Feministische Psychiatriekritik - Peet Thesing - E-Book

Feministische Psychiatriekritik E-Book

Peet Thesing

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Beschreibung

Das Thema Psychiatriekritik ist schon lange aus dem Blickfeld von Feminist*innen verschwunden. ›Helfende‹ Maßnahmen werden nicht (mehr) gesellschaftskritisch analysiert, auch psychiatrisch-medizinische Ansätze werden nicht auf ihre strukturelle Bedeutung hin befragt – Geschichte scheint es in der Psychiatrie nicht zu geben. Dabei sind viele Fragen offen: Wie eigentlich entstehen ›psychische Krankheiten‹ in dieser Gesellschaft? Wie wird zwischen krank und gesund (nicht) unterschieden? Wird Homosexualität tatsächlich nicht mehr als Krankheit betrachtet? Womit wird psychiatrische Gewalt begründet? Welche Rolle spielen legale Drogen und Therapien? Hört die feministische Forderung »My body, my choice« bei Essstörungen und Selbstverletzungen auf? In der vorliegenden Einführung werden psychiatrische Ansätze aus einer gesellschaftskritischen Perspektive hinterfragt. Dabei orientiert sich die Autorin am Wissen Psychiatrie-Erfahrener. Es geht um die Trennung zwischen gesund und krank, um die Entstehung von Diagnosen, um Homosexualität und Hysterie und die Macht der Gutachten. Es wird beschrieben, wie psychiatrische Gewalt funktioniert; Fesselungen und die Verabreichung von Medikamenten werden dabei ebenso analysiert wie psychische Zugriffe. Abschließend werden Optionen vorgestellt, die Handlungsfähigkeit wieder möglich macht, wenn die Psychiatrie sich nicht als Ort des ›Helfens und Heilens‹ erweist.

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Peet Thesing

Feministische Psychatriekritik

geschlechterdschungel

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Peet Thesing: Feministische Psychatriekritik

unrast transparent – geschlechterdschungel, Band 9

2., korr. Auflage, Oktober 2019

eBook UNRAST Verlag, Dezember 2023

ISBN 978-3-95405-170-0

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Einleitung

Die Idee der »psychischen Krankheit«

Die Grenze zwischen krank und gesund

Entstehung der Psychiatrie

Unabgeschlossene Kapitel

F wie Fehldiagnose

Klassifkation im ICD-10

Die Suche nach der richtigen Diagnose

Depression, Schizophrenie und Borderline

Krankheitseinsicht und Selbstpathologisierung

Psychiatrische Zugriffe auf Körper & Psyche

Zwangsmaßnahmen und »Zwangsbehandlungen«

Biochemische Zugriffe

Therapeutische Zugriffe

Patriarchale Verhältnisse

Rape Culture

Die Pathologisierung der Reaktion: Das Trauma

Triggerwarnungen als Schutz?

Psychologisierung

»Liebe dich selbst!«

My body, my choice?

Selbstverletzung

»Essstörungen«

Handeln möglich machen

Literatur und Quellen

Anmerkungen

Einleitung

Psychiatrie ist eng mit unserem Alltag verknüpft. Wir selbst oder uns nahe Menschen waren schon in der Psychiatrie, freiwillig oder unfreiwillig. Therapeutische Strukturen durchziehen den Alltag, unterschiedlichste Beratungseinrichtungen und politische Gruppen und prägen den Umgang mit Krisen und Konflikten. Krisen und Konflikte werden immer massiver individualisiert und zur Folge biochemischer Krankheiten erklärt.

Darin ist die Idee der Psychiatrie als Institution des »Helfen und Heilens« fest verankert. Doch die Probleme der Psychiatrie haben sich mit den antipsychiatrischen Protesten der Vergangenheit nicht in Luft aufgelöst. Noch immer werden Menschen gegen ihren Willen eingesperrt und Zwangsmaßnahmen ausgesetzt – alles zu ihrem Besten, so lautet die Argumentation. Die Pathologisierung von Wahrnehmung, Denken und Verhalten ist alltäglich und die Abgrenzung zum »Verrückten« bleibt notwendig, wenn eine_r ernst genommen will.

