Figuration, Anschauung, Erkenntnis. - Sybille Krämer - E-Book

Figuration, Anschauung, Erkenntnis. E-Book

Sybille Krämer

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Beschreibung

In unserer dreidimensionalen Welt sind wir umgeben von bebilderten und beschrifteten Flächen. Welche Rolle spielt die »Kulturtechnik der Verflachung« in unseren Wissenspraktiken? Worin besteht die kognitive Kreativität von Tabellen, Texten, Diagrammen und Karten, die für Erkenntnis und Wissenschaft unverzichtbar sind? Sybille Krämer untersucht, wie synoptische Anordnungen zu Denkzeugen werden. Sie analysiert die Erkenntniskraft der Linie als Wurzel eines diagrammatischen Denkens, dessen Spuren sich schon in den Erkenntnistheorien von Platon, Descartes, Kant und Wittgenstein sichern lassen. So entstehen die Konturen einer Diagrammatologie, in deren Rahmen sich die Orientierungsleistung und Imaginationskraft sichtbarer, räumlicher Schemata für das Erkennen erforschen lassen.

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2In unserer dreidimensionalen Welt sind wir umgeben von bebilderten und beschrifteten Flächen. Welche Rolle spielt die »Kulturtechnik der Verflachung« in unseren Wissenspraktiken? Worin besteht die kognitive Kreativität von Tabellen, Texten, Diagrammen und Karten, die für Erkenntnis und Wissenschaft unverzichtbar sind? Sybille Krämer untersucht, wie synoptische Anordnungen zu Denkzeugen werden. Sie analysiert die Erkenntniskraft der Linie als Wurzel eines diagrammatischen Denkens, dessen Spuren sich schon in den Erkenntnistheorien von Platon, Descartes, Kant und Wittgenstein sichern lassen. So entstehen die Konturen einer Diagrammatologie, in deren Rahmen sich die Orientierungsleistung und Imaginationskraft sichtbarer, räumlicher Schemata für das Erkennen erforschen lassen.

Sybille Krämer ist Professorin für Philosophie am Institut für Philosophie der Freien Universität Berlin. Im Suhrkamp Verlag sind zuletzt von ihr erschienen: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität (2008); Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts (stw 1521).

3Sybille Krämer

Figuration, Anschauung, Erkenntnis

Grundlinien einer Diagrammatologie

Mit zahlreichen Abbildungen

Suhrkamp

4Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der folgende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2176.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© Sybille Krämer

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau gerahmten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

eISBN 978-3-518-74467-3

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Vorwort

1. »Spielfelder« des Denkens und Erkennens? Eine Hinführung

I. Diagrammatik

2. Diagramm-Miniaturen: nicht mehr als ein Album

2.1. Sternbilder

2.2. Zahlenbilder

2.3. Beweisbilder

2.4. Bewegungsbilder

2.5. Datenbilder

2.6. Fehldiagramme, Irrtumsbilder

2.7. Unmögliche Objekte

3. Eine »Grammmatik« der Diagrammatik?

4. Leitidee: ein »kartographischer Impuls«

5. Aisthesis und Erkenntnispotenzial der Linie

5.1. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Linie

5.2. Die Linie als Konstitution oder Konstruktion

5.3. Bewegungslinie und Verbindungslinie

5.4. Abbild und Entwurf

5.4.1. Abbild

5.4.2. Entwurfslinie

5.5. Kulturtechnische Grundlagen der Linie: Faden und Stab

5.5.1. Faden

5.5.2. Stab

5.5.2.1 Maßstab

5.5.2.2 Gnomon

II. Diagrammatologie

6. Platon: Das Denken richtet sich aus. Urszenen des Diagrammatischen

6.1. Das Liniengleichnis (Politeia 509d-511e)

6.1.1. Das Liniengleichnis: eine Realzeichnung?

6.1.2. Die Unterscheidung von Phänomenalem und Intelligiblem, von Abbild und Urbild

6.1.3. Die mathematischen Gegenstände als intermediäre Objekte?

6.1.4. Erkennen als Weg: das Denken »richtet sich aus«

6.2. Die Menon-Szene: Wie ein Sklavenjunge mathematisches Wissen erwirbt (82b-85b)

6.2.1. Versuch und Irrtum: die Korrekturfunktion der Zeichnung

6.2.2. Prozedurales Wissen durch den Umgang mit Diagrammen

6.3. Die Dihairesis

6.4. Zur Räumlichkeit des Denkens: über implizite und explizite diagrammatische Dimensionen im Philosophieren Platons. Ein Resümee

7. Descartes: Die Erkenntniskraft der Linie

7.1. Musicae Compendium

7.1.1. Die Vornotizen

7.1.2. Musikdiagrammatik

7.1.3. Cartesischer Geist in Keimform

7.2. Die Lösung physikalischer Probleme durch geometrische Figuration: Das Beispiel des fallenden Körpers aus den Cogitationes Privatae

7.3. Descartes’ Analytische Geometrie

7.3.1. Die Wiedervereinigung von Geometrie und Arithmetik

7.3.2. Algebra der Linie

7.4. Meteorologie

7.5. Zur Visualität des cartesischen Erkenntnisprogramms

7.5.1. Imagination

7.5.2. Intuition und Deduktion

7.5.3. Serialisierung als Leitbild der Methodik

7.5.4. Mathesis universalis

7.6. Denken und Anschauung beim frühen Descartes. Ein Resümee

8. Kant: Denkorientierung durch Anschauung

8.1. Richtung und Orientierung. Über eine raumphilosophische Entdeckung Kants

8.1.1. Konkurrierende Raumkonzepte

8.1.2. Die Unterscheidung von »Lage« und »Gegend«

8.1.3. Inkongruente Gegenstücke

8.1.4. Orientiertheit und Anschauungsfundierung der Räumlichkeit

8.2. Schema und Schematismus

8.2.1. Die Ausgangsfrage

8.2.2. Schematismus als Vermittlung zwischen Begriff und Anschauung

8.2.3. Vier Aspekte der Schematisierung

8.3. Raum, Anschauung, Mathematik

8.3.1. Über die nicht-empirische Anschauung: Einzelheit versus Unmittelbarkeit?

8.3.2. Kants Beispiel: Die Winkelsumme im Dreieck

8.3.3. Anschauung und Allgemeingültigkeit

8.3.4. Anschaulichkeit in der kantischen Mathematikkonzeption: ein Resümee

9. Wittgenstein: Grammatik als Diagrammatik

9.1. Ein diagrammatischer Grundzug bei Wittgenstein?

9.2. Von der technischen Zeichnung über die Notation zum Diagramm

9.3. Was bedeutet »Projektion«?

9.4. Von der Abbildung zur »übersichtlichen Darstellung«

9.5. Was heißt »übersichtliche Darstellung«?

9.5.1. Sich-Auskennen im Sprachgebrauch: Das Projekt einer philosophischen Grammatik

9.5.2. Synopsis statt historisch-kausale Erklärung: Wittgensteins Bemerkungen zu Frazer

9.5.3. Nichts liegt hinter den Phänomenen: Wittgensteins morphologische Methode im Anknüpfen an Goethe

9.5.4. Der Beweis ist ein Bild: Wittgensteins figurative Interpretation mathematischer Beweise

9.6. Labyrinth und Orientierung: ein Resümee

Literaturverzeichnis

9Vorwort

Über Jahre, viel zu viele Jahre entstand dieses Buch, denn der akademische Betrieb ist der Muße zurückgezogener Schreibarbeit wenig gewogen. Die Paradoxie unserer universitären Situation, in der die Fruchtbarkeit und Anregungskraft der eigenen Forschung dazu führt, dass die Zeit für neue Forschung rapide schwindet, ist kaum auflösbar. Und so waren es Fellowships, die mir die kostbaren Stunden des Schreibens schenkten. Daher danke ich dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien, dem Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) an der Bauhaus-Universität Weimar sowie der DFG-Kollegforschergruppe Medienkulturen der Computersimulation (MECS) an der Leuphana Universität Lüneburg für die Gewährung von Zeiträumen zurückgezogener Arbeit.

Solvej Hartmann und Philipp Linß danke ich für die Formatierungsarbeit am Manuskript und an den Abbildungen und Jan-Erik Strasser für das sorgfältige Lektorat.

111. »Spielfelder« des Denkens und Erkennens? Eine Hinführung

Wir fangen einen durch die Luft fliegenden Ball. Keine Frage: Hirn, Auge und Hand sind hierbei vonnöten; Sensorik, Motorik und Kognition arbeiten dabei in Feinabstimmung. Das Fangen von Bällen ist eine körperliche Kompetenz: Nicht nur, weil unser Körper dabei in Aktion ist, sondern auch, weil der »Zugriff« auf den Ball sich innerhalb der Körperwelt vollzieht: Der Ball ist ein berührbares Ding, und unsere leiblichen Hände, mit denen wir ihn ergreifen, sind zwar keine Dinge für uns, aber als Teile unseres Körpers »zuhanden«. Bälle fangend bewegen wir uns im Materialitätskontinuum der Welt, innerhalb von dem, was raum-zeitlich situiert, also wahrnehmbar und berührbar ist.

Stellen wir uns vor, wir könnten geistige Kompetenzen erwerben und befördern, indem das gelungene Zugreifen in der Welt der Körperdinge fruchtbar gemacht wird für das Verhalten in der Welt der Wissensgegenstände: Theoretische Entitäten sind das, was sie sind, weil sie nicht raum-zeitlich situiert, nicht sinnlich wahrnehmbar, nicht zu ergreifen sind. Und doch: Der Kunstgriff, von dem der menschliche Geist – jedenfalls ist das unsere Vermutung – zehrt und beflügelt wird, besteht (auch) darin, abstrakten Entitäten körperliche Surrogate zu verschaffen und sie damit hineinzuholen in die raum-zeitlich situierte, materielle Welt, so dass wir sie in dieser ihrer verkörperten Form eben nicht nur präsentieren, speichern und zirkulieren, sondern vor allem auch explorieren und erforschen können. So werden reale, aber als körperliche Anhaltspunkte fungierende Gegenstände zu Passierstellen, um eine Beziehung aufzunehmen zu abwesenden und vor allem: zu »rein« geistigen Objekten. Es ist nicht abwegig zu vermuten, dass die Bezugnahme auf Immaterielles in Gestalt materialiter präsenter Surrogate ein – sei es auch noch so entferntes – Band stiftet zwischen Wissenschaft und Religion.[1] Doch wir interessieren uns nur für die kognitive, die epistemische und wissenschaftliche Dimension.

