Femizid - Rita Laura Segato - E-Book

Femizid E-Book

Rita Laura Segato

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Beschreibung

In den vergangenen Jahrzehnten, die von Neoliberalismus und einem zunehmend autoritären Wandel der Gesellschaften und Regierungen geprägt waren, hat die weltweite Gewalt gegen Frauen drastisch zugenommen. Die seit 1993 andauernden systematischen Frauenmorde in der mexikanischen Grenzstadt Ciudad Juárez sind dabei nur die Spitze des Eisbergs – in ganz Mexiko fielen 2019 mehr als 3.800 Frauen männlicher Gewalt zum Opfer. Die argentinische Anthropologin Rita Segato spricht angesichts derartiger Beispiele von einem »globalen Krieg gegen Frauen«. Um diese neue, extrem gewaltsame Wendung des Patriarchats zu verstehen, müssten solche Taten aus dem Privaten in die politische Öffentlichkeit geholt werden. Segato fordert, Frauenmorde nicht länger in privaten und sexuellen Kategorien zu betrachten, sondern vielmehr als systembedingte Feminizide zu benennen, die über die Erniedrigung von Frauenkörpern den Herrschaftsanspruch von Männerbünden formulieren und kommunizieren sollen. Ihrer Ansicht nach wird es nur durch eine Wiederbelebung und Re-Politisierung der Kommunen und Gemeinschaften gelingen, diesen global stattfindenden Femi-geno-zid zu stoppen. Es geht der Autorin mit ihrer Intervention nicht nur um eine Beschreibung der Realität und eine theoretische Auseinandersetzung mit alten und neuen Begriffen, sondern gleichermaßen darum, konkrete Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen und gesellschaftliche Gegenwehr zu entwickeln.

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Seitenzahl: 426

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Rita Laura Segato

Femizid

Frauenkörper als Territorium des Krieges

Aus dem Spanischen übersetztund mit einem Glossar versehenvon Sandra Schmidt

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Rita Laura Segato: Femizid

1. Auflage, Juni 2022

eBook UNRAST Verlag, September 2022

ISBN 978-3-95405-124-3

Copyright der Originalausgabe

© Rita Segato

La guerra contra las mujeres, Prometeo Libros, Buenos Aires 2018

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: UNRAST Verlag, Münster

unter Verwendung eines Fotos von © Jetmir Idrizi von der Kunst-

installation Thinking of You von © Alketa Xhafa Mripa, KS, 2015,

mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Vorwort zur zweiten Auflage von 2018

Einleitung

Kapitel 1Die Einschreibung in die Körper der ermordeten Frauen von Ciudad Juárez. Territorium, Souveränität und Verbrechen des ›Zweiten Staates‹

Kapitel 2Die neuen Kriege und der Körper der Frauen

Kapitel 3Patriarchat: Vom Rand ins Zentrum. Disziplinierung, Territorialität und die Grausamkeit in der apokalyptischen Phase des Kapitals

Kapitel 4Kolonialität und modernes Patriarchat

Kapitel 5Femigenozid als Verbrechen im internationalen Menschenrechtsdiskurs

Kapitel 6Fünf feministische Debatten. Gewalt gegen Frauen anders denken

Kapitel 7Die neue Eloquenz der Macht. Ein Gespräch mit Rita Segato

Kapitel 8Von einem anti-punitivistischen Feminismus zu einem feministischen Anti-Punitivismus

Kapitel 9Zum Abschluss: Ein Leitfaden für die Lektüre geschlechtsspezifischer Gewalt in unseren Tagen

Anhang

Glossar

Quellennachweis

Bibliografie

Anmerkungen

Ich widme dieses Buch meinen Schüler:innen und Mitarbeiter:innen der vergangenen Jahre; im Dialog mit und der bereichernden Gesellschaft von ihnen habe ich es geschrieben: Aída Esther Bueno Sarduy, Paulina Alvarez, Marcelo Tadvald, Livia Vitenti, Elaine Moreira, Vicenzo Lauriola, Luciana Santos, Cesar Baldi, Luciana Oliveira, Larissa da Silva Araujo, Mariana Holanda, Daniela Gontijo, Wanderson Flor do Nascimento, Elisa Matos, Juliana Watson, Saúl Hernández, Aline Guedes, Irina Bacci, Priscila Godoy, Vanessa Rodrigues, Tarsila Flores, Nailah Veleci, Ariadne Oliveira, Lourival de Carvalho, Douglas Fernandes, Larissa Vieira Patrocinio de Araújo, Paulo Victor Silva Pacheco y Alejandra Rocío del Bello Urrego. Mit ihnen gemeinsam habe ich gelernt, sie haben mich inspiriert und sie haben Hoffnung geweckt und genährt.

Vorwort zur zweiten Auflage von 2018

Die vorliegende zweite Auflage ist um zwei Kapitel erweitert, die ich 2017 und 2018 geschrieben habe. Das erste – »Von einem anti-punitivistischen Feminismus zu einem feministischen Anti-Punitivismus« – verbindet das anti-punitivistische Argument, das ich in einer öffentlichen Anhörung vor dem argentinischen Senat dargelegt habe, mit dem feministischen Argument, das die Grenzen der juristischen Ausbildung aufzeigt und erweitert. Dieses Kapitel fügt dem Buch somit eine kritische Reflexion über zwei Bestrebungen auf dem Feld des Rechts hinzu – der punitivistischen und der anti-punitivistischen –, um der Genderproblematik und der daraus entstehenden Gewalt, die sich auf unserem Kontinent maßlos ausbreitet, Grenzen zu setzen.

Der erste Teil des Kapitels reagiert auf den Versuch, uns Frauen unterzujubeln, wir trügen als Opfer sexueller und femizidaler Gewalt die Last und Verantwortung, ein Regierungsprojekt zu unterstützen, dessen Ziel es ist, die ›Konzentrationslager‹ für Arme und Nichtweiße*, die man Gefängnisse nennt, auszuweiten. Die Verdopplung eines Übels war noch nie eine richtige Antwort. Die einzige Lösung liegt im Verständnis des Ursprungs des Übels. Ohne zu verstehen, ist es unmöglich, effektiv zu handeln. Den Vorsatz, der tatsächlichen Katastrophe der Geschlechter, die uns zu zerstören droht, Einhalt zu gebieten, werden wir ohne ausführliche und profunde Analysen nicht einlösen können.

Im zweiten Teil des Kapitels ist meine Antwort auf den am 18. Mai 2017 in Página/12 erschienenen Artikel von Eugenio Raúl Zaffaroni über das, was er als »Epidemie der Femizide**« bezeichnet, abgedruckt. Dazu habe ich mich entschieden, weil er darin eine erstaunliche Oberflächlichkeit an den Tag legt, die öffentlichen Widerspruch und Korrekturen zwingend erforderlich machen. Hierzu ist anzumerken, dass das, was der angesehene Richter über Femizide sagt, in einem krassen Missverhältnis zum Scharfsinn und der Präzision steht, die ihn charakterisieren, wenn er die Selektivität der Justiz in Sachen Klasse und Raza* verhandelt (Zaffaroni 1993, 2006). Wenn er allerdings über Femizid, Sexualverbrechen und geschlechtsspezifische Verbrechen schreibt, bleibt Zaffaroni im gemeinen Menschenverstand verhaftet. Deshalb dient mir meine Kritik an ihm auch dazu, meine eigenen Positionen zu diesem Thema klarer zu formulieren – wenn auch mittlerweile nicht ohne eine gewisse Ungeduld. Die Auseinandersetzung und das intensive Gespräch tragen dazu bei, mit größerer Klarheit zu denken, und sie erfordern die Verfeinerung des eigenen Vokabulars.

Ebenfalls neu in dieser zweiten Auflage ist das abschließende neunte Kapitel: »Zum Abschluss: Ein Leitfaden für die Lektüre geschlechtsspezifischer Gewalt in unseren Tagen«. Darin entwickle und gliedere ich jene Kategorien, die die Grundlage des analytischen Modells meiner gesamten Arbeit bilden. Dieser kurze Text ist somit ein Abriss der Grundfragen, mit denen ich geschlechtsspezifische Gewalt in den vergangenen 25 Jahren untersucht habe.