Historisch wie auch aktuell betreffen die Normalisierungsbestrebungen der Psychiatrie Frauen und trans Personen auf spezifische Weise. So wird beispielsweise der Umgang mit sexualisierter Gewalt immer weiter in ein therapeutisches Setting hinein verlagert. Dabei geraten kollektive und politische Umgangsstrategien mehr in den Hintergrund. Trans Personen müssen sich Zwangstherapien unterziehen, um medizinische Maßnahmen vornehmen zu können, gesellschaftspolitische Analysen von geschlechtlicher Zuschreibung werden dadurch verunmöglicht.

Psychiatrie und Gesellschaft sind eng miteinander verbunden. Dieses Buch soll einen Einstieg in das Thema Feministische Psychiatriekritik bieten. Dabei geht es nicht um eine Bewegungsgeschichte der antipsychiatrischen Bewegungen, sondern um das Aufgreifen zentrale inhaltliche Aspekte.

Psychiatriekritik umfasst eine große Spannbreite von Positionen. Es gibt Antistigma-Kampagnen wie »Irrsinnig menschlich« oder Twitterhashtags wie #istjairre und #notjustsad, die sich für die Anerkennung »psychischer Krankheiten« einsetzen. Psychiatriekritische Forderungen beziehen sich dabei in der Regel vor allem auf konkrete Teilaspekte, wie das Maß der Anwendung von Gewalt und Fixierungen oder um die Einbettung psychiatrischer Diagnosen als »Volkskrankheiten«. Diese Position strebt vor allem eine Normalisierung an, stellt aber weder die Psychiatrie selbst noch das Konzept »psychischer Krankheit« in Frage. Eine zweite Position richtet sich vor allem gegen die Psychopharmaka-Industrie, Zwangsmaßnahmen und die Institution der Psychiatrie. Eine dritte Position betrachtet das komplette Gedankenkonstrukt rund um »psychische Krankheit« kritisch. Dies ist eine sehr grundsätzliche Kritik, die über Kritik an Institutionen hinausgeht. Es gibt zwei verschiedene Ansätze dieser antipsychiatrischen Kritik. Zum einen ist da die neoliberale Perspektive, die das Konzept »psychische Krankheit« ablehnt, weil sie findet, dass die Leute »zu faul« sind und sich »zusammenreißen« sollen. Für Anhänger_innen dieser Position stellt es ein Problem dar, dass Menschen sich vor ihrer Arbeit drücken wollen; die Existenz von Krisen und schmerzvollen Zuständen wird in Frage gestellt. Der andere Zweig, und hier verorte ich dieses Buch, kritisiert ebenfalls das Konzept »psychische Krankheit«, aber aus anderen Gründen: weil damit grundlegende gesellschaftliche Probleme verdeckt werden. Dieser Zweig besteht auf dem Recht auf Wahnsinn ebenso wie auf politischen Analysen der Gesellschaft. Menschen erleben nicht das Gleiche, aber alles Erleben ist eingebettet in soziale Verhältnisse. Insofern sind Menschen nicht lediglich Opfer ihrer Umstände, sondern haben auch politische Handlungsmöglichkeiten.

In diesem Buch geht es um den antipsychiatrisch-emanzipatorischen Zweig der Psychiatriekritik in Kombination mit einer feministischen Perspektive – um feministische Psychiatriekritik. Eine feministische Perspektive bedeutet eine herrschaftskritische Herangehensweise mit einem Fokus auf Geschlechterordnung. Ziel des Buches ist es, die Annahmen der Psychiatrie und Psychopathologie von Grund auf in Frage zu stellen und somit neue Selbstwahrnehmungs- und Handlungsperspektiven zu ermöglichen.

Im ersten Teil soll die Herstellung von Wissen in der Psychiatrie im Zentrum stehen. Dabei geht es um die Unterscheidung zwischen »gesund« und »krank« und die Entstehung der Psychiatrie.

