Fifa-Mafia - Thomas Kistner - E-Book

Fifa-Mafia E-Book

Thomas Kistner

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Beschreibung

Als einer der besten Kenner des brasilianischen Fußballs hat Thomas Kistner zur anstehenden Fußball-WM seinen Bestseller »Fifa-Mafia« überarbeitet und die mafiösen Strukturen dort recherchiert. Das erschütternde Ergebnis präsentiert er hier. »Fifa-Mafia« beschreibt, wie sich rund um den beliebtesten Sport der Welt ein skrupelloses Netzwerk etablieren konnte, erklärt die manipulative, opportunistische Politik des Verbandes und zeigt dessen globale Verflechtungen mit der organisierten Kriminalität auf.

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Thomas Kistner

Fifa-Mafia

Die schmutzigen Geschäfte mit dem Weltfußball

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

EinleitungEin Gentlemen’s ClubEin Mann will nach obenDer PateVerfeindete FamilienEin Mann muss aus dem WegDas große GeschäftVor dir neigt die Erde sichDunkle KanäleVor der Wahl fließt GeldErster unter GleichenVerschwundene Akten und SchattenkabinettDer Kollaps einer GeldpumpeFrisierte BilanzDie saubere Schweiz und die KorruptionDer Präsident dirigiert den ChorBlatters RacheEine Verfügung, die alles verrätEin Logo und 100 Millionen verschwindenEthik nach HausmacherartAuf dem Höhepunkt der MachtFamilienbandeWer bietet mehr?Die Fifa rotiertBlatters zweite HalbzeitWeltmeisterschaften an Russland und an KatarDer Bruch mit dem »Bruder«Horch und GuckInterpol und Co. KGDie Sprache des GeldesDer MusterschülerEin Zeuge, den niemand willEine schrecklich nette FamilieEin amerikanischer TraumGame overArbeit für das FBINachspielzeitEin Geldwäschegesetz störtDie Fehde der BrüderEine Zeugin fällt umFreunde und Helfer»Eine Art Fifa-Geheimdienst«Zerstört ihn nicht»Zerstört mich nicht«Reform nach HausmacherartAufstand in Brasilien: Cup des VolkesSchlussAnhangAbkürzungenLiteraturWichtige Personen
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Einleitung

»Bin ich ein schlechter Mensch?«

Das Leben ist schön, wenn Beifall durchs Stadion braust wie ein Orkan. Der 11. Juli 2010 ist so ein Tag, die Welt in Ordnung und Joseph S. Blatter auf der Ehrentribüne ganz in seinem Element. Händeschütteln, Umarmungen, golden blinken die Medaillen im Schein der Flutlichter und Kameras. Der Präsident des Fußballweltverbandes Fifa, umdrängt von seinen Vorständen, nimmt das Defilee der spanischen Weltmeister-Kicker ab. »Und jetzt!«, ruft der Stadionsprecher. »Die Übergabe der Trophäe!« Lichtblitze zucken durch die Arena von Johannesburg, die Vuvuzelas dröhnen lauter denn je. Und Joseph S. Blatter schreitet die Stadionstufen hinab. Ein bodenlanger Seidenschal gießt priesterliches Weiß über den nachtblauen Anzug, im linken Arm ruht der goldene Pokal. Könnte das nicht ewig so weitergehen, eine Stadionrunde und noch eine? – Aber da steht Iker Casillas, der Kapitän der spanischen Mannschaft. Feierlich übergibt Joseph S. Blatter die Trophäe an die neuen Fußballweltmeister.

Dies ist das Gipfelglück. Nicht nur für jeden Fußballprofi. Auch für den Funktionär in jener einzigartigen Sportart, die es schafft, die Alltagsroutine auf dem Planeten außer Kraft zu setzen. Ein Milliardenpublikum blickt dann auf ihn, die ganze Welt schaut zu, vibriert, alles ekstatisch. Kein Staatschef kennt eine derartige Selbstinszenierung, keinem Filmhelden oder Musikstar wird so etwas zuteil. Dies ist der Moment, der ewig währen soll.

Es sei denn, man hat dabei den Part des Bösewichts inne.

Sepp Blatter kennt auch diese Rolle. Von der Fußballweltmeisterschaft 2002 in Asien, von der WM 2006 in Deutschland. Die Rolle als Bösewicht ist zutiefst verletzend, zudem bringt sie das schlimmste Gefühl für einen wie ihn mit sich: Ohnmacht. Wenn die Fans buhen und pfeifen und Transparente mit Schmähungen ausrollen, wenn La-Ola-Wellen des Protestes durch das Stadion laufen, sobald Blatters Gesicht auf der Leinwand auftaucht, wann immer der Fifa-Chef zu reden anhebt – das sind Augenblicke, die keiner erleben will. Für Blatter ist es der Augenblick der Wahrheit.

Bei der WM 2006 hatte ihn das Publikum von Spiel zu Spiel heftiger ausgepfiffen, weshalb er sich beim Finale in Berlin zur Siegerehrung gar nicht mehr auf den Rasen traute. Es war ein groteskes Bild, wie sie dort unten um den Weltpokal herumstanden und nicht wussten, was sie tun sollten. Bundespräsident Horst Köhler, die Fifa-Vorstände, der WM-Organisationschef Franz Beckenbauer, die wichtigsten Repräsentanten der Fußballfamilie warteten auf das Oberhaupt. Aber Blatter kommt nicht. Er hat sich verkrochen, aus Angst vor den Menschen hier auf den Rängen? Vor den Fans, vor jenen Leuten, die keinen materiellen Profit aus dem Spiel ziehen und es so sehr lieben, dass sie es zum größten Ereignis des Planeten gemacht haben?

Sie bescheren Blatter eine Demütigung. Es ist der Teil der Gesellschaft, der es sich noch leisten kann, auf ihn und sein Kabinett zu pfeifen: das Publikum. Menschen, die nicht Geschäft, Macht oder Selbsterhöhung mit dem Fußball verbinden, sondern Freude, Lust, Vergnügen. Dafür bezahlen sie. Und sogar immer mehr.

Der Rest spielt bis zur Selbstverleugnung mit, wenn Blatter um den Globus tourt, bedient von Heloten und Securitys, Spähern und Sekretären. First Class, Five Stars. Blaulicht und Autokolonnen bilden den unverzichtbaren Rahmen für den rastlosen Greis aus dem Schweizer Alpensprengel Visp und seine Getreuen. Blatter hat das deutsche Bundesverdienstkreuz und Ehrenprofessuren, er hat den Olympischen Orden und sogar den Bambi und einen Haufen mehr im Schrank. Ihn als Chef eines Sportverbandes zu bezeichnen gerät allmählich zur Blasphemie. Ist er nicht viel, viel mehr – der Patron einer globalen Glaubensgemeinschaft, die die Dimension der katholischen Kirche weit hinter sich gelassen hat? Die Fußballfunktionäre glauben fest daran. In gewisser Weise trifft es sogar zu.

Ein Fingerschnippen genügt. Es öffnen sich ihnen die Türen von Königs- und Präsidentenpalästen, des Weißen Hauses, des Kremls und des Vatikans, von Kanzlerämtern und Ministerien. Kein Politiker mit Machtanspruch darf sich dem Fußball gegenüber neutral verhalten, dieser Sport ist längst kein unparteiisches Terrain mehr. Wer öffentliche Beliebtheit sucht, muss dem Fußball die Ehre erweisen. Einstmals, beim WM-Finale 1986, hatte Kanzler Helmut Kohl noch landesweit für Erheiterung gesorgt, als er bei der Siegerehrung die Spieler an seine breite Brust drückte. Heute dringt die märkische Pfarrerstochter Angela Merkel selbst bei einem Qualifikationsspiel schon in die Nasszelle der deutschen Nationalmannschaft vor; dort posiert sie vor ausgesuchten Fotografen mit den verschwitzten Helden, die nur Handtücher um die Hüften tragen. Und danach streiten sich Kanzleramt und DFB-Spitze tagelang, ob der Abstecher ins nationale Gefühlsleben abgesprochen war oder nicht – eine Zirkusnummer fürs Fußballvolk. Doch gibt die Politik im Fußballrausch nicht nur Zug um Zug ihre Würde ab, sondern das Wichtigste auf: den Anspruch auf Kritik und Kontrolle.

Darf man es Sepp Blatter und den Seinen da verübeln, wenn sie sich selbst als höhere Wesen begreifen? In den Stadien werden heute Formen der Verehrung sichtbar, die man bis vor nicht allzu langer Zeit nur im Petersdom verortete. In großen Arenen finden sich Chöre und Dirigenten, elektrisierte Massen mit Lichtern in der Hand, Feuerzeuge statt Kerzen, die das Gefühl verbreiten, hier und jetzt den größten Moment des Lebens zu erfahren, allmählich senkt sich eine Ahnung von Unsterblichkeit herab. Raus aus dem Diesseits, rüber in eine spirituelle Welt aus Heldentum und Emotion – das ist die sportreligiöse Mischform der Zukunft.

Daneben gibt es profane Gründe, sich gut mit Blatter und Co. zu stellen. Die Fußballweltmeisterschaft will ja irgendwann jedes Land einmal austragen, selbst wenn es nur halb so groß wie Hessen ist, wie Katar. Also fordert auch die Staatsräson den pfleglichen Umgang mit Blatter, dem seit Jahrzehnten herrschenden Fußballpotentaten. Lächeln, nicken, nachgeben. Und am Ende die Zeche zahlen, mit dem Geld der Steuerpflichtigen.

Noch weniger als die Politik müssen die Götter des Fußballs die werbende Wirtschaft fürchten. Die Phalanx der Weltkonzerne, von der es in Krisenzeiten – das ist der Dauerzustand in der korruptionsverseuchten Fifa – heißt: Obacht, aufgepasst, wenn die Sponsoren richtig zornig werden, kriegt die Fifa schwerste Probleme! Es ist ein Rätsel, wie diese Mär in die Welt kam. In Wirklichkeit kauern gerade Wirtschaft und Sponsoren in devoter Ergebenheit vor dem Produkt Fußball-WM und damit vor Blatter und Kameraden, den Besitzern. Denn ihr Produkt ist das werbeträchtigste der Galaxie. Wer nicht spurt, kann jederzeit ausgewechselt werden. Und zwar gegen den direkten Marktrivalen, die Konkurrenz steht Schlange.

