Putins Olygarch - Thomas Kistner - E-Book

Putins Olygarch E-Book

Thomas Kistner

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Sport, Geld, Macht, Manipulation – Thomas Bach Das Gesicht des IOC ist ein Deutscher. Seine Geschichte und die des immer wieder kriminellen IOC laufen seit Jahrzehnten parallel. Hier wird sie erstmals erzählt. Thomas Bach ist der Mann arabischer Scheichs und chinesischer Staatskommunisten, und vor allem: der Olygarch Putins. Dieser investigative Report verwebt die Stränge von Sport, Politik, Geld  und Propaganda. Es ist eine Reise durch mehr als 40 Jahre IOC, die in der Wahl Bachs und dessen Russland-freundlicher Politik mündet. Die Autoren können dies nun präzise nachzeichnen, anhand zahlreicher Akten und Unterlagen sowie zahlreicher Gespräche mit einflussreichen Akteuren: nicht zuletzt aus den internationalen Sportverbänden, der russischen Politik und dem KGB.

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Seitenzahl: 556

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Über das Buch

Auf Olympische Spiele wartet Deutschland seit mehr als einem halben Jahrhundert vergeblich. Aber das Gesicht des IOC ist ein Deutscher. Seit 2013 ist Thomas Bach Präsident des Internationalen Olympischen Komitees – und verantwortlich für die autoritäre Verfassung und desolate Außenwirkung der olympischen Bewegung. Sein IOC liefert verlässlich Affären, paktiert mit anrüchigen Funktionären und Politikern. Bach ist der Mann der Wahl von Scheichs und Staatskommunisten. Und er ist lange Zeit vor allem: der Olygarch Wladimir Putins. Das Verhältnis zu Russland und dem Kreml-Herrscher prägt seine Amtszeit.

 

Dieser investigative Report erklärt, wie und warum es dazu kam. Er folgt den Strängen von Sport, Geld, Politik und Propaganda über 40 Jahre IOC hinweg. Er offenbart, wie der Kreml über Dekaden in der olympischen Welt mitmischte und wie Bach dank Putin auf den Thron gelangte. Und wie Thomas Bach sich dem Patron im Kreml über Jahre fügte, indem er trotz eines Staatsdopingskandals und später trotz des Ukraine-Krieges die russische Mannschaft auf die Bühne des Weltsports zurückholte. Bis die Beziehung zwischen Kreml und Olygarch doch zerbricht.

Johannes Aumüller / Thomas Kistner

Putins Olygarch

Wie Thomas Bach und das IOC die Olympischen Spiele verraten

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog

1 Der Lehrmeister

Die Entstehung der Turnschuh-CIA

Der Pakt mit dem Kreml

Der KGB bastelt sich einen IOC-Präsidenten

Der Vollstrecker des Paten

IM Möwe und der Mann der Zukunft

Freunde in Südkorea

2 Das Netzwerk

Alte und neue Freunde

Im Reich des Ölprinzen

Die Chinesen kommen

Skandal am Salzsee, Deal in Moskau

3 Der Durchbruch

Russland übernimmt den Weltsport

Späte Gäste in Guatemala

Auf dem Thron – dank Putin und eines Scheichs

4 Die Skandale

Ein Fest für Putin

Auf einmal klappt die Technik nicht

Die Doping-Kronzeugen packen aus

Der größte Skandal der Sportgeschichte

Mehr Tickets, bitte

Dubiose Zahlungen vor dem Wahltag

Staatsdoping? Macht doch nichts

Der Trick mit der Doppelvergabe

Der Diktator dankt

Der große Datenbetrug

Wir sind das Licht der Welt

5 Der Anfang vom Ende

Vom IOC zum IBK

Im Dienst von Pekings Propaganda

Lavieren im Krieg

Was ist nur mit den alten Freunden?

Deutschland – ein olympisches Trauerspiel

Epilog: Der olympische Geist

Anhang

Personenregister

Vorwort

Wer sich den großen, affärengestählten Weltsportorganisationen nähert, sollte das mit großer Sorgfalt tun. In jede Richtung recherchieren, ein substanzielles Reservoir an Quellen und Archivmaterial aufbauen und über lange Jahre die Verbände und ihre Protagonisten begleiten. Gute Kontakte zu Behörden und Amtspersonen schaden nicht, besonders hilfreich sind belastbare persönliche Drähte zu Insidern und Weggefährten, die auf gewachsenem Vertrauen basieren. Oft sind das Menschen, die sehr unglücklich wären, wenn man sie am Ende einer Aufklärungs- und Enthüllungsarbeit namentlich mit Danksagungen beglückt. Das könnte Konsequenzen haben.

Nach den Recherchearbeiten, das Puzzle ist gelegt, sind die Betroffenen anzuhören. Was sagen sie zu konkreten Vorhaltungen? Können sie Vorwürfe oder Sachverhalte entkräften, Missverständnisse oder Unklarheiten glatt ziehen? Bemängeln sie Recherchefehler, die sich klar belegen und beheben lassen? Haben sie Motive, die auf problematische Sachverhalte womöglich ein ganz anderes Licht werfen?

Die Autoren haben für dieses Buch wiederholt Anfragen an das Internationale Olympische Komitee gestellt. Es befasst sich mit dem nur schemenhaft erkennbaren Werdegang und Wirken des Präsidenten Thomas Bach und seinem IOC. Und speziell mit den langjährigen Vernetzungen des olympischen Betriebs und einiger seiner höchsten Vertreter mit den Kremlherrschern in Moskau. Zur Zeit der Sowjetunion und in der Ära von Wladimir Putin, der dank seines immens angehäuften Einflusses im Olymp lange Jahre auch ein Zar des Weltsports war.

Aber das IOC lehnte es ab, auf allerlei Fragen inhaltlich konkret einzugehen. Auf eine erste Anfrage im Herbst 2023, in der es um Bachs Verhältnis zu Russland, aber auch um verschiedene Karrierestationen ging, teilte es nur mit: »Wir können keine neue Frage finden, die nicht bereits von uns beantwortet wurde, und diejenigen, die wir nicht beantwortet haben, beruhen auf absurden Annahmen. Bitte verwenden Sie unsere früheren Antworten auf diese Fragen.«

Kurz danach, Zufall oder nicht, setzte das IOC eine Mitteilung auf seine Website. Sie lautete: »Erklärung zu Fake-News-Kampagnen gegen das IOC«. Darin hieß es, das IOC sei »in jüngster Vergangenheit« mit vielerlei Fake-News-Attacken und falschen Zitaten bedacht worden, Abspielflächen seien »Telegram-Kanäle und andere Social-Media-Plattformen in mehreren Sprachen«.

Auch sei gegen das IOC »bereits eine ganze Dokumentation mit diffamierendem Inhalt und falschen Informationen produziert« worden, inklusive der per Künstlicher Intelligenz (KI) generierten Stimme eines weltbekannten Hollywood-Schauspielers; es ging dabei um die von Tom Cruise. Das IOC ließ diese mysteriöse Dokumentation mit dem Titel »Olympics has fallen« umgehend von Social-Media-Plattformen entfernen. »All dies scheint Teil einer organisierten Desinformationskampagne zu sein«, teilte der Ringe-Konzern mit – und riet »allen Medienvertretern«, die derlei Material in sozialen Medien finden und zu verwenden gedenken, sich »die Authentizität solcher Inhalte von der IOC-Medienabteilung bestätigen zu lassen«.

Auch so lässt sich Kontrolle herstellen.

Was das mit diesem Buch zu tun hat? Auf einen neuen, teils ergänzenden Fragenkatalog der Autoren im Januar 2024 reagierte das IOC mit der Übersendung besagter Pressemitteilung – und stellte die Mutmaßung an, dass dieses Buch auf solchen Fake-Materialien aufbaut. Diese neuen Fragen, schrieb das IOC, ließen »vermuten, dass sie auf irreführenden Informationen beruhen, die Teil einer gezielten Desinformationskampagne sein könnten, die bereits seit einigen Monaten gegen das IOC und seinen Präsidenten im Gange ist«. Das läge umso näher, als die Autoren nicht »die Quelle für die irreführenden Informationen« benennen. Eine originelle Argumentation, denn ohne Quellenschutz ist keine effektive journalistische Arbeit möglich. Und: Falsche Vorhalte lassen sich so oder so einfach klarstellen, da braucht es keine Quelle.

Hier wird es spannend. Denn das IOC formulierte eine klare Verdachtslage, wer zentral hinter den angeblich »irreführenden Informationen«, die das Buch »Putins Olygarch« ausbreitet, stecken könnte: russische Mächte! Und so startete es eine Generalattacke in deutlicher Wortwahl – samt Aufforderung, »dass dies in Ihrem Buch ebenso Berücksichtigung finden wird«.

Hier ist es:

»Dem offensichtlichen Tenor Ihres Buches wird schon widersprochen durch die Angriffe aus Russland gegen das IOC und seinen Präsidenten seit der Suspendierung des Russischen NOKs vor den Olympischen Winterspielen Pyeongchang 2018, die sich nach der eindeutigen Positionierung des IOC zum Krieg Russlands gegen die Ukraine erheblich verstärkt haben. Sie reichen von öffentlichen harschen Beschimpfungen wie Faschist, westlicher Spion, Russenfeind oder ethnischer Diskriminierer bis hin zu den erwähnten Desinformationskampagnen und ebenso anderen Aktionen, auf die wir aus Sicherheitsgründen aber nicht näher eingehen können.«

Faschist. Spion. Russenfeind! Und sogar sicherheitsrelevante Anfeindungen im Spannungsfeld zwischen Lausanne und Moskau. Das teilte das IOC ganz offen mit. Es will sich damit, ohne jeden konkreten Ansatz für seine Fake-Verdächtigungen zu liefern, jeder inhaltlichen Befassung mit den Anfragen für dieses Buch entziehen. Es wird schlicht und diffus zum Bestandteil einer von Trollen oder Kremlbots gesteuerten Desinformationskampagne erklärt.