Die Grenzziehung zwischen gesund und krank in Frage zu stellen, ist eine der wichtigsten Grundlagen von feministischer Psychiatriekritik. Die Orte, an denen Wissen produziert wird, sind oft weit weg von denjenigen, über welche dieses Wissen entsteht. Ich werde die Spuren der Diagnosen »Homosexualität« und »Hysterie« verfolgen, außerdem Kontinuitäten nach dem Nationalsozialismus. Danach geht es weiter mit psychiatrischen Diagnosen, wie sie vergeben und sortiert werden, und was sie bedeuten. Dabei führe ich die Diagnosen Depression, Schizophrenie und Borderline als Beispiele an. Im vierten Kapitel geht es um psychiatrische Zugriffe auf Körper, Gehirn und Psyche. In kaum einem anderen Bereich der Medizin wird den Patient_innen so konsequent das Recht auf freie Entscheidung über medizinische Maßnahmen abgesprochen. Durch die Klassifikation als krank und unmündig wird eine Verweigerung von Behandlungen zumeist als Teil einer Krankheit definiert: So kann widerständiges Verhalten pathologisiert werden.

Psychiatrische Strukturen wirken sich auf das Selbstbild aus – die Basis jeder ›Hilfe‹ ist die Krankheitseinsicht. So tragen auch Selbstpathologisierungen dazu bei, die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

In den letzten beiden Teilen geht es um die Produktion von Geschlechterbildern und die Aufrechterhaltung einer heteronormativen, patriarchalen Ordnung. Im Kapitel »Patriarchale Verhältnisse« geht es um einen Blick auf den Trauma-Diskurs und die Frage, wie Folgen sexualisierter Gewalt durch Psychiatrie und Therapie aus der Gesellschaft ausgelagert werden. Dabei geht es um rape culture, Triggerwarnungen und die Psychologisierung in unserer Gesellschaft – und abschließend um eine kritische Betrachtung des Konzepts der »Selbstliebe« als Umgangsstrategie.

Wie weit werden Verhaltensweisen, die den eigenen Körper angreifen, wie hungern oder sich selbst verletzen, gesellschaftlich gestattet? Wie weit gilt der feministische Slogan »My body, my choice«? Das diskutiere ich im letzten Kapitel anhand von »Selbstverletzungen« und »Essstörungen«.

Abschließend werde ich verschiedene Handlungsoptionen aufzeigen, die bislang durch pathologisierende Blicke verstellt sind.

Die Idee der »psychischen Krankheit«

Die Grenze zwischen krank und gesund

Die Unterscheidung zwischen gesund und krank ist uns aus der Medizin bekannt. Krankheit verknüpfen wir mit Viren, Bakterien, Verletzungen und »bösartigen« Gewebeneubildungen. Das ist für uns ganz normal, oft hinterfragen wir die Diagnose von Ärzt_innen nicht.

Doch welche Körper als gesund, welche als krank gelesen werden, als gestört, als normal, als gefährlich, welche mit welchem Geschlecht assoziiert werden – all das unterliegt gesellschaftlichen Normen und einem medizinischen Diskurs.

Heute ist der Körper die Zielscheibe von gesundheitspolitischen Agenden. Gesellschaftliche Vorstellungen spielen dabei eine wichtige Rolle.

Ein Beispiel ist der Umgang mit dicken Menschen. Dicke gelten als gesundheitlich gefährdet: Fett erhöht die Risikofaktoren für einige Krankheiten, verringert jedoch, was nur selten gesagt wird, die Risikofaktoren für andere Krankheiten. (Rothblum, Solovay & Wann, 2009) Der Blick der Forschung und Berichterstattung richtet sich vor allem auf die Gefährdung.