Aber halt. Sind da nicht noch die Medien? Richtig. Nur sind Sportjournalisten leider allzu oft Fans, die es über die Absperrung geschafft haben, journalistisch gehen sie eher selten ran ans Thema. Mit Begeisterung und großer persönlicher Anteilnahme erledigen sie den Pressedienst für die Blatterschen Passionsspiele, treiben das Ereignis in höhere Höhen. Was die Fifa gerne mal mit einer satten Spende von 50 000 Franken an den Internationalen Sportpresseverband honorierte.[1] Frucht der medialen Verklärungsarbeit ist der wohl originellste Wahrnehmungsverlust, den die moderne Gesellschaft kennt: Einem von schwellenden Aggressionen und Nationalismen geprägten, von Gangstern und dem organisierten Verbrechen unterwanderten Milliarden-Business wird ein Kanon aus Werten und Idealen angedichtet, dem sogar die wachsenden Fan-Kohorten aus Intelligenzija und Wissenschaft begeistert folgen.

Es ist ja leider so, dass wichtige Vertreter der Geisteswelt eher selten über eine eigene Sportbiographie verfügen, eine, die über wackere Selbstertüchtigungen wie Laufen oder Radeln hinausginge. Sie erarbeiten sich den Zugang zum Sport, insbesondere zum Fußball, mit medialer Hilfe, was meist ins Schwärmerische abdriftet. Wer nie mannschaftlichen Wettkampfsport betrieb, für den kann die Annäherung an Vitalität und Körperlichkeit in reiferen Jahren so aufregend sein wie ein nachträglicher Erwerb von Männlichkeit. Das ist gewiss ein schöner Effekt. Nur vermittelt diese Perspektive nicht den idealen Zugang zur sozialen Bedeutung der Körperwelt, zu ihrem Personal, zu den Problemen und Gefahren – gerade für den Sport.

Die Überzeichnung des Fußballsports durch die Medien ist so stark geworden, dass Bildung kein ausreichendes Gegengewicht mehr setzt. Zumal die Medien, auch die öffentlich-rechtlichen, immer weniger Hintergrundthemen besetzen. Keine Frage, es ist viel einfacher und vor allem weit einträglicher, Zuschauer in Anhänger zu verwandeln; Fachkunde wird zweitrangig. Der Akzent verlagert sich allmählich von Doppelspitze, Mittelfeldraute und Viererkette auf den Themenkreis Schweini-Poldi und Jogi-Hansi, Fähnchen und Nationalfarben. Es geht um großes Gefühls-Kino. Und Fußball ist der größte Emotions-Generator. Da quetschen die Medien noch das letzte Tränchen raus, manchmal ist es sogar echt. Diese Besitzergreifung am Konsumenten schreitet voran, große gesellschaftliche Krisenthemen von Alzheimer bis Burnout sind dann welche, wenn sie über betroffene Helden des Ballsports vermarktet werden; Public Relations und Journalismus arbeiten Hand in Hand unter dem schützenden Leitmotiv, dass es hier ja unheimlich wichtige Tabus aufzubrechen gelte. Es gibt so vieles zu vermitteln unter der Sonnenkuppel des Fußballsports. Die Verehrung ist ungeheuer.

Diesen galoppierenden Wahn global steuern zu können ist nicht schlecht für einen steuerbegünstigten Verein, der eigentlich ja nur den Zweck verfolgt, »den Fußball fortlaufend zu verbessern«. Blatter braucht man mit so einer Banalität nicht zu kommen – von wegen Ballgeschiebe verfeinern. Unterhalb quasireligiöser Heilsbotschaften macht er es nicht. Wo er spricht, und das tut er fast täglich, ergießt sich ein Wörterbrei aus Respekt, Frieden, bessere Welt, Erziehung, Integration, Transparenz, Hoffnung, noch bessere Welt, Solidarität, Charakterschule, Lebensschule, Schule des Lebens sowie Respekt und noch mal Respekt ins Auditorium. Er repetiert das seit gut fünfzehn Jahren wie ein Duracell-Häschen auf Ecstasy. Es geht nicht anders, alles muss raus. Ob es chronisch ist? Blatters Kickerturnier rettet die Welt.

Es soll Leute geben, die auch das zu glauben beginnen.

Nicht die mit dem gesunden Menschenverstand, die spielen nicht mit. Seit Jahren spüren sie, dass etwas schiefläuft in ihrem Sport. Und dass er Schaden nimmt, wenn er zu lange in den Händen der falschen Personen bleibt.

Die Falschen führen ihn seit Jahrzehnten. Und Schaden hat er reichlich genommen. Der Weltfußball hat sein Symbol verloren, das Logo mit den beiden Erdhälften; gemerkt hat es keiner. Er ist sogar zum Beschuldigten geworden, in einer Strafermittlung wegen Korruption. Der Weltverband, wohlgemerkt, die Fifa als Institution, stand kurz vor dem Strafrichter, es lagen anklagereife Ermittlungsergebnisse vor. Das hat die Fifa eingeräumt und Millionen an Wiedergutmachung gezahlt. Nur so vermied sie einen Strafprozess vor den Augen der Welt. Warum aber hat der Fifa so ein Prozess gedroht? Kann eine Organisation überhaupt beschuldigt werden? Ja, wenn der Staatsanwalt nicht konkret jenen oder jene hohen Amtsträger belasten kann, auf den die Anschuldigungen gemünzt sind. Deshalb landete die Fifa selbst auf der Sünderbank – stellvertretend für die, die sich hinter ihr verstecken. Solche wie Sepp Blatter.

Diese und andere Dinge haben sich lange Zeit unter dem Deckel halten lassen. Wie so etwas funktioniert? Ohne Probleme in einem gesetzesarmen Klientelmilieu, mit dem der Geschäftsplatz Schweiz den Sport seit Jahren lockt. Die Fifa und fünf Dutzend anderer Verbände residieren ja nicht aus Zufall dort. Es funktioniert mit Hilfe eines Riesenapparats, der an der Abschottung vieler dunkler Geheimnisse arbeitet, vor allem aber dank des Geldes, das so ein gewaltiger Sicherheitsapparat verschluckt. Aber Geld spielt keine Rolle für die Fifa. Rund vier Milliarden Euro erlöst sie aus dem laufenden WM-Zyklus, das macht eine Milliarde pro Jahr.

Mit Geld lassen sich immer festere Schutzwälle errichten. Blickdichte Mauern um die eigenen Spitzenleute und um deren Geschäftsmoral braucht es dringend, denn der Begriff »Fifa« ist unter Blatter zum Synonym für Korruption geworden. Die Bürger in der Schweiz wählten »Fifa-Ethikkommission« sogar zum Unwort des Jahres 2010, auch sie können den Unsinn von der wundersamen Selbstläuterung einfach nicht mehr hören. Längst steht der Begriff »Fifa-Familie« für die sizilianische Familienvariante, die Mafia: Müllmafia, Baumafia, Fifa-Mafia. Dass der Weltverband unter Sepp Blatter zu einem mafiösen Gebilde verkam, zu einem Filz, einem Geflecht wechselseitiger Abhängigkeiten, in dem der Weltfußball mit einer Mischung aus Loyalität, Korruption und Omertà regiert wird, ist Teil des Common Sense geworden, an der tieferen juristischen Bestätigung dieses Sachverhalts arbeiten derzeit Ermittlungsbehörden in aller Welt. An der Spitze das FBI.

Ein paar ihrer Fälle musste die Fifa sogar selbst behandeln. Acht ihrer 24 Vorstände, die inklusive des Präsidenten das Exekutivkomitee bildeten, wurden seit Ende 2010 wegen Korruption entfernt oder diskret rausgedrängt. Gegen weitere laufen zum Zeitpunkt dieser Niederschrift staatsanwaltschaftliche Ermittlungen. Doch nähren die Untersuchungen des FBI und von Polizeibehörden in Ländern Europas den Verdacht, dass dies die Spitze eines Eisberges ist. Die Aktivitäten der US-Bundespolizei sind bei der Abteilung »Organisierte Kriminalität in Eurasien« angesiedelt. Das ist bemerkenswert. Denn es sind osteuropäische Funktionäre, die sich im internationalen Fußballgeschäft zur neuen Kraft erheben. Obwohl der Fußball gerade dort enorme Probleme mit Korruption, Finanzen, sogar mit Menschenrechten hat.

Zugleich haben die Funktionäre dieser Hemisphäre mit Michel Platini einen Mann an der Spitze der Europäischen Fußballunion Uefa etabliert, der nicht nur ihre, sondern die Zukunftshoffnung sehr vieler Fußballverbände in aller Welt verkörpert. Dabei sollte dieser Platini lange Zeit der letzte große Wurf Sepp Blatters sein: sein Nachfolger. Der Franzose hat von Anfang an für Blatter gearbeitet, als Wahlhelfer, Assistent und sportpolitischer Zögling. Nun ist er Blatters größter Widersacher.

Die offenen Flanken der Fifa: Wie gelangte die Fußballweltmeisterschaft 2022 in den Backofen des Wüstenstaates Katar? Wie haben Wladimir Putins Russen die Fifa-Vorstände überzeugt, ihnen die WM 2018 zu geben? Das ist der populärste Teil des Fragenkatalogs. Die Doppelvergabe der Fußballweltmeisterschaften 2018 und 2022, erfolgt am 2. Dezember 2010 in Zürich, wird von interessierten Parteien hinter den Kulissen aufgearbeitet. Das FBI ist auch hier zugange, ermittelt wird auf zwei Kontinenten. Unterwegs sind aber auch Heerscharen von Detektiven und privaten Sicherheitsfirmen. Die einen fahnden im Auftrag düpierter WM-Bewerber, die eine Neuvergabe betreiben wollen, sofern sich Bestechung bei der letzten Vergabe beweisen ließe. Andere arbeiten für Klienten, deren Spuren es zu tilgen gilt. Und die Fifa selbst hält ohnehin ständig ihre Truppen in Bewegung.