Die Aktivität des Rechnens ist für diese kognitive Strategie si12gnifikant. Ob mit den Fingern unserer Hand, mit Perlen des Abakus, mit Rechensteinen auf dem Rechenbrett oder mit schriftlichen Zeichen auf dem Papier hantierend: Komplexe Zahlenprobleme werden lösbar durch regelhafte Manipulationen mit taktil und visuell zugänglichen Konfigurationen, die ihrerseits mit für uns unzugänglichen, nicht beobachtbaren Objekten und deren Relationen »irgendwie« verbunden sind. Das Rechnen zeigt auf elementare Weise: Geistige Tätigkeiten können so eingerichtet bzw. formatiert werden, dass sie in Gestalt handgreiflicher Aktivitäten, situiert im Materialitätskontinuum der beobachtbaren Welt, vollzogen werden können. Es gibt ein Handwerk des Geistes.

Die Annahme einer Exteriorität des menschlichen Geistes ist nicht überraschend. Dass der Geist nicht mit dem Hirn zu identifizieren ist und alleine im Kopf residiert, sondern in Gestalt symbolischer Artefakte und deren Manipulation den biologischen Körper überschreitet, wird in den letzten Jahrzehnten verstärkt sondiert von Autoren, die ein nicht-kognitivistisches Konzept vom menschlichen Denken unter den Schlagworten embodied, extended oder embedded mind erarbeiten.[2] Doch lange zuvor – und von den Vertretern des »embodied und embedded mind nahezu vollständig ignoriert – haben bereits Philosophen zu bedenken gegeben, dass der Gebrauch von sinnlich wahrnehmbaren Zeichen unabdingbar ist, um Gedanken nicht nur zu artikulieren, sondern Erkenntnis überhaupt entwickeln zu können. Für Leibniz sind die Zeichen nicht nur temporäre Stellvertreter geistiger Entitäten, vielmehr können wir gar nicht anders denken denn im Medium von Zeichen.[3] Und er stellt fest: So wesentlich die mündliche »natürliche« Sprache für die Artikulation von Gedanken auch sei, so ist doch unabweisbar: Komplexe Denkoperationen bedürfen der artifiziellen räumlich situierten Zeichen, wie sie in den stabilen Konfigurationen von Schrift und Figur gegeben sind. Leibniz’ Annahme von einer grundlegenden Externalität des menschlichen Geistes fand prominente Nachfolger: Charles Sanders Peirce, Ludwig Wittgenstein und Ernst Cassirer sind hierfür Beispiele.

13Wir sehen also: Nicht erst neuere nicht-kognitivistische Geisttheorien, sondern auch eine bemerkenswerte philosophische Tradition geht davon aus, dass Denken und Erkennen überhaupt erst möglich werden, weil »Denkdinge« und »Denkzeuge« in unserer Außenwelt vergegenständlicht werden und dort sinnlich und operativ zugänglich sind.

Nun gibt es einen Sachverhalt, der so beiläufig, vielleicht auch so selbstverständlich ist, dass er in Reflexionen über die Exteriorität des menschlichen Geistes kaum eine Rolle spielt. Denken wir noch einmal an das Fangen des Balles: Ein solches Vorhaben ist überhaupt nur chancenreich, wenn der Ball eine Flugbahn vollzieht, die innerhalb eines Raumes situiert ist, der von der Spielerin, die den Ball fangen will, auch erreichbar, mithin körperlich kontrollierbar ist. Würden beim Ballfangenspiel Werfer und Fänger sich gegenüberstehen, jedoch der Werfende den Ball hinter sich werfen, so wäre diese Aktion nicht mehr Teil des Spiels. Das Materialitätskontinuum, welches fliegende Bälle und auffangende Hände verbindet, ist eine notwendige, keineswegs aber hinreichende Bedingung: Hinzu kommen muss eine Übereinstimmung in der wechselseitigen Ausrichtung der aufeinander bezogenen Körper, ein vom Werfenden und vom Fangenden, vom Ball und von den Händen geteilter Aktionsraum. Plastisch tritt dies daran hervor, dass bei nahezu allen Wettkampfspielen ein Spielfeld verzeichnet und streng einzuhalten ist; Ballspiele wie Fußball, Rugby, Tennis oder Basketball machen deutlich, was für Brettspiele nicht weniger gilt: Das Diagramm des Spielfeldes erst garantiert, dass die miteinander und gegeneinander agierenden Körper ihre Bewegungen innerhalb von Grenzen und territorialen Strukturen ausrichten, welche gewährleisten, dass ein übereinstimmender Aktionsradius zwischen den Beteiligten überhaupt möglich ist.

Kommen wir zurück auf Vorgänge von Denken und Erkennen: Wenn geistige Entitäten in wahrnehmbaren Zeichen vergegenwärtigt und in gewissem Sinne auch handhabbar gemacht werden, liegt es dann nicht nahe, auch nach einem Analogon zum Spielfeld zu suchen? Denn tatsächlich: So wie ein Spielfeld auf dem Boden verzeichnet wird, so bedürfen auch geistige Aktionen, die im Medium wahrnehmbarer und manipulierbarer artifizieller Surrogate vollzogen werden, eines Spielfeldanalogons. Es genügt nicht, dass geistige Tätigkeiten außerhalb des Kopfes mit Einsatz von Augen und 14Händen geleistet werden: Es muss auch einen korrespondierenden Aktionsraum geben, der dieses Tun in seinen Richtungen festlegt und begrenzt, und dies umso mehr, je mehr die geistige Tätigkeit eine intersubjektiv geteilte, eine kooperative Aktionenfolge ist.

Ein höchst plastisches Beispiel für »territoriale Strukturierung«, die dem Denken dient, ist das Koordinatenkreuz: Die Fläche des Papiers wird in vier Quadranten im umgekehrten Uhrzeigersinn aufgeteilt. Jeder Punkt innerhalb der Quadranten kann jetzt durch ein Zahlenpaar wohldefiniert werden und ist also eindeutig lokalisierbar: Die mathematisch gesehen ausdehnungslosen Punkte bekommen einen berechenbaren Ort. Doch was das Koordinatenkreuz so explizit vollzieht, ist implizit mit der normierten, inskribierbaren Fläche immer schon gegeben: Die Fläche weist eine elementare Ausrichtung auf, sie muss orientiert sein, um dem Schreiben und Zeichnen dienen zu können (»orientieren«: einosten). Keine geographische Karte ist zu gebrauchen, kein Text zu schreiben und zu lesen und kein Bild ist anzuschauen ohne eine Kenntnis von deren Ausrichtung, ohne Wissen also, wo jeweils oben und unten, wo links und rechts ist. Ausnahmen – ob bei monochromen Bildern oder den seltenen Schrift(bei)spielen, die Worte auch in entgegengesetzter Richtung lesen lassen (»Anna«) – sind stets möglich und unterstreichen durch ihre Außerkraftsetzung der Ausrichtung gerade deren alltägliche Geltung. Zu dieser elementaren Normierung von beschriebenen und bebilderten Flächen gehört auch die Begrenzung auf ein Format, das überschaubar und handhabbar ist.

Wir leben in einer dreidimensionalen Welt – und doch sind wir allseits umgeben von Buchseiten, Bildern, Computerbildschirmen, Reklametafeln, Karten, Kinoleinwänden – und diese Reihe ist schier endlos fortsetzbar. All dies kulminiert zurzeit im ubiquitären Gebrauch leibnah zu tragender Smartphones. So selbstverständlich sind uns bebilderte und beschriftete Flächen, das uns kaum mehr auffällt, welche Sonderform des Räumlichen »Flachheit« erzeugt. »Flächen« sind zweidimensionale Gebilde; sie haben Länge und Breite, jedoch keine Tiefe. Empirisch gibt es keine Flächen. Vielmehr behandeln wir Oberflächen – die als Außenhaut eines voluminösen Körpers gegeben sind – so, als ob sie flach seien. Diese Verwandlung einer Oberfläche mit Tiefe in eine Fläche ohne Tiefe geschieht, indem Oberflächen etwas eingetragen oder aufgetragen 15wird. So entstehen Texte und Bilder und die mannigfaltigen Mixturen zwischen ihnen. Für alle inskribierten Flächen gilt: Nicht mehr zählt, was unter der Oberfläche verborgen liegt, sondern nur noch, was auf der Fläche sichtbar wird.[4] Im Bereich unserer symbolischen Artefakte wird eine Kulturtechnik der Verflachung wirksam, und das gilt auch für unsere technischen Artefakte, deren »Telos« in immer flacheren Versionen technischer Apparate besteht.

Der Paläontologe André Leroi-Gourhan hat den Graphismus als ein Verfahren ausgewiesen, das – einsetzend mit Einritzungen auf Knochen – das untrügliche Zeichen menschlicher Kultur ist.[5] Während die sprachliche Kommunikation zumindest signalsprachliche Vorläufer im Tierreich kennt, gibt es – vermutet Leroi-Gourhan – im vormenschlichen Bereich nichts, was mit der Hervorbringung von Bildern vergleichbar ist. Zwar ist uns klar, dass wir nicht nur über die Sprache des akustischen, sondern auch des visuellen Ausdrucks verfügen, doch hier geht es um mehr als um Deixis, Mimik und Gestik. Es geht um den Graphismus, verstanden als eine Technik flächiger Einzeichnungen, die dem Bildermachen wie aller Beschriftung und Markierung zugrunde liegt und die wir in ihrer Bedeutung auf »Augenhöhe« mit der verbalen Sprache bringen wollen.

Die Rolle von Sprachen ist nicht auf Kommunikation und Verständigung eingrenzbar, sondern schließt die Kognition und das Erkennen mit ein. Schon die vorstehenden Überlegungen zur Exteriorität des Geistes legen nahe, von einer bemerkenswerten Verbindung zwischen Denken und Graphismus auszugehen. Unser Hinweis auf die »Spielflächen« des Denkens, auf die Materialität der dabei vollzogenen Operationen, akzentuieren bereits, dass der Graphismus nicht einfach ein visuelles, sondern auch ein taktiles Phänomen ist. Der Graphismus arbeitet mit räumlichen Konfigurationen; seine kognitive Bedeutung zu erschließen, heißt, über die Rolle von Figurationen beim Erkennen zu reflektieren. Und damit sind wir bei einem Leitgedanken dieser Studie: Die Sonderform einer Räumlichkeit, kraft derer wir Konfigurationen in nur zwei 16Dimensionen bilden und umbilden können, ist konstitutiv für das kognitive Potenzial des Graphismus. Doch was bedeutet dies?