Deshalb also, so das IOC weiter, werde es bei »diesem Vorgehen keine Glaubwürdigkeit durch Stellungnahmen oder Dementis geben«. Und weil auch »durch eine solche Publikation die Glaubwürdigkeit des dtv-Verlages in Frage stehen könnte«, wird dieser in Kopie gesetzt. Vielleicht kriegt dort ja noch jemand kalte Füße.

Die Autoren haben für dieses Buch viel Recherche betrieben, Akten und Unterlagen ausgewertet, eidesstattliche Versicherungen eingeholt, Reisen im In- und Ausland unternommen und zahlreiche persönliche Gespräche mit real existierenden Personen geführt. Mit internationalen und nationalen Sportfunktionären, mit russischen und deutschen Politikern, auch mit (früheren) Mitgliedern des KGB. Und in jedem Fall mit natürlichen Intelligenzen.

Andererseits darf selbstverständlich jeder Anfragen beantworten, ignorieren oder uminterpretieren, wie er mag. Es gibt da keine Verpflichtung. Die Pressestelle des Kreml zum Beispiel hat Fragen nicht beantwortet.

Dies ist, als Aufwärmübung, ein kurzes Making-of des Buches. Ist Putins Olygarch nur Fake und dunkles Verschwörungsgeraune? Das darf der Leser jetzt einfach selbst herausfinden.

Prolog

Der 10. September 2013 ist ein dramatisches Datum für die olympische Familie. Ein großer, nein, ein großartiger Tag: Es wird der neue Präsident gewählt!

Aber als es so weit ist, hat der Tag nichts Spektakuläres. Nichts Berührendes, nicht einmal das Wetter spielt mit. Ein grauer Himmel liegt über der Luxusherberge am Río de la Plata, es ist viel zu kalt für einen Spätwintertag in Buenos Aires, darunter, wie eine Schicht aus Mehltau: purer Fatalismus. Hier versammeln sich die Sportfunktionäre des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Kein Funken Aufgeregtheit, im Festsaal des Hilton-Hotels herrscht stille Ergebenheit. Das Ambiente ist gehoben funktional, dem Anlass angemessen. Denn alle wissen, was jetzt kommt: das große Ungefähre. Der Unausweichliche.

Es ist nicht mehr zu ändern, sie haben die Kontrolle lange vorher verloren. Auf der einen Seite sind die Parteigänger, von denen einige durchaus überzeugt sind, aber manche auch gleich so abstimmen werden, wie es ihnen halt aufgetragen wurde, von Staatschefs oder höheren Funktionären. Oder weil sie es, wie die Kollegen aus Afrika, wieder einmal für gewinnbringender halten, en bloc abzustimmen; was immer an Gewinn dafür rausspringt.

Schon gar nicht verhindern kann das Unausweichliche die fast ebenso große Fraktion von Wahlleuten auf der Gegenseite; Mitglieder, die sich lieber einen Schritt nach vorn gewünscht hätten, irgendwie raus aus dem alten Sud, etwas Neues, anderes versuchen – vielleicht einen olympischen Zukunftszirkel, in dem sich auch das einzelne Mitglied wiederfinden kann.

Aber die Messe hier ist gelesen. Sie haben sich, wie so oft, übertölpeln lassen, wurden überrollt von dieser Machtmaschine namens IOC. Der sie zwar selbst angehören, gewiss, aber halt nur als winziges, austauschbares Rädchen im Getriebe. Das, was gleich passiert, wurde wie stets von ganz oben geplant, jetzt wird nur noch vollzogen. Deshalb ist dieser wichtige Tag für das IOC kein schöner Tag für viele seiner Mitglieder.

Oben auf dem Podium, stramm wie ein katholischer Missionsschüler, sitzt ein gedrungener Mann mit Brille, akkurater Scheitel, die Hände auf den zusammengepressten Anzugsbeinen gefaltet: in kribbelnder Erwartung dieser zwei erlösenden Worte! Sein Blick wandert nach rechts, wo der Sitzungsleiter einen Umschlag öffnet. Und mitteilt, was alle hier erwarten. »Thomas Bach«, sagt Jacques Rogge mit fast tonloser Stimme und präsentiert einen Zettel. Die Anspannung des Internatsschülers löst sich, hurra!, ein Lebenstraum geht in Erfüllung. Jetzt muss er nur noch aufstehen und die Wahl annehmen. Gerührt tritt Thomas Bach ans Mikrofon. Er presst die Hände an die Backen, kämpft mit den Tränen. Er dankt dem weiten Rund in zwei, drei, vier … gut, am Ende sind es sieben Sprachen. Und er sagt Sätze wie: »Ich weiß um meine große Verantwortung!«

Gleich darauf, noch in den Räumlichkeiten des Tagungshotels in Buenos Aires, wird ihm ein Handy gereicht. Es ist wichtig. Bach zieht sich aus dem Pulk der Journalisten zurück. Am Apparat ist der erste bedeutende Gratulant: Wladimir! Putin! Es grüßt der Staatspräsident des nächsten Olympiagastgebers; warum nicht. Aber das hier – das ist Putin, und deshalb ist es vor allem ein Zeichen. Die erste relevante Grußnote erhält Bach von einem Mann, der genau weiß, wie man Macht demonstriert. Der erste hohe Gratulant am Handy ist der Potentat, der Bachs Amtszeit durchgehend prägen wird.

An diesem 10. September 2013 in Buenos Aires rückt Thomas Bach zum Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees auf. Er ist erst der neunte in der seit 1894 dauernden IOC-Geschichte, Nachfolger des belgischen Chirurgen Jacques Rogge. Und der erste Deutsche in diesem Amt. Ein gebürtiger Würzburger, Jahrgang 1953, erst Fechter, danach Jurist, Wirtschaftslobbyist, Sportpolitiker im Dreierpack. Und immer Karrierist. Diese Wahl ist die Krönung einer steilen, mehr als drei Jahrzehnte währenden sportpolitischen Laufbahn.

Dabei hat Bach immerzu versichert, dass hinter seinem unaufhaltsamen Aufstieg in den Olymp niemals eine Planung gestanden habe. Keine Planung! Verkehrt man die Aussage in ihr genaues Gegenteil, gibt sie die Wahrheit über den Mann und seinen geräuschlosen Werdegang auf den Thron des Olymps wieder: Planung war alles, alles ist Planung.

Die Karriere des IOC-Präsidenten Bach ist das Produkt eines minutiös umgesetzten machtpolitischen Kalküls. Durchgetaktet von A bis Z. Konzipiert, abgesichert und vorangetrieben von den wichtigsten Funktionären der jeweiligen Epoche. Abgesegnet von politischen Gönnern und hohen Parteifreunden erst in Bonn, später in Berlin. Alimentiert über vielzählige, stets diskret gehaltene Industrievernetzungen und -verträge. Fast alles ist so tief im Verborgenen angelegt, dass Bachs enge Bande im Laufe der Jahre nur selten ans Licht der Öffentlichkeit kommen – aber wenn, dann bringen sie ihn in Erklärungsnot. Etwa, als plötzlich Stasi-Berichte zu atemberaubenden Konspirationen auftauchen. Oder, wie im Zuge staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen bei Siemens, ein brisanter Beratervertrag für Dr. Bach.

Strategie. Berechnung. Arrangements. Kalkül. Aus solchen Elementen erwächst Bachs Karriere. Und sie stehen auch für all das, was es speziell im Fechten braucht. Das ist der Sport, in dem Bach bei den Spielen 1976 in Montreal Olympiasieger mit der Florett-Mannschaft wurde. Tricksen, täuschen, tarnen. Stets mit Finten, Rückziehern, plötzlichen Attacken. Und immer hinter einer Maske.

Es gibt erstaunlicherweise nichts wirklich Nettes, Menschelndes von oder über Thomas Bach. Kein Bonmot, kein Anekdötchen, nicht die kleinste Weisheit am Wegesrand. Zum Persönlichsten zählt der Verweis auf seine Passion für eine gepflegte Runde Skat mit alten Kameraden im Taubertal. Seitdem er vor mehr als vier Jahrzehnten begann, sich auf die Chefetagen des Weltsports hochzuwerkeln, hat er zunehmend den Eindruck eines virtuellen Funktionärsdarstellers verbreitet. Da ist nichts Greifbares – als hätten diese Gestalt ein paar zottelige IT-Nerds am Bildschirm entworfen. Einen Avatar in von Kopf bis Fuß korrektem Aufzug, mit sterilen Funktionsvorgaben und einer Stimme, die ihre Tonlage nicht verlässt. Eine Figur ohne Strahlkraft. Das prüfende Auge rutscht ab an jemandem, der mit einem Gesichtsausdruck auskommt.

Wahrscheinlich ist das hilfreich. Denn Thomas Bach ist der ausgebuffteste Strippenzieher, den der moderne Weltsport kennt. Und an jenem kaltgrauen Septembertag 2013 am Río de la Plata hat er endlich sein Ziel erreicht. Der oberste aller Olympioniken, jetzt ist er der mächtigste Sportfürst der Welt. In Buenos Aires kann ihm die ansehnliche Schar der Skeptiker nur noch einen kleinen Denkzettel mitgeben: Er schafft es erst im zweiten Wahlgang. Auch die internationalen Medien lassen nicht die Korken knallen. Im Gegenteil, viele bezweifeln, dass dies hier die beste Wahl ist. Zugleich ist allen klar, was diese Entscheidung im IOC war: etwas Vorausbestimmtes. Das Unausweichliche.

»Ist der neue Herr der Ringe mehr als ein vorzeigbarer Interessensverwalter, ein cleverer Jurist im Dienst der Ölscheichs und des Kreml?«, sinniert die Wochenzeitung Die Zeit, stellvertretend für das Gros der deutschen Medien. Frankreichs Sportfachblatt L’Équipe stellt infrage, ob die klandestine Art des früheren Fechters überhaupt geeignet ist, um »Neuerungen einzuführen und Impulse zu geben«. Auch der Schweizer Tages-Anzeiger bringt es auf den Punkt: Für einen »Insider mit intimsten Kenntnissen in allen entscheidenden IOC-Bereichen« sei diese Personalie nur logisch. Aber: »Gerade die vergangenen Monate zeigten: Thomas Bach ist der unbekannte Bekannte geblieben, der er stets war.«

Der unbekannte Bekannte. Alles unscharf, kein Profil. Ein olympisches Mysterium. Stets gewesen, immer geblieben.