Hier rückt ein neuer Gefahrenherd ins Bild. Der Sport, der sich zu großen Teilen in nur ihm vorbehaltenen, von Staatsrecht befreiten Räumen bewegt, baut eigene Nachrichten- und Schutzdienste auf, die an die reale Welt der Ermittler und geheimen Dienste angebunden werden. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen einem Verbandsapparat mit obskurem Führungspersonal und Behörden, die diesem Personal zum Teil sogar auf den Fersen sind. In der Fifa hat zwei Jahre lang mit Sicherheitschef Chris Eaton ein bestens vernetzter früherer Interpol-Direktor befehligt, der gute Drähte zu behördlichen Stellen hat, die dem einstigen Supercop offenkundig auch nach dem Seitenwechsel weiter kollegial zugetan waren. Das ist ungut, es könnte sogar gefährlich sein – tun sich da nicht zwangsläufig informelle Nahtstellen auf?

Der frühere Interpol-Mann Eaton arbeitete seit März 2010 nicht mehr für die staatliche Verbrechensbekämpfung, sondern für einen chronisch korruptionsgeplagten Fußballverband. Dort musste er Führungsleute absichern, die häufig selbst ins Visier staatlicher Verbrechensbekämpfung gerieten. Seltsam genug, deuteten sich nach einiger Zeit sogar erste Symbiosen an. Dies gipfelte in einer denkwürdigen, überfallartig ausgehandelten Zehnjahreskooperation der Fifa mit Interpol, in deren Zuge die Polizeibehörde die größte Spende ihrer Geschichte vom Fußballverband kassierte: 20 Millionen Euro. Es gab und gibt immer noch viel Kritik aus der Polizeibranche dafür. Zumal vor allem die personellen Vernetzungen ausgebaut wurden: Im Frühjahr 2012 wurde Eaton, der Ex-Interpol-Direktor, von dem Deutschen Ralf Mutschke als Fifa-Sicherheitschef ersetzt. Auch der Nachfolger ist ein ehemaliger Interpol-Direktor, er wechselte aus dem Bundeskriminalamt zur Fifa. Und dann mischte Interpol massiv bei der Reform der Fifa mit, die nichts anderes als eine Reformfarce ist.

Ist aus Sicht demokratischer Staaten und Gesellschaften nicht die Frage zu stellen, ob solche Verbindungen zum sicherheitspolitischen Abenteuer werden können – zumal, wenn sie auf persönlichen Netzwerken fußen? Für Debattierstoff sorgt das Thema in europäischen Justiz- und Sicherheitskreisen bis heute. Und mag der altgediente Interpol-Mann Eaton auch von der Fifa weitergezogen sein, bedeutet das keineswegs, dass er den neuen, diskreten Sicherheitskreislauf des Sports verlassen hat. Im Gegenteil: Er ist zum International Centre for Sport Security (ICSS) gewechselt. Das ist eine angeblich private Organisation in Katar, die sich neuerdings rührend um Schutz- und Sicherheitsfragen im Sport kümmert, unter Führung von Leuten, die für Katars Nachrichtendienst, Militär und Innenministerium tätig waren.

Solche Verflechtungen mit gut vernetzten und bestens bezahlten hohen Polizeiexperten wirken beunruhigend, ja: absurd, wenn man die dramatischen Integritätsprobleme sieht, die sich um viele Spitzenvertreter dieses Verbandes ranken.

Wie gelangt ein ehrenamtlicher Fußballfunktionär an ein dreistelliges Millionenvermögen? Hat die Fifa, wie es der Pate Don Corleone im Film praktiziert, Geschäftsbereiche unter ihren Familienmitgliedern aufgeteilt, statt sie dem freien Spiel des Marktes auszusetzen, um optimale Bezahlung für den Fußball reinzuholen? Hier liegt die Antwort auf der Hand: Ja, die Fifa verhält sich wie dieser Typus Familie. Etwa, indem sie einem eigenen Vorstand jahrzehntelang Fernsehrechte zum Vorzugspreis zuschanzt.

Exzessiv lässt sich das Korruptionsthema durchdeklinieren: Wie korrupt ist ein Verband, dessen Ehrenpräsident João Havelange ihn 24 Jahre lang führte – und der 2013 das Ehrenamt niederlegte, um der drohenden Aberkennung zuvorzukommen?

Was wusste und trieb sein Zögling und Nachfolger Sepp Blatter, der stets trickreich dafür sorgte, dass die Fifa mit ein und derselben Vermarktungsagentur im Geschäft blieb? Diese Agentur, die ISL, legte 2001 einen der größten Crashs der Schweizer Wirtschaftsgeschichte hin. In der Insolvenzschlacht flog auf, dass sie hohe Funktionäre des Fußballs und anderer Sportarten mit der unvorstellbaren Summe von mindestens 142 Millionen Schweizer Franken geschmiert hatte.

Es gibt Mengen an Gerichtsakten, die dieses Bestechungssystem aus Sicht der Agentur aufschlüsseln. Es gibt auch ein strafrechtliches Abschlusspapier, das die Grundzüge dieses Schmiergeldsystems aus der Sicht der Empfänger offenbart – und darlegt, wie Fifa-Spitzenleute mit der ISL gemeinsame Sache machten. Dieses Papier, die Einstellungsverfügung zur Causa Fifa/​ISL, ist die moralische Bankrotterklärung für den Weltverband und seine Führungsspitze über die letzten Jahrzehnte. Angefertigt wurde es bereits im Frühsommer 2010. Doch die Offenlegung dieses Dokuments zögerten die Fifa und die betroffenen Funktionäre gut zwei Jahre hinaus, mit Hilfe teurer Anwälte. Die werden bezahlt mit dem Geld eines Fußballweltverbandes, den die eigenen Funktionäre so verwalteten, dass er selbst als Organisation zum Beschuldigten in dem Korruptionskomplex wurde.

Und die heikelste aller Fragen? Auch sie rankt sich um den Patron dieser Familie. Seltsam, er schottet sein Präsidentenbüro und die dort laufenden Ausgaben sogar vor seinem Exekutivkomitee ab. Was nichts Gutes ahnen lässt, weil Sepp Blatter bis Mitte 2013 das Recht auf Einzelunterschrift für die Fifa besaß. Dieser Mann durfte im Alleingang Finanzgeschäfte des Milliardenbetriebs abzeichnen, und das seit 1998. Damals hatte er den Thron in einer Wahlschlacht erobert, die heute von seinen damaligen Helfern als hoch korrupt bezeichnet wird.

All das hat die Fifa so sehr in die Bredouille gebracht, dass sie im Sommer 2011 Besserung geloben musste. Wie so oft. Zunächst glaubte Blatter, Prominente mit Sympathiewerten könnten es schon richten, und wollte Leute wie den Opernsänger Placido Domingo zu Wegweisern aus dem eigenen Korruptionssumpf machen. Als das nicht gut ankam, erzählte er dem Publikum, er wolle ein System der korrekten Geschäftsführung installieren, Good Governance. Seine Fifa hat Riesensummen investiert, Geld spielt eben keine Rolle, und rasch das passende Personal gefunden. Keine kritischen Begleiter wie die von Transparency International. Die Antikorruptionsexperten waren zwar anfangs dabei, aber sie wollten nicht nur Compliance-Regeln entwickeln, sie wollten vor allem die Vergangenheit des Blatter-Verbandes aufklären. Unbedingt. Nicht verhandelbar. Immerzu betonten sie öffentlich, es könne kein richtiges Leben im falschen geben und keine Good Governance unter der Fuchtel von Leuten, die sich jahrzehntelang selbst die Taschen füllten. Aber die Vergangenheit und ihre Schmierspuren bis in die Gegenwart – um Gottes willen! Nein, die lassen Blatter und seine Freunde lieber dort, wo sie ist: im Dunkeln.

Also heuerten sie Handwerker der Compliance an, Installateure eines guten Geschäftsgewissens. Pragmatiker, denen es recht egal ist, in welche Hände sie ihr Werk am Ende legen. Blatter berief Mark Pieth zum Chefreformer, einen Schweizer Kriminalprofessor mit bestem fachlichem Ruf. Pieths Team versuchte sich an der Quadratur des Kreises: ethische Erneuerung in der Fifa – unter Führung von Leuten, die selbst gerne mal den Staatsanwalt auf den Hacken haben. Und so ist der Mann, der einst bei der Aufklärung der Korruption im Oil-for-Food-Verfahren große Meriten erwarb, selbst tief in die Kritik geraten. Denn schaut man etwas genauer hin, wird erkennbar, dass auch Compliance und Good Governance eine prosperierende Geschäftssparte bilden – und mehr: dass sich auch hier mancher Personalkreis mit dem neuen Sicherheitssystem rund um den Weltfußball schließt.

Eine bizarre Situation. Blatters Chefreformer Pieth versuchte, zumindest verbal, dem Eindruck einer allzu naiven Vereinnahmung entgegenzuwirken. Deshalb liegen eine Reihe begrüßenswert klarer Darstellungen vor, die das mafiöse Getriebe rund um den Fifa-Boss für uns aus fachlicher Sicht beleuchten.