Einleitung[1]

Erstes Thema: Die zentrale Bedeutung der Geschlechterfrage

Während ich an der Endredaktion dieses Buches arbeite, das Texte und Vorträge aus dem vergangenen Jahrzehnt (2006-2016) vereint, überkommt mich ein Gefühl offenen Staunens. Trotz all dem, was ich in diesen Texten bekräftige, kann ich gar nicht aufhören, mich darüber zu wundern, dass die jüngsten Manöver der Macht in den Ländern Amerikas – mit ihrer konservativen Rückkehr zu einem moralischen Diskurs als Pfeiler antidemokratischer Politik – unwiderruflich genau jenen Interpretationsvorschlag belegen, der dieses Buch durchzieht und seine thematische Klammer bildet; und zwar durch ihre familistischen und patriarchalen Feldzüge in den verschiedenen Strategien dieser Manöver. Man betrachte nur das Jahr 2016: Macri in Argentinien, Temer in Brasilien, das ›Nein‹ der Uribe-Anhänger und Unternehmer zum Friedensvertrag in Kolumbien, der Verlust bürgerlicher Rechte in Mexiko oder Trump in den Vereinigten Staaten. Der auf dem ganzen Kontinent entfesselte Druck, das, was sie übereinstimmend als ›Gender-Ideologie‹[2] bezeichnen, zu dämonisieren und wieder strafbar zu machen, sowie die betonte Verteidigung des Ideals der Familie als unbedingtem Rechtssubjekt verwandelt die Wortführer des historischen Projekts des Kapitals tatsächlich in Belege für genau das, was ich beschrieben habe: Weit entfernt davon, nur ein Rest, also minoritär und marginal zu sein, ist die Geschlechterfrage Fundament und Achse der Architektur aller Macht. Brasilien ist das Land, in dem die Bedeutung des moralischen Diskurses der Politik der Eigentümer am offensichtlichsten zu Tage tritt: So vollzog sich die Amtsenthebung – das impeachment – der gewählten Präsidentin im Kongress der Nation mehrheitlich mit Stimmen, die ihr Votum öffentlich »im Namen Gottes« oder »Jesu« oder für den »Wert der Familie« proklamierten. Es sind exakt unsere historischen Gegenspieler, die gerade die zentrale These dieses Buches belegen, indem sie die Dämonisierung der ›Gender-Ideologie‹ als Speerspitze ihres Diskurses installieren.

Ich spreche von der ›konservativen Rückkehr zum moralischen Diskurs‹, weil sich hier mit Blick auf den bürgerlichen Diskurs der Ära nach dem Kalten Krieg ein Rückschritt manifestiert. Letzterer zeichnete sich durch einen ›inhaltsleeren Multikulturalismus‹ aus, der – wie ich an anderer Stelle dargelegt habe – den antisystemischen Diskurs der vorangegangenen politischen Phase abgelöst hat, und zwar durch einen inklusiven Menschenrechtsdiskurs während der Konstruktion der lateinamerikanischen post-diktatorischen ›Demokratien‹ (Segato 2007). Aktuell stellt sich daher folgende Frage: Aus welchem Motiv und auf der Basis welcher Belege sind die Think-Tanks des geopolitischen Nordens zu dem Schluss gekommen, dass die aktuelle Phase eine Richtungsänderung erfordert? Im vergangenen Jahrzehnt hatten sie noch einen Multikulturalismus propagiert, der die Herausbildung minoritärer Eliten – von Schwarzen, von Frauen, von Hispanics, von LGBTs etc. – zum Ziel hatte, allerdings ohne die Prozesse der Produktion von Reichtum oder die Muster von Akkumulation und Konzentration zu modifizieren, das heißt, ohne die wachsende Schere zwischen Armen und Reichen in der Welt zu verändern. Mit anderen Worten: Wenn die harmlose Dekade der ›multikulturellen Demokratie‹ die kapitalistische Maschinerie nicht beeinflusst, sondern vielmehr neue Eliten und neue Konsument:innen produziert hat, warum ist es dann jetzt notwendig, sie zu beenden und eine neue Phase eines christlichen familistischen Moralismus auszurufen, der der Kriegstreiberei von monotheistischen Fundamentalisten aus anderen Gegenden der Welt verdächtig ähnelt? Vermutlich deshalb, weil dieser Multikulturalismus zwar nicht die Grundlagen der kapitalistischen Akkumulation beschädigt hat, aber drohte, das Fundament der Geschlechterverhältnisse ins Wanken zu bringen. Und unsere Gegenspieler im historischen Projekt haben entdeckt, und das früher als viele von uns, dass das Patriarchat – aufgrund seiner grundlegenden historischen Tiefe und der konstanten Aktualisierung seiner Struktur – die Stütze, das Fundament und die Pädagogik ›aller Macht‹ ist.

Für mich als Anthropologin, mit ethnografischem Hinhören als meinem Werkzeugkasten, ist dieses Buch eine Ethnografie der Macht in seiner begründenden und dauerhaften Form – und das heißt: eine Ethnografie des Patriarchats. Hier tritt das Mandat der Männlichkeit als erste und dauerhafte Pädagogik der Wertenteignung und der daraus folgenden Beherrschung zutage. Doch wie kann man die Macht – mit ihrer klassischen Strategie eines unter Gleichen beschlossenen Paktes des Schweigens ethnografieren, der in seinen verschiedenen Szenarien – patriarchal, rassial, imperial, großstädtisch – nur allzu selten gebrochen wird? Wir können diese Macht nur anhand der Regelmäßigkeit einiger ihrer Effekte begreifen, die und bei der Entzifferung dessen, wohin ihr historisches Projekt führt, eine gewisse Orientierung bieten (Segato 2015a). Die patriarchale Gewalt, das heißt die misogyne und homophobe Gewalt der entwickelten Spätmoderne – also unserer Ära der Menschenrechte und der Vereinten Nationen – erweist sich als präzises Symptom. Denn die Gewalt breitet sich trotz der großen Erfolge, die auf dem Papier erreicht worden sind, ungebremst aus. Und in ihr manifestiert sich auf perfekte Art und Weise, nämlich in makelloser und klar lesbarer Schrift, die wachsende Willkür einer Welt, die durch ›Eigentümerschaft‹* markiert ist. Es handelt sich um eine neue Form des herrschaftlichen Besitzstandes, einer Lordschaft vergleichbar, die aus der beschleunigten Konzentration und Ausweitung von Sphären der Kontrolle über das Leben resultiert, die ich ohne Zögern als ›parastaatlich‹ beschreiben würde. Auf die Gründe dafür werde ich insbesondere im zweiten Kapitel des Buches eingehen. In diesen Verbrechen artikuliert das Kapital in seiner gegenwärtigen Form die Existenz einer auf Willkür basierenden Ordnung, indem es ein Schauspiel der Möglichkeit einer Existenz ohne institutionelle Grammatik aufführt. Oder, anders formuliert, ein Schauspiel des institutionellen Versagens, das angesichts der beispiellosen Konzentration von Reichtum unvermeidbar ist. Betrachtet man das Tempo, in dem in dieser Phase des Kapitals die Konzentration von Reichtum voranschreitet, dann reicht es nicht mehr aus, von ›Ungleichheit‹ zu sprechen, wie wir es im militanten Diskurs der antisystemischen Phase während des Kalten Kriegs getan haben. Denn, so argumentiere ich im dritten Kapitel, das heutige Problem ist eines der ›Eigentümerschaft‹ bzw. des herrschaftlichen Besitzes.

Nach der Phase von scheinbar wirkmächtigen multikulturellen Slogans ist also nicht leicht zu verstehen, warum es für das historische Projekt dieser ›Eigentümer‹ so wichtig – wie es scheint: geradezu unvermeidbar – ist, in der Gesellschaft wieder einen militanten patriarchalen Fanatismus zu predigen und neu zu etablieren. Ein Fanatismus, von dem es schien, er sei für immer Vergangenheit. In Lateinamerika ist der Ausdruck ›Gender-Ideologie‹ vor Kurzem als Kategorie der Anklage aufgetaucht. In Brasilien sogar im Kontext eines nationalen Gesetzesentwurfs mit dem Titel »Unparteiische Schule«, das im Nationalkongress noch abgestimmt werden muss, aber bereits in einigen Bundesstaaten (so zum Beispiel in Alagoas) Anwendung findet. In diesem Gesetz verbietet der einzige Paragraf des ersten Artikels in der schulischen Ausbildung die »Anwendung von Postulaten der Gender-Theorie oder Gender-Ideologie« sowie von »jeder Handlung, die den Reifeprozess und die Entwicklung der Persönlichkeit in Harmonie mit ihrer entsprechenden biologischen Geschlechtsidentität beeinträchtigt, ihr vorgreift, oder sie lenkt«. Die enormen Anstrengungen auf dem Feld des ›Geschlechts‹ seitens der neuen Rechten, – repräsentiert durch die konservativsten Fraktionen aller Kirchen, die ihrerseits wiederum Repräsentanten des hartnäckigen extraktivistischen Unternehmertums sind, das im Agro-Business und dem Bergbau agiert –, ist mindestens rätselhaft. Was beabsichtigt man mit einer derartigen Überwachung des Gehorsams gegenüber der konservativen Geschlechtermoral? Worauf zielt diese Strategie ab? Nach einer Situation, in der ich selbst als Konferenzteilnehmerin in der Pontificia Universidad Católica in Minas Gerais von einer Gruppe ultrarechter in Spanien ansässiger Katholiken angegriffen und bedroht worden bin[3], habe ich plötzlich mit Schrecken begriffen, dass der brutale Stil und der Geist der Argumente etwas ähnelte, das ich bereits kannte: Er erinnerte mich nämlich – mit Blick auf die Position der Frau – an die Überwachung und die Gier nach Verfolgung im islamischen Fundamentalismus. Diesen habe ich an anderer Stelle als die am stärksten verwestlichte Version des Islam bezeichnet, und zwar, weil er eine Reaktion ist, nämlich eine aus dem Westen abgeleitete Version einer Nachahmung des identitätsbezogenen und rassialisierenden Essentialismus der westlichen Moderne (Segato 2008).