Unsere Körperlichkeit grundiert ein basales Ordnungssystem. Die leiblichen Achsen gliedern den uns umgebenden Raum phänomenal in oben und unten, rechts und links, vorne und hinten. So wird der Raum, der uns umhüllt, »ausgerichtet«. Und dieses auf unseren Leib bezogene »Gerichtetsein« kann als ein elementares Ordnungsraster auch auf die Flächen übertragen werden. Indem wir durch Linienzüge, durch Beschriftung und Bebilderung eine Oberfläche in eine Fläche umwandeln, transformieren wir umgebungsräumliche Dreidimensionalität in artifizielle Zweidimensionalität: Auf der Fläche entfällt für Leser und Betrachter das »Darunter«. Damit wird jene Dimension eines »Dahinter« bzw. »Darunter« annulliert, über das wir in lebensweltlicher Situierung keine visuelle Kontrolle haben; der Bereich des für uns Nichteinsehbaren ist eliminiert. Wenn wir also von dem Sonderraum der inskribierten Fläche sprechen, so ist damit zuerst einmal ebendies gemeint: Ein durch Begrenzung handlicher, oftmals auch handhabbarer und zumeist rechteckiger Raum wird erzeugt, den wir kraft seiner Verflachung – jedenfalls tendenziell – vollständig überblicken und gegebenenfalls auch überarbeiten können. Flächigkeit versetzt in eine Vogelflugperspektive, die das, was gezeigt wird, im Überblick darbietet. Das aber ist eine Perspektive, die inmitten der Lebenswelt gegenüber ebendieser Lebenswelt nicht einzunehmen ist. Flächigkeit evoziert den Eindruck von Sichtbarkeit, Kontrolle und Beherrschung dessen, was sich darauf zeigt; sie verwandelt Leser und Betrachter – ein Stück weit – in externe Beobachter.

Und noch etwas fällt auf: In der Lebenswelt vollzogene Handlungen unterliegen den Gesetzen der Schwerkraft und der Unumkehrbarkeit der Zeitrichtung. Ein Baum, der gefällt ist, kann nicht wieder zurückgepflanzt, das ausgesprochene Wort nicht wieder zurückgenommen werden. Doch ein soeben hingeschriebener Satz kann umgeformt, er kann gelöscht werden. Die bemalte und beschriftete Fläche ist im Akt des Schreibens und Malens der Irreversibilität der Zeit enthoben: Was eingezeichnet, was aufgezeichnet wird, ist im Entstehungsprozess korrigierbar. Als körperliche Wesen sind wir der Macht der Zeit unterworfen; doch die inskribierte Fläche stiftet – jedenfalls ein kleines Stück weit – Macht über die 17Zeit. Und nicht nur das: Der Freiraum der Fläche kann auch Imaginäres verkörpern und anschaulich machen. Menschen können als Kopffüßler gezeichnet werden, logisch widersprüchliche Sachverhalte können – denken wir nur an die so genannten unmöglichen Objekte oder an die Zeichnungen Eschers – dargestellt werden.

Befördert und beflügelt die Amputation des »Dahinter« also die Schwungkräfte des Imaginären und Fiktionalen, jenseits der irdisch geltenden Regularien von Raum und Zeit? So viel jedenfalls ist klar: Inskribierte Flächen machen nicht nur sichtbar, sie machen höchst erfinderisch. Die Einbildungskraft findet in diesem artifiziellen Sonderraum einen intersubjektiv teilbaren Ort. Das Einbilden wird im Zusammenhang von Techniken der Einzeichnung und Einschreibung seinerseits disziplinierbar und rationalisierbar. Begegnet uns hier eine Einbildungskraft, die nicht Gegenspielerin, also das »Andere« von Vernunft und Erkenntnis verkörpert, sondern mit diesen verwandt ist? Was aber kann eine solche Verwandtschaft heißen? Wir sehen: Fragen über Fragen.

Es ist verwunderlich, dass der Zusammenhang von Flächigkeit und Denken kaum thematisiert, geschweige denn reflektiert worden ist. David Summers[6] hat mit Real Spaces das Kulturgut der bebilderten Fläche kunstgeschichtlich und kunstwissenschaftlich entborgen, beschrieben und analysiert; Manfred Sommer[7] hat gerade ein Buch zur Genese der rechteckigen Bildfläche vorgelegt. Doch das epistemische Potenzial der Kulturtechniken der Verflachung für unsere Wissenspraktiken ist noch kaum thematisch geworden, geschweige denn untersucht.

Um eine wichtige Eingrenzung vorab zu markieren: Die Hinwendung zu kognitiven Aspekten im Bildgebrauch der Künste und Wissenschaften ist ein augenfälliger Neueinsatz im letzten Jahrzehnt; sie ist geradezu en vogue geworden und in vielen Hinsichten gut sondiert.[8] Daher geht es in dieser Studie nicht um epistemisch eingesetzte Visualisierungen im Allgemeinen. Bezogen auf das breite Spektrum von Visualisierungen interessieren wir uns für einen sehr begrenzten, wiewohl einflussreichen Bereich: die operativen Visualisierungen, deren Medium der Graphismus ist, welcher her18vorgeht aus der Interaktion von Punkt, Linie und Fläche. Zu dieser Gattung »operativer Bildlichkeit«[9] rechnen wir – ungeachtet der Verschiedenheit dieser Darstellungssysteme – Schriften, Notationen, Tabellen, Graphen, Diagramme und Karten; wir wollen diese Klasse visueller Artefakte »Inskriptionen« bzw. »das Diagrammatische« nennen.

Inskriptionen setzen Raumrelationen als Medium der Wissensdarstellung und zugleich als ein Instrument der Wissenserzeugung ein. Auf ebendiese surrogative Räumlichkeit epistemischer Aktion aufmerksam zu machen und ihre produktive Rolle auszuloten, kommt es uns an. Verknüpft ist diese Rolle mit der Visualität, doch sie geht in der Sichtbarkeit gerade nicht auf; vielmehr werden Bewegungsmöglichkeiten gestiftet. Durch die Art von Sichtbarmachung, die mit epistemisch eingesetzten inskribierte Flächen verbunden ist, werden Formen von kognitiven bzw. epistemischen Bewegungen möglich, die ohne den Operationsraum der Fläche nicht oder nur schwierig auszuführen sind. Inskribierte Flächen eröffnen Denkräume; sie steigern die kognitive Kreativität und Mobilität.

In der Debatte über den Raum stoßen wir auf eine grundlegende begriffliche Differenz: Es geht um den Unterschied zwischen einem Struktur- und einem Bewegungsraum.[10] Ist eine Wohnung zu beschreiben, kann dies auf zwei Arten geschehen: Entweder durch Aufzeichnung des Grundrisses, so dass eine Überblickskarte entsteht. Oder durch die beschreibende Erzählung eines imaginären Ganges durch die Wohnung: »Jetzt folgt rechter Hand das Bad…«. Ersteres stellt die Wohnung als eine Konfiguration von Plätzen, Letzteres als eine Sukzession von Bewegungen dar.[11] Michel de Certeau hat diese Differenz zu qualitativ unterschiedlichen Raumkonzepten verdichtet.[12] Er unterscheidet zwischen dem Ort (lieu), und dem Raum (espace). »Orte« beziehen sich auf eine topologische Ordnung, in der alles in einer Beziehung der Koexistenz zueinander steht. Ein Ort ist wie ein fester Punkt, der mit anderen ihn umgebenden Punkten durch stabile Strukturen in Simultaneität verbunden ist. Anders der »Raum«, der nicht als Konfiguration von Plätzen vorhanden ist, sondern temporär durch die Bewegun19gen handelnder Akteure erzeugt wird und auch nur im Zuge dieser Bewegungen besteht und vergeht.[13]

Während Strukturraum und Bewegungsraum von verschiedenen Autoren als einander opponierende Darstellungsmodalitäten behandelt werden,[14] gehen wir davon aus, dass Struktur- und Bewegungsraum keine Disjunktion bilden: Die beiden Raumaspekte schließen sich nicht aus, sondern ein. Das demonstriert das Navigationsgerät, welches den objektiven Strukturraum einer Karte in einen subjektiv orientierten Bewegungsraum transformiert. Aber auch der alltägliche Gebrauch von Straßenkarten und Stadtplänen verweist auf das Zusammenspiel beider Formen: Wo wir uns nicht auskennen, jedoch auf einer Karte des unbekannten Territoriums zur indexikalischen Selbstverortung in der Lage sind, stiftet die Karte Aktionsmöglichkeiten. Virtuelle Strukturräume – wie die Karte – eröffnen reale Bewegungsräume. Dies sei der »kartographische Impuls« genannt.

Wir können nun eine Leitidee formulieren, die dieser Studie zugrunde liegt: So, wie der kartographische Impuls eine Strategie ist, Orientierungsprobleme unserer praktischen Mobilität zu lösen, so verkörpert die Kulturtechnik flächiger Inskriptionen in Gestalt von Schriften, Diagrammen, Graphen und Karten eine Strategie, Orientierungsprobleme unserer theoretischen Mobilität zu lösen. Kraft dieser Orientierungsleistung werden innerhalb theoretischer Domänen Denkoperationen ermöglicht, die anders kaum zu vollziehen wären. Flächige Inskriptionen können in Bewegungsräume des Denkens und Erkennens, der Einsicht und des Verständnisses, der Komposition und des Entwurfs und nicht zuletzt: der Wissensübermittlung verwandelt werden.

Die Untersuchung der konkreten Rolle von Diagrammen innerhalb der Wissenschafts- und auch der Kunstgeschichte ist ein recht gut sondiertes Feld,[15] doch das Fehlen einer allgemeinen Theorie 20diagrammatischer Darstellungen und ihrer epistemischen Rollen wird häufig vermerkt.[16]

Stärker als dies in den vorliegenden – sei es bildsemiotisch oder visualitätstheoretisch orientierten – Studien geschehen ist, wollen wir das intellektuelle Potenzial diagrammatischer Einschreibungen mit der Spatialität der Flächigkeit in Verbindung bringen.[17] Dies geschieht in zwei Teilen, die wir »Diagrammatik« und »Diagrammatologie« nennen.

Die (1) »Diagrammatik« gibt einen Überblick über Phänomene der Einschreibung in unserem praktischen und theoretischen Tun. Sie entfaltet in grundlagentheoretischer Absicht zentrale Aussagen über das intellektuelle Potenzial des Graphismus im Horizont einer »Epistemologie der Flächigkeit« und der »Erkenntniskraft der Figuration«.