Als Bach die IOC-Präsidentschaft übernimmt, ist die Lage der Organisation kritisch. Dabei ist dieses IOC doch mal eine noble Idee gewesen – das Gremium, das die Olympischen Spiele wiederbelebt und gepflegt hat. Dann kam der Spanier Juan Antonio Samaranch. Er hat das IOC erst in den Goldrausch geführt und dann an den Abgrund: Doping, Korruption, Salt-Lake-City-Skandal. Jetzt ist das IOC kein edler Klub mehr. Sondern eine Ansammlung von ein paar Dutzend oft recht dubioser Gestalten, unter die sich einige wenige aufrechte Leute mischen. Oder gemischt worden sind. »Eine Mafia aus Grafen, Prinzen, Millionären und Weißen«, wie Kubas Revolutionsführer Fidel Castro einmal sagte.[1] Ein Synonym für Kommerz und Korruption, Gier und Größenwahn.

2001 musste Samaranch deswegen gehen, aber da hatte er bereits die Türen aufgestoßen für seinen Musterzögling Bach, dessen größter Förderer und Mentor er war. Samaranchs direkter Nachfolger Rogge ist nur ein Intermezzo, der skandalumtoste Ringe-Clan muss zur Ruhe kommen. Der belgische Arzt verleiht der Bewegung vorübergehend ein glaubwürdigeres Gesicht, aber er scheitert mit seinen Reformideen in der zweiten Amtszeit; Rogge wird krank, und vor allem die Fraktion der Erben Samaranchs im IOC leistet Widerstand. Die Sommerspiele in Peking 2008 markieren die Wende in seiner mutig gestarteten Ägide. Und der Sumpf, der sich ums IOC gebildet hat und den auch im Westen die Politik und das Gros der geneigten Medien jahrelang ignoriert haben, beginnt die Ringe zu verschlingen. In demokratischen Ländern wächst so viel Unmut, dass die Bevölkerung dem IOC und dem Spielespektakel den Rücken zuwendet.

Und jetzt: ist Bach am Hebel. Er hat die Chance, wirklich etwas zu verändern. Er kann der olympischen Bewegung neues Leben einhauchen, diesen olympischen Geist wiederbeleben, den sie im IOC gern beschwören.

Aber er kann auch ihren Niedergang beschleunigen.

Was Bach am Gipfelpunkt seiner Karriere so wenig ahnt wie seine Mitolympier: Die schönen Tage sind vorbei. Bach wird der Präsident, der die schlimmste Fünferkette an Spielen dirigiert, die der olympische Sport je gesehen hat. Sotschi 2014, Rio de Janeiro 2016, Pyeongchang 2018, Tokio 2020/21, Peking 2022. Die globale Wahrnehmung schwankt nur zwischen Problemspielen und Skandalspielen. Und Bachs Ära wird die Zeit, in der das IOC sich endgültig von den demokratischen Gesellschaften entfernt und bei den Diktatoren und den Korruptis unterhakt; der deutsche Boss paktiert mit dem Kreml und Chinas Staatskommunisten, mit arabischen Scheichs und allerlei fragwürdigen Funktionären.

Bach schwingt den Taktstock hinter den Kulissen, er taktiert und fintiert, was das Zeug hält. Er jongliert zwischen allen Interessen, um Bündnispartner im IOC und solche auf der politischen Bühne zu bedienen. Der neue Präsident schützt seine Vertrauten, das Gebot des Gehorsams innerhalb des herrschenden Schuld-und-Dank-Systems darf nicht beschädigt werden. Und so gibt Bach in den vielen neuen Korruptionsaffären rund um sein IOC ein seltsames Bild ab. Er wirkt, als tangiere ihn all das kaum, aber klar ist schon: Es könnten gern ein paar Sünder weniger sein. Fortan sind es ja vor allem die großen Kaliber, die von Staatsanwälten angezählt oder einkassiert werden. Wichtige Leute, die ihm auf den Thron geholfen haben.

Aber deren Untergang hat auch Vorteile. Das Machtvakuum, das durch Revirements auf höchster Ebene entsteht und durch das altersbedingte Ausscheiden älterer Mitglieder noch beschleunigt wird, lässt sich zum Ausbau der eigenen Macht nutzen. Denn für all die Abgänge braucht es ja neue Funktionärskader, und hier kann der Präsident dafür sorgen, dass kein Querulant Zugang in den Olymp findet – sondern Leute, die auf seiner Linie fahren. Bach kann das IOC so umbauen, dass die einst stolze Organisation bald unterwürfig daherkommt. Das IOC wird ein IBK. Das Internationale Bach-Komitee.

Und überstrahlt wird Bachs Ägide davon, dass er sich samt seiner Organisation unter die Knute des Mannes begibt, der kurz nach der Wahl in Buenos Aires angerufen hat. Und ohne den er das Amt sehr wahrscheinlich nicht ergattert hätte: Russlands Staatspräsident Wladimir Wladimirowitsch Putin.

Erst gewährt ihm Bach bei den Winterspielen von Sotschi das größte Propagandafest der jüngeren olympischen Geschichte, was Putin zu nutzen weiß. Dann lässt er jahrelang Milde walten, als sich der größte Skandal der Sportgeschichte entblättert: das gigantische russische Staatsdopingsystem, in das sogar die Regierung und der Geheimdienst involviert sind. Und selbst die Sommerspiele von Paris, die nach einem Jahrzehnt voller Problemspiele die ersten entspannteren werden sollten, werden überlagert durch den Umgang des deutschen IOC-Präsidenten mit Moskau. Denn er offenbart nach dem Beginn des russischen Angriffs gegen die Ukraine erneut eine auffallend Moskau-freundliche Haltung. Nach dem Motto: Hauptsache, Russland ist dabei. In all den Jahren bekommt Bach auch mal eine passende Jubelnachricht von einem seiner olympischen Vorstandsmitglieder: »The Czar is happy!!!« Drei Ausrufezeichen: Der russische Zar ist glücklich. Und der heißt Putin.

Die Frage, ob er ein Putin-Freund sei, weist Bach trotzdem stets empört zurück: »Solche Verschwörungstheorien sind offensichtlich eine weitverbreitete Erscheinung unserer Zeit«,[2] sagt er mal der FAZ. Und Freund – das ist wohl tatsächlich nicht das richtige Wort für die Beziehung zwischen dem deutschen Industrieanwalt und dem Mann im Kreml. Denn Freundschaft signalisiert Augenhöhe. Doch im Verhältnis dieser beiden gibt es einen Ober und einen Unter.

Putin ist seit Beginn seiner Regentschaft in der Silvesternacht 1999 in Russland geübt im Umgang mit Oligarchen. Es ist ein prima Deal: Geld und Macht gegen bedingungslose Loyalität und politische Treue, so läuft das. In der olympischen Welt, so das überwältigende Bild, hat Putin mit der Zeit auch so einen Mann gefunden und unterstützt: Hier wird Thomas Bach der Olygarch.

Zur Welt der Oligarchen gehört: Sie wahren ihre Position, indem sie dem System gegenüber bedingungslos loyal sind. Und solange Putin sie lässt. Es kann der Moment kommen, da er die Oligarchen nicht mehr braucht – oder er unzufrieden ist mit deren Verhalten. Dann wehe den Oligarchen. Viele können berichten, was passiert, wenn Putin jemandem die Gunst entzieht. Manche können nicht einmal mehr das.

Und Putins Olygarch? Bei dem ist dieser Moment spätestens mit Beginn des Ukraine-Krieges gekommen. Der Mann, der jahrelang so viel globale Kritik auf sich lud im überzogenen Bemühen, die russische Führung zufriedenzustellen – seine Organisation liefert aus Putins Sicht nicht mehr genug. Er fällt in Ungnade. Und der zürnende Kremlchef macht sich daran, eine mächtige Sportbewegung neben der olympischen aufzubauen. Was ihm nun sehr erleichtert wird dank der Sonderrolle, die er und seine Sportheloten über all die Jahre ausüben durften.

Bachs Karriere, seine Wahl und sein Wirken sind fest eingebettet in eine große olympische Schattengeschichte. Diese Geschichte beginnt schon Jahrzehnte vor dem 10. September 2013. Sie dreht sich um Geld, Politik und die ordnende Kraft der Geheimdienste. Der Kreml spielt stets eine zentrale Rolle. Aber nichts und niemand wäre wohl aus dem deutschen Musterfunktionär geworden ohne einen fränkischen Landsmann, mit dem alles begann. Eine Legende, die im Sport noch immer jeder kennt. Ein Mann, den nur offiziell niemand mehr kennen will. Denn sein Werk ist verflucht. Es soll niemand wissen, dass es fortlebt bis zum heutigen Tag.

1Der Lehrmeister

Horst Dassler formt die moderne Sportwelt

Die Entstehung der Turnschuh-CIA

Horst Dassler ist gerade 20 Jahre alt, als er die große Sportbühne betritt. Sein Vater Adolf, Firmengründer und Chef von Adidas, schickt ihn zu den Sommerspielen 1956 nach Melbourne. Für den Junior wird die Reise nach Australien zur Feuertaufe. Mit allerlei Tricks bei den dortigen Zollbehörden sorgt der junge Horst dafür, dass die Sportartikelfracht seines Onkels Rudolf vom verfeindeten Konkurrenzunternehmen Puma nicht gelöscht wird. Und so reißen ihm im Olympiadorf verzweifelte Athleten die eigene Drei-Streifen-Ware förmlich aus der Hand. Den Coup, Puma über die Behörden am Spieleort mattzusetzen, wiederholt er noch viel ausgeklügelter bei den Spielen in Mexico City 1968. Damals landet ein argloser Puma-Vertreter sogar hinter Gittern.

Die Todfeindschaft zwischen den Dassler-Brüdern Adolf (»Adi«) und Rudolf ist legendär. Sie war angelegt in gegenseitigen Verratsbezichtigungen, die in den späten Kriegsjahren entstanden sind, und wurde sogar ein Leitthema der aufstrebenden Bundesrepublik. Im Franken-Städtchen Herzogenaurach betreiben die Brüder bald getrennt ihre Firmen, Adolf bleibt im Stammhaus, Rudolf gründet Puma auf der anderen Seite des Flüsschens Aurach. Fortan prägen Neid, Missgunst und üble Nachrede das familiäre Milieu.