Folglich habe ich mich gefragt, ob wir hier vielleicht dem Versuch beiwohnen, unter uns den Keim eines religiösen Krieges zu säen und zu verbreiten, der jenem ähnelt, der dabei ist, den Nahen und Mittleren Osten zu zerstören. Und das exakt in Zeiten, in denen – wie ich im zweiten Kapitel erläutere – der politische und wirtschaftliche Verfall des Imperiums den Krieg zu seinem einzigen Bereich unangefochtener Überlegenheit macht.

Zweites Thema: Patriarchale Pädagogik, Grausamkeit und der gegenwärtige Krieg

Im vorliegenden Buch bleibe ich meinen ursprünglichen Formulierungen zu Geschlecht und Gewalt treu (Segato 2013). Erstens: Der Ausdruck ›sexuelle Gewalt‹ führt in die Irre, denn obschon der Angriff mitsexuellen Mitteln ausgeführt wird, ist sein Zweck nicht die Ordnung des Sexuellen, sondern die Ordnung der Macht. Zweitens: Es handelt sich nicht um Angriffe, deren Ursprung in einem libidinösen Trieb liegt, im Sinne eines Verlangens nach sexueller Befriedigung. Vielmehr richtet sich die Libido hier auf die Macht und ein Mandat unter Gleichen bzw. in der Bruderschaft, das einen Beleg für die Gruppenzugehörigkeit einfordert. Drittens: Was die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bestätigt, ist ein Tribut, der in Form einer Abgabe von der weiblichen Position auf die männliche Position übergeht, die sich als Resultat dieses Prozesses konstituiert. Viertens: Die funktionale, hierarchisch aufgebaute Struktur, die aus dem Mandat der Männlichkeit hervorgeht, ist analog zur Struktur einer mafiösen Vereinigung. Fünftens: Mittels dieser Form der Gewalt drückt sich die Macht aus, sie stellt sich zur Schau und sie konsolidiert sich auf grausame Art und Weise vor den Augen der Öffentlichkeit. Das bedeutet, es handelt sich um eine expressive Art der Gewalt, nicht um eine instrumentelle.

Trotz der gesamten jüngeren Debatte über dieses Thema bleibt meine Überzeugung, dass das Patriarchat, bzw. ein auf Ungleichheit basierendes Verhältnis der Geschlechter, die archaischste und dauerhafteste politische Struktur in der Geschichte der Menschheit ist. Diese Struktur, die das Verhältnis zwischen Positionen in jeder differenzierten Konfiguration von Ansehen und Macht formt, geht – obschon sie durch den Prozess der Conquista und die Kolonisierung eingehegt, radikal verschärft und in eine Ordnung extremer Tödlichkeit verwandelt wird – gleichwohl als einfache Hierarchie und in einem Patriarchat geringer Intensität oder geringer Auswirkung der kolonial-modernen Ära voraus. Der Ausdruck patriarchal-koloniale Moderne beschreibt zutreffend das Vorzugsrecht des Patriarchats als dem Aneigner des Körpers der Frau und ebenso zutreffend diesen Körper als die erste Kolonie. Die Conquista selbst wäre ohne die vorherige Existenz des Patriarchats niedriger Intensität, das die Männer dem Mandat der Männlichkeit gegenüber gefügig und somit für die Beispielhaftigkeit der siegreichen Männlichkeit empfänglich macht, unmöglich gewesen. Die Männer aus den besiegten Pueblos* funktionieren so als das Scharnier zwischen zwei Welten: Sie sind zwischen den Loyalitäten zwiegespalten: ihren eigenen Leuten gegenüber einerseits und dem Mandat der Männlichkeit gegenüber andererseits.

Dieser Analyse zufolge ist ›Geschlecht‹ die elementare historische Form oder Konfiguration jeder Macht zwischen Menschen und damit auch jeder Gewalt, denn jede Macht ist das Ergebnis einer unvermeidlich gewaltvollen Enteignung. Genau aus diesem Grund wird die Demontage dieser Struktur die Möglichkeitsbedingung für jeden Prozess sein, der imstande ist, die Geschichte im Sinne einer ›Ethik der Unzufriedenheit‹ neu auszurichten (Segato 2006). Ich habe dieses archaische Gebilde, von sehr langsamer, aber vollständig historischer Zeit an anderer Stelle mit dem Begriff ›patriarchale Vorgeschichte der Menschheit‹ umschrieben (Segato 2013). Meine Überzeugung der Vorgängigkeit und der Universalität wird durch die Beobachtung gestützt, dass es eine weltweit verbreitete mythische Formel gibt, die einen zweifellos historischen Moment nacherzählt. Wäre sie nicht historisch, würde es sie heute nicht im Form einer Erzählung geben. In ihr wird die Frau besiegt, beherrscht und diszipliniert, das heißt, in einer Position der Unterordnung und des Gehorsams verortet. Nicht nur die biblische Erzählung der Genesis, sondern eine Vielzahl ursprünglicher Mythen aus verschiedenen Pueblos erzählen diese gleiche, wiedererkennbare Geschichte. Im Fall von Adam und Eva führt der Akt des Verzehrs des Apfels für beide zum Verlust ihres paradiesischen Spielplatzes voller ungeregelter Vergnügungen und einer inzestuösen Brüderlichkeit, und bestraft beide … indem sie verheiratet werden. Es sind Mythen, die über alle Kontinente verstreut vorhanden sind: bei den Xerente, den Ona, den Baruya, den Massai etc.; bis hin zur Aussage Lacans über einen Phallus, der weiblich ist, den aber der Mann »hält«. Im mythischen Sinne verstanden, erzählen sie alle von einem Gründungsmoment aus einer sehr frühen Zeit (Segato 2013). Es könnte sich um den Übergang zur Menschheit handeln, den Moment, in dem sie noch eins ist, vor der Zerstückelung in Abstammungslinien und der Bildung von Pueblos. Um jene Phase also, in der die muskuläre Vorrangstellung der Männchen in die politische Vorrangstellung der Männer verwandelt wurde, und zwar in einem langen Übergang von einem Programm der Natur in ein Programm der Zivilisation, also einem historischen Programm. Über die Zeit hat sich das, was eine historische Erzählung hätte sein können, zu einem Mythos verdichtet.

Das führt zu dem Gedanken, dass kein bedeutsamer Wandel der Gesellschaftsstruktur möglich scheint, solange wir das patriarchale Fundament nicht demontieren, auf dem alle Ungleichheiten und Wertenteignungen basieren, aus denen wiederum alle Formen der Macht konstruiert sind – die ökonomische, die politische, die intellektuelle, die künstlerische etc. Und auch nicht, solange wir keinen definitiven Riss in das harte kristallartige Gebilde schlagen, dass von Beginn der Zeiten an die patriarchale Vorgeschichte der Menschheit stabilisiert hat. Und dieser Wandel scheint auch deshalb unerreichbar, weil er noch nie möglich gewesen ist. Somit wird jetzt wie nie zuvor das Drama und die Dringlichkeit des Geschlechterverhältnisses und seiner Struktur offenbar, die bis heute nichts Anderes als die im Ausgang der Geschichte fundierte patriarchale Ordnung ist – und das trotz all der Anstrengungen auf dem rechtlich-institutionellen Feld der Moderne. Das führt uns zum Thema des kolonialen Wandels dieser Struktur, und bis in die Gegenwart zur Frage der andauernden Kolonialität der republikanischen Criollo*-Staaten auf unserem Kontinent.

