses ekelhafte politische System und diese ekelhaften Politiker unser Land einmal in ein goldenes Paradies verwandeln könnten, regiert von Philosophenkönigen in endloser Folge.« Ihr Blick suchte den seinen und hielt ihn fest. »So, und daran glaube ich nicht mehr, an nichts davon. Ich habe keinen Glauben und keine Hoffnung mehr.«

Obwohl er echte Müdigkeit in ihren Augen sah, als sie das sagte, schlich sich der alte Groll, den er nie ganz unterdrücken konnte, in seine Stimme, als er fragte: »Und heißt das nun, daß du dich jedesmal, wenn es Ärger gibt, an deinen Vater wenden wirst, der Geld und Beziehungen hat und in seinen Anzugtaschen Macht mit sich herumträgt wie unsereiner Kleingeld, und ihn bitten wirst, die Sache für dich zu regeln?«

»Ich will nur eines«, begann sie in einem plötzlich ganz anderen Ton, wie um die Situation zu entschärfen, bevor es zu spät war. »Ich will uns Zeit und Kraft sparen. Wenn wir die Sache auf dem vorgeschriebenen Weg angehen, betreten wir Kafkas Welt und werden keine Ruhe mehr haben vor lauter Suche nach den richtigen Papieren, von denen [37] irgendein kleiner Bürokrat wie dieser Signor Rossi immer wieder behaupten wird, es wären nicht die richtigen und wir müßten noch andere und wieder andere beibringen, bis wir beide reif fürs Irrenhaus sind.«

Als sie sah, daß Brunetti sich allmählich für diesen veränderten Ton erwärmte, fuhr sie fort: »Das heißt, wenn ich uns das alles ersparen kann, indem ich meinen Vater um Hilfe bitte, dann möchte ich es lieber so erledigen, denn für alles andere hätte ich weder die Geduld noch die Kraft.«

»Und wenn ich dir nun sage, daß ich es lieber selbst tun möchte, ohne seine Hilfe?« Bevor sie antworten konnte, fügte er rasch hinzu: »Es ist unsere Wohnung, Paola, nicht seine.«

»Meinst du mit ›selbst tun‹, daß du das legale Procedere durchlaufen willst, oder…« – und nun wurde ihr Ton noch wärmer –, »…oder willst du auf unsere eigenen Freunde und Beziehungen zurückgreifen?«

Brunetti lächelte, ein sicheres Zeichen, daß der Friede wiederhergestellt war. »Letzteres natürlich.«

»Ah«, sagte sie, ebenfalls lächelnd, »dann sieht die Sache anders aus.« Ihr Lächeln wurde noch breiter, und schon war sie bei der Frage des Vorgehens. »Wen hätten wir denn da?« überlegte sie laut. Alle Gedanken an ihren Vater waren wie aus dem Zimmer gefegt.

»Zunächst mal Rallo bei der Kulturgüterkommission.«

»Dessen Sohn mit Drogen handelt?«

»Einmal gehandelt hat«, korrigierte Brunetti.

»Was hast du gemacht?«

»Ihm einen Gefallen getan«, lautete Brunettis einzige Erklärung.

[38] Paola akzeptierte das und fragte nur: »Aber was hat die Kulturgüterkommission damit zu tun? Wurde dieses Stockwerk nicht erst nach dem Krieg gebaut?«

»So hat Battistini es uns gesagt. Aber der untere Teil des Gebäudes steht unter Denkmalschutz, und er könnte von allem, was hier oben passiert, in Mitleidenschaft gezogen werden.«

»Mhm«, pflichtete Paola ihm bei. »Wer noch?«

»Da ist dieser Vetter von Vianello, der als Architekt bei der Stadt arbeitet, ich glaube, sogar bei der Stelle, die für Baugenehmigungen zuständig ist. Vianello soll ihn bitten, sich ein wenig umzuhören.«

So saßen sie noch eine Weile beisammen und stellten eine Liste der Gefälligkeiten auf, die sie irgendwelchen Leuten irgendwann erwiesen hatten und jetzt vielleicht einzufordern gedachten. Es war schon fast Mittag, als sie ihre potentiellen Verbündeten endlich beisammen- und sich über deren jeweilige Nützlichkeit geeinigt hatten. Erst dann fragte Brunetti: »Hast du die moeche bekommen?«

Worauf sich Paola, wie es ihre jahrzehntelange Gewohnheit war, an die unsichtbare dritte Person wandte, die sie bei den schlimmsten Tollheiten ihres Mannes immer als Zeugin anrief, und fragte: »Hast du das gehört? Wir sind hier in akuter Gefahr, unser Zuhause zu verlieren, und er denkt an nichts anderes als an frische Krabben.«

»Ich denke sehr wohl noch an etwas anderes«, widersprach Brunetti gekränkt.

»Woran denn?«

»Risotto.«

[39] Die Kinder, die zum Mittagessen nach Hause kamen, erfuhren von der Lage der Dinge erst, nachdem die letzten Krabben den Weg alles Irdischen gegangen waren. Zuerst wollten sie das Ganze überhaupt nicht ernst nehmen. Als ihre Eltern sie schließlich überzeugen konnten, daß ihre Wohnung wirklich in Gefahr war, begannen sie sofort mit der Planung des Umzugs.

»Können wir ein Haus mit Garten bekommen, damit ich einen Hund haben kann?« fragte Chiara. Als sie die Gesichter ihrer Eltern sah, schränkte sie ein: »Oder eine Katze?« Raffi zeigte kein Interesse an Haustieren und votierte statt dessen für ein zweites Badezimmer.

»Wenn wir so was hätten, würdest du da wahrscheinlich einziehen und erst wieder rauskommen, wenn dir endlich dieser alberne Schnurrbart gewachsen ist«, meinte Chiara – es war das erste Mal, daß jemand in der Familie offiziell Kenntnis von jenem leichten Schatten nahm, der seit ein paar Wochen ganz allmählich unter der Nase ihres älteren Bruders sichtbar wurde.

Paola fühlte sich zum Eingreifen genötigt, nicht ohne sich dabei ein wenig wie ein Blauhelm von der UN