Die (2) »Diagrammatologie« will zeigen, dass die Erkenntniskraft der Figuration, mithin die intellektuelle Bedeutung von simultanen Raumkonstellationen, in der Philosophie selbst Spuren hinterlassen hat. Der kartographische Impuls, die Tendenz also, Denken und Erkennen eine inhärente Räumlichkeit zu verleihen und – nicht selten – durch explizite diagrammatische Aufzeichnungen innerhalb philosophischer Reflexionen auch epistemisch einzusetzen, zieht sich wie ein unterirdischer Fluss durch verschiedene Epochen des Philosophierens. Frederik Stjernfelt[18] lässt in seiner Diagrammatology die Diagrammatik mit Charles Sanders Peirce einsetzen, der tatsächlich als Erster vom diagrammatic reasoning spricht und dessen intellektuelles Schaffen von einem unübersehbaren Strom graphischer Aufzeichnungen begleitet wurde.[19] Doch wir wollen zeigen, dass die Rolle räumlicher Orientierung für das Philosophieren schon seit der griechischen Philosophie für ganz unterschiedliche Denker auf unterschiedliche Art weichenstellend 21geworden ist. Die Reihe dieser Denker ist umfangreich und imposant, sie umfasst unter anderen: Platon, Aristoteles, Nikolaus von Kues, Descartes, Leibniz, Kant, Peirce, Frege, Wittgenstein, Heidegger, Deleuze oder Derrida. Daher empfiehlt es sich in unseren diagrammatologischen Rekonstruktionen auszuwählen. Unsere Wahl fällt auf vier Philosophen aus vier verschiedenen Epochen: Platon, Descartes, Kant und Wittgenstein. Diese Wahl ist keineswegs zwingend; dass sie gleichwohl aufschlussreich ist für die Entbergung einer impliziten Räumlichkeit erkenntnistheoretischer Ansätze, hoffen wir zeigen zu können. Angesichts unseres Erkenntniszieles aufzuweisen, dass prominente Erkenntnistheoretiker implizit mit dem Räumlichen als Erkenntnismedium arbeiten und welche Spuren dies in ihren Erkenntnistheorien hinterlassen hat, kommt die Eigensignatur der Epoche, in der jeder Teilnehmer unseres »Philosophenquartetts« historisch situiert ist, selbstverständlich zu kurz. Wir sind uns dieses Mankos einer fehlenden historischen Einbettung bewusst: Die Suche nach einer »Familienähnlichkeit« statt einer Herausarbeitung der historischen Differenz motiviert diese Studie. In gewisser Weise setzt die Akzentuierung der Differenz voraus, dass überhaupt gezeigt wird, wie unterschiedliche Epistemologien jeweils durch eine inhärente Spatialität charakterisierbar sind und darin Berührungspunkte finden. Und es wird sich zeigen, dass die detaillierte diagrammatologische Rekonstruktion von Platon, Descartes, Kant und Wittgenstein – gemessen an dem in der einschlägigen Sekundärliteratur jeweils gegebenen Forschungsstand – tatsächlich neue Einsichten über diese Philosophien eröffnet.

23I. Diagrammatik

252. Diagramm-Miniaturen: nicht mehr als ein Album

Diagramme sind nichts Besonderes: Sie haben ihren Sitz im Leben und erfüllen höchst unterschiedliche Aufgaben in unseren praktischen und theoretischen Handlungen – und dies zumeist auf unspektakuläre Art. Es gibt unübersehbar viele Diagramme, von denen wir nun einige vorstellen. Unsere Auswahl von »Diagramm-Miniaturen« trägt durchaus willkürliche Züge; keine Systematik, keine Typologie ist hier angestrebt; eher ein Nebeneinanderstellen von Phänomenen nach Art eines Albums, ganz ohne Vollständigkeitsanspruch. Es sind (zumeist) unproblematische Fälle, bei denen Zeichnung und Schrift so verbunden sind, dass das Wort »Diagramm«, wie es alltäglich verwendet wird, unstrittig zutrifft. Auf die oft sondierten Diagramme mittelalterlicher[1] und frühneuzeitlicher[2] Reflexion wird dabei nicht zurückgegriffen. Zutage treten sollen Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit des Diagrammgebrauches, der vorab keineswegs über »einen Leisten zu scheren« ist. Gleichwohl hoffen wir anhand dieser Zusammenstellung typischer Fälle Kriterien gewinnen zu können, was Diagramme und vor allem Diagrammgebräuche, auf ihren kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht, charakterisieren könnte. Daher wird diesem Kapitel eine »Grammatik der Diagrammatik« folgen, welche eine theoretische – und zugleich thetische – Ernte aus der Beschäftigung mit den Phänomenen unserer »Sammlung« einzubringen hofft.

Wir haben Miniaturen aus den folgenden Bereichen zusammengestellt: 1. Sternbilder, 2. Zahlenbilder, 3. Beweisbilder, 4. Bewegungsbilder, 5. Datenbilder, 6. Fehldiagramme und Irrtumsbilder, 7. unmögliche Objekte.

Wir sehen: Die hier vorgestellten Gruppen von Diagrammen werden in der Wortzusammensetzung als »-bilder« bezeichnet. Das ist eine Konzession an unsere Umgangssprache (»Sternbilder«). Zwar kommt Diagrammen eine »operative Bildlichkeit« zu; doch – wie später zu zeigen ist – sind Diagramme von gewöhnlichen Bildern, und erst recht von Kunstbildern, unbedingt zu unterscheiden.

262.1. Sternbilder

Der Himmel ist bevölkert mit Sternbildern, die aus der Tiefe des Weltalls eine Fläche machen. Ein kaum übersehbares Sternenmeer wird aufgeräumt durch die Bildung überschaubarer, einprägsamer Gruppen, benannt nach mythologischen Figuren, Tieren oder Gegenständen. Die Verwandlung von Lichtpunkten in die Elemente einer Figur erfolgt durch Verbindungslinien. Linien sind prominent, wenn es um die Erklärung von Sternbildern geht; es ist erst der Linienzug, der die Sterne in ein Verhältnis zueinander setzt, eine Relation zwischen ihnen stiftet, eine »Konstellation« überhaupt erst erzeugt. Die im Sternbild zusammen gefassten Sterne haben – physikalisch – nichts miteinander zu tun; was durch die willkürliche Verbindung in nachbarschaftliche Nähe gerückt und in die Bestandteile einer Figur verwandelt wird, kann Lichtjahre voneinander entfernt sein.[3] Die Linie jedoch nivelliert; sie macht das in den Entfernungen so Verschiedenartige einander gleich.

Bei der »Erfindung« wie auch dem Wiedererkennen von Sternbildern werden dem menschlichen Augensinn einprägsame Formen unter den 2000-3000 sichtbaren Sternen eine gewisse Zuarbeit leisten; wenn wir den Orion am Winterhimmel identifizieren wollen, ist es der aus drei waagerecht nebeneinander geordneten Sternen bestehende Gürtel des Orion, der als Erstes ins Auge fällt.

Doch was bedeutet angesichts eines gut gefüllten und unübersichtlichen Sternenmeers: »ins Auge fallen«? Gewöhnlich haben wir das Muster, das am Himmel zu entdecken ist, zuvor in mannigfachen Versionen auf Buchseiten, Bildern, Beschreibungen vorgefunden. Sternbilder sind von alters her geprägte artifizielle Konstellationen; sie sind keine Naturphänomene, vielmehr »Bildwerke«, in denen das natürliche Vorkommen von Sternen in die Teilhabe an einer artifiziellen Figur verwandelt wird. Sie sind Projektionen kulturell tradierter Gestalten auf ein »Himmelsgewölbe«, das dadurch seine Tiefe verliert, jedoch an Überschaubarkeit gewinnt. Die Identifizierung von Sternbildern durch irdisch positionierte Augen verleiht dem sich unterschiedslos nach allen Seiten ausdehnenden Himmel eine Richtung. Eine unübersehbare Ansammlung über 27uns wird verwandelt in wiedererkennbare Figurationen, die wir zuerst vor uns gehabt haben müssen in Form von Sternbildkatalogen und Sternbild-Abbildungen, ehe wir sie am Himmel tatsächlich entdecken können. Jedes Sternbild, das eine Kultur als bedeutsame Konstellation auszeichnet, wird mit einer Pluralität variabler Skizzen, diagrammatischer und mimetischer Zeichnungen und mythologisch-literarischer Beschreibungen überliefert und kanonisiert. Schon in Höhlenzeichnungen wurden Bezüge auf Sternbilder entdeckt.[4] Es ist klar: Nur die in den Sternbildregistern und in der Himmelskartierung Kundigen, nur die also, die dieses Wissen aus Texten und Bildern bereits gewonnen haben, werden das Sternenheer in identifizierbare Strukturen verwandeln (können).

Betrachten wir vier Version des Sternbildes Orion.

Abb. 1: Sternbild Orion, 〈http://www2.vobs.at/hs-goetzis/tech/sterne/orion.2.jpg〉, letzter Zugriff am 1.2.2016 Abb. 2: Orion Grafik 〈http://1.bp.blogspot.com/-HT8gypOaLKg/T8VLBJzyZrI/AAAAAAAABY/52iru6DYo_E/s1600/Orion_Grafik.JPG〉, letzter Zugriff am 1.2.2016

Abb. 3: Orion Sternkarte 〈http://de.academic.ru/pictures/dewiki/79/Orion-Sternkarte.png〉, letzter Zugriff am 1.2.2016 Abb. 4: Figürliche Darstellung des Orion, Archiv Krämer

28Unterschiedlicher können Abbildungen kaum sein: (1) zeigt eine Fotografie des Orion-Sternbildes mit linearen Einzeichnungen; (2) eine Graphik des Orion, die alle charakteristischen Punkte und Linien enthält; (3) eine mit einem Koordinatensystem versehene Himmelskarte, die – neben anderen Konstellationen – auch den Orion zeigt; (4) eine mimetische Darstellung der mythologischen Figur des Jägers Orion, die an ausgezeichneten Stellen seines Körpers die korrespondierenden Sterne markiert. Das, was auf dem Papier gezeigt wird, ist eine einzelne Fotografie, eine schematische oder mimetische Zeichnung, eine Karte. Doch diese Bilder haben etwas gemein: Sie realisieren ein Schema. Wir sehen in diesen Bildern das Schema des Sternbildes »Orion«. Das Schema ist nicht das einzelne Bild, sondern etwas, das anleitet, von dem, was jeweils konkret vor Augen steht, in gewissen Hinsichten gerade abzusehen, um eine topographische Anordnung zu entdecken. »Topographisch« heißt: Auf die räumliche Verteilung kommt es an und darauf, dass in dieser räumlichen Verteilung – von Bild zu Bild – eine gewisse Anordnung und Proportionalität gewahrt wird. Die Sterne »Beteigeuze« und »Bellatrix«, welche – wie uns das mimetische Bild deutlich zeigt – die rechte und linke Schulter des Orion markieren, 29folgen in ihrer Anordnung dem Rechts/Links-Schema und sind also relativ zur Körperlichkeit des Betrachters selbst.

Es wird also kein Orion-Bild auf den Himmel projiziert; dafür gibt es zu viele verschiedenartige Orion-Bilder. Wir projizieren vielmehr ein – im Prinzip unsichtbares – Schema auf den Himmel, indem wir die Schematisierung, die uns konkrete »irdische« Abbildungen lehren, auf den sichtbaren Himmelausschnitt übertragen und dabei gewissen Anhaltspunkten (wie eben dem charakteristischen Gürtel des Orion) folgen. Sofern ein Sternbild sich einem Betrachter gut sichtbar zeigt, ist es imprägniert von einem ihm zugrundeliegenden artifiziellen und zugleich unsichtbaren Schema, das allerdings vielfach instantiiert und visualisiert ist in kulturellen Bildwerken.