Das Publikum sei sehr zu Recht verärgert, meinte der Korruptionsexperte Pieth anfänglich. »Als Strafrechtler kann ich das gut nachvollziehen. Es stehen handfeste Vorwürfe im Raum, die nie aufgearbeitet wurden. Das ist frustrierend und nicht zu ertragen.« Er habe gehört, »dass Funktionäre, WM–Vergaben oder Marketingentscheidungen käuflich seien und Entwicklungsgelder verschwänden. Wir haben für uns schon ein Sündenregister erstellt, und die Liste wird noch viel länger werden.« Man werde sich »nicht scheuen, auch Staatsanwaltschaften zu informieren, wenn strafrechtlich relevante Dinge zum Vorschein kommen und Aufklärungsbedarf besteht«. Denn ja, auch davon ging er aus: »Die Fifa befindet sich am Rande des Rechts – wenn überhaupt. Über der Fifa ist nur noch der Himmel.«[2]

Auch sprach der Basler Kriminalprofessor gern von veritablen Verbrechern auf der Fifa-Seite, wenn er auf Eile bei seinem Reformprojekt drängte: »Man spürt hier und da schon Gegenwehr aus dem Machtapparat. Wir müssen zusehen, dass die Gangster nicht im Windschatten der Reformkritiker entwischen.« Nur: Wie soll eine in die Zukunft gerichtete Reform die Gangster von gestern am Entwischen hindern? Egal. Ganoven sah der Fifa-Auftragnehmer Pieth jedenfalls überall: »Ich schiele in die Vergangenheit, ich will wissen, was die Risiken sind. Dafür muss ich die Gangster nicht überführen, ich muss Havelange nicht nachweisen, dass er soundso viele Millionen genommen hat.«[3]

Zwei Jahre später hat sich fast nichts getan. Dass sich nichts ändern wird in der Fifa, ahnte Pieth wohl von Anfang an. Er sah, dass mit Michel Platini, dem Zögling Blatters, der nächste Vertreter des Ancien Régime parat steht. Denn auf Platini war es gemünzt, wenn Pieth reformkritische Bremser anprangert: »Es handelt sich vielleicht um Leute, die sich in der Zukunft etwas bei der Fifa versprechen, aber nicht wollen, dass sich grundsätzliche Dinge ändern.«[4]

Platini einerseits und die französische Connection hinter Blatter andererseits, angeführt von Generalsekretär Jérôme Valcke – sie stellen die Fifa bereits für die Ära nach dem kleinen Diktator auf. Mit dessen Hilfe. Aber zuvor will Blatter 2015 selbst noch einmal antreten. Genug ist nie genug, und Pieths Reformfarce, die im Nichts endete, gab ihm nach innen die Möglichkeit, so zu tun, als sei er der Heilsbringer für jene Fifa, die er selbst an den Rand des Abgrundes manövriert hat. So brach sich, während Compliance-Experten an ihren Regeln feilten, das alte System Bahn in die Zukunft. Blatter macht weiter, oder er hievt den obskuren Valcke ins Amt, eine Figur mit groteskem Karriereweg, ohne echten Fußballbezug. Aber auch sein neuer Widersacher Platini ist einer der Vergangenheit. Er hat Blatter einst mit in den Sattel gehoben, die zwei wissen viel, vielleicht zu viel übereinander. Das garantiert Blatter vielleicht nicht mehr, dass die Panzertüren des Präsidentenbüros nach seinem Abgang verriegelt bleiben. So, wie Blatter seit 1998 der Garant dafür war, dass die Akte Havelange geschlossen blieb.

Es ist und bleibt ein brutaler Kampf hinter den Kulissen. Wer aussteigt, ist noch längst nicht draußen. Es geht um Milliarden, und es geht um Karrieren. Es geht um WM-Turniere und die Spekulation mit der Zukunft. Es geht um finanzielle und bürgerliche Existenzen.

Damals, 2010 in Südafrika, war Blatters Welt das letzte Mal in Ordnung. Die Menschen am Kap wussten nicht viel von seiner Fifa. Wen interessierten dort schon die Gerichtsurteile und Akten, die die Fifa als betrügerische Organisation brandmarken? Nein, Onkel Sepp und seine greisen Fußballgranden waren einfach die Sugardaddys, die mit Freikarten für Schüler und Stadionarbeiter um sich warfen und so taten, als brauche es sie, um irgendwo auf dem Globus eine Weltmeisterschaft stattfinden zu lassen.

»Nichts ist mehr übrig von der Schönheit des Fußballs, seit das Spielfeld zum Kriegsschauplatz geworden ist«, schrieb Tyrone August, Chefredakteur der »Cape Times«, nachdem die WM–Vorrundenspiele eine Staatsaffäre nach der anderen provoziert hatten. Und das nicht nur in Ländern wie Nigeria, wo Staatschef Goodluck Jonathan aus Wut über die Auftritte der »Super Eagles« das Team auflöste und von allen internationalen Wettbewerben zurückzog. Oder in Nordkorea, wo manche Spieler und Delegierte nach der allzu frühen Heimkehr in Arbeitslager verschwanden – manche ganz von der Bildfläche, wie berichtet wurde. Nein, auch in Frankreich, Italien und England wurden enorme patriotische Energien freigesetzt, Politiker gaben sich wie halbstarke Schuljungen, wenn die Fußballhelden den Ansprüchen des Vaterlandes nicht genügt hatten. Zerknirschte Kicker und schäumende Minister beherrschten tagelang die Nachrichtensendungen in der westlichen Welt.

Nationalismen prägten diese Fußball-WM wie keine zuvor, und es ist nichts in Sicht, was diese Tendenz stoppen sollte. Alles läuft auf der Stimmungsebene ab, wo wiederum alles zwischen Verherrlichung und Untergang oszilliert. Und selbstverständlich verkommt Politik zur Kirmes, wenn ihre Think-Tanks nur noch mit politischem Productplacement beschäftigt sind: Wer lässt sich wann und wo mit wem blicken? Ministerpräsidenten und Kanzlerin als wetteifernde Oberjubler auf den Tribünen, das ist die zeitgemäße Ranschmeiße ans Wählervolk.

Die WM im Sommermärchenland gab ein Beispiel, als sich bei wochenlang strahlendem Wetter ein völlig neues Volk aus der eigenen Unterhaltungssoße erhob. Ein Mythos unter vielen. Die WM 2002 in Japan und Südkorea wurde politwissenschaftlich von allen Seiten unter dem Aspekt der Völkerfreundschaft und -verbindung ausgeleuchtet. Ernsthaft. Dabei hatten sich die zwei Länder in einem hochkorrupten Wahlkampf bis aufs Mark bekämpft, sie wurden aus machtpolitischem Kalkül von der Fifa selbst zusammengezwängt, und alle Trennschärfen blieben weiterhin erhalten.

Oder Frankreich 1998: Als die Kicker um die nordafrikastämmigen Zidane, Henry und Trezeguet die WM gewannen, wurde dies als Triumph der Integration verkauft. An den Universitäten wurden politische Aufgabenstellungen entwickelt zu dem Thema, inwieweit der WM-Triumph 1998 die Integrationspolitik befördert habe. Auf der Straße geklärt war diese Frage drei Jahre später, da brannten die Pariser Banlieues.

Darf das Ergebnis überraschen, wenn Politik durch einen Politkarneval ersetzt wird? Wie 2004, als die Griechen ihren EM-Titel als Triumph des modernen Hellenismus feierten, als Sieg ihrer auf dem Rasen gezeigten Immobilität – was wurde nicht alles dazu gedichtet. Allerdings nur ein paar Wochen lang, dann mussten die unbeugsamen Griechen bei einer Reihe verheerender Waldbrände feststellen, dass sie nicht mal Katasterämter mit Grundbüchern hatten. Der Rest ist bekannt.

An jenem 11. Juli 2010 in Johannesburg, in Blatters berauschender Nacht, war ein Mann im Rollstuhl herbeigekarrt worden: Nelson Mandela. Afrikas großer alter Mann beugte sich ein letztes Mal den Forderungen der Fußballbosse. Welche Ehre, welche Aufwertung. Welch ein Vergnügen für den Hofstaat der Sportwelt, für Sponsoren und Funktionäre und Vertreter irgendwelcher Zwergenrepubliken, dass man sich noch rasch im Abglanz einer der herausragenden Menschen des 20. Jahrhunderts sonnen konnte.

»Wir kamen unter extremen Druck der Fifa, sie forderte, dass mein Großvater beim Endspiel anwesend ist«, beklagte Mandelas Enkelsohn Mandla.[5] Denn die Familie hatte seit Wochen um Mandelas Urenkelin Zenani getrauert, das 13-jährige Mädchen war auf dem Heimweg von der WM-Eröffnungsfeier bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Mandelas Herz war gebrochen, er hatte seine Teilnahme an der Eröffnungsfeier abgesagt. Beim Finale aber kannte die Fifa kein Pardon, beklagte der Enkel. »Sie achteten unsere Gebräuche und Traditionen als Menschen und als Familie nicht. Sie mussten unbedingt diese Welt-Ikone im Stadion haben.«

Vielleicht hätte es ja auch in Südafrika »Blatter raus«-Rufe gegeben, wenn die Zuschauer das gewusst hätten. Sicher ist: In der Fifa wird es niemals solche Rufe geben. Sie ist in den 39 Jahren, in denen der Schweizer sie als Direktor, Generalsekretär und Präsident beherrscht, zu einer Art Privatinstrument geworden. Blatter bestimmt die Regeln. Er ist hier Gesetz.

Deshalb muss der Fußball auf das FBI und auf andere Ermittlungsorgane hoffen. Er muss auf die Unabhängigkeit von Staatsanwälten bauen, die in verschiedenen Teilen der Welt ermitteln. Oder darauf, dass Blatters verprellte Weggefährten endlich tun, was sie öffentlich angekündigt haben: auspacken über den Patron dieser Fußballfamilie.

 

»Bin ich ein schlechter Mensch?«, ruft Sepp Blatter in die Kongresshalle, sie liegt dieses Mal in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Es ist der 29. Mai 2002, Blatter hat soeben seinen Fifa-Thron verteidigt, nach einem legendär schmutzigen Wahlkampf. Jetzt stehen die Delegierten vor ihm und klatschen, dass die Hände glühen. Funktionäre, die alljährlich Hunderttausende oder Millionen Dollar für ihre Verbände kassieren. Viele haben ihre Frauen oder Freundinnen dabei. Die meisten vertreten Palm- und Wüstensprengel, Fürstentümer oder Kleinstaaten, manche sind kaum größer als ein paar hundert Fußballfelder, die meisten verfügen über keinen nennenswerten Spielbetrieb. Aber die Gelder fließen regelmäßig an sie. Das ist die Fußballfamilie. Sie ist am Wahltag vollzählig versammelt. Und sie rast vor Begeisterung.

»Bin ich ein schlechter Mensch?«, ruft ihr Blatter zu. »Ihr könnt ja nicht so schlecht sein, dass ihr einen schlechten Präsidenten wählt! Daher sind wir alle gut. Fasst euch an die Hände. Wir sind alle gut! Fasst euch alle an die Hände. Für die Einigkeit des Fußballs. Für den Fußball!«

Diese Logik gilt. Bis das Spiel vorbei ist.