Darunter leiden auch alle anderen, etwa die wachsende Zahl an Angestellten in den beiden Betrieben. Ein Riss geht durch die Stadt: Wehe, man wird mit einem von der anderen Seite erwischt! Nicht mal in den Wirtshäusern finden Schuster, Näherinnen oder Buchhalter von Adidas und Puma unter einem Dach zusammen: entweder – oder! Der Kalte Krieg der Dassler-Dynastie tobt jahrzehntelang rund um den Dorfanger. Ganz am Ende, als Rudolf todkrank ist, will der Pfarrer Adi rufen. Aber der möchte nicht mal den sterbenden Bruder mehr sehen. Er lässt nur ausrichten, dass er ihm verziehen habe.[3] Die Gräber der Familien liegen heute an den am weitesten voneinander entfernten Punkten des Friedhofs von Herzogenaurach.

In diese Unternehmerfamilie wird Horst Dassler1936 hineingeboren, es folgen noch vier Schwestern. Das Klima aus Argwohn und steter Bespitzelung prägt Horsts Welt; nur dass der Junior die Kunst der Kabale später in neue Dimensionen treibt. Als er Anfang der Sechzigerjahre die Frankreich-Filiale im Elsass aufbaut, entwickelt sich Adidas France rasch zum unsichtbaren dritten Player in einem fortan epischen Wirtschaftskrieg. Denn einfach nur immer mehr Sportschuhe verkaufen: Nein, das ist zu banal für einen besessenen Menschenfänger. Für einen wie Horst, der seine Gegenüber in fünf Sprachen beeindrucken kann. Dassler erschafft das erste globale Sportimperium, und kaum etwas wäre spannender als die Frage, wie der Weltsport heute aussehen würde, wenn dieser Mann nicht schon sehr früh, im April 1987, an einer Krebserkrankung gestorben wäre. Der Mastermind der modernen Sportpolitik wurde nur 51 Jahre alt.

Aber Dassler nutzt seine Zeit. Kein Tag, kaum eine Nacht ohne exzessive Gespräche, Gelage, Geplänkel. Und ständig klandestine Firmenrunden. Dassler legt Akten über jede wichtige Figur aus der Sport- oder Verbandswelt an, bald müssen seine Leute dasselbe tun; mit geheimdienstlichen Attitüden gehen sie zu Werke. Was manche ahnen, kann damals ein Spitzel der ostdeutschen Stasi, der Boxfunktionär Karl-Heinz Wehr alias IM Möwe, seinen Vorgesetzten sogar glasklar belegen. So ist er dabei, als Dassler im Zuge einer Debatte über den Präsidenten des europäischen Boxverbandes, Bernard Restout, erklärt, er werde sein neues Büro in Paris anweisen, es möge »die neuesten Hinweise in die vorliegende Personalakte zu Restout ergänzen«.[4] Dies hält Wehr nach einem Treffen mit Dassler am 20. Oktober 1985 in einem Bericht fest. »Damit wurde durch Dassler selbst bestätigt, dass sein Unternehmen über alle bedeutenden internationalen Sportfunktionäre Personenakten führt.«[5]

In der Tat. Aufgezeichnet wird unter Dassler mit derselben Lust und Akribie, die hinter dem Eisernen Vorhang die professionellen Kollegen von KGB und Stasi pflegen. Notiert werden Vorlieben und Abneigungen von Personen; Namen, Alter, Marotten, selbst Textilgrößen von deren engsten Freunden und Angehörigen; dazu die Themen, die besprochen worden waren – und natürlich, welche Geschenke ein jeder begehrt oder erhalten hat. Seine Kartei sei »besser als beim KGB«, rühmt sich der Firmenboss.[6] Als die Wirtschaftsautorin Barbara Smit eine Firmenchronik von Adidas und Puma zusammenträgt, sagt ihr ein Zeitzeuge: Bevor man tiefnachts zu Bett gehen durfte, »wurden erst die Tagebucheintragungen aktualisiert. Alle Mitarbeiter waren gewohnt, Aufzeichnungen zu machen, und versorgten Horst zuverlässig mit Informationen.«[7]

Das ist nur der Anfang. Selbstverständlich müssen alle Mitarbeiter Kunden und Gäste umschmeicheln, es gibt dafür ein eigenes Geschenkelager. Aber auf die Verbände des Weltsports, auf die setzt Horst einen Trupp erlesener Spezialisten an. Er schafft eine sportpolitische Abteilung, bekannt als Dasslers Turnschuh-CIA. Sie ist besetzt mit Leuten, die in den diversen Weltregionen ihre Netzwerke aufbauen. Sie greifen ein, wann immer es gilt, irgendwo auf der Welt Verbände und sportpolitische Entscheidungen zu manipulieren – und um, schließlich, in Eigenregie gewogene Funktionäre in den Sportorganisationen zu platzieren. Oder kritische Leute abzuservieren.

Dasslers erstes Experimentierfeld ist der Fußball. Bald mischt er selbst bei den Präsidentschaftswahlen des Weltverbandes mit. Bei der Kür 1974 in Frankfurt, am Vorabend der ersten WM in Deutschland, lässt er Stanley Rous im letzten Moment fallen und schwenkt um auf João Havelange, der dank allerlei nächtlicher Wahlhilfen auf den Fifa-Thron gelangt. Sofort schmiedet Dassler ein Bündnis. Er baut ein Team auf, das den Marketingmasterplan für den Fußball schafft. Und es gelingt ihm mithilfe des britischen Marketingexperten Patrick Nally, Coca-Cola als ersten Sponsor zu gewinnen.

Ein Riesencoup: Die bekannteste Marke des Globus will den Marktrivalen Pepsi-Cola dauerhaft auf Abstand halten – und wird zum Zugpferd der Fifa, dem andere Werbepartner schnell nachfolgten. Dassler legt sich ins Zeug, Havelange gewährt ihm freie Hand. Später lässt sich der Fußballboss von der von Dassler erschaffenen Marketingfirma auch direkt bezahlen, um ihr mal wieder die WM-Rechte zuzuschanzen.[8] So profitieren beide Seiten trefflich.

Mit den Erlösen aus dem Sponsoring lässt sich arbeiten. Dasslers Leute kreieren neue Wettbewerbe für den Jugendfußball, im Steuerhafen Monte Carlo beginnt sein Marketingteam damit, Fußball an die Markenkonzerne zu verkaufen. Die Funktionäre fliegen plötzlich Businessclass, die Hotels werden edler, und die Sportprodukte gewinnen ein Renommee, das rasch über Rasenkante und Kabinenschweiß hinausreicht. Bald drängeln sich die Firmen, die Dasslers Sponsoringpakete kaufen wollen. Die Funktionäre lernen flott, wie die neue Geschäftswelt funktioniert. Es ist ganz einfach: Sie unterzeichnen Verträge unter dem Marktwert, dann wandert die restliche Spanne als Bestechungsgelder an sie.

Auch den Dreh, wie man im Sport Mehrheiten besorgt, hat Horst schnell raus. Die Schwachstelle ist offenkundig, sie existiert bis heute. Und sorgt dafür, dass der Boss eines Weltverbandes de facto niemals abgewählt, sondern nur vom Staatsanwalt aus dem Amt geholt werden kann. Denn in den globalen Sportorganisationen hat jedes Land eine Stimme, was als gelebte Basisdemokratie gefeiert wird. Tatsächlich liefert diese absurde Struktur aber nur den perfekten Nährboden für die globale Sportkorruption.

Kein Spitzenfunktionär braucht sich mit ein, zwei Handvoll großen Nationalverbänden herumzuschlagen, die bei Olympia, im Fußball, in der Leichtathletik oder sonst wo dominieren und das Gros der Titel und Medaillen abräumen. Diese Verbände sind bei Wahlen leicht auszuschalten, indem der Kandidat einfach das riesige Feld drumherum abräumt: Allein die vielen Tropeninseln dieser Welt bis zu entlegensten Gebirgssprengeln sichern Dutzende Stimmen. One country, one vote: Willfährige Gefolgschaft findet sich dort, wo Spitzensport aus geografischen, ökonomischen oder religiösen Gründen gar nicht machbar ist. Länder wie Guam, Vanuatu oder die Turks- und Caicosinseln haben nicht mal Platz für ein richtiges Stadion – sie haben aber im Fifa-Parlament genauso exakt eine Stimme wie England, Brasilien oder Deutschland. Hier lassen sich, als Dankeschön für die sogenannte Entwicklungshilfe, mühelos Stimmen abgreifen.

Dassler wickelt mit betörendem Wesen und exquisiter Umgangsart erst die Athleten und später fast alle anderen um den Finger. Das Gros seiner getreuen Mitarbeiter verehrt ihn wie einen Sektenführer. Mit Ausnahmen. Ein Mann, der 1975 in Landersheim ein mehrmonatiges Gastspiel gibt, bevor er offiziell zu seinem neuen Arbeitgeber, der Fifa, wechseln darf, will dem speziellen Charme des Adidas-Chefs widerstanden haben: Joseph »Sepp« Blatter, damals Direktor, später Generalsekretär, noch später Präsident des Fußballweltverbandes. Er absolviert auf Anregung seines Verbandsbosses Havelange einen Marketingcrashkurs bei Dassler.

Blatter geht es wie den anderen im Elsass. Er erlebt einen manischen Antreiber, rastlos und jeden überfordernd, zugleich aufmerksam und großzügig. Er erlebt einen Gastgeber, durch dessen exquisites Sterne-Restaurant gleich gegenüber der Firmenzentrale endlose Karawanen von Sportfunktionären pilgern. Niemand von ihnen geht mit leeren Händen davon. »Da kamen immer wieder Delegationen der Verbände vorbei«, erzählt Blatter aus seiner Erinnerung, »die Boxer, Leichtathleten und alle, das war für mich auch eine gute Lehre.«

Was für eine Lehre? »Zwei Sachen. Das eine ist, dass Sport verbindet: Sozial betrachtet ist das gut.« Die zweite Lehre beträfe das Kernproblem des Sports: Korruption. »Du solltest immer nur Geld bekommen, wenn du etwas arbeitest«, sagt Blatter. »Denn ich habe gesehen, dass es gang und gäbe war, dass man Funktionären etwas mitgab, wenn sie gingen.« Und natürlich habe diese Korruptionskultur irgendwann auch ihn selbst erreicht. Da sei es zum Krach, sogar fast zum Bruch mit Dassler gekommen.