Sternbilder sind kein Selbstzweck; sie haben einen Sinn in jener etymologisch verbürgten Bedeutung, an die uns der »Uhrzeigersinn« erinnert: denn da verweist »Sinn« auf den »Richtungssinn«. Sternbilder dienen der Orientierung und ermöglichen also Selbstlokalisierung. Dies gelingt allerdings nur in einer – für alle folgenden Überlegungen wesentlichen – Verbindung von Räumlichem und Zeitlichem: Anhand eines Sternbildes ist die räumliche Lage auf Erden nur zu orten, wenn zugleich die zeitliche Bewegung dieses Bildes am Himmel in Rechnung gestellt wird. Sofern dies geschieht, lotsen Sternbilder den Himmelskundigen über markierungslose Ozeane und informieren kraft ihrer Stellung im System der Konstellationen auch über die Jahreszeit. Als Orientierungsmittel sind Sternbilder von Nutzen, auch wenn das volkstümliche astronomische Wissen, das sich in ihnen sedimentiert, für wissenschaftliche, für astronomische Visualisierungen kaum ergiebig ist.

Dass wir die chaotische Mannigfaltigkeit des Sternenhimmels durch das Einüben und Wiederentdecken von diagrammatischen Einzeichnungen »bannen« und ordnen können – und kaum eine Kultur kommt ohne Sternbilder aus –, ist eine herrschaftliche Geste. Das uns Unverfügbare wird in ein verfügbares Orientierungsinstrument, das Unübersehbare in eine übersichtliche Anordnung, das Unendliche in eine prägnante Gestalt transformiert. Sternbilder führen diese Metamorphose paradigmatisch vor Augen; und bei ihr spielen Praktiken der diagrammatischen Einschreibung eine entscheidende Rolle.

302.2. Zahlenbilder

Kaum etwas ist vertrauter, als Zahlen durch eine Linie zu visualisieren. Folgend den kulturellen Konventionen unserer Schrift, werden aufeinanderfolgende Zahlzeichen von links nach rechts angeordnet. Beim Zahlenstrahl der natürlichen Zahlen bildet die Null den Anfangspunkt; in regelmäßigen Abständen folgen die weiteren Zahlen, und ein Pfeil am rechten Ende markiert deren lineare Fortsetzbarkeit. Es gibt Zahlenstrahlen für alle möglichen Zahlenarten: für die ganzen, die rationalen und auch die reellen Zahlen; überdies sind aufeinanderstehende Zahlengeraden als Koordinatensysteme konstruierbar. Auf Linealen, Zollstöcken, auf Skalen von Messgeräten und, nicht zu vergessen: in gekrümmter Form auf dem Ziffernblatt analoger Uhren begegnet uns der Zahlenstrahl als ein fast allgegenwärtiges Instrument unserer Kultur; die Zahlenlinie ist ein Allerweltsphänomen.

Abb. 5: Ganze Zahlen, mit der Null beginnend

Abb. 6: Rationale Zahlen mit Null in der Mitte und positiven und negativen Zahlen

Abb. 7: Zollstock 〈http://www.massstab-diamant.de/artikeldetails-zollstoecke/kategorie/kunststoff-zollstoecke/artikel/Saphir-Minor.html〉

31Zahlen haben keinen Ort; obwohl individuell, sind sie begriffliche Entitäten, also »Wissensdinge«: unräumlich, unkörperlich, unsichtbar. Doch im Verbund mit der Repräsentation von Zahlen durch Ziffern bannt der Zahlenstrahl die ephemere Existenz von Zahlen auf ein Blatt Papier und macht sie sichtbar, platzierbar, adressierbar. So bekommen Zahlen eine Position, und ihre Aufeinanderfolge bekommt eine Richtung: Je größer die Zahl, umso weiter ihre Entfernung vom Nullpunkt. Ein quantitativer Wert nimmt die Gestalt einer räumlichen Erstreckung an; das Zählen als arithmetische und das Messen als geometrische Grundoperation verschwistern sich im Zahlenstrahl, welcher deren Unterschied nivelliert.

Zu zählen ist eine Handlung in der Zeit. Was »Zeitlichkeit« bedeutet, kann kaum eindringlicher erfahren werden als durch die sukzessive, getaktete Erzeugung von Zahlen im Aufzählen. Doch am Zahlenstrahl wird die Zähloperation zu einer raumgreifenden Bewegung, bei der die Linie mit Auge oder Finger »abgeschritten« werden kann. Der geistige Umgang mit Zahlen wird als räumliche Mobilität entlang des Zahlenstrahles vollzogen. In der Grundschule kann das Addieren und Subtrahieren anhand des Zahlenstrahls gelehrt werden: Die Addition »5+3=8« bedeutet, von der Fünf aus drei Schritte nach rechts zu »gehen«; die Subtraktion vollzieht die umgekehrte Bewegung. Sobald ein Zahlenstrahl die rationalen Zahlen verzeichnet, also auch die negativen Zahlen erfasst, eröffnet die lineare Visualisierung der Zahlenfolge etwas, das wir beim Operieren mit Anzahlen konkreter Gegenstände niemals vermögen: Wir können von drei Nüssen nicht acht fortnehmen, wohl aber kann von der »3« aus – am »rationalen Zahlenstrahl« – acht Schritte nach links gegangen werden.

All dies scheint selbstverständlich, nicht mehr als eine Hilfsleiter des Elementarunterrichts, auf welcher die Schüler baldmöglichst zu verzichten haben. Und doch: Müssen wir nicht staunen angesichts des Kunstgriffs der Verräumlichung, mit der die Sukzession aufeinander folgender Zahlen transformiert wird in die Simultaneität ihrer nebeneinanderliegenden Positionierung? Ein sinnlich zugänglicher und operativ handhabbarer Zahlenraum ist entstanden, in welchem Zahlen nicht nur eine Lage, einen Ort bekommen und in ein räumliches Verhältnis zueinander gesetzt werden, sondern mit dem das Lösen von Zahlenproblemen in eine mechanische, raumabtastende Bewegung am »Leitfaden« einer Linie umgepolt 32werden kann. Die Metamorphose von Zeitlichem in Räumliches durch den Graphismus der Linie ermöglicht es, geistige Arbeit, die auf theoretische Entitäten gerichtet ist – in diesem Falle Zahlen –, als eine exteriorisierbare Aktivität zu vollziehen.

Dieser Zusammenhang von Verräumlichung und Operativität sei nun anhand eines etwas komplexeren Zahlenraumes, eines Nomogramms der Multiplikation, noch einmal beleuchtet.

Abb. 8: Nomogramm der Multiplikationstabelle

33Mit diesem Graphen[5] lassen sich Multiplikationen im Rahmen des kleinen Einmaleins schematisch ausführen. Zwischen die senkrechten Außenlinien mit einer aufsteigenden Zahlenfolge bis 10 wird eine mittlere Linie platziert, deren räumliche Zahlenplatzierung bis 100 bereits Effekt der Multiplikationsregel ist, also arithmetisches Wissen verkörpert. Zwischen den zu multiplizierenden Zahlen wird eine Linie gezogen und da, wo diese die mittlere Achse kreuzt, findet sich der gesuchte Wert; hier illustriert anhand der Gleichung »3x4=12«.

Wieder werden Zahlen entlang von Linien angeordnet und erhalten damit eine Position und eine Richtung; wieder ist ein graphisches Problemlösungsinstrument entstanden. Doch anders als am Beispiel des einfachen Zahlenstrahls und deutlicher noch als beim Addieren und Subtrahieren wird bei der Multiplikation eine gegenständliche, material-physische Operation auf dem Papier vollzogen, indem die gegebenen Zahlen durch das Ziehen einer Linie verbunden werden müssen.

Das Nomogramm basiert auf einer Differenz im Status der Linien: Es gibt Hilfslinien und Operationslinien. Die Hilfslinien formatieren den Zahlenraum, in dem dann die Operationslinie »tätig« wird; sie markieren die allgemeine Möglichkeit der Multiplikationsoperation und verkörpern durch die Spezifik ihrer graphischen Anordnung eine universelle arithmetische Regel. Die Operationslinie als Ausführung bzw. Vollzug einer konkreten Operation verkörpert dann die Anwendung dieser Regel auf einzelne Werte. Sowohl ein universales arithmetisches Gesetz wie auch dessen partikuläre Anwendung auf einzelne Zahlen werden visualisiert. Wir denken nicht nur auf dem Papier; wir denken mit dem Papier und das heißt: im Medium von Punkt, Linie und Fläche.

Die hier dargestellte graphische Multiplikation ist durch eine Fülle unterschiedlicher Verfahren realisierbar: Mit Perlenschnüren des Abakus, mit Kolumnen des Rechenbretts, mit einer Multiplikationstabelle, die nur noch abzulesen ist, mit Nomogrammen, mit Hilfe des schriftlichen Rechnens mit Dezimalziffern, mit Rechenschiebern und schließlich mit mechanischen und elektronischen Maschinen. Nicht nur sind beim Rechnen symbolische und technische Artefakte ineinander überführbar, sondern auch unter34schiedliche graphische Realisierungen sind übersetzbar und in ihrem Funktionswert einander – jedenfalls was das Ergebnis angeht – äquivalent. Anders als die Bilder der Kunst sind Diagramme und Graphen nichts Einzigartiges. Ihre Übersetzbarkeit in eine andere Form ist grundlegend für ihre »Natur«: Was diagrammatische Einschreibungen zeigen und was wir mit ihnen machen, kann immer auch anders gezeigt und anders gemacht werden.

Betrachten wir als letztes Zahlenbeispiel eines, das gerade nicht in der vertrauten diagrammatischen Form, vielmehr »nur« in symbolischer Form, mithin als Zeichensequenz, rekonstruiert ist.

Als Anekdote ist uns überliefert,[6] dass ein Lehrer der Klasse, in der der neunjährige Carl Friedrich Gauß Schüler war, eine komplizierte Rechenaufgabe stellte und hoffte, die Schüler so eine Weile ruhigzustellen: Zu errechnen war die Summe der ersten 100 natürlichen Zahlen. Während die anderen Schüler über lange Zeit unermüdlich – und mit zumeist falschen Ergebnissen – rechneten, fand Gauß blitzschnell die gesuchte Zahl: 5050.