Mit dem Prozess der Conquista und der Kolonisierung vollzieht sich eine Wende bzw. ein Anziehen der Schrauben, was das originäre hierarchische Muster verschärft. Auf diesen Prozess werde ich vor allem im vierten Kapitel des Buches eingehen. Aus einem Mann, mit seinen Aufgaben und seinen besonderen Räumen in der Stammeswelt ist der Mann geworden, das Synonym und Paradigma der Menschheit in der kolonial-modernen öffentlichen Sphäre.** Ich übernehme den Ausdruck ›modern‹ mit dem vorgesetzten Begriff ›kolonial‹, um die Notwendigkeit des ›amerikanischen‹ Ereignisses als Möglichkeitsbedingung der Moderne wie auch des Kapitalismus auszudrücken. Hierin folge ich der dekolonialen Wende, die Aníbal Quijano in das historische und soziologische Bewusstsein eingebracht hat (Segato 2015a). Ausgehend von diesem historischen Wandel der Geschlechterstruktur ist dies der Moment, in dem das männliche Subjekt das Modell des Menschlichen schlechthin und das Subjekt der paradigmatischen Äußerung in der öffentlichen Sphäre geworden ist – und das bedeutet, von allem, was mit Politizität, allgemeinem Interesse und universellem Wert ausgestattet ist. Gleichzeitig werden dem Raum der Frauen, also allem, was mit dem häuslichen Bereich zusammenhängt, seine spezifische Politizität und die inkorporierten Bindungen, die er im Leben der Kommunität* innehatte, genommen. So verwandelt sich dieser Raum in den Rand und den Rest der Politik. Der häusliche Raum wird dadurch mit den Attributen des Intimen und Privaten versehen, die er vorher nicht kannte, und aus dieser Verschiebung resultiert, dass das Leben der Frauen die Zerbrechlichkeit annimmt, die wir heute kennen. Auf diese Weise hat sich die Vulnerabilität und die tödliche Verletzbarkeit herausgebildet und beide nehmen bis zum heutigen Tag immer weiter zu.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet offenbart der Staat seine männliche DNA. Denn er resultiert aus der Transformation eines partikularen Raums der Männer und ihrer spezifischen Aufgaben – die Politik im kommunitären und interkommunitären Leben und später an der kolonialen Front und mit dem Nationalstaat – in eine allumfassende Sphäre jeglicher Realität. Eine Realität, die alles in Beschlag nimmt, was für sich in Anspruch nimmt, einen politischen Charakter zu haben, also mit Politizität ausgestattet zu sein. Diese alles umfassende ›universelle und öffentliche Sphäre‹ stammt genealogisch aus jenem partikularen Raum der Männer, der durch die Etablierung und Expansion der Kolonial-Moderne verwandelt worden ist. Die duale und auf Gegenseitigkeit basierende Matrix mutiert so zur modernen binären Matrix, in der jegliche Alterität eine Funktion des Einen ist und alles Andere durch das Sieb einer universellen Referenz passen muss.

Dieser Transformationsprozess von einem hierarchischen Verhältnis zwischen männlich und weiblich hin zu einem allumfassenden Verhältnis wird von einem Wandel auf dem Feld der Sexualität und ihrer Bedeutung begleitet. Das habe ich andernorts beschrieben (Segato 2015a) und greife es hier im dritten Kapitel nochmals auf. Die Sexualität wird mit der Welt des Unheils und der Grausamkeit kontaminiert: Es geht nicht mehr allein um die Aneignung der Körper, ihre Annexion ›qua Territorium‹, sondern um ihre ›Verurteilung‹. Eroberung, Ausplünderung und Vergewaltigung sind in ihrer zerstörerischen Wirkung gleichsam verstrickt und bleiben über die Phase der Republiken und bis in die Gegenwart miteinander verknüpfte Ideen. Die männliche Pädagogik und ihr Mandat werden zu einer ›Pädagogik der Grausamkeit‹, die funktional für die enteignende Begierde ist, denn die Wiederholung der gewalttätigen Szene produziert einen Normalisierungseffekt in einer Landschaft der Grausamkeit. Somit senkt sie bei den Menschen die niedrigen Schwellen der Empathie weiter ab, was für die habgierige Unternehmung unerlässlich ist. Wie hat Andy Warhol in einem seiner berühmt gewordenen Zitate formuliert: ›The more you look at the exact same thing, the more the meaning goes away, and the better and emptier you feel.‹ Die habitualisierte Grausamkeit ist direkt proportional zur Isolierung der Mitmenschen mittels ihrer Desensibilisierung.

Ebenfalls im dritten Kapitel lege ich dar, dass die auf Konzentration abzielende Beschleunigung der aktuellen apokalyptischen Phase des Kapitals die institutionelle Fiktion, die zuvor eine stabile Grammatik für das soziale Leben angeboten hatte, zu Fall bringt. Es geht um mehr als um ›Ungleichheit‹, es geht um die Idee eines ›herrschaftlichen Besitzes‹, die mit einer ›Refeudalisierung‹ von gigantischen Territorien ihre Klauen in Richtung der letzten kommunitären Räume des Planeten ausfährt. Und es ist exakt diese Vorstellung der Verletzung auf dem Feld der Sexualität, die sich in diesem Bereich als Sprache für die Pakte profitorientierter Geheimbünde anbieten wird, ein Bereich, den ich im zweiten Kapitel als ›zweite Realität‹ bezeichne. Denn diese Pakte und das Mandat der Männlichkeit legitimieren zwar alle anderen Formen der Herrschaft und des Missbrauchs nicht, die in ihrem Umfeld kultiviert werden und von dort aus wuchern, aber sie schützen und verdecken sie. Was ich über Ciudad Juárez gesagt habe, gilt auch für die Logik des Menschenhandels und die Einrichtung sexueller Sklaverei: In diesem finsteren und zerstörerischen Raum werden alle mafiösen Geheimnisse besiegelt, die heute den Weg der Akkumulation ebnen.

Der Menschenhandel mit dem Ziel der Sexsklaverei illustriert diese Idee, denn sein Ertrag besteht nicht allein in der Zählbarkeit des materiellen Profits, den er abwirft, sondern in dem, was er im Hinblick auf die Schweigepakte und Komplizenschaft bewirkt, die sich in seinem Schatten festigen. Dieser Menschenhandel unserer Zeit ist – wie ich im Interview im siebten Kapitel argumentiere – anderer Art als jener, der die Einwanderungsländer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verheert hat. In den miteinander verflochtenen symbolischen und materiellen Ökonomien fungiert der Körper der Frau als Brücke zwischen monetärem Gewinn und der Macht, das Hoheitsgebiet zu beherrschen. Letzteres kommt in einer moralischen Ordnung zum Ausdruck, in der der Zugang zu Sexualität den Bund unter den Eigentümern zementiert, indem ihnen garantiert wird, anderen straffrei Schaden zufügen zu können. In den ersten beiden Kapiteln des Buchs argumentiere ich, dass im Menschenhandel und bei Femiziden, die charakteristisch für die mafiöse kriegerische Ordnung und die sich über den Kontinent ausbreitende parastaatliche Sphäre sind, nicht nur die Materialität des Frauenkörpers beherrscht und gehandelt wird, sondern dieser Körper funktional für die Aufrechterhaltung des Pakts der Macht ist. Vielleicht ist es aus diesem Grunde trotz aller Bemühungen unmöglich, dieses materielle und symbolische Geschäft abzuschaffen.

Dieser Aspekt spielt zweifellos auch in den gegenwärtigen informellen Kriegen eine Rolle; ebenso wie die ›Feminisierung‹ dieser Kriege und ihr schändender Charakter – Aspekte, die verschiedene hier zitierte Autor:innen als Methoden der neuen Kriegsformen bezeichnen.

Ich habe in meinem anthropologischen Gutachten im Fall Sepur Zarco, in dem eine Gruppe von Frauen der guatemaltekischen Maya-Q’eqchi-Gemeinde häuslich und sexuell versklavt worden ist, dargelegt, wie diese ›Methode‹ der Zerstörung des sozialen Körpers durch die Schändung und Entweihung des weiblichen Körpers für den genozidalen Krieg des autoritären Staates in den achtziger Jahren eine wichtige Rolle gespielt hat (Segato 2016). Es war eine Strategie wie aus dem ›Kriegshandbuch‹, die nichts mit der hierarchischen Ordnung eines Patriarchats niedriger Intensität zu tun hatte, wie sie für die ländlich-indigenen Haushalte charakteristisch ist. Die expressive Macht der moralischen Vernichtung eines Krieges gegen den Frauenkörper und sein absichtsvoller Charakter – von Strategen wie ein Laborexperiment vorbereitet und dann mit chirurgischer Präzision in einer Befehlskette ausgeführt – waren offensichtlich. Und dieses Vorgehen offenbart die Rolle der weiblichen Position in den repressiven und mafiösen Kriegen, die die Sphäre der parastaatlichen Kontrolle über die Menschen ausweiten.