 

Thomas Kistner

München, im Oktober 2013

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Ein Gentlemen’s Club

21. Mai 1904. Paris, Rue de St. Honoré. Ein Hinterhaus. Hier wird die Fifa, die Fédération Internationale de Football Association, ins Leben gerufen. Gründerväter sind der Franzose Robert Guérin und der Holländer Carl Anton Wilhelm Hirschmann; als Taufpaten zugegen sind Vertreter und Verbände aus sieben Ländern Europas: aus Frankreich, Spanien, Schweden, Dänemark, Belgien, aus den Niederlanden und der Schweiz. Frankreich und Schweden besitzen noch gar keinen anerkannten nationalen Fußballverband, und die Spanier werden durch den Madrid F. C. repräsentiert, der 1920 zu Real Madrid wird.

Der Deutsche Fußball-Bund tritt dem internationalen Verband noch am Gründungstag mittels Telegramm bei, weitere Verbände kommen hinzu. Guérin, Journalist bei der Tageszeitung »Le Matin«, wird Gründungspräsident der Fifa. Der erste internationale Fußballwettbewerb wird bei den Olympischen Sommerspielen 1908 in London ausgetragen. Da hat schon der Engländer Daniel Burley Woolfall die Regie im Verband übernommen – in seiner Amtszeit, die bis 1918 dauert, treten mit Südafrika, Argentinien, Chile und den USA die ersten nichteuropäischen Länder der Fifa bei.

Die Fifa-Gründer verstehen sich, typisch für die Pionierzeit des Sports, als Kosmopoliten. »Der 11. Kongress erklärt seine Bereitschaft, jede Initiative zu unterstützen, die die Nationen einander näher bringt und Gewalt ersetzt durch ein Schiedsgericht zur Schlichtung aller Konflikte, die zwischen ihnen auftreten«, heißt es in einer Deklaration des Fifa-Kongresses vom Juni 1914, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Dieser bringt die Entwicklung zum Erliegen; es gibt keine Spiele mehr, und einige Verbände, darunter England, treten aus dem Verband aus.

Unmittelbar nach dem Weltkrieg und nach Woolfalls Tod bringt der Gründer Hirschmann die Fifa noch einmal auf die Beine, 1921 wird der Franzose Jules Rimet Präsident. Und mit ihm kommt der globale sportliche Aufschwung. Rimet bleibt bis 1954 im Amt. In seinen Jugendjahren hatte er sich in einer sozial-katholischen Bewegung engagiert. Wie sein Landsmann Pierre de Coubertin, der Begründer der modernen Olympischen Spiele, sieht Rimet im Sport eine Kraft für das Gute. Rimets christliche Prägung beeinflusst von Anfang an den Weltfußball. Er wirbt für eine christlich orientierte, globale Fußballfamilie: Der Fußball soll die Menschen und Nationen zusammenbringen, die Verständigung zwischen den Völkern fördern, physischen und moralischen Fortschritt bewirken sowie auf gesunde Art Spaß und Lebensfreude vermitteln. Ab 1924 entwickelt Rimet zusammen mit Enrique Buero, einem südamerikanischen Sportmäzen, das Weltturnier des Fußballs. 1930 ist es so weit, die erste Weltmeisterschaft findet in Bueros Heimatland Uruguay statt. Als Rimet 1954 zurücktritt, hat er fünfmal den WM-Pokal überreicht, die Fifa zählt nun 85 Mitglieder.

Rimets Nachfolger, der Belgier Rodolphe William Seeldrayers, stirbt nach nur einem Jahr im Amt. Ihm folgt 1955 der Engländer Arthur Drewry nach, der gemeinsam mit Stanley Rous die Arbeit Rimets fortgeführt hatte, die britischen Verbände nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in die Fifa zu holen. 1961 kommt mit Stanley Rous der bereits dritte englische Präsident ins Amt. Rous war Geschäftsführer des englischen Fußballverbandes und ein altgedienter Schiedsrichter.

1974 endet mit Rous’ Amtszeit die Ära der Grandseigneurs und Gentlemen. Es folgt João Havelange, der die Fifa bis 1998 mit eiserner Faust regiert. Und dann wird dessen Protegé Sepp Blatter auf den Thron gehievt. Mit diesem affärengestählten Duo an der Spitze wird die Fifa im heranbrechenden Zeitalter des Kommerzes zu einem Milliardenkonzern; mit dem Geld jedoch kommen die Skandale.

Die Fifa, laut Handelsregister ein eingetragener Verein im Sinne des Schweizerischen Zivilgesetzbuches, wird heute als eine männerbündlerische Organisation wahrgenommen, in der Rimets Begriff von der Fußballfamilie eine furchteinflößende Ausprägung erfahren hat: die sizilianische Variante der Familie. Mit einem Kopf, der alles beherrscht und für nichts verantwortlich zu machen ist. Mit ergebenen Familienmitgliedern, die das Schweigegelübde der Omertà befolgen und die Fifa in einen Selbstbedienungsladen verwandelten.

Im Zürcher Handelsregister beschreibt sich der Fußballweltverband wie folgt: »Der Zweck der Fifa ist: den Fußball fortlaufend zu verbessern und weltweit zu verbreiten, wobei der völkerverbindende, erzieherische, kulturelle und humanitäre Stellenwert des Fußballs berücksichtigt werden soll, und zwar im Einzelnen durch die Förderung des Fußballs durch Jugend- und Entwicklungsprogramme; das Organisieren eigener internationaler Wettbewerbe; das Festlegen von Regeln und Bestimmungen sowie die Sicherstellung ihrer Durchsetzung; die Kontrolle des Association Football in all seinen Formen, indem alle notwendigen Maßnahmen ergriffen werden, welche die Verletzung der Statuten, Reglemente und Entscheide der Fifa sowie der Spielregeln verhindern; zu verhindern, dass Methoden oder Praktiken vorkommen, welche die Integrität der Spiele oder Wettbewerbe gefährden oder zu Missbräuchen des Association Football führen könnten.« Dass die Kontrolle in den Händen eines einzigen Mannes liegen soll, steht dort nicht. Wohl aber, dass es einen einzigen Mann gibt, der für dieses Milliardenunternehmen über einen von Korruptionsaffären umtosten Zeitraum von eineinhalb Jahrzehnten per Einzelunterschrift zeichnungsberechtigt ist: Joseph Blatter, der Präsident. Erst Mitte 2013 änderte die Fifa diese archaische Führungsstruktur; nun muss er Verträge laut Handelsregister zu zweit unterschreiben. So, wie es moderne Governance-Regeln verlangen, die für Topmanager in der Privatwirtschaft längst Standard sind.

 

Blatter steht weit und einsam über dem Vorstand des Fußballweltverbandes, dem sogenannten Exekutivkomitee. Dieses Gremium ist nach dem alle zwei Jahre tagenden Kongress das höchste Organ der Fifa. Es vergibt unter anderem die WM-Turniere und ernennt die Chefs und Mitglieder der ständigen Kommissionen und Rechtsorgane. Ihm gehören 25 Personen an. Dazu der Generalsekretär, der kein Stimmrecht hat, wenn das Gremium beispielsweise über die Vergabe von Fußballweltmeisterschaften entscheidet. Die anderen Personen in diesem Vorstand sind der hauptamtliche Präsident, acht ehrenamtliche Vizepräsidenten sowie 16 weitere ehrenamtliche Mitglieder. Berufen werden sie von ihren Kontinentalverbänden nach einem festen Schlüssel. Der Europaverband Uefa darf acht Mitglieder in den Fifa-Vorstand entsenden, Asien (AFC) und Afrika (Caf) jeweils vier, Südamerika (Conmebol) und Nord- und Mittelamerika (Concacaf) jeweils drei. Ein Exekutivmitglied beruft der Ozeanische Verband (OFC).

Jedes Exko-Mitglied sitzt in weiteren Kommissionen, führt meist eine davon an. Die Fifa zahlt diesen Funktionären 100 000 Dollar sogenannte Aufwandsentschädigung pro Jahr, der Steuersatz im Bereich Zürich beträgt für sie zehn statt der üblichen 25 Prozent. Alle ihre Kosten übernimmt die Fifa: Hotels, Flüge und andere First-Class-Transporte, Restaurants etc., zudem gibt es ein Tagegeld von 500 Dollar, bei vielen Events weitere 250 Dollar täglich für Begleitpersonen. Dazu kommen Pensionsgelder, WM-Tickets – und vor allem unbezahlbare Kontakte in Präsidentenpaläste und Parlamente, Hochfinanz und Werbewirtschaft.

Jedes Exko-Mitglied verfügt, wie der Präsident, über einen eigenen Etat, über den die Ausgaben laufen. Das Vorstandsgremium genehmigt auch die Spesen für die knapp 30 ständigen Kommissionen der Fifa, die einigen Hundertschaften weiterer Funktionäre ein üppiges Auskommen im Ehrenamt sichern. Im Dezember 2013 verkündet der deutsche Fifa-Exekutivler Theo Zwanziger das Ende der Boni-Zahlungen im Vorstandskreis; ausgenommen Blatter. Auch dieser internen Finanzrochade fehlt jede Transparenz: Stattdessen soll es nun eine »klare Vergütungsstruktur« geben. Wie sieht die aus? Wie sah die bisherige Vergütung aus? Konkrete Zahlen nennt Zwanziger so wenig wie die Fifa selbst. Als gesichert erscheint sowieso, dass die Hobbyfunktionäre im Schweizer Privatverein Fifa weiter alljährlich sechsstellige Apanagen abgreifen.[6]

Der britische Fifa-Spezialist Andrew Jennings hat allerlei Beispiele publiziert, wie Exko-Mitglieder für ihre Engagements bei mediokren Fifa-Turnieren satte fünfstellige Summen als Ausgaben in Rechnung stellten – ohne die Spesenabrechnungen zu belegen. Die Fifa setzte Heerscharen von Juristen mit dem Geld des Weltfußballs auf ihn an. Doch wirklich an den Kragen, sagt der Kritiker, ging es ihm erst, als er in Blatters Ausgabenpolitik zu stochern begann. Zwar taten das früher auch manche Blatter-Gegner in der Exekutive; einmal versuchten sie sogar über eine Strafanzeige in Erfahrung zu bringen, wie viel Geld in Blatters Taschen wandert. Doch auch sie erhielten nie Aufschlüsse darüber, und mit Jennings konnte die Fifa sowieso anders umspringen: Sie verbannte den Briten von Tagungen und Pressekonferenzen. Das geschah im Frühjahr 2003, zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der Schmiergeldagentur ISL, eines langjährigen Partners der Fifa. Seither wird das Geschäft innerhalb einer neu gegründeten Fifa-Marketing AG geregelt. Für die Blatter, wie für die Fifa selbst und auch für den Reisedienst Fifa Travel AG, das Recht zur Alleinunterschrift hat.