Wie hat er das gemacht? Wir wollen nicht über Gauß’ kognitive Winkelzüge spekulieren, sondern das elementare Prinzip einer möglichen – und auch naheliegenden – Problemlösung vor Augen führen, insofern dabei räumliche Attribute wie Positionierung, Gruppierung und Umgruppierung von Zeichen eine grundlegende Rolle spielen; und das, obwohl keine Linien eingezeichnet werden. Worauf es bei diesem Beispiel ankommt, ist zu zeigen, dass auch die formale, die »symbolische Schreibweise«, die häufig als die bessere Alternative zur diagrammatischen Einschreibung gedeutet wird, von elementaren räumlichen Positionen und Relationen Gebrauch macht.

Schreiben wir die Addition der 100 ersten natürlichen Zahlen in Gestalt einer Zahlenreihe, die aus der Aufeinanderfolge der Ziffern und dem Additionszeichen besteht:

(1) 1+2+3+4+5+…+97+98+99+100

Für die Addition gelten zwei entscheidende Regeln: Das Kommutativgesetz besagt, dass die Reihenfolge der zu summierenden Zahlen beliebig ist: statt »1+2« kann »2+1« geschrieben werden. Anders 35als beim Zahlenstrahl, wo die Position jeder Ziffer eindeutig festgelegt ist, können beim Addieren die Zahlen ihre Plätze tauschen (commutare: lat. vertauschen). Das Assoziativgesetz besagt, dass Summanden durch Klammern beliebig zusammengefasst werden können. Statt »1+2+3+4« kann auch »(1+2)+(3+4)« oder »1+(2+3)+4« etc. geschrieben werden. Die Klammerbildung führt Ziffern zu Gruppen zusammen; durch Verschieben der Klammern kann stets eine Umgruppierung vollzogen werden, die das Ergebnis der Addition nicht verändern wird.

Daher kann die Reihe (1) der Summanden durch Platzvertauschung und Gruppierung auch so angeschrieben werden, dass statt einer »chronologischen« Folge jeweils die erste und die letzte Zahl, die zweite und die zweitletzte Zahl und so weiter zusammengerückt und zu Gliedern einer durch die Klammer zusammengehaltenen Gruppe werden.

(2) (1+100)+(2+99)+(3+98)+…+(49+52)+(50+51)

Durch diese Umformung ist eine optische Situation entstanden, bei der ins Auge fallen und also entdeckt werden kann (da zwei Ziffern schnell zu überblicken sind), dass die in jeder Klammer stehende Summe gleich groß ist, nämlich: 101.

(3) (101)+(101)+…+(101)+(101)

Insofern es 50 solcher Klammern gibt, muss 101×50 errechnet werden. 5050 ist also die Lösung. Noch einmal anders angeschrieben:

(4) 1+100=101 2+99=101 3+98=101 … … … … … … 49+52=101 50+51=101 5050

Was zeigt uns der »Lösungstrick« bei dieser Aufgabe? Am Zahlenstrahl sind die Ziffern in strenger Sequenz angeordnet. Die Stabi36lität der Linie fixiert diese Reihenfolge, deren Unveränderlichkeit die Voraussetzung dafür ist, dass elementare Zahlenoperationen wie Addition und Multiplikation mit Hilfe dieser Diagramme ausführbar sind. Anders jedoch im Falle der Entdeckung der Summenformel: Der Kunstgriff beruht darauf, die Linearität in der »natürlichen« Reihen- und Zählfolge der Zahlen zu durchbrechen, insofern die vorderen und die hinteren Zahlen jeweils zu einem Paar verbunden werden. So, wie die Verbindungslinie im Sternbild unterschiedlich weit entfernte Lichtpunkte zu einer Gruppe zusammenfasst, so bindet die Klammer – abgesichert durch die Kommutativität und Assoziativität der Addition – Zahlen, die weit voneinander entfernt sind, zusammen. Dadurch wird nicht nur eine Kette, die aus 100 Gliedern besteht, wertneutral in eine mit nur noch 50 Gliedern umgewandelt. Vielmehr ist mit dem Perspektivenwechsel dieser Umstrukturierung eine Konfiguration geschaffen, die ein »Aha-Erlebnis«, eine »schlagartige Einsicht« eröffnet: Dass jede dieser neu entstandenen Gruppen denselben Wert »101« hat. Es geht also nicht einfach um die Schaffung von Überblick, denn 100 aufeinanderfolgende Zahlen können so wenig wie 50 Zahlenpaare simultan überblickt werden. Vielmehr ist durch die Umgruppierung eine Situation entstanden, bei der es genügt, nur die ersten (1+100), (2+99), (3+98) und die letzten Glieder (49+52), (50+51) zu betrachten, um eine Regularität zu entdecken in Gestalt der numerischen Äquivalenz der Klammerausdrücke.

Obwohl hier nicht gezeichnet wird, sondern nur Symbolsequenzen geschrieben und umgeformt werden, ist klar: Durch die spezifische Anordnung in dieser Anschreibung der Zahlen wird die Entdeckung einer effektiven und eleganten Problemlösung möglich, die bei einer anderen Form der Anordnung im Verborgenen bliebe. Die Durchbrechung des sich »natürlicherweise« aufdrängenden Prinzips einer ihrer Größe folgenden Aneinanderreihung der Zahlen zugunsten einer Umstellung, bei der die »Letzten bei den Ersten« sein werden, vollzieht einen Aspektwechsel in der Erscheinungsform der Zahlenreihe, die damit keine Zählreihe mehr bleibt.[7] Ähnlich Gottlob Freges Erwähnung von Morgen- und Abendstern als Gegebenheitsweisen des Planeten Venus[8] gibt es 37verschiedene Anschreibweisen einer Addition der ersten 100 ganzen Zahlen, bei welchen die Bedeutung der Summe gewahrt, doch der Sinn – verstanden als Form der räumlichen Positionierung bzw. Perspektivierung – sich ändert.

Ermöglicht wird diese »Sinnverschiebung bei Bedeutungsgleichheit« durch die immanente Spatialität, die eben nicht nur in typisch diagrammatischen, sondern auch in formalen Operationen gegeben ist. Nicht nur am Zahlenstrahl selbst, sondern auch in der formalen Zahlennotation nehmen die Zeichen wohlbestimmte, aber eben auch austauschbare Plätze ein, und so können – zum Beispiel durch Einklammerung – Verbindungen zwischen Zahlzeichen sichtbar gemacht werden, so dass schriftliche »Zahlenbilder« entstehen, die durch Aufdeckung von Regelmäßigkeiten zur Entdeckung von Problemlösungen beitragen.

2.3. Beweisbilder

Bleiben wir noch ein weiteres Mal bei einem mathematischen Beispiel. Das griechische Wort διάγραμμα (diágramma) bezieht sich – unter anderem – auf die Umrisslinie einer Gestalt, wie sie klassisch in geometrischen Figuren Euklids gegeben ist, die als Beweismittel in seinen Elementen eingesetzt werden.[9] Beweiskraft zu haben, eine Einsicht im Medium der Visualisierung zu erzeugen, ist eine so frühe wie charakteristische Aufgabenbestimmung diagrammatischer Inskriptionen. Es gibt eine ausgefeilte Diskussion um die epistemische Rolle von Diagrammen in der Geometrie am Leitfaden der Frage, ob Diagramme eine erkenntniserweiternde Funktion spielen, ob sie ersetzbar oder unersetzbar sind für mathematische Entdeckungen und Beweise;[10] wir kommen an späterer Stelle auf diese Debatte zurück. Hier genügt das einfache Beispiel eines Diagramms,[11] das eine mathematische Einsicht eröffnen und demonstrieren kann.

Gezeichnet sei ein Quadrat. Diesem Quadrat wird ein zweites 38eingezeichnet, so dass die Ecken des inneren Quadrates mit den Mittelpunkten der äußeren Quadratseiten zusammenfallen. Die Frage lautet: wie groß ist das äußere Quadrat in Relation zum inneren?

Abb. 9: Zur Relation zweier Quadrate 1

Eine kurze Beschäftigung mit der Zeichnung enthüllt: Die Fläche des äußeren Quadrates ist doppelt so groß wie die des inneren. Doch was heißt »Beschäftigung«? Wir könnten ein Experiment mit dem gezeichneten Quadrat machen, indem wir es ausschneiden und die äußeren Dreiecke nach innen klappen und zeigen, dass diese die Fläche des inneren Quadrats vollständig bedecken. Doch ist so wirklich vorzugehen bei der Demonstration mathematischer Wahrheiten? Wenn wir fahrlässig gezeichnet haben – was bei geometrischen Demonstrationen gang und gäbe ist –, wird es passieren, dass die umgeklappten Dreiecke nicht haargenau das innere Quadrat zudecken. Doch daraus würden wir keinesfalls den Schluss ziehen, dass das äußere Quadrat weniger oder mehr als doppelt so groß sein muss, sondern sehen, dass wir grobschlächtig gezeichnet haben. Die Einsicht, die das Diagramm eröffnet und die Kant, auf den wir später zurückkommen, als eine apriorisch geltende Erkenntnis charakterisiert, beruht nicht auf experimenteller oder überhaupt sinnlicher Erfahrung. Denn zu erwerben ist hier eine Einsicht, die für alle in dieser Weise ineinandergeschachtelten Quadrate gilt und eben nicht nur für diese eine hingezeichnete 39Figur; genau genommen gilt das Wissen, das zu gewinnen ist, für kein empirisches Quadrat, da die geometrische Idealform des Quadrats (= mathematischer Begriff des Quadrats als Konstruktionsvorschrift) und dessen anschauliche Instantiierung nolens volens voneinander abweichen.[12]

Doch noch einmal: wenn nicht in der Erzeugung sinnlicher Evidenz, worin sonst besteht die demonstrative Rolle der Visualisierung? Wir zeichnen jetzt die ineinandergeschachtelten Quadrate nur um weniges anders:[13]

Abb. 10: Zur Relation zweier Quadrate 2

Die äußeren Dreiecke sind nun gestrichelt, wie eine Falzlinie; das innere Quadrat bekommt zusätzliche Linien, indem seine Eckpunkte miteinander verbunden werden, so dass ein Achsenkreuz entsteht. Dieses Achsenkreuz zerlegt das innere Quadrat in vier Dreiecke. Und ins Auge fällt, dass das Achsenkreuz überdies das äußere Quadrat in vier Quadranten unterteilt, von denen jeder wiederum zusammengesetzt ist aus einem innerem und einem äußerem Dreieck. Gemäß der Konstruktionsanleitung für Quadrate bzw. dem mathematischen Begriff »Quadrat« ist klar, dass diese vier Quadranten kongruent sind und dass die Diagonale in jedem 40dieser Quadranten diese hälftig unterteilt, die inneren und äußeren Dreiecke also flächengleich sein müssen. Da die inneren Dreiecke sich keinesfalls überlappen können, insofern sie zusammen das innere Quadrat bilden, kann geschlossen werden, dass auch die äußeren Dreiecke den inneren entsprechen werden. So gelangt man zu der Einsicht, dass das große äußere Quadrat das kleinere innere verdoppelt. Daher ist unabhängig von Faltexperimenten und exakter Zeichenkunst zu erkennen, dass die äußeren Dreiecke jeweils mit dem inneren Dreieck desjenigen Quadranten, zu dem sie gehören, zur Deckung kommen; und dies impliziert, dass das äußere Quadrat doppelt so groß ist. Hier ist nicht der Ort, präziser in die Subtilitäten und Probleme der mathematischen Visualisierung in demonstrativer Hinsicht einzusteigen. Doch zweierlei sei festgehalten anhand dieser geometrischen Diagramm-Miniatur:

1. Der Beweisgang beruht darauf, dass wir im Wahrnehmen der Figur eine Umpolung, einen Aspektwechsel vollziehen: Ein und dieselbe Linie fungiert als Aufbauelement von zwei unterschiedlichen Gestalten. In diesem Falle: Die Seiten des inneren Quadrats bilden zugleich die Diagonalen der Quadranten des äußeren Quadrats. Diese Linie muss somit in einer doppelten Rolle »gesehen« werden, da sie zugleich die Funktionsbestimmung einer Quadratseite und einer Diagonalen erfüllt. Dieses Doppelleben anhand der hingezeichneten Figur zu erkennen, ist der epistemische Mehrwert, den das Diagramm stiftet; genau dies ist eine Einsicht, die in der Konstruktionsanweisung der ineinandergeschachtelten Quadrate gerade nicht enthalten ist.