Was war passiert? »Er sagte, wenn ich für ihn weiter arbeite im Fußball und Reglemente mache und so, dann sollte ich doch etwas dafür bekommen. Dann erwiderte ich, wenn du noch so ein Wort sprichst, sind wir Feinde für immer!« Gut bekommen sei das dem Verhältnis erst einmal nicht, Dassler war nachtragend. »Er hat mir das krummgenommen. Er konnte nicht glauben, dass das jemand zurückweist. Er hat dann Havelange gesagt: Du musst aufpassen! Er will von mir nichts, vielleicht nimmt er was von jemand anderem!« Es entsteht allerdings trotzdem ein äußerst effektives Triumvirat. Blatter fungiert bald perfekt als operatives Bindeglied zwischen Dassler und Havelange und steigt mit ihrer Hilfe an die Fifa-Spitze auf.

Dasslers brutale Seite, wenn er Illoyalität witterte, ist ebenfalls legendär. Paranoia liegt in seiner geheimdienstlichen Geschäftskultur begründet, die ihm einmal sogar im weltabgeschiedenen Elsass eine staatsanwaltschaftliche Hausdurchsuchung einträgt. Wer permanent am Abgrund agiert, ist auf blinde Gefolgschaft angewiesen. Zumal Horst in einen direkten Wettstreit mit den eigenen Leuten eintritt, mit der Familie drüben im gemütlichen Fränkischen, bei der er erst viel später an die Spitze rückt. Bücher, Spiel- und Dokumentarfilme erzählen die Dassler-Saga, stets ist Horst der herausragende Protagonist. Wer wie er mit drei, vier Stunden Schlaf auskommt, hat mehr Zeit als andere, über die vollen Auftragsbücher hinaus zu denken.

Der Pakt mit dem Kreml

Den Fußball hat Dassler ab Mitte der Siebzigerjahre in der Tasche. Aber damals ist, anders als heute, das IOC mit seinen Olympischen Spielen die weitaus größere Nummer. Sie umfassen alle relevanten Sportarten, und Adidas produziert für sie alle. Die Ringe haben ein porentief reines Image, sie bieten unendliche Verlockungen. Jetzt, in den Siebzigerjahren, setzt Dassler zum Sprung auf die olympische Welt an.

Deren Zukunft liegt damals vor allem im Osten. Hinter dem Eisernen Vorhang. In den beiden erfolgreichsten sozialistischen Staaten, die auch das Medaillen-Ranking bestimmen. In der DDR – und vor allem in der Sowjetunion. Schon bei den Winterspielen 1972 dominieren die pharmazeutisch hochgetunten Sowjetathleten das Nationenranking vor den Amerikanern, was sie auch noch lange tun werden. Und 1974 erhält Moskau den Zuschlag für die Sommerspiele 1980; Russlands Hauptstadt besiegt in der Abstimmung ausgerechnet den Bewerber des Klassenfeindes, Los Angeles.

Es ist die Zeit, als der Kalte Krieg alle Politik bestimmt, auch die Sportpolitik. Aber es ist keineswegs alles so strikt abgeschottet, wie es scheint und verbreitet wird. Zu den begehrten Dingen in der Sowjetunion zählt die hochwertige Sportausrüstung, die Adidas zu bieten hat. Da kann der Ostblock mit den eigenen Billigproduktionen nicht gegenhalten. Andererseits verlangt die Kremlführung von ihren Staatsamateuren nichts weniger als Platz eins im Medaillenspiegel. Sie möchte die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber der westlichen Konsumgesellschaft propagieren. Da ist es fast naheliegend, dass dort eine bemerkenswerte Partnerschaft entsteht.

Kontakte bestehen zwischen Adidas und der Sowjetunion schon länger. Die Diskuswerferin Nina Ponomarjowa – 1952 bei den Sommerspielen in Helsinki die erste sowjetische Olympiasiegerin überhaupt – berichtete einmal, wie ihr bei diesem Ereignis Horst Dasslers Vater Adi persönlich die Füße vermessen habe.[9] Allerdings fühlte sie sich nicht gut betreut. »Dassler hat mich im Stich gelassen«, sagte sie. Er habe ihr Schuhe gegeben, die kleiner waren als die, die sie üblicherweise trug. »Sie sind unbequem, sie sind zu eng.« Aus einer Notiz des Komitees für Körperkultur und Sport »Über die Zusammenarbeit mit der Firma Adidas (BRD)« an die Genossen vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (KPdSU) ergibt sich, dass das Sportkomitee bereits seit 1959 mit der Firma zusammenarbeitete. Auch wenn sowjetische Sportler durchaus Beschwerden über die mangelnde Qualität vorbrachten, wenn man der Niederschrift glauben darf, die russische Publizisten aufgetrieben haben.[10]

Bereits bei der Fußball-WM1962 laufen acht Spieler der sowjetischen Nationalmannschaft in Adidas-Schuhen auf,[11] wie Dassler in einem Reisebericht minutiös festhält, und 1964 wendet sich Adidas auch schon direkt an den russischen Leichtathletikverband, wie ein Schreiben an den damaligen Cheftrainer zeigt.[12] Später bei den Sommerspielen in München 1972 gewinnt der Sprinter Walerij Borsow in Adidas-Schuhen Gold über 100 und 200 Meter – ein Mann übrigens, der Mitte der 1990er-Jahre ins IOC einzieht und ihm bis heute angehört.

Nach dem Zuschlag für die Moskauer Sommerspiele intensiviert sich der Kontakt. Dassler heuert eine russisch sprechende Assistentin an. Nicht irgendeine, sondern eine Expertin, die sechs Jahre bei der französischen Botschaft in Moskau gearbeitet hat: Huguette Clergironnet. Auch sind der russische Botschafter in Paris und sein Handelsattaché nun häufig Gäste in Dasslers Elsass-Zentrale in Landersheim, umgekehrt lässt der Boss keinen Empfang der Sowjetbotschaft in Paris aus. Insgesamt 62-mal reist Adidas-Mann Christian Jannette zwischen der Vergabe der Spiele und deren Austragung in die Sowjetunion.[13]

Zwischendurch ereilt die Werber ein gehöriger Schrecken. Kremlchef Leonid Breschnew persönlich verfasst eine Notiz an seine engsten Parteikollegen: »Irgendwie kam es dazu, dass wir beschlossen, die Sportolympiade in der UdSSR abzuhalten. Die Kosten für diese Veranstaltung sind enorm. Vielleicht sollten wir uns weigern, den Wettbewerb abzuhalten. Ich weiß, dass dies eine große Kontroverse auslösen wird. Aber einige Genossen haben mir vorgeschlagen, dass es möglich ist, sich zu weigern, indem man einen kleinen Beitrag in Form einer Geldstrafe zahlt.«[14] Aber Breschnews Zweifel verflüchtigen sich bald – auch dank intensiver Bearbeitung der sowjetischen Vertreter durch Adidas.

Für Adidas erweisen sich die Bemühungen als erfolgreich: 1976 unterzeichnet die Firma mit dem Kreml einen Ausrüstervertrag über fast fünf Jahre für gleich neun Sportverbände.[15] Darunter sind selbstredend die wichtigsten: Fußball, Eishockey, Leichtathletik. Wobei, wie ein für den Sport zuständiger KGB-Offizier süffisant vermerkt, »die Tatsache der Mitgliedschaft der Firmengründer, der Brüder Adolf und Rudolf Dassler, in der nationalsozialistischen NSDAP und Rudolfs Teilnahme am Zweiten Weltkrieg als Teil der Hitler-Truppen ignoriert« worden war.[16] Und DDR-Sportchef Manfred Ewald spottet über seinen sowjetischen Kollegen Sergej Pawlow als »Mr. Adidas«.[17]

1978 gelingt Adidas ein weiterer Coup: Dassler schließt mit der Sowjetunion einen Lizenzvertrag ab. Im Frühjahr 1978 trifft sich im Rahmen eines Staatsbesuchs Leonid Breschnew mit Dasslers Schwester Brigitte Baenkler, die perfekt Russisch spricht.[18] Zwar verzögert sich der Produktionsbeginn in der Sowjetunion, aber pünktlich zu den Sommerspielen in Moskau läuft der Verkauf an.[19] Der Deal mit Russland ist wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Denn außer dem Sport gieren auch andere Teile der sowjetischen Elite nach Adidas-Produkten. Bis hin zum Jackpot: der Roten Armee.

Horst Dassler aber hat die Sowjetunion nicht nur wegen seiner wirtschaftlichen Aktivitäten im Blick – sondern auch wegen seines Masterplans, den Sport künftig selbst von oben zu steuern. Dafür braucht er Marionetten in den Dachverbänden, er muss seine eigenen oder ihm ergebene Leute in die Schlüsselpositionen bringen. Hierbei kann niemand hilfreicher sein als die Kremlapparatschiks.

Die haben mehr als ein Dutzend Nationalverbände unter ihrer Aufsicht, zudem Einfluss auf viele weitere in der »Dritten Welt«, die am sowjetischen Tropf hängen. Auch bietet ihren Funktionären der Sport die beste Möglichkeit, ständig in den Westen zu reisen, Kontakte zu knüpfen, neue Spitzel anzuheuern und transnationale Geldflüsse zu lenken. »Traditionell ist es der Sport, der den Weg zum politischen Dialog zwischen Ländern ebnet«, heißt es in einer Niederschrift des sowjetischen Geheimdienstes KGB.[20]

Zudem sind die Sowjets und ihre Bruderstaaten ja mit etwas Besonderem zufriedenzustellen, das für andere notorische Mauschler, wie den vielen empfänglichen Funktionären Afrikas, oft gar nicht so wichtig ist: sportliche Triumphe! Medaillen, Titel, die große Weltbühne. Alles, womit sich die sozialistischen Herrscher nach außen schmücken können. Dabei muss nicht mal viel aktiv nachgeholfen werden – wegschauen genügt. Im Ostblock basteln Wissenschaftler bereits mit teuflischer Akribie am neuen Supermenschen: Dopingmittel werden bis hinunter in die Jugendkader erforscht und eingesetzt.