Neben den Ehrenamtlichen gibt es eine hauptamtliche Verwaltung. Auch die untersteht dem Präsidenten sowie dem Generalsekretär JérÔme Valcke. Mit Blatter gleichauf firmiert auf der offiziellen Fifa-Website die Direktorin der Präsidialabteilung: Christine Botta, vormals Salzmann. Blatter und die Tochter seines Jugendfreundes aus Visp, die er von klein auf kennt – das ergibt ein harmonisches Bild: Zwei Abkömmlinge aus dem Walliser Alpendörfchen Visp zieren die Spitze des Weltfußball-Organigramms. Blatters Bürochefin ist verheiratet mit dem Architekten Charles Botta, der auch auf der Fifa-Website dokumentiert ist: Er baut fleißig WM-Stadien, ob in Südafrika oder in Brasilien. Dort wo die Menschen wegen der Milliardenausgaben für die WM-Stadien auf die Straße gehen. Zudem hat seine Baumanagementgruppe den sündteuren Verbandspalast der Fifa hoch oben auf dem Zürichberg realisiert.[7]

Neben der jahrzehntelangen Blatter-Vertrauten firmieren acht weitere Direktoren; für Recht, Kommunikation, Finanzen, Marketing, TV, Wettbewerbe, Personal und Entwicklung.

Macht insgesamt neun Direktoren, einen Generalsekretär, dazu 25 Vorständler inklusive Präsident. Die Fifa ist als gemeinnützige Organisation konstituiert – doch Boni werden hier wie in der Finanzbranche bezahlt. Laut eigenem Finanzbericht haben die »leitenden Organe« der Fifa im Jahr 2010 insgesamt 32,6 Millionen US-Dollar an »kurzfristig fälligen Leistungen« erhalten. Als Leitorgane gelten die Mitglieder des Exekutivkomitees sowie die Direktoren. Zwar zählen auch die sechs Mitglieder der Finanzkommission dazu, doch die sitzen zugleich im Exekutivkomitee. 32,6 Millionen Dollar – damit sind Gehälter, Aufwandsentschädigungen und sogenannte Boni gemeint. Im Jahr 2012 wurden laut Geschäftsbericht sogar 33,5 Millionen ausgeschüttet. Empfänger sind höchstens 35 Personen. Setzt man die Direktoren großzügig mit rund 500 000 Dollar an und nimmt man als Maßstab, dass das frühere Exekutivmitglied Mohamed Bin Hammam sagt, er habe nie mehr als zwei- bis dreihunderttausend Dollar im Jahr erhalten – dann fragt sich: Wie wird der Riesenrest dieses Reibachs verteilt? Wer kassiert wie viel?

Das ist eine der spannenden Fragen, denen wir hier nachgehen wollen.

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Ein Mann will nach oben

Der Pate

An diesem Tag sind nur die Engsten dabei. Es ist ein sehr persönlicher Kreis, der Horst Dassler im April 1987 das letzte Geleit gibt. »Monika Dassler ging an der Spitze des kleinen Leichenzugs, der den Sarg ihres Mannes begleitete. João Havelange, Juan Antonio Samaranch und Sepp Blatter folgten der Witwe und ihren Kindern.«[8]

Horst Dassler war nur 51 Jahre alt geworden, als ihn der Krebs dahinraffte. Doch hat er den Weltsport nachhaltiger verändert als jeder andere Unternehmer, Funktionär oder Athlet vor oder nach ihm. Er war ein Visionär und Menschenfänger, ein Schmied von Allianzen und ein Geheimdienstler in eigener Sache, er war der Erfinder der modernen Sportvermarktung. Er war aber auch der Maßgebliche, der für dieses Geschäft sämtliche Kontrollmechanismen außer Kraft setzte – wobei ihm entgegenkam, dass der Sport schon immer ein auch rechtlich autonomer Gesellschaftsbereich war. Dassler holte den Sport in die Niederungen der Geschäftskultur herunter; und er lieh sich seine Ideale und Werte zu Reklamezwecken.

Dasslers Idee war einfach. Er wollte die Athleten in Adidas sehen – damit die Breitensportler ihrem Beispiel folgen und später, im Zeitalter des Fernsehens und der sportlichen Freizeitbekleidung, die ganze Welt. Dazu brauchte es in den Anfängen die Kontakte zu den Athleten, bald aber die persönlichen Beziehungen zu Verbandsfunktionären, die mit ihrem Okay zu Sponsorenverträgen selbst etwas verdienen wollten. Schließlich suchte Dassler die Kontrolle über ganze Verbände zu gewinnen. Die stellte er her, indem er die alten Spitzenleute demontierte und die neuen Bosse selbst ins Amt bugsierte. Innerhalb eines Jahrzehnts hatte Dassler die alte, anglophone Sportführerriege aus Honoratioren und Gentleman-Funktionären aus den Ämtern gefegt und ersetzt durch eine Clique vornehmlich gewinnsüchtiger Netzwerker, mit der er den Sport in ein knallhartes Milliardengeschäft verwandeln konnte.

Nun, es ist zwar ein Vierteljahrhundert her, dass Dassler starb, der Mastermind. Doch seine damaligen Getreuen haben den Weltsport unter sich aufgeteilt und beherrschen ihn bis heute; nach Art des Patrons, von dem sie es gelernt hatten.

Jedem Uneingeweihten kommt der Weltsport heute gigantisch vor, unüberschaubar in seinen personellen Verästelungen. Aber dieser Anschein trügt. Tatsächlich beherrscht ihn immer noch die Handvoll Leute, die Dassler seit den siebziger Jahren aufgebaut und ausgebildet hat. Vielleicht werden sie das noch lange tun.

Dasslers personeller Nachlass: Den globalen Fußball regiert der Präsident Sepp Blatter, der sich 2011 in eine vierte vierjährige Amtszeit befördern ließ. »Zwischen Horst Dassler und mir bestand von Beginn so etwas wie eine Seelenverwandtschaft«, charakterisiert Blatter sein Verhältnis zum Meister. »Er brachte mir die Feinheiten der Sportpolitik bei – eine sehr gute Lehre für mich.«[9]

Auch im Internationalen Olympischen Komitee, das der von Dassler 1980 auf den Thron manövrierte Samaranch erst 2001 wieder verließ, nachdem er es in eine existenzbedrohende Korruptionskrise geführt hatte, führt seit Herbst 2013 einer der letzten Vertrauten Dasslers das Zepter: der Deutsche Thomas Bach. Er wurde 1985 Adidas-Direktor für Internationale Promotion sowie Leiter der Stabsstelle Internationale Beziehungen.[10] Dass er aber eigentlich mehr ein Dassler-Direktor als ein Adidas-Direktor war, legen nicht nur Stasiakten nahe. Bach hat sich seinerzeit selbst so gesehen: »Ich fühlte mich nicht Adidas verpflichtet, sondern Horst Dassler persönlich.«[11] Als »Adlatus von Horst Dassler« beschrieb ihn auch sein langjähriger deutscher IOC-Kollege Walther Tröger.

Tatsächlich zählte Bach bald zum engsten Kreis um Samaranch. Der Öffentlichkeit ist bis heute sehr wenig bekannt über den Industrieanwalt, der die Sportartikelfirma nach dem Ableben des Patrons bald verließ, in der Sportpolitik jedoch ganz nach oben aufstieg. Bach selbst hat stets bestritten, Kenntnis von Dasslers schmutzigen Spielen gehabt zu haben oder gar involviert gewesen zu sein. Das soll auch für klandestine Meetings der Dasslerschen Lobbyistengruppe gelten, an denen er laut Stasiakten teilgenommen haben soll (dies ist der einzige Punkt, den der Stasiinformant später selbst zurücknahm – auch wenn dies zu logischen Brüchen bei den von ihm dargestellten Abläufen führte).

Am 10. September 2013 wurde Bach zum Präsidenten des IOC gekürt, eine Wahl, die von Geraune begleitet worden war. Scheich Ahmed al-Sabah aus Kuwait hatte dem deutschen Kandidaten, der enge berufliche Bande nach Kuwait und in die Golfregion pflegt, wichtige Stimmen besorgt. Das plauderte der Scheich selbst offen aus, in die Fernsehkameras erzählte er auch, dass es mit Bach eine zwölf Jahre alte Abmachung gebe, also seit Ende der Samaranch-Herrschaft 2001. Was den Eindruck nährt, dass das Intermezzo des belgischen Chevaliers Jacques Rogge an der IOC-Spitze dem Umstand geschuldet war, dass Samaranchs IOC damals dank Korruptions- und Dopingaffären am Abgrund stand – und den Arzt Rogge als glaubwürdige Figur nach außen brauchte.

Nun also Bach, zu dem auch Blatter ein viel entspannteres Verhältnis hat. Und nimmt man an, wofür es viele Indizien gibt, dass der Fifa-Patron entgegen aller Versprechungen wohl auch 2015 weitermachen will, könnte die Sportwelt auf bald ein halbes Jahrhundert Dasslerismus hinauslaufen. Denn schon 1974, bei den Fifa-Wahlen, die João Havelange auf den Thron brachten, hatte der Mann aus Herzogenaurach erstmals eingegriffen.