In Zeiten funktionaler und pädagogischer Grausamkeit ist es andererseits im Körper der Frau – oder des Kindes –, wo sich die Grausamkeit als Botschaft formiert, denn in der archaischen Vorstellungswelt repräsentiert dieser Körper nicht die Position des Kriegsgegners, sondern die eines ›unschuldigen‹ Dritten innerhalb der Kriegshandlungen. Deshalb wird in ihnen, als Geopferte, die Komplizenschaft der Macht in einem Pakt besiegelt und die exhibitionistische Willkür zum Schauspiel. Angesichts des öffentlichen Charakters dieses Typs femizidaler Gewalt, bei der man nicht auf das Motiv einer Beziehungstat verweisen kann, schlage ich im fünften Kapitel den Begriff des ›Femigenozids‹ vor. Und ich möchte hinzufügen, dass wir angesichts der Intersektionalitäten, die sich aus den verschiedenen Formen der existierenden Unterdrückung und Diskriminierung ergeben, dies mit der Kategorie der ›Amefrikanität‹ der großen, früh verstorbenen afrobrasilianischen Denkerin Lélia Gonzalez kombinieren und von einem ›Amefricafemigenozid‹ sprechen könnten. Und auch die Kategorie des ›Juvenizids‹, die von Rossana Reguillo und anderen mexikanischen Autor:innen benutzt wird (Valenzuela 2015, Reguillo 2015), um den Begriff des ›Amefricajuvenifemigenozid‹ zu konstruieren. Er benennt die grausame Hinrichtung des Opfers, die nicht zweckgebunden, sondern Ausdruck einer Souveränität ist, ein Akt, in dem die Macht ihren Spielraum und die Souveränität über ihr Hoheitsgebiet zur Schau stellt.

Kurzum, die Verbrechen des Patriarchats sind Ausdruck zeitgenössischer Formen der Macht, der Willkür über das Leben seitens der Eigentümer, sowie einer permanenten verletzenden und enteignenden ›Konquistualität‹, wie ich es im dritten Kapitel bezeichne. Der Begriff scheint mir zutreffender als jener der ›Kolonialität‹, insbesondere seit ich zu dem Schluss gekommen bin – und zwar angesichts von Situationen wie dem repressiven Krieg in Guatemala, der Lage an der Pazifikküste Kolumbiens oder dem Martyrium des Pueblos der Guaraní Kaiowá in Mato Grosso und anderen Gegenden des Kontinents –, dass es falsch ist, zu glauben, die Conquista sei irgendwann beendet worden.

Drittes Thema: Was die zentrale Rolle des Patriarchats als Pfeiler der Machtarchitektur verschleiert

Was die zentrale Rolle der Geschlechterverhältnisse in der Geschichte verschleiert, ist exakt der binäre Charakter der Struktur, der die öffentliche Sphäre allumfassend und totalisierend über das restliche Andere erhebt, nämlich das private und persönliche Feld. Das heißt, es ist das Verhältnis zwischen dem politischen und dem außer-politischen Leben. Dieser Binarismus definiert die Existenz eines Universums, dessen Wahrheiten mit universellem Wert und allgemeinem Interesse ausgestattet sind. Die Verkündung dieser Wahrheiten wird dabei als von einer männlichen Figur ausgehend imaginiert; und die ›Anderen‹ werden darin als mit partikularer, marginaler und minoritärer Bedeutung ausgestattet gedacht. Die unermessliche Kluft zwischen dem Universalisierten und Zentralen einerseits und dem restlichen, zur Minderheit gemachten, dem ›Minorisierten‹ andererseits, konfiguriert eine unterdrückende binäre Struktur. Und damit auch eine inhärent gewaltsame Struktur und zwar in einer Art und Weise, in der andere hierarchische Ordnungen es nicht sind. Aufgrund dieses Mechanismus der Minorisierung in der binären Struktur der Moderne, auf den ich im fünften Kapitel eingehe, haben die Verbrechen gegen Frauen bzw. die weiblich markierte Position in der patriarchalen kolonial-modernen Vorstellungswelt nie den ihnen gebührenden Raum in der Gesetzgebung erhalten. Der völlig öffentliche Charakter dieser Verbrechen wurde ihnen niemals zugestanden.

An diesem Punkt können wir fast den Gedanken wagen, der andernorts ausgeführt werden müsste, dass die Hexenverbrennungen des europäischen Mittelalters nicht mit den zeitgenössischen Femiziden gleichzusetzen sind, denn erstere waren eine öffentliche Bestrafung des Geschlechts. Die zeitgenössischen Femizide hingegen schaffen es in der Vorstellungswelt der Richter, Staatsanwälte, Medienschaffenden und der allgemeinen öffentlichen Meinung nie aus der Einhegung ins Private heraus – und das, obwohl sie inmitten des Getöses, des Spektakels und der Strafaktionen in parastaatlichen Kriegen stattfinden.

Daher können wir sagen, dass die Moderne eine große Produktionsmaschine von Anomalien aller Art ist, die dann ausgesiebt – im Sinne einer Verarbeitung durch das Raster des universellen Bezugspunktes – und in multikultureller Hinsicht auf ›ikonisierte politische Identitäten‹ reduziert, typifiziert und klassifiziert werden müssen, um dann nur in diesem Format als mögliche Subjekte in die öffentliche Sphäre wieder eingebracht zu werden (Segato 2007). Alles, was sich dieser Praxis einer sich an die existierende Matrix – die wie eine große Verdauungsmaschine funktioniert – anpassenden Travestie nicht unterwirft, wird eine Anomalie ohne Ort bleiben und den Ausschluss und die Verbannung aus der Politik erleiden. Auf diese Art und Weise bietet die Moderne mit ihrem aus der patriarchalen Genealogie stammenden Staat ein Heilmittel gegen jene Übel an, die sie selbst produziert hat: Sie gibt mit der einen Hand und in schlechtem Zustand das zurück, was sie vorher mit der anderen genommen hat, und unterschlägt somit gleichzeitig das, was sie anzubieten vorgibt. In diesem Umfeld ist die radikale Differenz, die für den kolonial-modernen kapitalistischen Pakt weder typisierbar noch funktional ist, nicht verhandelbar. Im kommunitären Umfeld der amefrikanischen Pueblos des Kontinents hingegen ist die radikale Differenz möglich und wird unentwegt praktiziert.

Die Moderne, mit ihrer kolonialen Vorbedingung und ihrer patriarchalen öffentlichen Sphäre, produziert also massenweise Anomalien und verhängt Zensur: Sie positiviert die Norm, sie verbucht die Strafen, sie katalogisiert das Leiden, sie patrimonialisiert die Kultur, sie archiviert die Erfahrung, sie monumentalisiert die Erinnerung, sie fundamentalisiert die Identitäten, sie verdinglicht das Leben, sie macht die Erde zur Ware, sie egalisiert die Zeitlichkeiten (vgl. eine Zusammenschau ähnlicher Kritiken bei Gorbach/Rufer 2016).

Der Weg muss also folgender sein: Die Demaskierung des Binarismus dieser kolonial-modernen Matrix, die sich in zahlreichen anderen Binarismen wiederholt, unter denen jener der Geschlechter der am häufigsten zitierte ist. Und zwar mit dem Ziel, ihn zu zersetzen, indem man den Glauben an einen Staat aufgibt. Denn von ihm ist nicht zu erwarten ist, dass er aus seiner Verfasstheit selbst herausfindet, die dazu bestimmt ist, die Politik ihrer Pluralität an Wegen und Stilen zu berauben. Das gilt besonders für Lateinamerika, wo die von den Criollo-Eliten begründeten republikanischen Staaten keineswegs einen Bruch mit der kolonialen Verwaltung verkörperten, wie es uns die mythisch-historische Erzählung glauben machen will. Sie verkörperten vielmehr eine Kontinuität, in der sich die Regierung, nun in geografischer Nähe, etabliert hat, um die Territorien, die Güter und die Bevölkerungen zu erben, die zuvor in Hand der überseeischen Verwaltung lagen. Die sogenannten Unabhängigkeiten waren nichts anders als der Übergang dieser Güter von dort nach hier. Aber ein fundamentaler Aspekt ist geblieben: der stets äußerliche Charakter bzw. das äußerliche Gefühl der Verwalter in Bezug auf das zu Verwaltende. Diese der kolonialen Beziehung inhärente Exteriorität verschärft die Äußerlichkeit und Distanz der öffentlichen Sphäre und des Staates zu den Menschen. Die Regierten werden so auf unerbittliche Art und Weise marginalisiert und zurückgesetzt, was die Kluft, von der ich gesprochen habe, und die Vulnerabilität der gesamten Verwaltung zusätzlich erhöht.