Für dieses System steht in der DDR der Staatsplan 14.25, der nach dem Mauerfall öffentlich einsehbar wird. Zwar unterhält auch die Sowjetunion, rechtzeitig für die Spiele 1980, ein Staatsdopingsystem, wie ein KGB-Mitarbeiter berichtet.[21] Doch anders als die Akten der Stasi werden die der Sowjets nie geöffnet, um das System in all seinen Tiefen auszuleuchten. Gleichwohl weiß schon in den 1970er- und 1980er-Jahren jeder Beobachter im Sport, was es heißt, wenn gut rasierte Frauenteams der Sowjet- oder DDR-Verbände mit tiefen Stimmen Medaillen abräumen. »Die sollen nicht singen, sondern siegen«, sagte einmal ein Funktionär der DDR-Schwimmerinnen.

Dassler ist klar: Wer die Macht im Weltsport anstrebt, braucht die Sowjets als Partner. Aber die Vergabe der Sommerspiele an Moskau ruft nicht nur seine Turnschuh-CIA auf den Plan, sondern auch den sowjetischen Geheimdienst KGB. Der hat den Sport als wichtige Bühne des Kalten Krieges schon lange im Visier; zu Olympischen Spielen entsendet er seine eigene Delegation, allein in Montreal 1976 sind 13KGB-Agenten anwesend, getarnt als Touristen, Delegierte und Journalisten.[22]

Aber der Zuschlag für die Moskau-Spiele hebt all diese Vorkehrungen auf ein neues Level. 1977 wird in der fünften Hauptverwaltung des KGB, die unter Leitung des berüchtigten Geheimdienstlers Filip Bobkow bisher vor allem für die Unterdrückung der Opposition und den Kampf gegen Dissidenten zuständig ist, eine neue Abteilung eingerichtet. Sie soll sich um die Sicherung der Spiele und die Abwehr subversiver Attacken des kapitalistischen Klassenfeinds kümmern: die Abteilung Nummer elf – mit vollem Rückenwind des Ministerrates der UdSSR. Denn der beschließt bald, eingedenk des enormen vorolympischen Spionage- und Arbeitsaufwands, das Personal dieser neuen elften Abteilung auf 400 Mitarbeiter zu erhöhen.[23]

Die Elfte – sie kümmert sich fortan um alles, was im internationalen Sport abläuft. Bis zu den Spielen in Moskau und auch danach. Hunderte Quellen rekrutiert sie: Sportler, Trainer und vor allem Funktionäre. »Fast jeder tat alles dafür, reisen zu dürfen«, heißt es in einem Buch, das der frühere KGB-Offizier Wladimir Popow gemeinsam mit dem Geheimdienstexperten Juri Felschtinski verfasst hat, über die Verbandsvertreter.[24] Zu den Rekrutierten gehören nach ihren Darlegungen solche, die den russischen Sport entscheidend prägen. Zum Beispiel der langjährige IOC-Vizepräsident und -Doyen Witalij Smirnow; der Tennistrainer und -funktionär Schamil Tarpischtschew, der in den 1990er-Jahren ins IOC einrückt; oder der nationale Olympiachef Leonid Tjagatschow (Deckname: Elbrus), der den eigenen Geheimdienstlern negativ auffällt, als in eingeführten Skiboxen plötzlich 200 westliche Bluejeans auftauchen.[25]

Als einer der Ersten aber gerät in den Fokus dieser elften Abteilung des KGB ein Mann, der sich so unermüdlich um Geschäfte mit dem sowjetischen Riesenreich kümmert: Horst Dassler. Natürlich hätte der KGB den Adidas-Boss am liebsten als Mitarbeiter gewonnen, wie der frühere KGB-Oberstleutnant Popow in einem Gespräch mit den Autoren dieses Buches bestätigt. Popow hat seit 1972 für den Geheimdienst gearbeitet, seit der Gründung der speziellen Sportabteilung 1977 als Offizier in diesem Bereich und in den Jahren danach zahlreiche Quellen aus der Welt des Sports betreut. Aber bald zeigt sich, dass Dasslers Dreistigkeit, sein Einfallsreichtum im Umgang mit Schmiermitteln sogar den sowjetischen Geheimdienst zu ungewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen zwingt.

Eigentlich ist die zweite Hauptverwaltung des KGB für die Beobachtung und Kontrolle ausländischer Firmen zuständig. Aber in diesem Fall, so Popow, erteilt der Chef der fünften Hauptverwaltung persönlich seinen Sportleuten in der elften Abteilung den Auftrag zur Überwachung von Adidas.[26] Der Chef der dortigen zweiten Unterabteilung sucht einen seiner Agenten aus. Aber dieser muss mit seinen gesammelten Informationen einen Umweg gehen, bei dem die strengen Regeln des KGB ignoriert werden, wie Popow notiert. Denn der Agent informiert weder den Leiter der Unterabteilung noch den Abteilungsleiter, er wendet sich direkt an den Chef der fünften Hauptverwaltung. Das ist Filip Bobkow, einer der mächtigsten Männer des KGB aus dem direkten Führungszirkel um Geheimdienstchef Juri Andropow. Die Berichterstattung erfolgt, »ohne dass seine unmittelbaren Vorgesetzten Kenntnis von den Ergebnissen seiner Berichte und den erhaltenen mündlichen Anweisungen hatten«, heißt es in den KGB-Notizen.

Der Grund für diesen internen Irrgartenlauf laut Popow: Bobkow benutzt Adidas, um kompromittierendes Material über den wichtigsten Mann des Landes zu sammeln. Über Leonid Breschnew, Generalsekretär der Kommunistischen Partei und Vorsitzender des Obersten Sowjets. Ein Balanceakt auf dem Hochseil. Nach den neuen Erkenntnissen erhält der Staatschef also »von Horst Dassler regelmäßig wertvolle Geschenke, zum Beispiel einen lebensgroßen Abdruck eines Fußballschuhs aus Gold«[27] – vor der Unterzeichnung des großen Vertrags mit den Sowjets. Sogar ein Foto der Geschenkübergabe an Breschnew soll der Akte beigelegt sein. Demnach ist ein westlicher Industrieller bis an die Kreml-Spitze vorgedrungen.

Der für den Spezialauftrag zuständige Geheimagent macht später Karriere: In den Nullerjahren, als der frühere KGB-Mann Wladimir Putin seine erste Amtszeit als Präsident antritt und die Führung des Landes mit KGB-Getreuen durchsetzt, wird er Sekretär in der Duma, dem russischen Parlament. Und als der russische Dopingskandal die Welt erschüttert und das IOC so fürsorglich mit den Tätern verfährt, wird der einstige Sportspion ein neues Amt im Sport bekleiden: als Senior-Berater des Präsidenten des nationalen Olympiakomitees. Weil er so viel stilles Wissen über Westfunktionäre hat? Eine Anfrage zu den minutiös dokumentierten Vorgängen beantwortet er nicht.

Dassler ist in der Sowjetunion seinerseits auf der Hut. Er weiß, dass jedes Wort, jeder Schritt protokolliert wird, sobald ihn am Moskauer Flughafen eine Staatslimousine mit Standarte und dem vertrauten Chauffeur empfängt und am Zoll vorbei auf der für Funktionäre freien Mittelspur ins Hotel bringt – so zuvorkommend, wie er es selbst gern hält, wenn er in seinen Unterkünften die Führer des Sports empfängt und ausforscht. Im Sporthotel in Herzogenaurach – wo Gäste aus den USA einmal rein zufällig herausfinden, dass sie bespitzelt werden – ist die Abhöranlage mit dem Zimmerradio verbunden.[28] Nicht nur Horst, auch andere Teile der Familie sind offenkundig vom Fach. Deshalb hält Dassler auch seine Mitarbeiter im Osten zu allergrößter Vorsicht an. Will er in der Moskauer Hotelsuite wichtige Dinge besprechen, dirigiert er Gesprächspartner ins Badezimmer und lässt dort währenddessen Wasser in die Wanne laufen.[29]

Ex-KGBler Popow, der heute in Nordamerika lebt, schmunzelt im Gespräch mit den Autoren über solche Vorkehrungen. In den Hotelzimmern seien Kameras installiert gewesen, im Badezimmer, im Fernseher, nicht nur dort – und wenn etwas nicht zu verstehen war, dann wurden Lippenleser eingesetzt. So wie später auch beim Nachfolgegeheimdienst FSB, der nach dem Kollaps der Sowjetunion den KGB ablöste. Personen von Interesse erhielten in Hotels spezielle Zimmer, die sogenannten »Plus-Zimmer«, ausgestattet mit Überwachungskameras, Mikrofonen, Telefonabhörsystemen. So hatten die Spitzel die Kontrolle über das Geschehen in diesen Räumen. Alles wurde aufgezeichnet und so analysiert, dass der Sicherheitsdienst diese Informationen nutzen konnte. Manchmal auch für Erpressungen.

Die Zusammenarbeit zwischen Dassler und der Sowjetführung entwickelt sich so gut, dass der Adidas-Mann bald wie ein Berater dient, der über die Boykottszenarien und die Stimmung in den westlichen Ländern berichtet. Die Bande werden so eng, dass Dassler jederzeit an allen geltenden Regeln und Visabestimmungen vorbei hinter den Eisernen Vorhang reisen kann – wie ein Staatsgast, ein hoher Diplomat. Die Sowjets haben rasch herausgefunden, dass mit diesem Dassler jeder Pakt zu machen ist. Und diese Nähe mündet nun in einer spektakulären Personalie. In der Wahl des neuen IOC-Präsidenten.