Gleichzeitig gibt es einen gesellschaftlichen Diskurs, der von der »Epidemie« der Dicken spricht, von einer »Gefahr für die Gesellschaft«. Damit wächst die Vorstellung, dass Dicke nicht nur selbst gefährdet, sondern auch gefährlich für die Gesellschaft sind. Dieses Beispiel aus der Medizin macht deutlich, wie sehr auch körperbezogene Diagnosen wie »Adipositas« von den Machtverhältnissen in der Gesellschaft geprägt sind. Medizinische Diagnosen werden selten daraufhin geprüft, woher sie kommen, wer weshalb welche Forschungen angestellt hat, wer oder was heilen soll und welche westlichen Gesundheits- bzw. Krankheitsvorstellungen dahinterstecken. Daher wirkt es so, als würden Krankheiten ›entdeckt‹ und die Entdeckung dann verschriftlicht – um zu einem Fortschritt in der Medizin zu führen.

Auch »psychische Krankheiten« sollen unterscheiden zwischen gesunden und kranken Menschen. Dabei orientieren sie sich (bisher) nicht an körperlichen Merkmalen, sondern an Beschreibungen von Zuständen. Die Zustände der Psyche werden beschrieben und dann zu einer Diagnose zusammengefasst. Aus diesen Beschreibungen werden daraufhin Rückschlüsse auf andere Personen und ihre Zustände gezogen. Psychiatrische Diagnosen stellen somit Behauptungen über den Zustand einer Person auf. Strukturiert werden diese Behauptungen in der Psychopathologie, was die Lehre von psychischen Krankheiten bezeichnet. Pathologie wird als Störung von Organen verstanden beziehungsweise in diesem Zusammenhang als Störungen der Psyche. Darunter wird heute nicht nur das Empfinden und Selbsterleben gefasst, sondern auch die Verhaltensebene.

Auch im vergangenen Jahrhundert haben Menschen daran gezweifelt, dass die psychiatrischen Beschreibungen von Zuständen mehr als Behauptungen sind. Sie haben in Frage gestellt, dass die Trennung von »psychisch gesunden« und »psychisch kranken« Menschen tatsächlich funktioniert. Ende der 1960er Jahre machte der US-amerikanische Psychologe David Rosenhan ein Experiment. Er wollte testen, ob Psychiater_innen tatsächlich zwischen krank und gesund unterscheiden können, wie sie selbst behaupten. Er schickte acht Pseudopatient_innen in die Psychiatrie, die dort behaupteten, sie würden Stimmen und bestimmte Worte hören. Sie wurden alle eingewiesen, sieben mit der Diagnose Schizophrenie. Ab diesem Zeitpunkt verhielten sie sich so wie sonst auch und gaben keinerlei Symptome mehr vor. Erst nach durchschnittlich 19 Tagen wurden die Personen wieder entlassen – nicht als geheilt, sondern mit dem vermeintlichen Risiko, dass die Krankheit wieder ausbrechen könne. Mitarbeiter_innen von anderen Kliniken kritisierten das Experiment, fanden das Ergebnis zufällig und forderten, Rosenhan solle ihnen ebenfalls Pseudopatient_innen schicken, was Rosenhan auch zusicherte. Diese tauchten jedoch nie auf – trotzdem identifizierten zahlreiche Mitarbeiter_innen Pseudopatient_innen. Rosenhan wurde vielseitig als »unwissenschaftlich« bezeichnet, doch ging es ihm nicht um einen quantitativen Beweis, sondern um die Analyse, dass sobald eine Person als krank klassifiziert wird, all ihr Verhalten als krank definiert, jede Regung kann als Symptom gedeutet werden kann. (Rosenhan, 1973)

Es geht um den Zweifel an der Grenzziehung zwischen gesund und krank, deren Anerkennung in großen Teilen der Gesellschaft funktioniert. Um die Akzeptanz für »psychische Krankheiten« zu steigern, werden diese mit »körperlichen Krankheiten« verglichen, um damit den Beweis zu erbringen, dass sie tatsächlich existieren. Dabei werden »psychische Krankheiten« immer wieder mit einem gebrochenen Bein oder einem Krebsgeschwür verglichen. Diese Vergleiche sollen dem Stigma des Verrücktseins entgegen wirken. Doch der Vergleich mit dem gebrochenen Bein ist unzutreffend: So wie unsere Vorstellungen von »körperlichen Krankheiten« von der Zeit und Gesellschaft geprägt sind, gilt dies auch für »psychische Krankheiten«. Sich die Haare an den Augenbrauen ausreißen, um Schönheitsidealen zu entsprechen gilt als ein gesundes Verhalten, sich dieselben Haare zur Stressreduktion auszureißen gilt als ein gestörtes Verhalten. Die Linie zwischen gesund und krank wird also entlang kultureller und moralischer Normen gezogen.