Unsere Staaten wurden konstruiert, damit sich die Gründungseliten den veredelten Reichtum würden aneignen können. Bis heute ist die Anfälligkeit für derlei Aneignungen das Merkmal ihrer Struktur, und zwar dergestalt, dass jemand, der nicht zu diesen Eliten gehört, beim Eintritt in die staatliche Sphäre unweigerlich Teil dieser stets äußerlichen und auferlegten Verwaltungssphäre, also Teil der Elite wird. Die Krise des bürgerlichen Glaubens wird so unvermeidlich. De facto ist das Gründungssubjekt der Republiken auf unserem Kontinent – das heißt, der ›Criollo‹ – nicht der treue Diener der Demokratie und Souveränität wie die Historie es bewirbt, sondern ein Subjekt mit vier Merkmalen, die seine Exteriorität mit Blick auf das Leben bestätigen: er ist rassistisch, misogyn, homophob und speziesistisch.

So geht aus der Argumentation, die ich im vierten Kapitel entwickle, eine Umkehrung der berühmten inklusiven Menschenrechtsformel »anders, aber gleich« hervor: Ausgehend von der explizit hierarchischen Struktur von kommunitären Welten kann man die Alternative formulieren: »ungleich, aber anders«. An dieser Stelle würde ich auch für eine Wendung im Verständnis des feministischen Slogans der siebziger Jahre »Das Private ist politisch« plädieren. Der Weg, den ich im dritten Kapitel vorschlage, ist nicht eine Übersetzung des Häuslichen in die Begriffe des Öffentlichen, also die Verdauung durch die öffentliche Grammatik, um so ein wenig mehr Politizität zu erlangen. Vielmehr schlage ich den genau umgekehrten Weg vor: »Die Politik häuslich machen«, sie entbürokratisieren, sie häuslich kodiert vermenschlichen, hin zu einer re-politisierten Häuslichkeit. Das ständige Scheitern der Strategie, den Staat – mit Gewalt oder durch Wahlen – zu übernehmen, um zur Geschichte zurückzugelangen, zeigt, dass dies vielleicht nicht der Weg ist: Denn mit der Übernahme des Staates ist man noch nie ans Ziel gekommen, weil es die staatliche Architektur selbst ist, die – als Sitz der Verwaltungselite, die in unserem Fall auch noch kolonial ist – ihrem Personal die eigene Logik auferlegt. Die Pluralität der Räume und Politizitäten verschiedenen Stils, die das kommunitäre Leben zu bieten hat, sollte wieder anerkannt und genutzt werden, indem die Unterschiede zwischen der politischen Aufgabe der Menschen – im Weiler, zwischen den Weilern und vor der Kolonialfront – anerkannt werden. In der Zwischenzeit ist der Weg ein amphibischer: innerhalb und außerhalb des staatlichen Feldes, mit Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Staates, organisiert von den Menschen selbst, indem sie an Bindungen wieder anknüpfen und die Kommunitäten neu aufbauen, die durch den Prozess der kolonialen staatlichen Intervention, die ›Modernisierung‹ genannt wird, angegriffen und gespalten worden sind.

Was wir durch die Demontage des Binarismus öffentlich-privat wiedererlangen müssen, sind die Techniken der Soziabilität und eine Politizität, die wieder einen Zugang zur häuslichen Politik, den ›Oikonomien‹, findet (Segato 2007). Genauso gilt es, die verschiedenen Stile der Verhandlung, der Repräsentation und der Verwaltung wiederzuerlangen, die Frauen als Erfahrung im Laufe ihrer Geschichte entwickelt und angesammelt haben, und zwar in ihrem Zustand einer differenzierten Gruppe innerhalb der Spezies und ausgehend von der sozialen Arbeitsteilung. Es gab Niederlagen, keine Frage. Aber die zeitgenössische Niederlage angesichts der Eigentümer auf ihrem Weg hin zu einer Katastrophe, zu der ihre Feindseligkeit dem Leben gegenüber führt, ist eine größere. Es handelt sich hier nicht um Essenzialismus, sondern um die Idee der Geschichte(n) im Plural, einer ›historischen Pluralität‹, in der Gesellschaften verschiedenen Typs und verschiedener Struktur ihre Projekte entworfen haben, in denen auch die Ziele von Glück und Wohlbefinden existieren, genauso wie sich darin weiblich und männlich kodierte Aktionsformen ausdifferenziert haben. Wir Frauen können diese weiblich kodierte Politizität wiedererlangen, und die Männer können hinzustoßen und beginnen, Politik anders zu denken. Es könnte der Beginn einer neuen Ära sein, deren Anzeichen in Wirklichkeit bereits zu vernehmen sind: Der Beginn eines neuen Paradigmas der Politik, und vielleicht der Anfang des Endes dessen, was ich an anderer Stelle die »patriarchale Vorgeschichte der Menschheit« genannt habe (Segato 2013).

Letztlich haben wir Feministinnen uns im Laufe der Geschichte unserer Bewegung bemüht, Schwesternschaft auszubilden, und zwar im Sinne von Abschirmung unserer eigenen Räume. Dabei haben wir vergessen oder vielleicht verlernt, dass es solche Abschirmungen in der kommunitären Welt schon immer gegeben hat, bis sie durch die Einhegung jeglicher Vereinigung, Repräsentation und Aufgaben in eine Sphäre, die die Politik totalisiert und ›nach dem Ebenbild‹ der Institutionen der Männerwelt modelliert ist, verdrängt worden sind. Die Geschichte der Männer kann man hören, die Geschichte der Frauen wurde gelöscht und zensiert; sie ist im Übergang von der Welt der Weiler zur kolonialen Moderne verlorengegangen.

Die Idee eines ›Totalitarismus der öffentlichen Sphäre‹ – um den Begriff aufzunehmen, den ich im vierten Kapitel nutze – und die daraus resultierende Vertrauenskrise in den Staat, führen hier zur kurzen Erwähnung eines Problems, das mit dem fatalen Missverständnis dieses Glaubens an den Staat verbunden ist. Ich beziehe mich auf das, was ich als ›Autoritarismus der Utopie‹ bezeichne, wohlwissend, dass ich damit Empfindlichkeiten berühre, die sich im Laufe der Geschichte des christlichen Monotheismus und der sozialistischen Überzeugungen gefestigt haben (vergessen wir nicht: »Der Weg in die Hölle ist mit guten Absichten gepflastert«). Vorstellungen einer perfekten Gesellschaft der Zukunft, in die uns die effiziente Aneignung des Staates und die Kontrolle über die Verwaltung triumphal führen sollten, haben sich immer als autoritär erwiesen. Die Utopie kann einen autoritären Effekt nicht verhindern. Wie ich andernorts formuliert habe, wird es das Beste sein, sich von der utopischen, evolutionistischen und eurozentrischen Abstraktion abzuwenden, die auf eine Zukunft gerichtet ist, von der man trotz ihrer tatsächlichen Unbestimmtheit und Unsicherheit glaubt, sie kontrollieren zu können (Segato 2007). Vielmehr sollte man sich den konkreten Erfahrungen zuwenden, die kommunitär und kollektiv organisierte Pueblos – auch heute noch und mitten unter uns – praktizieren, um die unkontrollierte Akkumulation zu begrenzen und die Kluft der Ungleichheit unter den Menschen einzudämmen. Die einzig mögliche Inspiration ist die konkrete historische Erfahrung von denjenigen, die sich auch nach 500 Jahren des andauernden Genozids, beratschlagt und sich rätselhafterweise dafür entschieden haben, auf ihrem historischen Projekt zu beharren, weiterhin Pueblos zu bleiben. Und es ist deshalb die einzig mögliche Inspiration, weil sie nicht auf einer Zukunftsillusion basiert, die sich a priori aus der für die europäische Zivilisation charakteristischen Kontrollneurose speist.

Und das, obschon sie auf unserem Kontinent leben, einem Kontinent der Deserteure: Deserteure von ihren nichtweißen Abstammungslinien und ihrer Zugehörigkeit zu einer menschlichen und historischen amefrikanischen Landschaft (vgl. Sahlins 1972 zu Gesellschaften, die entschieden haben, keine Überschüsse einzulagern und dem Aufkommen untätiger Klassen keinen Raum zu geben]; zu Gesellschaften, die entschieden haben, sich der Entstehung des Staates als Kontrollstruktur zu widersetzen, vgl. Clastres 2020). Selbst mitten in den großen lateinamerikanischen Metropolen können wir die Lektionen jener beobachten, die weiterhin an der Kommunität anknüpfen.