Diese mysteriöse Kontinuität, die sonst wohl nur familiär strukturierte Wirtschaftsgeflechte zu schaffen vermögen, ist auch deshalb markant, weil Horst Dasslers Person und Wirken für alles steht, was die von ihm runderneuerten Weltsportverbände heute im Fokus der globalen Kritik hält, die Fifa mehr, das IOC unter dem Reformer und Samaranch-Nachfolger Jacques Rogge weniger: Korruption, Vettern- und Klientelwirtschaft, Bespitzelungen. All das im Schatten einer endlos anschwellenden, von unkritischen Sportmedien gefeierten Profitabilität – bei ebenso flott schwindender Glaubwürdigkeit.

Dass den Sport bis heute ein Hinterzimmerregime von interessengeleiteten Personengruppen steuert, verdankt sich der Absenz von Transparenz und unabhängiger externer Kontrolle. Der Sport kontrolliert sich selbst, das nennt sich Autonomie und wurde zu den Amateurzeiten von Rimet und Coubertin aus guten Gründen so gehandhabt. Heute ist diese Autonomie das einzige Überbleibsel, das Funktionäre und Vermarkter ins moderne Profizeitalter hinübergerettet haben und hier um jeden Preis bewahren wollen. Warum? Die Autonomie des Sports hält ihnen die staatliche Justiz vom Leibe. Schon grast ein rasant wachsendes Heer internationaler Sportjuristen das neue, hochprofitable Betätigungsfeld ab und versucht, diesen Status des Sports außerhalb der Zivilrechtsprechung zu zementieren. Das Schönste dabei: Im Sport, innerhalb der Familie des Sports, kann sich der leitende Funktionär sein Regelwerk selbst schnitzen. Diese vordemokratischen Verhältnisse bieten den besten Nährboden für mafiöse, transnationale Verbindungen.

Das führt zu so bizarren Situationen wie im Fifa-Wahlkampf 2011: Der Amtsinhaber schenkt einem Kontinentalverband kurz vor den Wahlen eine Million Dollar – und deklariert sie, als der Vorgang ruchbar wird, öffentlich als Entwicklungshilfe zum Verbandsjubiläum. Dabei verweist er auf Regeln, die ihm solche Millionenschenkungen im Alleingang genehmigen. Zugleich wird aber sein Herausforderer lebenslang gesperrt, der demselben Wählerkreis gleichfalls ganz diskret eine Million Dollar zukommen lassen wollte. Auch der Herausforderer hat dies offiziell, nach Tradition des Hauses, als Geschenke, Reisekosten, Entwicklungshilfe deklariert. Gibt es einen Unterschied? Nein, im Prinzip gibt es keinen: Beide wollen sich das Wahlvolk gewogen stimmen. Doch es gibt die Sonderrechte des Präsidenten. Der hat die faktische Macht über die Regeln und sogar das Recht zur Einzelunterschrift, er kann jeden Vorgang innerhalb der Fifa in seinem Interesse interpretieren. Und entsprechend ahnden lassen.

Jeder Versuch, die kleine Herrscherfamilie des Weltsports zu begreifen, beginnt bei ihrem Schöpfer. Bei Horst Dassler, dessen Arbeitsstil und dessen handverlesenes Personal den Weltsport bis heute prägen.

Verfeindete Familien

Das Wirken der Familie Dassler beeinflusst den deutschen Sport schon vor dem Zweiten Weltkrieg. In den zwanziger Jahren nähen der Schuster Adolf (»Adi«) Dassler und sein älterer Bruder Rudolf in Mutters Waschküche im fränkischen Herzogenaurach Schuhe zusammen. Das Privatvergnügen wird zum Geschäftserfolg, der erste unternehmerische Höhenflug kommt mit den Olympischen Spielen 1936, da entwickelt Adi Dassler den ersten Sprinterschuh mit Spikes – und bringt ihn raffiniert in Umlauf: Dem favorisierten US-Sprinter Jesse Owens überlässt er die Schuhe gratis, Owens gewinnt darin viermal Gold.

Noch vor Kriegsende zerstreiten sich die beiden Dasslers bis aufs Blut. 1948 zieht Rudolf ans andere Ufer der Aurach und gründet Puma. Bis zum Tod wechseln die verfeindeten Brüder kein Wort mehr, die Ächtung der jeweils anderen Firma gilt auch für die Mitarbeiter. Die Gräber der Familien markieren die entferntesten Punkte des Herzogenauracher Friedhofs. Der Zwist befeuert jedoch die Geschäfte, jeder will den anderen übertrumpfen, es wird mit harten Bandagen gekämpft.

Adi Dassler setzt sich früh vom verhassten Bruder ab – mit seinem Beitrag zum Geburtsmythos der Berner Wunderelf. Er schraubt Sepp Herbergers Kickern im verregneten WM-Endspiel 1954 lange Stollen auf und verschafft ihnen Standfestigkeit gegenüber den schlitternden Ungarn. So wird Adi Dassler selbst zu einem Berner Helden. Bei Länderspielen sitzt der »Schuster der Nation« neben seinem Freund Sepp Herberger auf der Bank. Vergebens reklamieren Pumas Techniker die neuen Schraubstollen für sich. Sie können sogar Zeitungsanzeigen vorweisen, die Puma im Mai 1954 für den neuen deutschen Meister Hannover 96 geschaltet hatte. Darin heißt es, die Puma-Stiefel seien nun »mit den bewährten und den Regeln entsprechenden Schraubstollen« versehen. Aber wen interessiert das jetzt? Die Heldenbilder zeigen Adi im Kreis der Berner Wunderkicker. Herbergers Halbzeitparole – »Adi, stoll auf!« – geht in den Fußballsprachschatz ein, und die Dreistreifenproduktion expandiert europaweit. »What a Dassler!« – so feiern bald englische Sportblätter die deutschen Treter.

In dieser Zeit wächst Adi Dasslers Sohn Horst in die Firma hinein. Wegweisend ist Horst Dasslers Lehrzeit als Zwanzigjähriger bei den Sommerspielen 1956 in Melbourne; er kann als Einziger im Hause Englisch. Als Tage vor Beginn der Spiele sämtliche fränkischen Sportartikel bei der australischen Hafenbehörde festhängen, lässt Dassler die Adidas-Waren von amerikanischen Athleten loseisen, indem sie flammende Bittbriefe schreiben. Zugleich sorgt er dafür, dass die Puma-Lieferungen bis zum Ende der Spiele unter Verschluss bleiben. Dann bricht der Jungunternehmer mit großen Koffern in die verstaubte Amateursportwelt ein, macht sich im olympischen Dorf an die Athleten heran und verschenkt Schuhe. Ja, auch die Helden des Sports sind recht empfänglich. Der erst 20-jährige Horst Dassler hat Witterung aufgenommen.

Bei Olympia in Rom 1960 erwarten die Athleten bereits sehnsüchtig den Deutschen mit dem prallen Koffer. Nur hat mittlerweile auch Puma das Spiel begriffen und umgarnt die Amateursportler. Das Gerangel gipfelt darin, dass der deutsche Sprint-Olympiasieger Armin Hary seinen Hundertmeterlauf in Puma-Spikes absolviert, auf dem Treppchen die Goldmedaille aber in Adidas-Schuhen in Empfang nimmt.

Anfang der sechziger Jahre wird Horst Dassler ins Elsass geschickt. Es gibt Spannungen mit dem Elternhaus, nun soll er in der Nähe von Straßburg eine französische Dependance aufzubauen. Für ihn ist es die Befreiung. Seine Angestellten lieben und fürchten den rastlosen Jungunternehmer, der sich um alles kümmert und manchen morgens um drei aus dem Bett klingelt. Horst Dassler stampft ein Imperium aus dem Boden, dessen internationale Verflechtungen 1978, beim Tod von Vater Adolf, weiter reichen als die des Stammhauses. Sein Treiben tarnt Dassler mit Stroh- und Schattenmännern, stets muss er fürchten, die bodenständigen Eltern würden das riskante Spiel durchschauen und beenden. Das klandestine Sportreich in Landersheim wächst auch über Firmenbeteiligungen. Arena kommt dazu, der größte Schwimmausrüster; der US-Sportartikelhersteller Pony, die französischen Freizeit- und Sportmodefirmen Le Coq Sportif und FaÇonnable. Besitzerspuren verlaufen sich in Schweizer Holdings. Dort firmiert ein verschwiegener Partner als Chef einer Dachgesellschaft: André Guelfi.

Der Korse, eine höchst obskure Figur, finanziert Horst Dasslers Aufstieg mit. Adi Dassler hätte der Partner seines Sohnes missfallen. André Guelfi betreibt so undurchsichtige wie ertragreiche Geschäfte; zweimal verliert er ein Vermögen und erwirbt es irgendwie wieder neu. In jungen Jahren fährt er Autorennen in Le Mans und heiratet eine Nichte des französischen Präsidenten Georges Pompidou, in Algier ist Guelfi für den gaullistischen Geheimdienst tätig. Später fällt er bei Marokkos König Hassan II. in Ungnade. Guelfis guter Freund, der brutale marokkanische Verteidigungsminister General Oufkir, hat einen Putsch versucht; Guelfi muss fliehen. Oufkir wird ermordet, seine Frau und Kinder werden für 18 Jahre inhaftiert. Bald darauf startet Guelfi in Paris als Geschäftsmann durch: Plötzlich ist er wieder zu Geld gekommen. Mancher vermutet, er habe sich etwas von dem Vermögen angeeignet, das Oufkir einst auf Schweizer Bankkonten abgezweigt hatte.

Dassler dreht mit diesem Mann, der ihm auch als Pilot mit eigenem Learjet ständig zur Verfügung steht, jetzt am großen Rad. Clever, visionär, skrupellos, intrigant. Sie teilen sich den Le-Coq-Sportif-Konzern, still hält Dassler auch hier die Mehrheit. Zug um Zug erwächst in Landersheim die politische Schaltzentrale der Sportwelt. Neben der Fabrik und den Sportplätzen gibt es das Restaurant »Auberge du Kochersheim«, wo eine exquisite französische Küche gepflegt wird. Die Herberge erhält einen Michelin-Stern und Kochmützen von »Gault Millau«. Auch die »Auberge« dient Dassler als Büro. Die politische Bedeutung dieses elsässischen Fresstempels beschrieben Insider so, dass die Zielpersonen hier abgefüttert und nachts dann die Verträge gemacht worden seien.