Die Trennung zwischen »gesund« und »krank« hilft dabei, gesellschaftliche Probleme aufs Individuum auszulagern: Gestört ist so immer das Individuum, niemals die Gesellschaft. Das zeigt sich auch am Umgang mit weißen, männlichen Attentätern, die auf andere Menschen schießen und diese bewusst töten. Sie werden als »psychisch kranke« Einzeltäter beschrieben und nicht als Terroristen, egal wie viele Seiten rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Manifeste sie geschrieben haben. Indem Krisen durch Psychopathologisierungen individualisiert werden, das heißt, zum privaten Problem von Einzelpersonen werden, muss eine Gesellschaft sich nicht mit ihren Problemen auseinandersetzen.

Gleichzeitig entstehen diese Probleme durch gesellschaftliche Verhältnisse, so wie zum Beispiel die Folgen von Armut. In der Psychiatrie können so diejenigen behandelt werden, die unter Armut leiden und darauf reagieren – und damit muss Armut als gesellschaftliches Problem nicht mehr bekämpft werden. In gesellschaftlichen Verhältnissen wird Gewalt ausgeübt, in dem Menschen ihrer Möglichkeiten beraubt und diskriminiert oder benachteiligt werden. Intersektionale feministische Analysen gehen davon aus, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der verschiedene Machtverhältnisse wie Klasse, Rassifizierung, Antisemitismus und Geschlecht miteinander verschränkt sind. Unsere Gesellschaft ist geprägt von alltäglichen rassistischen Aggressionen, dem Hochziehen von Grenzen und steigender Wohnungslosigkeit.

Wir leben n einem kapitalistischen Wirtschaftssystem, das auf Wettbewerb ausgerichtet ist und in dem Leistungsfähigkeit zu einem unabdingbaren Gut geworden ist. In Betrieben gibt es eher Burnout-Vorbeugungskurse als Arbeitszeitverkürzungen. Diese Strukturen setzen Menschen Abwertung und Ausgrenzung aus und schränken deren Bewegungsmöglichkeiten ein.

Es geht mir nicht darum zu sagen, dass »psychisch krank« diagnostizierte Menschen lediglich Opfer ihrer Lebensbedingungen sind. Doch in diesen Bedingungen klar zu kommen wird gleichgesetzt mit »gesund sein«. Das macht »psychische Gesundheit« für viele nicht nur unerreichbar, sondern auch im Widerspruch stehend zu Ansätzen der Selbstermächtigung von Menschen, die Diskriminierung und / oder Unterdrückung erfahren. Die Psychiatrie fungiert als Mittel, um all diejenigen, die sich in diesem System nicht bewegen können oder wollen, still zu halten – indem sie für psychisch krank erklärt werden. Damit werden alle Probleme zum Problem der Einzelnen. Diese Form von Vereinzelung verhindert auch gesellschaftlichen Widerstand, beispielsweise gegen Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung. Jede Person soll ihre psychischen Probleme mit sich selbst und ihrer_m Therapeut_in alleine ausmachen.

Entstehung der Psychiatrie

Die Trennung zwischen »psychisch gesund« und »psychisch krank« ist historisch gewachsen. Erst mit der Aufklärung in Europa und Nordamerika entstand Ende des 18. Jahrhunderts die Psychiatrie als eigenständige Institution. Die Zeit der Aufklärung war geprägt durch die Aufwertung von Rationalität und Wissenschaft. Die Vernunft wurde zum Credo einer ganzen Epoche. Vernunft wird verstanden als Fähigkeit, den eigenen Verstand zu benutzen, aus Beobachtungen Schlüsse zu ziehen und universelle Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu erlangen.