Viertes Thema: Hin zu einer weiblich kodierten Politik

Inspiration in der kommunitären Erfahrung zu suchen, also nicht wiederholt den strategischen Fehler zu begehen, die Geschichte als Projekt zu denken, das der Staat ausführt, erscheint also als Alternative zu all jenen Experimenten, die im Laufe der Geschichte bereits gescheitert sind. Die Losung würde lauten: Die Kommunität ausgehend von den existierenden Fragmenten neu knüpfen. Das würde auch bedeuten, einen Typ von Politizität zu rekonstruieren, der mit der Einnahme der politischen Äußerung durch die öffentliche Sphäre ausgelöscht wurde. Daraus resultierte die Minorisierung und Verwandlung in einen Rand oder Rest der Politik all jener Interessensgruppen, die sich nicht nach dem Ebenbild des Subjekts der öffentlichen Sphäre ausrichten. Auf die Genealogie und Verfasstheit dieses Subjekts gehe ich insbesondere im vierten Kapitel ein. Dieser Politikstil, der nicht Teil der historischen Herausbildung der Bürokratie und des modernen Rationalismus ist, hat seinen Ausgangspunkt in der häuslichen Logik, mit ihren eigenen Techniken der Soziabilität und ihrer eigenen Verwaltung. Kennzeichen der männlich kodierten historischen Erfahrung sind die Bewegungen im Raum, welche die Jagd erforderlich machen, sowie die Verhandlungen und Kriege mit den Weilern und später der kolonialen Front. Die Geschichte der Frauen hingegen hat ihren Schwerpunkt in der Verwurzelung und in Beziehungen der Nähe. Was wir wiederbeleben müssen ist ihre Art, in diesem Raum der Bindungen Politik zu betreiben, einem Raum engen körperlichen Kontakts und mit wenigen protokollarischen Vorgaben. Als das Imperium der öffentlichen Sphäre errichtet wurde, ist dieser Raum vernachlässigt und aufgegeben worden. Es handelt sich dabei eindeutig um eine andere Art und Weise, Politik zu betreiben, nämlich eine Politik der Bindungen und der Nähe mitsamt einer damit verbundenen Art der Verwaltung, und nicht eine Politik protokollarischer Distanz und bürokratischer Abstraktion. Wir müssen nicht nur die Fäden der Erinnerung wieder miteinander verweben, an die unsere rassialisierte Körperlichkeit uns erinnert, wenn wir in den Spiegel schauen, und – wie ich andernorts dargelegt habe – das Mestizische aufbröseln (Segato 2015a). Sondern wir müssen auch an die Erinnerung der verbotenen und entwerteten Art der Frauen, Politik zu machen, anknüpfen und diesen Wert zurückgewinnen, der durch den abrupten Verlust von Ansehen und Autonomie des häuslichen Raums im Übergang zur Moderne blockiert worden ist.

Aber ohne in einen Voluntarismus zu verfallen, denn nicht jedes kleine Kollektiv und jede Beziehung von Angesicht zu Angesicht ist eine Kommunität. Das ist der Irrtum von Versuchen der solidarischen Ökonomie oder einer restaurativen Justiz. Denn immer dann, wenn sich ein Kollektiv mit einer bestimmten Absicht organisiert, wie zum Beispiel die Linderung von Nöten in schweren Zeiten oder die Beilegung von Konflikten, dann löst es sich auch wieder auf, wenn das zu lösende Problem erledigt scheint. So wie wir es im Fall von Argentinien nach der Krise von 2001 beobachten konnten. Um eine Kommunität zu sein, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: eine symbolische Dichte, für die meist ein eigener Kosmos oder ein religiöses System sorgt; und eine Selbstwahrnehmung seitens der Mitglieder, die aus einer gemeinsamen Geschichte stammt, die nicht frei von internen Konflikten ist – ganz im Gegenteil –, die sich auf eine gemeinsame Zukunft hin orientieren. Das heißt, eine Kommunität ist eine solche, weil sie eine Geschichte teilt. Der Bezugspunkt einer Kommunität oder eines Pueblos liegt allerdings nicht im Erbe von unveränderlichen Sitten und Gebräuchen, sondern in dem Projekt, der gemeinsamen Existenz als kollektives Subjekt Kontinuität zu verschaffen (Segato 2015a).

Was eine Kommunität ausmacht, ist der Wunsch, in Verbindung und miteinander im Austausch zu stehen und die permanente Verpflichtung auf Gegenseitigkeit, die dazu führt, dass die verschiedenen Ressourcen unter den Mitgliedern hin und her fließen. Man könnte übrigens meinen, dass die neuen Pfingstkirchen und literalistischen Evangelikalen, deren Führungsspitzen den Willen einer wachsenden Zahl lateinamerikanischer Bevölkerungsanteile kontrollieren, exakt wussten, wie sie eine Mimesis der kommunitären Techniken der Soziabilität realisieren. Genauso wussten sie, die alten, aufgelösten Bindungen durch neue zu ersetzen, die sie ihres Sinnes der Verwurzelung und ihrer Geschichte entleert haben (Segato 2007).

Kommunität neu zu knüpfen, bedeutet, sich einem historischen Projekt zu verschreiben, das auf Ziele hin orientiert ist, die von jenen des historischen Projekts des Kapitals abweichen. Dabei spielt die Religion bzw. das, was ich als »eigenen Kosmos« bezeichnet habe, eine bemerkenswerte Rolle. Das habe ich begriffen, als ich auf dem von der Universität Pittsburgh betriebenen Universitäts-Schiff SS Universe unterrichtet habe: Hier schreiben sich nordamerikanische Student:innen reicher Familien ein – von denen viele dazu bestimmt sind, später öffentliche Posten zu bekleiden – um ein semester at sea zu absolvieren, in dem sie Kreditpoints in verschiedenen Fächern sammeln, während sie um die Welt reisen. Im Jahr 1991 musste dieser Ozeandampfer wegen des Golfskrieges seinen Kurs ändern und ich wurde zwischen den Häfen von Caracas und dem brasilianischen Salvador als Dozentin engagiert. Meine Aufgabe war es, die jungen Leute, die in Salvador just am ersten Tag des dortigen Karnevals ankommen würden, in das einzuführen, was Thema meiner Doktorarbeit in den achtziger Jahren gewesen war: die afro-brasilianischen Religionen (Segato 2005). Während einer meiner Vorlesungen erbat ein teilnehmender Herr das Wort. Ich gewährte es ihm und er wandte sich, mir den Rücken zukehrend, mit der Autorität eines Professors an die Stundent:innen und sagte: »Ich sage Ihnen, aufgrund von derartigen Religionen werden diese Länder nie vorwärtskommen können, denn sie sind dysfunktional für den Fortschritt.« Während ich ihn anhörte, wuchs meine Empörung. Obschon im Grunde völlig offen gewesen war, wohin diese Vorlesung führen würde, hat sie in meinem Fall natürlich sofort die entgegengesetzte Richtung von dem genommen, was dieser Herr sich so vorgestellt hatte. Nach der Veranstaltung erkundigte ich mich nach der Identität dieser rätselhaften Person, die sich angesichts einer offenbar gefährlichen Lektion über afrikanische Religionen in Brasilien viele Sorgen um die gute Ausbildung der Student:innen machte. Ich erfuhr, dass es sich dabei um einen Politiker handelte, der drei Mal Gouverneur von Colorado gewesen war und nun dem Politikwissenschaftlichen Institut der Universität seines Bundesstaats vorstand – links im Norden, rechts im Süden. Damals habe ich für immer verstanden, dass gewisse ›Kosmen‹ und Spiritualitäten, die weit davon entfernt sind, das »Opium des Volkes« zu sein, doch zweifelsfrei Hindernisse darstellen, die dysfunktional für das Kapital sind.

In einer etwas schematischen Darstellung kann das für das Kapital funktionale und dysfunktionale in der heutigen Welt mit den Begriffen zwei verschiedener historischer Projekte benannt werden: Das historische Projekt der Dinge und das historische Projekt der Bindungen. Sie definieren Zufriedenheit auf unterschiedliche Art und Weise, stehen in Spannung zueinander und sind in letzter Instanz inkompatibel. Um diese Idee anschaulicher zu machen, verweise ich auf die veröffentlichten Bilder und Erzählungen über die Pilgerreise lateinamerikanischer Migrant:innen, die im La Bestia genannten Zug durch Mexiko in das Land im Norden streben. Die Augenzeugenberichte, die man in diesen Dokumenten findet, sind sehr beeindruckend. Ich kann mich außerdem auf die Berichte von Protagonist:innen stützen, denen ich bei mindestens drei internationalen Veranstaltungen zum Thema gelauscht habe.