2. Das Sehen und Einsehen, um das es hier geht, ist immer schon gesteuert von elementaren Konstruktionsregeln, die mit mathematischen Begriffen verbunden sind. Ohne uns an dieser Stelle mit der Fundierung der Mathematik nicht bloß in sinnlichen Erfahrungen, vielmehr in Konstruktionsnormen auseinandersetzen zu können, ist so viel jedenfalls klar: Die Demonstrationskraft mathematischer Diagramme kann nicht unabhängig von der Normativität grundlegender mathematischer Sachverhalte wirksam und also auch begründet werden. Der Aspektwechsel, der auf »etwas als etwas sehen« beruht, führt im Demonstrationsbeispiel epistemisch dazu, »etwas in etwas zu sehen«: Wir sehen einen begrifflichen Zusammenhang in einer empirischen Figur. Das »Sehen-in« ist eine Form der Wahrnehmung, die in der Bilderdebatte dem Wahrneh41men von Bildern zugesprochen wird.[14] Gleichwohl zeigt sich, dass dieses visuelle epistemische Potenzial sich nur entfaltet, insofern eine konkrete Zeichnung im Lichte eines abstrakten Begriffs gedeutet wird. Das Diagramm bildet ein Scharnier zwischen Begriff und Anschauung.

2.4. Bewegungsbilder

Unser Beweisbild arbeitete mit einem Quadrat im Quadrat. Die nächste Miniatur zeigt einen Kreis in einem Rechteck; überdies gibt es Buchstaben; es ist somit alles vorhanden, was ein geometrisches Konstruktionsbild ausmacht. Und doch ist dies ist kein geometrisches Diagramm; gezeigt wird vielmehr eine der elementaren Bahnfiguren im Dressurreiten: der Zirkel. Die äußerliche Ähnlichkeit eines Mathematik- und eines Reitfigurendiagramms scheint die Vorurteile derjenigen zu bedienen, die das Dressurreiten als widernatürliche – weil geometrische – Verbiegung der natürlichen, freien Bewegungen des Pferdes interpretieren. Schauen wir genauer hin. Was zeigt dieses Diagramm?

Abb. 11: Idealer Zirkel 〈https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnfigur#/media/File:Dressurviereck_-_Der_Zirkel_quer.svg〉, letzter Zugriff am 11.3.2016

42Zwischen der Darstellungsfunktion des Rechtecks und der des Kreises ist hier zu unterscheiden. Das Rechteck stellt maßstabsgetreu die Bodenfläche einer regulären Reithalle dar. Es ist ein Abbild nicht der Höhe der Reithalle, sondern des Einzigen, worauf es ankommt: der Struktur und Proportionen ihrer Grundfläche. Die Buchstaben entsprechen fester Konvention, sie sind an der Seite der Reithalle gut sichtbar angebracht und dienen der Orientierung beim Ausführen der Reitfiguren. Anders als das Rechteck, das den stabilen Rahmen dressurreiterlicher Aktionen abbildet, repräsentiert der Kreis eine virtuelle Bewegungsfolge; in der Reithalle ist er nirgendwo »eingebaut« und nirgendwo zu sehen: er existiert nur prozessual, im Vollzug des Reitens – und eben fixiert auf dem Papier. Diese Kreislinie ist keine abbildende Figur, sondern die Instruktion für eine Bewegungsabfolge: Sie verkörpert eine Norm, sie gibt eine Regel vor: Wer einen Zirkel reitet, wird sein Pferd dazu bringen, mit der Bewegung seiner Hufe tatsächlich eine kreisförmige Spur – mehr oder weniger gelungen – im Sand zu hinterlassen. Das Vorbild des Diagramms wäre dann als Nachbild dem Boden eingraviert. Doch vom Ideal einer solchen Zirkellinie weicht die Realität des Zirkelreitens gemeinhin ab.

Abb. 12: Real gerittener Zirkel (Archiv Krämer)

Wie nun schafft es ein Pferd, einen Kreis zu realisieren, dessen nebeneinanderliegende Punkte – geometrisch gesehen – niemals eine auch noch so kleine Gerade bilden dürfen? Zweifellos: Ein Pferd wird sich nur dann annähernd auf einer Kreislinie bewegen kön43nen, wenn es mit seinem Körper eine dem Kreis entsprechende Krümmung realisiert – jeder die Herde umkreisende Hengst macht dies vor.

Doch damit ein Pferd »versteht«, dass sein Körper sich biegen soll, müssen Reiter ihre eigene rechte und linke Körperhälfte unterschiedlich einsetzen. Die rechte Hand macht etwas anderes als die linke, und dies gilt ebenfalls für Fuß und Bein. Es erfolgt somit eine asymmetrische Impulsgebung, bei der links und rechts verschiedenartige Berührungssignale gegeben werden.

Ein Kreis ist eine Grenzlinie, die ein Innen und Außen erzeugt, ohne dass die Kreislinie selbst einem von beiden angehört – denn sie hat ja keine Breite. Dass das Pferd im Zirkel zu reiten ist, heißt jedoch, dass der Unterschied von innen und außen, der – auf der Fläche betrachtet – den Unterschied von rechts und links hervorbringt und gewöhnlich außerhalb und jenseits der Linie selbst liegt, nun vom Pferd wie vom Reiter auf der Zirkellinie buchstäblich zu verkörpern ist. Die Linie bekommt eine Breite und erzeugt – wie es im Reiterjargon heißt – eine »rechte« und eine »linke« Hand mit je unterschiedlichem Funktionswert. Die Annäherung an Idealfiguren beim Reiten heißt gerade, eine Linie nicht als Linie, sondern als etwas zu realisieren, das eine Breite hat und also auf die Inkongruenz der Rechts-Links-Unterscheidung von Körpern Bezug nimmt. Das ist der Unterschied zwischen der graphischen Erzeugung einer Kreislinie und dem Reiten auf dem Zirkel.

Der für unsere Diagrammerörterung entscheidende Punkt ist also: Was im statischen Reitdiagramm als eindimensionale Linie gezeichnet ist, muss in der dynamischen Reitbewegung in Form einer asymmetrischen, den Unterschied von rechts und links berücksichtigenden Einwirkung auf das Pferd realisiert werden. Die Linie des Diagramms ist nur durch eine nicht einheitliche, nicht lineare Hilfegebung auf dem Pferd und mit ihm zu verwirklichen: Genau das ist die Reitkunst.

2.5. Datenbilder

Mathematik hilft – so erstaunlich das ist angesichts der Idealität ihrer Objekte –, reale Geschehnisse in der Welt zu berechnen. Dazu gehören auch so komplizierte und für Menschenaugen unter Um44ständen unsichtbare Dinge wie die Flugbahnen von Kanonenkugeln oder Fußbällen. Wenn eine Flugbahn als eine ballistische Kurve gezeigt wird, dann ist klar: Bei dieser Kurve handelt es sich nicht um ein mimetisches Abbild, welches von der Realität auf das Papier übertragen und dort in seinem Verlauf abgebildet wird; vielmehr ist die Flugbahn in jedem ihrer Raum-Zeit-Punkte errechnet, und es sind diese errechneten Daten, die dann in Gestalt einer Kurve auch visualisiert werden können. Wenn wir eine solche Flugbahn durch fotografische Apparate mit hoher Auflösung tatsächlich sichtbar machen, dann würde eine Ähnlichkeit oder gar Deckungsgleichheit zwischen der errechneten/aufgezeichneten ballistischen Kurve einerseits und der fotografisch fixierten realen Flugbahn eines Objektes andererseits lediglich zeigen, dass die Parameter der Rechnung und das Rechenverfahren glücklich gewählt sind. »Glücklich gewählt« heißt: Mit Hilfe von Bewegungsgleichungen kann der Bewegungsverlauf vollständig berechnet und auch vorhergesagt werden – allerdings dann und nur dann, wenn die einzubeziehenden Parameter extrem reduziert und die Randbedingungen idealisiert werden.

Abb. 13: Flugbahn eines Fußballs, 〈http://www.weltderphysik.de/gebiet/leben/fussball/rolle-des-luftwiderstands〉, letzter Zugriff am 11.3.2016

45Dieser Graph zeigt die Flugbahn eines Fußballs unter Einwirkung sowohl von Luftwiderstand wie auch der Erdanziehung. Die X-Achse gibt die Flugweite, die Y-Achse die Flughöhe an – Letztere ist aufgrund unterschiedlicher Skalen auf beiden Achsen nach oben gestreckt, so dass die wirkliche Bewegung des Balls flacher verlaufen würde. Unter der Bedingung, dass die Abschussgeschwindigkeit des Balls 100 km/h und der Abschusswinkel 45 Grad entspricht – das ist ungefähr das, was ein Torwart beim Abschuss des Balls erreichen kann –, markiert die rote Linie die Flugbahn des Balls, die gestrichelte schwarze zeigt, wie der Ball ohne Luftwiderstand fliegen würde. Wenn also definitive Ausgangsbedingungen gegeben sind, dann ist zu jedem späteren Zeitpunkt die Position des Fußballs im Raum eindeutig zu ermitteln.