Dassler hat ein legendäres Gedächtnis für Gesichter, Namen und Geschichten. Bald führt er eine Datensammlung über jeden wichtigen Funktionär, jeden großen Sportler. Neben Gewicht und Schuhgröße werden auch Vorlieben und Abneigungen der Kundschaft verzeichnet – inklusive des bevorzugten Frauentyps. Die personenbezogenen Aufzeichnungen werden über die Jahre ständig ergänzt. Er will Wissen sammeln über jeden, der Sitz und Stimme in den Gremien des Sports hat. Das macht die Funktionäre lenk- und erpressbar. In der Regel genügt ja zur Bildung einer einfachen Mehrheit, wenn man aus hundert Wahlleuten zehn bis fünfzehn Personen hat, die einem zu Willen sind. Und wer in dieser Sportwelt hat keinen Fleck auf der Weste, wer kam nie in Berührung mit stillen Angeboten, diskreten Deals? Dassler, Le Patron – er rühmt seine Datei Vertrauten gegenüber, diese sei besser als beim KGB.

Die Karteien sind die Vorläufer jener Dossiers, die später von olympischen Bewerberstädten erworben und weiterverkauft werden und die bei WM- oder Olympia-Vergaben bis heute zirkulieren. Für Dassler sind sie der letzte Schritt auf dem Weg zur Bildung seines Sportgeheimdienstes: die Turnschuh-CIA. Sie entsteht in den siebziger Jahren. Unter Insidern heißt die Gruppe »Sportpolitische Abteilung«. Wie das so ist mit verschworenen Einheiten, erinnert sich heute kaum noch jemand an deren Existenz – jedenfalls keiner, der selbst darin gearbeitet hat.

Dasslers Aufstieg zum »mächtigsten Mann im Weltsport«, wie der »Spiegel« schrieb, zum »wirklichen Boss des Weltsports«, wie ihn die ehemalige IOC-Generaldirektorin Monique Berlioux nannte, steht im krassen Kontrast zu seinem bescheidenen Auftreten. Glamour, pompöse Auftritte sind seine Sache nicht. Er kann stundenlang in der Hotellobby den Aufzug bewachen, bis jemand herauskommt, der von Interesse sein könnte, er hört aufmerksam zu, statt selbst zu reden, dabei beherrscht er fünf Sprachen fließend. Leicht ist die untersetzte Erscheinung im schief sitzenden Konfektionsanzug mit einem verhuschten Schuhvertreter zu verwechseln.

Beim Erzfeind Puma hat es Horst Dassler mittlerweile mit seinem Cousin Armin zu tun. Im Krieg um absatzfördernde TV-Auftritte tricksen die Vettern hinter den Kulissen heftiger als die Akteure in den Stadien. Haben die Athleten bereits 1960 in Rom neben der Ausrüstung Urlaubsreisen oder Flugtickets für Verwandte verlangt, so stapeln sich 1964 in Tokio die »Geldumschläge in der Cafeteria des olympischen Dorfes«, wie die französische Zeitung »Libération« feststellt.

Beim WM-Endspiel 1966 in Wembley droht erstmals der totale Triumph von Adidas: Beide Finalisten, England und Deutschland, tragen die drei Streifen. Doch Puma zieht alle Register, plötzlich laufen Englands Torhüter Gordon Banks und Verteidiger Ray Wilson in Puma-Schuhen aufs Feld. Banks und Wilson haben sich in Adidas-Schuhen aufgewärmt, aber auf der Toilette die Schuhe gewechselt – die lagen im Wassertank bereit. Der rasche Gang aufs Klo soll jedem 10 000 Mark eingebracht haben.

Die Olympischen Sommerspiele in Mexiko 1968 bringen eine Revolution, denn erstmals werden sie via Fernsehen in alle Welt übertragen. Das nun immer stärker anwachsende Heer der Amateur- und Freizeitsportler wird sich, das ist absehbar, an den neuen TV-Helden orientieren. Die stundenlangen Übertragungen der Großereignisse sind die intensivste und billigste Werbung.

In Landersheim hofieren Dasslers Leute Monate zuvor diverse Sportlergruppen, darunter amerikanische Spitzenläufer, denen sie Schuhverträge offerieren, die jedem Athleten 500 Dollar einbringen. Die Sportler unterschreiben und gehen mit den Papieren direkt zum Konkurrenten Puma am anderen Ortsende. Dassler schäumt. Bei den US-Ausscheidungen in Lake Tahoe sind dann »die Umkleideräume mit braunen Umschlägen übersät«.[12]

Wer nicht spurt, muss allerdings mit Intrigen rechnen. Das widerfährt Lee Evans: Der Amerikaner läuft vor den Spielen Weltrekord über 400 Meter in Puma-Schuhen, die statt der gestatteten maximal sechs Dornen zahlreiche kurze Gumminoppen tragen. Kein Sportler, kein Verbandsfunktionär, sondern der Unternehmer Dassler interveniert beim internationalen Leichtathletikverband mit einem absurden Argument: Die Noppen seien als Dornen zu werten. Da es fraglos mehr als sechs waren, wurde Evans’ Weltrekord annulliert.

Der Pate versteht sich auch auf die großen Tricks. Schon Jahre vor den Spielen hat Dassler eine mexikanische Firma mit der Spikes-Produktion beauftragt, das sichert Adidas eine Sondererlaubnis zur zollfreien Einfuhr von Warenkontingenten. Hingegen wird auf jedes Paar Puma-Schuhe eine Zollgebühr von zehn Dollar erhoben. Als die Puma-Leute ihre eintrudelnde Ware als Adidas-Material zu tarnen versuchen, finden sie sich in einer Situation wie in Melbourne 1956 wieder: Die Ladung sitzt beim Zoll fest. Und Armin Dassler wird nachts im Hotelzimmer von Beamten aufgesucht, die ihm Dokumentenfälschung vorwerfen und die sofortige Abreise empfehlen. Ein paar hundert ihrer Schuhe eisen die Puma-Manager noch los. Teils durch Geld, teils über ihre Athleten, die mit leeren Kartons beim Zoll aufkreuzen und behaupten, sie müssten Schuhwerk umtauschen. Ein riskantes Spiel – und man möchte meinen, Olympioniken hätten so kurz vor Beginn der Spiele anderes zu tun.

Die US-Zeitschrift »Sports Illustrated« fasst seinerzeit unter dem Titel »Die Hunderttausend-Dollar-Bestechung« zusammen, wie Sportler während der Spiele 1968 vor den Hotelsuiten von Horst und Armin Dassler Schlange standen. Einer soll 10 000 Dollar durch den Wechsel von Adidas zu Puma und zurück ergattert haben. Die Krönung des gierigen Geschachers bleibt lange unbemerkt, weil sie sich in den legendären Skandalminuten dieser Spiele ereignet: Als die Amerikaner Tommie Smith und John Carlos bei der Siegerehrung des Zweihundertmeterlaufs schwarze Handschuhe in den Himmel recken, tragen sie nur schwarze Socken an den Füßen. Der ganze Auftritt ist auf politischen Protest abgestimmt. Black Power ballt seine Faust, Los Angeles hat gebrannt, Amerika ist tief gespalten. Hingewiesen sei nur auf eine Kleinigkeit am Rande: Hinter dem Rücken haben Tommie Smith und John Carlos jeweils einen ihrer Puma-Schuhe zum Treppchen getragen – und diese aufs Podest gestellt. Zum Ende der Olympischen Spiele von Mexiko befindet der Leichtathletikfunktionär Adriaan Paulen aus Holland, man müsse wohl, um dieses korrupte neue Sportgeschäft zu stoppen, »die Brüder Dassler nach Sibirien verbannen«.[13]

Aber Horst Dassler will sich nicht mehr damit begnügen, jedem Sprinter einzeln hinterherzurennen. Statt mühsam Sportler einzukaufen, geht es jetzt um ganze Fachverbände, Mannschaften und Länderaufgebote. Aus den schwitzigen Umkleidekabinen verlagert er die Scharmützel in die Suiten der Nobelhotels. Er will die Sportfunktionäre. Wer sie beherrscht, regiert den Sport. Also wird, wer nicht ins neue Schema passt, passend gemacht – oder durch eine passende Figur ersetzt.

Gelegenheit dafür bietet sich bei den Verbandswahlen. Bei der Fifa laufen sie damals wie heute nach dem Prinzip »Ein Land, eine Stimme« ab. Ein für Korruption leider allzu anfälliges System. Denn es bedeutet, dass die suspekteste Bananenrepublik, der kleinste Inselstaat mit maximal einem Fußballfeld ebenso viel Gewicht im Fifa-Parlament hat wie der Deutsche Fußball-Bund mit 6,8 Millionen organisierten Mitgliedern. Sportfunktionäre halten dieses idealistische, zu Beginn des 20. Jahrhunderts erdachte Prinzip auch heute noch für Basisdemokratie. Wer in diesem Wahlsystem Stimmen benötigt, muss sich nicht herumschlagen mit der Handvoll mächtiger Verbände, wenn man in kürzester Zeit ein Vielfaches an Zwergstaaten um sich scharen kann. Dass dies zumeist über Vorteilsgewährung geschieht und nicht über den Aufbau nachhaltiger Sportentwicklung, hat quasi jede der zahllosen Affären gezeigt.

Funktionäre und ganze Verbände dreht man aber in den siebziger Jahren nicht mehr im Alleingang um. Also baut Dassler ein Team für das Lobbygeschäft auf. Gebildet wird diese Turnschuh-CIA von Lobbyisten, die sich die Betreuung der Sportfunktionäre nach Erdteilen und Sprachgruppen aufteilen und ihrerseits Nebenerwerbsagenten in den verschiedenen Verbänden heranziehen oder implementieren. Hatte Dassler in den Anfängen Notizen über jeden seiner Kontakte gemacht, so führt nun ein komplettes Team Buch. Persönliches und Privates. Material, das sich für oder gegen die bespitzelte Person einsetzen lässt. Zu jedem Gesprächspartner sind die Namen von dessen engsten Vertrauten oder Angehörigen zu notieren. Dazu die Geschenke.