Der KGB bastelt sich einen IOC-Präsidenten

Den Mann, der dafür infrage kommt, kennt Horst Dassler seit Mitte der 1970er-Jahre. Zusammengebracht hat sie der Elsässer Christian Jannette, der für Adidas viel als Sportagent im Osten unterwegs ist, oft mit seinem Boss. Der Mann der Wahl von Dassler und den Sowjets ist ein Spanier mit heikler Vita. Juan Antonio Samaranch wurde 1920 in eine reiche Textildynastie in Barcelona geboren. Obwohl Katalane, begeisterte er sich früh für General Francisco Franco, mit dem er später eng befreundet war. In Francos Günstlingswirtschaft brachte es der »hundertprozentige Anhänger« zum Sport-Staatssekretär und katalanischen Regionalpräsidenten. Nach Francos Tod 1976 jagten ihn seine eigenen Landsleute mit Sprechchören – »Samaranch, fot e camp!« (»Samaranch, hau ab!«) – aus dem Amtssitz. Den er durch den Hinterausgang verließ, ein traumatisierender Abgang.

Samaranch räumt selbst ein, er sei damals in der Heimat »politisch und gesellschaftlich«[30] erledigt gewesen. Deshalb besinnt er sich auf einen Karriereweg, der noch offensteht: im IOC. Schon seit 1966 ist er dort Mitglied auf Lebenszeit und er bringt sich frühzeitig im Vorstand in Stellung. Als er Spanien nach dem Tod Francos wegen massiver Kritik an seiner Beziehung zum Generalissimus verlassen muss, schlägt er den bequemen Botschafterposten in Wien aus – und besteht auf dem Amt im frostigen Moskau. Kein schöner Platz zur Hochphase des Kalten Krieges. Aber einer mit Zukunft: Die Sommerspiele 1980 finden dort statt.

In Moskau treffen sich der klandestine Handlungsreisende Dassler und Samaranch wieder. Die Festgelage, die Samaranch und seine Societygestählte Gattin Bibi für die Paladine des Kreml geben, werden legendär. So legendär wie Samaranchs Passion, wertvolle Exemplare russischer Kunst und Antiquitäten zu sammeln. Sie wird ihm zum Verhängnis. Denn auch ihm ist der KGB bald auf der Spur.

Samaranch hat ein Faible für die Arbeiten von Ilja Glasunow, einem der berühmtesten Maler der Sowjetunion, der sich später auch in Putins Dienste stellt. Glasunow wird beim KGB ebenfalls als Zuträger geführt;[31] in seinem Domizil betreibt er einen Kunst- und Literatursalon, der sehr beliebt ist bei der sowjetischen kreativen Elite und bei Ausländern. Zu den ständigen Besuchern zählt laut dem früheren Führungsoffizier Popow auch der spanische Botschafter in der UdSSR: Juan Antonio Samaranch. Der Schriftsteller Leonid Borodin, ebenfalls häufig in Glasunows geselliger Runde anzutreffen, erinnert sich an Samaranch, der »äußerlich kein sehr angenehmer Mensch war und hin und wieder subtil seine ›pro Franco‹-Gesinnung andeutete«.[32]

KGB-Mann Popow und der renommierte Historiker Juri Felschtinski hatten Samaranchs Anwerbung schon in ihrem Werk Der KGB setzt matt2009 offengelegt.[33] In ihrem neuen Buch Vom roten Terror zum Terrorstaat berichten sie nun noch detaillierter, wie der Künstler und KGB-Köder Glasunow seinen Bewunderer Samaranch umgarnte. 1978 porträtiert er Samaranch sogar vor dem Hintergrund russischer Ikonen, auch ein Porträt der Gattin entsteht, vor dem Hintergrund eines Moskauer Klosters. Popow und Felschtinski vermuten, Glasunow habe den kunstbeflissenen Spanier »süchtig« nach Artefakten gemacht. Jedenfalls erwirbt Samaranch einige davon und schmuggelt sie aus der UdSSR in seine Heimat.

Das ist hoch riskant. Die Ausfuhr von Ikonen, Gemälden und anderen Gegenständen von kulturellem und historischem Wert ist streng untersagt. Doch das Verbot kann umgangen werden, wenn man die Diplomatenpost nutzen kann, die keiner Zollkontrolle unterliegt. Weil aber zu Sowjetzeiten alle Antiquitäten vom KGB streng überwacht werden, fällt Samaranch trotzdem bald als eifriger Aufkäufer immer wertvollerer Raritäten auf, die ins Ausland verschwinden.

Eines Tages stellt sich ihm ein KGB-Agent vor. Er kommt aus der dritten Abteilung der zweiten Hauptverwaltung, die unter anderem die spanische Botschaft überwacht. Der Beamte macht Samaranch klar, dass dessen Handlungen gemäß Strafgesetzbuch der sowjetischen Föderation strafrechtlich verfolgt würden. Und jetzt wird der Spanier laut KGB-Darlegung vor die Wahl gestellt: entweder die totale Kompromittierung durch eine Veröffentlichung der unlauteren Vorgänge in der sowjetischen und ausländischen Presse, die seine rechtswidrigen Aktivitäten detailliert weiterverbreiten – das würde die Diplomatenkarriere sofort beenden und die im Sport stark abbremsen, zumal in Hinblick auf die nahenden Spiele und die IOC-Präsidentschaftswahlen in Moskau. Oder: Er arbeitet als geheimer Informant mit dem KGB zusammen. Eng und vertrauensvoll. Immer dann, wenn es wichtige Vorgänge oder neue Wissensstände gibt. Samaranch entscheidet sich für die Kooperation und wird vom sowjetischen Geheimdienst rekrutiert. So steht es in den KGB-Papieren. Samaranch selbst hat es stets dementiert.

Jetzt haben die Urkräfte zusammengefunden, die fortan den olympischen Sport führen werden: der deutsche Strippenzieher, der spanische Kommerzrevolutionär und der sowjetische Geheimdienst.

Am 16. Juli 1980 wird dieses Werk gekrönt. Im Moskauer Haus der Gewerkschaften, kurz vor Eröffnung der von den USA, Deutschland und anderen westlichen Staaten boykottierten Spiele, ist Samaranchs Kandidatur ein Selbstläufer. Der Spanier gewinnt den Kampf um die Nachfolge des britischen Lords Michael Killanin mit 44IOC-Stimmen gegen den Schweizer Marc Hodler (21), James Worrall aus Kanada (7) und den Deutschen Willi Daume (5).

Wie das genau abläuft? Adidas-Patron Dassler lässt kurz vor der Wahl im Ringe-Plauderblättchen Olympic Review die Maske fallen.[34] Nach dem üblichen Kotau vor Pierre de Coubertin, dem Wiederbeleber der Spiele und der olympischen Idee in der Neuzeit, plädiert er dafür, den alten Kalenderspruch vom gesunden Geist im gesunden Körper durch ein neues Motto zu ersetzen: »Ein Vogel in der Hand ist besser als zwei im Busch!« Der Sport brauche ab sofort Sponsoren, der Verkauf von Tickets und TV-Rechten reiche nicht mehr. Er verweist auf den Fußball, den er ja schon umgemodelt hat: Der kassiere »jetzt mehr Geld von Sponsoren als vom Fernsehen«. Zu diesen neuen Ufern müsse auch das IOC aufbrechen.

Im IOC spielt Dassler den Königsmacher: In der Nacht vor Samaranchs Wahl gleiten Kuverts unter Moskauer Hoteltüren durch, befüllt hauptsächlich von seinen Leuten. Ihm zur Seite werkelt ein anderer Geheimdienstler, ein französischer Agent, mit dem er vor allem über die Firma Le Coq Sportif eng verbandelt ist: André Guelfi, gebürtiger Marokkaner und schillernder Geschäftsmann mit besten Drähten in hohe Pariser Kreise. »Wir beide«, sagt der Franzose über die gemeinsame Zeit mit Dassler, »wir griffen nach der Weltherrschaft.«[35]

In seinen Memoiren schildert Guelfi später präzise die Tage von Moskau.[36] So habe der Schweizer Hodler kurz vor der Kür Dassler um Unterstützung gebeten – nicht ahnend, dass der sich schon mit Samaranch verbrüdert hat. Auf Wunsch übergibt er Dassler eine Liste mit Namen, die er hinter sich wisse. Guelfi zieht mit dieser Liste los. »Ich konnte fast alle überzeugen, ihr Votum zu ändern. Samaranch wurde mit einer sauberen Mehrheit gewählt«, schreibt er. Seine Gegenleistung sei es gewesen, die Teams aus den Ländern des jeweiligen IOC-Mitglieds über seine Sportfirma gratis auszustatten.

Der scheidende Amtsinhaber, Lord Killanin, rügt das neue Problem offen: Das Präsidentenamt solle »nicht käuflich« sein. Doch auch der Lord erkennt die sportpolitischen Rollkommandos erst, als sie schon da sind. Rückblickend moniert er »eine wachsende Tendenz, sich Posten durch Gunstbezeugungen zu erschleichen«.[37]

Auch der KGB steuert seinen Teil bei zur olympischen Wahlmanipulation. Die fünfte Hauptverwaltung hat den Hut auf, Offizier Popow verschickt ein Telegramm an die lieben »Freunde«, die Staatssicherheitsorgane der anderen Ostblockländer.[38] Darin wird verfügt, alle ausländischen Agenten, die in den Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und den olympischen Sportverbänden tätig sind, über die Notwendigkeit zu informieren, SamaranchsIOC-Kandidatur weltweit zu unterstützen. Unterzeichnet ist das Telegramm vom stellvertretenden KGB-Chef Viktor Tschebrikow.

Dabei wird natürlich nicht enthüllt, dass Samaranch ein eigener Agent ist. Das hätte gegen die Vorgaben der Staatssicherheit verstoßen. Es wird nur mitgeteilt, dass er von der UdSSR unterstützt werde – und um Mithilfe der internationalen »Freunde« in den Sportverbänden und Olympiakomitees gebeten. So kommen die 44 Stimmen schnell zusammen. Damit ist der erste IOC-Präsident Marke Eigenbau in den Kremlakten verbrieft.