Das, was wir hier sehen, ist ein Datenbild:[15] Etwas, das errechnet, also mit Hilfe von Differentialgleichungen arithmetisch hergestellt und nachträglich visualisiert ist. Was zuerst als eine Reihenfolge von Gleichungen auf dem Papier steht, wird – in einem zweiten Schritt – als eine präzise Figur vor Augen gestellt, und zwar mit Hilfe eines elementaren Koordinatensystems. Datenbilder visualisieren Rechenergebnisse. Ihrer figurativen Oberfläche entspricht eine als Rechnung verfasste »Unterfläche«.[16] Und »Unterfläche« heißt hier: Dem Datenbild geht bereits eine Inskription voraus, als deren visuelle Umschrift das Datenbild zu begreifen ist.

Auf noch etwas ist aufmerksam zu machen: Wir haben nicht einfach vom Diagramm, sondern von einem Graphen gesprochen. Ohne diese Unterscheidung hier zu vertiefen, ist so viel jedoch klar: »Graph« bedeutet, dass Daten mit Hilfe eines Koordinatensystems visualisiert werden, so dass bei solchen Bildern eindeutig zu unterscheiden ist zwischen »Hilfslinien« (=Koordinaten) und »Objektlinien« (=Kurven, die auf errechnete Sachverhalte referieren).

Kein Wunder nun, dass die Grenzen solcher linearen, analytischen Berechenbarkeit schnell erreicht sind, sobald es darum geht, reale Bewegungsverläufe unter komplexen Bedingungen zu errechnen. So würden schon kleine Besonderheiten auf der Oberfläche des Fußballs die Rolle des Luftwiderstandes drastisch verändern; erst recht gilt dies für die komplexen Bedingungen etwa des Verhaltens von Satelliten im Gravitationsfeld der Erde oder 46bei den Strömungsverhältnissen bei künstlichen Herzklappen oder Flugzeugflügeln. Die Existenz nichtlinearer Bedingungen heißt keineswegs, dass das Problem mathematisch nicht lösbar ist, sondern heißt nur: die mathematischen Lösungsverfahren müssen gewechselt werden. Dieser »Wechsel« besteht in dem Übergang zu »Computerexperimenten«,[17] in denen als Alternative zu linearen, analytischen Lösungsverfahren nun eine numerische Simulation von Gleichungen erfolgt. Jetzt kann nicht mehr lückenlos, also vollständig ein Verlauf beschrieben, sondern dieser nur noch für selektive Raum-Zeit-Punkte bestimmt werden. Das Koordinatensystem, das die Ballistik des Fußballs visualisierte, wird nun ersetzt durch ein komplexes Berechnungsgitter.

Abb. 14: Rechnungsgitter für die numerische Simulation der Strömung um ein Flugzeug (Gramelsberger 2010, 34)

Datenbilder auf der Grundlage numerischer Simulationen sind durch den Computer generierte Bilder. Es gibt eine Fülle von Studien, welche die computergenerierten Bilder im Rahmen der 47gegenwärtigen Praktiken des Visualisierens insbesondere in den Naturwissenschaften erforschen.[18] Bei computererzeugten Bildern ist es offensichtlich, dass zwischen dem für Menschenaugen sichtbaren Phänomen auf dem Bildschirm und dem darunterliegenden, für den Nutzer unsichtbaren digitalen Code, der das Bild als Zeichensequenz abspeichert, zu unterscheiden ist. Ein Umstand, der Frieder Nake bei digitalen Bildern zwischen Oberfläche und Unterfläche,[19] Lev Manovich zwischen cultural layer und computer layer unterscheiden lässt.[20] Worum es uns an dieser Stelle geht, ist, diese dem digitalen Bild zugesprochene Sonderform ein Stück weit zu entmystifizieren: Denn tatsächlich liegt allen Datenbildern, also auch den einfachen ballistischen Kurven, eine Berechnung zugrunde, sei diese nun per Hand analytisch errechnet oder per Computer numerisch simuliert. Dass es lebenspraktisch gesehen einen großen Unterschied macht, ob Vorgänge linear vorhersehbar sind oder – via digitaler Simulation – »nur« lückenhaft und extrem eingeschränkt vorhersagbar sind, liegt auf der Hand: Fehlschlagende Wettervorhersagen führen das drastisch vor Augen – von den unterschiedlichen Vorhersagen der Klimaforschung ganz zu schweigen.

Gleichwohl machen Datenbilder – in allen Versionen – deutlich, dass der für Diagramme so konstitutive Flächenbezug subtiler aufzufassen ist und – wenn nicht direkt von Ober-und Unterfläche zu sprechen ist – dann zumindest Flächen in verschiedenen Schichtungen in Rechnung zu stellen sind.

2.6. Fehldiagramme, Irrtumsbilder

Alle unsere Beispiele zeugten – auf die eine oder andere Art – von den nützlichen, den handlungsanleitenden und erkenntniserweiternden Rollen von Diagrammen. Doch nur solche produktiven Funktionen von Diagrammen in den Blick zu nehmen, greift zu kurz. Denn Diagramme können nicht nur die Augen öffnen für einen Sachverhalt, sondern einen Sachverhalt auch verstellen oder gar verfälschen. Gibt es also »Irrtumsbilder«, mithin Diagramme, 48die kraft ihrer Visualität falsche Aussagen generieren und nahelegen? Gemeint ist hier nicht der triviale Sachverhalt, dass jedwede Abbildung – etwa eine falsch gezeichnete Karte – so verfasst sein kann, dass sie einen Sachverhalt unrichtig – gemessen am vorhandenen Wissen – darstellt. Gemeint ist vielmehr, dass Diagramme genuin und von ihren Produzenten und Nutzern unbeabsichtigt zu Fehlerquellen werden können.

Schauen wir uns diese Figurenfolge von drei identischen Dreiecken an.

Abb. 15: Drei spitzwinklige Dreiecke (Giaquinto 2007, S.65)

Ein spitzwinkliges Dreieck mit horizontaler Basis wird konstruiert, von dem oberen Eckpunkt sodann das Lot gefällt und nun ein Rechteck auf derselben Basis mit derselben Höhe konstruiert. An der Zeichnung fällt ins Auge, dass die beiden rechtwinkligen Dreiecke, die zusammen das ursprüngliche Dreieck bilden, genauso groß sind wie die beiden durch das Rechteck neu entstandenen Dreiecke. Und aus dieser Ein-Sicht drängt sich eine generelle Schlussfolgerung auf: Der Flächeninhalt jedes Dreiecks lässt sich bestimmen als die Hälfte der Größe, die sich aus der Multiplikation seiner Basis mit der Höhe ergibt. Doch diese Schlussfolgerung ist falsch, denn die Generalisierung von dem gezeichneten Dreieck für alle Dreiecke geht fehl. Tatsächlich trifft dieser Zusammenhang nur für spitzwinklige, nicht aber stumpfwinklige Dreiecke zu, da ein Rechteck in der hier vollzogenen Weise überhaupt nur gezeichnet werden kann, wenn die Basiswinkel nicht größer als rechte Winkel sind.

Wir sehen: Nicht die Zeichnung ist falsch, sondern falsch ist, wie die Zeichnung epistemisch beurteilt und »genutzt« wird. Eine Generalisierung wird vollzogen, die zwar für spitzwinklige Dreiecke, nicht aber für alle Dreiecke gilt.[21] Nicht die Visualisierung, 49sondern deren Interpretation geht fehl, insofern eine unzulässige Verallgemeinerung erfolgt.

Doch sehen wir uns ein weiteres Beispiel an.[22] Es unterscheidet sich darin, dass seine Irrtumsanfälligkeit tatsächlich in der Zeichnung selbst gegründet zu sein scheint. Dazu allerdings müssen wir einen kurzen Exkurs zu der produktiven Funktion von Euler-Diagrammen machen. Euler-Diagramme sind Kreise, mit denen syllogistische Figuren repräsentiert werden und Verhältnisse des Einschlusses, des Ausschlusses und der Überlappung visualisiert werden können.

Abb. 16: Alle A sind B; kein A ist B; einige A sind B; einige A sind nicht B (Abbildung Philipp Linß)

Wenn etwa zwei Prämissen gegeben sind: (1) »Alle A sind B« und (2) »Kein B ist C«, dann führt die folgende Visualisierung einen Sachverhalt vor Augen, auf den wir aus den Prämissen zwar schließen können, der in diesen aber nicht explizit angelegt ist; er besteht in der Aussage: (3) »Kein A ist C«.

Abb. 17: Alle A sind B (Wöpking 2016, S.43)

50Abb. 18: Kein B ist C (Wöpking 2016, S.43)

Hierbei ist es also die konkrete Zeichnung und sind es die darin realisierten räumlichen Verhältnisse, welche die Schlussfolgerung gleichsam durchführen und anzeigen, ohne dass der Nutzer selbst Inferenzregeln anzuwenden braucht, also eine logische Schlussfolgerungsprozedur zu durchlaufen hätte. Es ist – wie Jan Wöpking aufzeigt – ein Informationsüberschuss in der Visualisierung entstanden, indem »Logik […] per Zeichenphysik betrieben« wird.[23] Doch genau diese Möglichkeit, kognitive Zusammenhänge als graphisch-optische Zusammenhänge vorstellig zu machen, Semantik als Physik, Geist als Graphé zu realisieren, stößt – in einigen Fällen – auf unüberwindbare Schranken.

Euler-Diagramme benutzen Kreisflächen, also zweidimensionale Objekte. Diese sind mathematisch gesehen »konvexe Regionen«, für die charakteristisch ist, dass immer dann, wenn in einer solchen Region zwei Punkte gegeben sind, auch deren Verbindungslinie Bestandteil des Kreises sein muss. Für solche konvexen Regionen hat der Mathematiker Eduard Helly ein Theorem formuliert:[24] Wenn vier oder mehr Kreise gegeben sind, von denen jeweils drei sich schneiden, schneiden sich auch alle vier. Dies kann anhand von vier Euler-Kreisen einfach gezeigt werden: Die vier Kreise, von denen per Instruktion sich jeweils drei schneiden, haben auch ein gemeinsames Schnittfeld aller vier Kreise.

So weit, so gut. Doch nun können Euler-Diagramme nicht nur logisch, syllogistisch, sondern auch mengentheoretisch interpretiert werden. Stellen wir uns vor, vier Mengen zu haben, deren Elemente die folgenden natürlichen Zahlen sind:[25]

Die Überlappungsverhältnisse sehen jetzt so aus: Kreis A, B und C haben jeweils das Element {1}, Kreis B, C und D haben das Element {2}, und Kreis C, D und A haben das Element {3} gemeinsam. Doch es gibt kein Element, welches alle vier Kreise teilen, die Schnittmenge des ganzen Quartetts von Kreisen ist daher null bzw. leer. Doch die Abbildung des Helly-Theorems mit Euler-Kreisen legt das Gegenteil nahe: diese Abbildung zeigt definitiv eine nicht-leere Schnittmenge.