Ihre Erzählungen haben eine wiederkehrende Struktur: Die Migrant:innen besteigen den Zug, manche stürzen und verletzen sich dabei. Einigen müssen danach Gliedmaßen amputiert werden. Alle Frauen werden unausweichlich vergewaltigt, als sei das eine in Stein gemeißelte Regel. Viele Migrant:innen werden aufgegriffen, versklavt und gezwungen, auf großen Anwesen oder im Menschenhandel auf der einen oder anderen Seite der ›großen Grenze‹ zu arbeiten, und das oft für Jahre. Am Ende dieser Odyssee mit ihren extremen Entbehrungen, zu denen auch das Bezahlen von hohen Summen an die Schlepper und Schleuser gehört, werden die Migrant:innen häufig festgenommen und wieder an ihren Ausgangsort zurückgebracht. Und was macht eine beträchtliche Anzahl von ihnen? Sie beginnt die Reise von Neuem… Die übliche Herangehensweise bei der Erklärung für die Vertreibung aus ihren Heimatorten ist der Verweis auf ihre materielle Not und die dort herrschenden mafiösen Kriege. Nachdem ich tagelang die Bilder über das, was ich hier beschreibe, betrachtet habe, bin ich zu dem Schluss gekommen, es anders denken zu müssen – und ich wage hiermit, eine Wette auf das Verständnis dieses seltsamen und zwanghaften Phänomens unserer Zeit zu formulieren. Dabei beziehe ich mich auf unseren Kontinent, nicht auf Menschen, die zum Beispiel im Nahen und Mittleren Osten aufgrund von Kriegen aus ihren Ursprungsländern vertrieben werden. Ich wage es also, den Faktor der Attraktion höher zu bewerten als jenen der Vertreibung. Allerdings nicht ohne die Begriffe von Überfluss, Mangel und libidinöser Investition als Konstrukte einer historischen und apokalyptischen Phase des Kapitals mit speziellen Eigenschaften neu zu betrachten, wie es bereits Deleuze in seiner an Spinoza orientierten Kritik des Freudianismus getan hat. Denn es ist der Überfluss, der den Mangel produziert, indem er das zerstört, was zuvor zufriedengemacht und das Leben erfüllt hat. Zu Beginn werden die Beziehungen des Vertrauens und der Gegenseitigkeit durch den einschreitenden Effekt der Modernisierung und den Druck eines überregionalen Marktes ausgehöhlt, diskreditiert und zerstört. Sind die Bindungen einmal zerstört und hat sich eine Mangelsituation – die nicht allein materieller, sondern sozialer Natur ist – erst einmal eingestellt, verändert sich der Trieb und wird von dem aufgesogen, was ich die ›Welt der Dinge‹ nenne bzw. die Gegend, ›in der es die Dinge gibt‹. Eine neue Art des ›Kultes der Verpflichtung‹ drängt sich auf wie eine Mystik: Die Mystik eines vor Waren strotzenden Paradieses und seiner Ästhetik. Es ist der Fetisch des Nordens, oder besser gesagt, der Fetischismus des Norden als Königreich der Waren, der hier interveniert und sich Zugang zur Pluralität der Kosmen der Welt verschafft. Was den Kontinent gen Norden zieht, ist die Anziehungskraft einer Phantasie des Überflusses, eines Fetischismus einer Gegend des Überflusses, der auf die Psychen einwirkt, die in einer Leere des Seins schwimmen, in einem Raum, dem seine eigene Anziehungskraft, die zuvor durch die positiven Aspekte und Verpflichtungen der Gegenseitigkeit garantiert worden war, genommen wurde. Psychen, die von der Welt der Dinge aufgesogen werden, nachdem ihre verwurzelten Bindungen immer wieder verletzt worden sind. Um dieses Bild zu krönen, kommt einem die phantastische Szene aus dem Film Purgatorium: Eine Reise ins Herz der Grenze von Rodrigo Reyes in den Sinn. Darin sehen wir drei Migranten, die wie elektrisiert am Gitterzaun hängen, der die beiden Welten trennt, und haben den Eindruck, dass die Zombies der jüngeren Filmgeschichte diese Szene spiegeln: Auch sie sind nun entwurzelte Wesen, einsam und ohne eigenes Blut, die sich von der eingebildeten Vitalität der Bewohner der Welt der Dinge ernähren.

Diese triebhafte Strömung hin zur Welt der Dinge von Subjekten, die aus ihren Territorien herausgerissen wurden und für die Bindungen als Angebot und Anziehungskraft verlorengegangen sind, stellt die Art und Weise dar, in der das Begehren durch einen Exzess produziert wird, der sich als Fetisch präsentiert, das heißt, mystifiziert und potent. So produziert das Begehren von Dingen Individuen, während das Begehren nach relationaler Verwurzelung Kommunität produziert. Und letzteres ist dysfunktional für das historische Projekt des Kapitals, weil die Investition in Bindungen als Form des Glücks die Bande der Gegenseitigkeit und die kommunitäre Verwurzelung schützt. Dadurch werden die Subjekte weniger anfällig für die Anziehungskraft der Dinge. Nur bei entwurzelten und vulnerablen Subjekten gewinnt die Welt der Dinge die Oberhand: die Lehren der Dinge, die Natur als Ding, der Körper als Ding, die Personen als Dinge und ihre Pädagogik der Grausamkeit, die eine psychopathische Struktur aufdrängt, mit einem Trieb ohne Bindungen, der instrumenteller Art ist – als modale Persönlichkeit unserer Zeit.

Deshalb glaube ich, dass der Weg der Geschichte jener sein sollte, der an die Kommunität und die Verwurzelung der Bindungen anknüpft und sie festigt. Und deshalb glaube ich auch, dass die Politik ab diesem Moment weiblich kodiert sein sollte. Wir sollten die Strategien und den Stil der Frauen aufgreifen, indem wir den Faden der Geschichte und die Fragmente der Techniken der Soziabiliät, die es zwischen uns gibt, neu verweben. Bis dahin, dass wir an den Punkt zurückkehren, an dem der häusliche Raum und seine Formen des zwischenmenschlichen und körperlichen Kontakts noch nicht verdrängt und von der öffentlichen Sphäre und der männlichen Genealogie geschluckt worden sind. Diese öffentliche Sphäre hat mit dem Ereignis der kolonialen Moderne ihren bürokratischen Stil und eine Verwaltung der Distanz durchgesetzt und universalisiert. Das Format einer solchen Politik und ihre ›Staatsraison‹ ist von Natur aus monopolistisch und verhindert eine Welt im Plural. Sie zwingt der Politik die Kohärenz des Einen auf und verarbeitet alles andere durch das Sieb eines universellen Bezugspunktes. Die weiblich kodierte politische Praxis ist demgegenüber nicht utopisch: Sie hat einen Ort, sie ist alltäglich; und sie ist eine Praxis des Prozesses und nicht des Produkts.[4]

Eine Welt im Plural ist vermutlich keine republikanische Welt, aber eine, die demokratischer ist. Wir müssen das wiedererlangen, was nach dem großen Niedergang in unseren Landschaften übriggeblieben ist und noch existiert, und das Leben rekonstruieren. Und während wir dies tun, müssen wir auch eine Rhetorik erfinden, eine Sprache, die diesem weiblichen und kommunitären Projekt mittels seiner Geschichte und seiner Techniken der Soziabilität einen Ausdruck gibt. Denn nur eine solche Einschreibung wird uns vor einer so machtvollen Rhetorik schützen, wie es jene des Güterwertes und der Verdinglichung des Lebens ist.

Olinda, Pernambuco, 21. November 2016

Kapitel 1

Die Einschreibung in die Körper der ermordeten Frauen von Ciudad Juárez

Territorium, Souveränität und Verbrechen des ›Zweiten Staates‹

Ciudad Juárez, im Bundesstaat Chihuahua an der Nordgrenze Mexikos, ist ein emblematischer Ort für das Leiden der Frauen. Mehr als an jedem anderen Ort bewahrheitet sich hier die Devise ›Frauenkörper gleich Todesgefahr‹. Ciudad Juárez ist, bezeichnenderweise, auch ein emblematischer Ort der wirtschaftlichen Globalisierung und des Neoliberalismus mit seinem unstillbaren Hunger nach Profit.