Samaranch, bekundet Agent Popow, habe dem Land, das ihn gemeinsam mit Dasslers Geldbriefträgern zum IOC-Boss gemacht habe, dann auch »loyal gedient«. Er sei als »sowjetischer Sportgeneral« geführt worden. Als ihn 2017 skandinavische Journalisten in Kanada zur genauen Tätigkeit Samaranchs für den KGB befragten, erklärte Popow: »Die zweite Hauptverwaltung arbeitete mit ihm zusammen, aber ich weiß, dass er Zugang zu streng geheimen Telegrammen hatte, die er vom spanischen Außenminister erhielt, und dass er Kontakt zu Botschaftern bei der Nato hatte [Spanien wurde 1982 Nato-Mitglied; Anm. d.V.]. Allerdings weiß ich nicht genau, was er getan hat.«[39]

Samaranch hat eine Geheimdienst-Tätigkeit zu Lebzeiten – er verstarb 2010 – stets bestritten. KGB-Überläufer Popow berichtet, dass er nach der Publikation seines mit dem Geheimdienstexperten Felschtinski verfassten Buchs aus dem Umfeld Samaranchs Klageandrohungen erhalten habe. Das IOC wies die geschilderten Vorgänge stets als »unbegründete Gerüchte« zurück. Aber mehr, so Popow, sei nicht passiert, tatsächlich bleibt er ja bis heute »bei meinen Fakten«, wie er sagt.

Dass Samaranch mitspielt, legt eine Betrachtung seiner Amtszeit nahe. Er bleibt dem Kreml und den russischen Interessen all die Jahre verbunden. Russische Kreise verweisen bis heute darauf, wie er den Plan unterstützte, dem Land nach den Sommerspielen von Moskau auch noch Winterspiele zu besorgen. Leningrad, das spätere Sankt Petersburg, war vorgesehen, dann veränderten Michail Gorbatschow als neuer Staatschef und die Perestroika die Rahmenbedingungen. Aber noch als Ehrenpräsident, mit 87 Jahren, setzt Samaranch im Juli 2007 all seine Kräfte dafür ein, dass Sotschi die Winterspiele 2014 erhält. Diese Intervention wird entscheidend sein. Wir kommen später darauf zurück.

Samaranch hat auch Drähte zur sowjetischen Staatssicherheit auf höchster Ebene eingeräumt. Seinem britischen Biografen David Miller sagte er, er habe »Juri Andropow in meiner Zeit als Botschafter kennengelernt, als er Chef des KGB war«[40] – also zu der Zeit, als der Chef der fünften KGB-Hauptverwaltung den Auftrag gab, Adidas zu bespitzeln, und die zweite KGB-Hauptverwaltung Samaranch als Spitzel gewann. Wenig später, Anfang der Achtzigerjahre, rückte Andropow selbst zum Parteichef und Staatsoberhaupt auf.

In Millers Buch kommen weitere Genossen zu Wort. Das rumänische IOC-Mitglied Alexandru Siperco schwärmt: In Moskau war Juan Antonio »unser Iwan Antonowitsch für viele Russen und ihre kommunistischen Verbündeten«. Nur Lob findet auch der Genosse Witalij Smirnow. Der war Sportminister in der Sowjetunion und in der russischen Föderation, und offenkundig ebenfalls ein KGB-Agent. Laut Popow war er neben vielen anderen prominenten russischen Sportfunktionären kurz vor Samaranch von Generalmajor Iwan Abramow rekrutiert worden – wozu Smirnow selbst vielsagend sagte, er habe »nie im KGB gearbeitet«.[41]

Smirnow gehörte dem IOC dennoch 45 Jahre an, von 1971 bis 2016, sogar den Bestechungsskandal um die Vergabe der Spiele nach Salt Lake City überlebte er achselzuckend – obwohl ihm viele geldwerte Vergünstigungen gewährt worden sind. Er zählt zu den dunkelsten Eminenzen des Olymps. Smirnow war von Samaranchs persönlicher Entwicklung begeistert: »Er hatte begonnen, die sowjetische Mentalität zu verstehen. Er hätte eine gute politische Karriere machen können!«

Den sichtbaren Teil seiner Karriere macht Samaranch nicht im Kreml, sondern im IOC-Schlösschen Château de Vidy am Genfer See – wobei die Moskauer Zeit sein Verhalten prägt. Ständig hat er Angst vor Abhöraktionen, seine Zimmer im Hotel lässt er regelmäßig untersuchen, und wichtige Gespräche führt er lieber im Garten. Schon in Moskau ist er gern plaudernd durch die Straßen flaniert.[42]

Samaranch ist ein Mann mit vielen Motiven. Ins klandestine Milieu dieser Zeit passen auch andere Passionen, abseits des KGB. Da ist vor allem seine Nähe zu und mutmaßliche Mitgliedschaft bei »Opus Dei« (Werk Gottes). Das ist eine erzkonservative katholische Gemeinschaft, in Spanien gegründet von Francos Beichtvater Josemaría Escrivá de Balaguer, im Ursprungsland auch gern als die »katholische Mafia« deklariert. Deren Macht ist im Schatten der Franco-Diktatur entstanden und gewachsen; das Gros der Wirtschaftsführer und phasenweise die halbe Regierung gehörten diesem geheimen Bund an.

Samaranch hat einst die Eliteakademie des Werkes besucht, das Instituto de Estudios Superiores de la Empresa in Barcelona, er ist einer der ersten Absolventen. Der Opus-Dei-Experte Robert Hutchison benennt Samaranch als Supernumerarier der Organisation, wie die weltlichen Mitglieder heißen. In seinem Standardwerk Die heilige Mafia des Papstes schreibt er, in der Zeit des Kalten Krieges dürfte »der Supernumerarier Samaranch das Opus Dei über die Aktivitäten der Sowjets auf dem Laufenden« gehalten haben.[43]

So vieles ist im Nebel, es muss dort bleiben. Samaranch hat das Wissen auch um dieses geheimnisvolle Treiben mit ins Grab genommen. Denn das Opus Dei pflegt, zumindest zu seiner Zeit, ein allumfassendes Schweigegebot wie jeder starke Geheimdienst, vor allem der KGB. Und im IOC wird unter Samaranchs Führung das Schweigen zur ersten Pflicht eines jeden Ringe-Vertreters erhoben.

Der Vollstrecker des Paten

Kaum ist Samaranch im Sommer 1980 im Amt, krempelt er nach Dasslers Wünschen die Verbände um – und das IOC. Es beginnt das Zeitalter der Kommerzialisierung. Unter dem KGB- und Opus-Dei-Mann schafft das IOC sogleich, beim Kongress in Baden-Baden 1981, die Amateursportlerregelung ab und lässt Profis zu den Wettbewerben zu. Es geht schnell voran. 1982 gründet Dassler das berüchtigte Unternehmen ISL (International Sport and Leisure). Es entwickelt maßgeschneiderte Marketingprogramme für allerlei Verbände und Großveranstaltungen – und vor allem, zur Sicherung der Geschäftshoheit, ihr berüchtigtes Kickbacksystem. Das fliegt allerdings erst 20 Jahre später auf: Mindestens 142 Millionen Franken Schmiergeld hat die ISL allein zwischen 1989 und 2001 unter den Sportfunktionären verteilt. Kaum einer stellt sich in den Weg, als für die olympische Welt das sogenannte TOP-Programm (The Olympic Partnership) entsteht.

Samaranch liefert noch etwas anderes bei Dassler ab: die Spiele. Denn der Turnschuhpate hat der südkoreanischen Hauptstadt Seoul die Sommerspiele 1988 versprochen, weil Adidas dort, wie zuvor in der Sowjetunion, die alles beherrschende Marke werden soll. Als Topfavorit steht damals Nagoya im Ring. Und die japanische Stadt hat klar die besseren Karten gegenüber der Seouler Militärdiktatur auf dem benachbarten Festland, die noch dazu im Dauerclinch mit ihrem Feind im Norden liegt, dem kommunistischen Nordkorea.

Für Dassler ist das ein Problem. Japans Wirtschaft ist stark, und in der Marke Mizuno hat sie selbst einen aufstrebenden Sportausrüsterkonzern. Der Strippenzieher schaltet alle seine Drähte zusammen – und er schafft es mit den üblichen Methoden und insbesondere dank seiner Ostblock-Heerscharen, die Spiele nach Seoul zu dirigieren. So ist es auch in koreanischen Büchern festgehalten. »Dasslers Unterstützung war von unschätzbarem Wert, um die Unterstützung von den IOC-Mitgliedern aus kommunistischen Ländern zu erhalten, die Seoul selbst nicht erreichen konnte«, heißt es in einer Heldenschrift des koreanischen Olympiakomitees.[44]

Auch sich selbst vergisst Samaranch nicht. Die Vergabe der Sommerspiele 1992 an Barcelona ermöglicht ihm die versöhnliche Rückkehr in seine Heimatstadt. Weichen muss dafür ein anderer Topfavorit: Paris. Als kleine Morgengabe für die massiv verstimmten Franzosen wird ihnen Albertville als Winterspielort zugeschanzt. In der Bewerbungsphase für Barcelonas Kür füllen sich die Flure der Funktionärsgewaltigen plötzlich mit jeder Menge Bewerbungsagenten. Unterhändler, die Wohltaten versprechen und verteilen und die jene Dossiers über Finanzlage, Vorlieben und Neigungen der IOC-Mitglieder anzulegen beginnen, die fortan von einem Bewerbungszyklus zum nächsten weitergereicht werden; ergänzt um die Daten nachrückender Olympier. Für den langjährigen IOC-Vize Robert Helmick ist diese Vergabe der Moment, in dem die »Kultur der Korruption« Einzug hält in die olympische Welt.[45]

Samaranch, der glühende Franquist, der Briefe an die Kollegen Sportfunktionäre lange Zeit mit dem Satz »Ich grüße Sie mit erhobenem Arm« beendete,[46] weiß, dass er für die radikale Kommerzialisierung des Sports sein Komitee umkrempeln muss. Er schafft ein Gebilde, das fortan Familie heißen wird – so bezeichnet sich übrigens auch das Opus Dei. Das Gotteswerk, das auch sonst in manchem wie eine Inspiration und ein Vorbild für SamaranchsIOC wirkt.

Der Gründer Escrivá gibt in seiner Schrift